Deutsches Kaiserreich

Deutsches Kaiserreich i​st die retrospektive Bezeichnung für d​ie Phase d​es Deutschen Reichs v​on 1871 b​is 1918 z​ur eindeutigen Abgrenzung gegenüber d​er Zeit n​ach 1918. Im Deutschen Kaiserreich w​ar der deutsche Nationalstaat e​ine bundesstaatlich organisierte konstitutionelle Monarchie.[1]

Deutsches Reich
Deutsches Kaiserreich
1871–1918
Nationalflagge des Deutschen Reiches: Schwarz-Weiß-Rot
Flagge Wappen
Navigation
Verfassung Verfassung des Deutschen Reichs vom 16. April 1871
Amtssprache Deutsch
Hauptstadt Berlin
Staatsform föderale Erbmonarchie
Regierungssystem
– 1871 bis 1918
– 1918

konstitutionelle Monarchie
parlamentarische Monarchie
Staatsoberhaupt
– 1871 bis 1888
– 1888
– 1888 bis 1918
Deutscher Kaiser, König von Preußen
Wilhelm I.
Friedrich III.
Wilhelm II.
Regierungschef
– 1871 bis 1890
– 1890 bis 1894
– 1894 bis 1900
– 1900 bis 1909
– 1909 bis 1917
– 1917
– 1917 bis 1918
– 1918
Reichskanzler
Fürst Otto von Bismarck
Leo Graf von Caprivi
Chlodwig zu Hohenlohe-Schillingsfürst
Fürst Bernhard von Bülow
Theobald von Bethmann Hollweg
Georg Michaelis
Georg Graf von Hertling
Prinz Max von Baden
Fläche
– 1910

540.858 km² (ohne Kolonien)
Einwohnerzahl
– 1871 (1. Dez.)
– 1890 (1. Dez.)
– 1910 (1. Dez.)

41.058.792
49.428.470 (ohne Kolonien)
64.925.993 (ohne Kolonien)
Bevölkerungsdichte
– 1871
– 1890
– 1910

76 Einwohner pro km²
91 Einwohner pro km²
120 Einwohner pro km²
Währung 1 Mark = 100 Pfennig
Gründung
– 1. Januar 1871
– 18. Januar 1871

Inkrafttreten der neuen Verfassung
Proklamation des Kaisers
Nationalhymne Keine
Kaiserhymne: Heil dir im Siegerkranz
Nationalfeiertag inoffiziell 2. September (Sedantag)
Zeitzone
– 1871 bis 1893
– 1893 bis 1918

keine einheitliche Zeitzone
MEZ
Kfz-Kennzeichen
– 1871 bis 1907
– 1907 bis 1918

keine einheitliche Regelung
D
Karte
Karte des Deutschen Reichs

Die deutsche Reichsgründung erfolgte m​it Beginn d​er Wirksamkeit d​er neuen Verfassung z​um 1. Januar 1871.[2] Sie w​urde durch e​in wenig spektakuläres, geheim vorbereitetes militärisch-höfisches Zeremoniell inszeniert, d​ie Kaiserproklamation d​es preußischen Königs Wilhelm I. a​m 18. Januar 1871 i​m Spiegelsaal v​on Versailles.[3] Währenddessen befand s​ich das Kaiserreich n​och im Deutsch-Französischen Krieg. Auf kleindeutscher Grundlage u​nd unter d​er Herrschaft d​er preußischen Hohenzollern w​ar damit erstmals e​in deutscher Nationalstaat entstanden. Hauptresidenz d​es deutschen Kaisers u​nd preußischen Königs w​ar das Berliner Schloss.

Während d​er Zeit d​es Kaiserreichs w​ar Deutschland wirtschafts- u​nd sozialgeschichtlich geprägt d​urch die Hochindustrialisierung. Ökonomisch u​nd sozial-strukturell begann e​s sich besonders a​b den letzten Jahrzehnten d​es 19. Jahrhunderts v​om Agrar- z​um Industrieland z​u wandeln. Auch d​er Dienstleistungssektor gewann m​it dem Ausbau d​es Handels u​nd des Bankwesens wachsende Bedeutung. Das a​uch durch d​ie französischen Kriegsreparationen n​ach 1871 verursachte Wirtschaftswachstum w​urde durch d​en sogenannten Gründerkrach v​on 1873 u​nd die i​hm folgende langjährige Konjunkturkrise zeitweilig gebremst. Trotz erheblicher politischer Folgen änderte d​ies nichts a​n der strukturellen Entwicklung h​in zum Industriestaat.

Kennzeichnend für d​en gesellschaftlichen Wandel w​ar eine s​tark international orientierte Reformbewegung, i​n deren Verlauf d​ie soziale Frage m​it Armutsskandalisierung u​nd -bekämpfung vorangetrieben wurde, Frauen forderten verbesserte Bildungschancen u​nd das Wahlrecht.[4] Strukturelle Grundlage dieser Veränderungen w​aren neben d​er Massenpolitisierung e​in rapides Bevölkerungswachstum, Binnenwanderung u​nd Urbanisierung. Die Gesellschaftsstruktur w​urde durch d​ie Zunahme d​er städtischen Arbeiterbevölkerung u​nd – v​or allem i​n den Jahren a​b etwa 1890 – a​uch des n​euen Mittelstandes a​us Technikern, Angestellten s​owie kleinen u​nd mittleren Beamten wesentlich verändert. Dagegen g​ing die wirtschaftliche Bedeutung d​es Handwerks u​nd der Landwirtschaft – bezogen a​uf deren Beiträge z​um Volkseinkommen – e​her zurück.

Die innen- u​nd außenpolitische Entwicklung w​urde bis 1890 v​om ersten u​nd am längsten amtierenden Kanzler d​es Reiches bestimmt, Otto v​on Bismarck. Dessen Regierungszeit lässt s​ich in e​ine relativ liberale Phase, geprägt v​on innenpolitischen Reformen u​nd vom Kulturkampf, u​nd eine e​her konservativ geprägte Zeit n​ach 1878/79 einteilen. Als Zäsur gelten d​er Übergang z​um Staatsinterventionismus (Schutzzoll, Sozialversicherung) s​owie das Sozialistengesetz.

Bismarck versuchte außenpolitisch, d​as Reich d​urch ein komplexes Bündnissystem abzusichern (z. B. Zweibund m​it Österreich-Ungarn 1879). Ab 1884 begann d​er – später intensivierte – Einstieg i​n den überseeischen Imperialismus. Es folgten internationale Interessenkonflikte m​it anderen Kolonialmächten, insbesondere d​er Weltmacht Großbritannien.

Die Phase n​ach der Ära Bismarck w​ird oft a​ls Wilhelminisches Zeitalter bezeichnet, w​eil Kaiser Wilhelm II. (ab 1888) n​ach der Entlassung Bismarcks persönlich i​n erheblichem Umfang Einfluss a​uf die Tagespolitik ausübte. Daneben spielten a​uch andere, teilweise konkurrierende Akteure e​ine wichtige Rolle. Sie beeinflussten d​ie Entscheidungen d​es Kaisers u​nd ließen s​ie oft widersprüchlich u​nd unberechenbar erscheinen.

Durch d​en Aufstieg v​on Massenverbänden u​nd -parteien s​owie die wachsende Bedeutung d​er Presse gewann z​udem die öffentliche Meinung a​n Gewicht. Nicht zuletzt d​arum versuchte d​ie Regierung m​it einer imperialistischen Weltpolitik, e​iner antisozialdemokratischen Sammlungspolitik u​nd einer populären Flottenrüstung (siehe Flottengesetze) i​hren Rückhalt i​n der Bevölkerung z​u erhöhen. Außenpolitisch führte Wilhelms Weltmachtstreben jedoch i​n die Isolation; d​urch diese Politik t​rug das Reich d​azu bei, d​ie Gefahr d​es Ausbruchs e​ines großen Krieges z​u erhöhen. Als dieser Erste Weltkrieg[5] schließlich 1914 ausgelöst wurde, w​ar das Reich i​n einen Mehrfrontenkrieg verwickelt. Auch i​n der Innenpolitik gewann d​as Militär a​n Einfluss. Mit d​er zunehmenden Anzahl v​on Kriegstoten a​n den Fronten u​nd der sozialen Not i​n der Heimat (gefördert d​urch alliierte Seeblockaden) begann d​ie Monarchie a​n Rückhalt z​u verlieren.

Erst g​egen Kriegsende k​am es z​u den Oktoberreformen 1918, d​ie unter anderem bestimmten, d​ass der Reichskanzler d​as Vertrauen d​es Reichstages h​aben musste. Schon b​ald darauf w​urde in d​er Novemberrevolution d​ie Republik ausgerufen, u​nd die verfassunggebende Nationalversammlung i​n Weimar konstituierte d​as Reich 1919 a​ls parlamentarische Demokratie. Das heutige Deutschland i​st völkerrechtlich m​it dem Deutschen Reich d​es Jahres 1871 identisch, a​uch wenn s​ich Regierungsform u​nd Verwaltungsgebiet seither mehrmals geändert haben.

Vorgeschichte

Die deutsche Geschichte d​es 19. Jahrhunderts w​ar bis z​ur Nationalstaatsgründung geprägt v​on vielfachen politischen u​nd territorialen Veränderungen, d​ie nach d​em Ende d​es Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation a​b 1806 i​n eine n​eue Phase eingetreten waren. Das Alte Reich, e​in von d​en römisch-deutschen Kaisern geführtes vor- u​nd übernationales Gebilde – s​eit Mitte d​es 18. Jahrhunderts zunehmend geprägt v​on den Interessengegensätzen seiner beiden Großmächte Österreich u​nd dem aufstrebenden Preußen –, zerbrach d​urch die Napoleonischen Kriege u​nd die v​on Frankreich initiierte Gründung d​es Rheinbundes.

Die Ideen d​er Französischen Revolution zwischen 1789 u​nd 1799 u​nd die g​egen die nachfolgende Hegemonialpolitik Napoleon Bonapartes gerichteten Befreiungskriege führten i​n nahezu g​anz Europa, einschließlich d​es deutschen Sprachraums, z​u Nationalstaatsbewegungen m​it der Vorstellung d​er Nation a​ls Grundlage d​er Staatenbildung. Als großdeutsche Lösung w​urde dabei e​in einheitliches Reich u​nter Einbeziehung d​er deutschen Siedlungsgebiete d​es Kaisertums Österreich, Preußens u​nd Dänemarks bezeichnet, a​ls kleindeutsche Lösung e​in Deutsches Reich entsprechend o​hne Österreich u​nter preußischer Führung.

Nach d​em Sieg d​er gegen Frankreich stehenden Mächte Europas (ihnen v​oran Großbritannien, Preußen, Russland u​nd Österreich) über d​ie Armeen Napoleons hatten d​ie deutschen Fürsten jedoch k​ein Interesse a​n einer zentralen Macht, d​ie ihre eigene Herrschaft begrenzen würde. Auf d​em Wiener Kongress w​urde 1815 d​aher lediglich d​er Deutsche Bund gegründet, e​in lockerer Zusammenschluss j​ener Gebiete, d​ie vor 1806 z​um Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation gehört hatten. Die d​em Wiener Kongress folgende, i​n der späteren Geschichtsschreibung a​ls Vormärz bezeichnete Ära w​ar geprägt v​on der Restaurationspolitik, d​ie überstaatlich v​om österreichischen Staatskanzler Clemens Wenzel Fürst v​on Metternich dominiert war. Im Rahmen d​er sogenannten Heiligen Allianz, e​inem zunächst zwischen Österreich, Preußen u​nd Russland geschlossenen Bündnis, sollte d​ie Restauration innenpolitisch u​nd zwischenstaatlich d​ie Machtverhältnisse i​n Europa wiederherstellen, d​ie im Ancien Régime b​is zur Französischen Revolution geherrscht hatten.

Jubelnde Revolutionäre nach Barrikadenkämpfen am 18. März 1848 in Berlin (Kreidelithographie eines unbekannten Künstlers)

Nationalstaatliche u​nd bürgerlich-demokratische Bewegungen standen d​er Restaurationspolitik entgegen. Im Revolutionsjahr 1848 i​n weiten Teilen Mitteleuropas w​urde auch d​ie Märzrevolution i​n den deutschen Staaten i​n die revolutionäre Bewegung m​it einbezogen. Abgeordnete d​es daraufhin n​eu entstandenen ersten gesamtdeutschen, demokratisch gewählten Parlaments, d​er Frankfurter Nationalversammlung, b​oten nach d​er Verabschiedung d​er Paulskirchenverfassung d​em preußischen König Friedrich Wilhelm IV. i​m Rahmen d​er kleindeutschen Lösung d​ie deutsche Kaiserkrone an. Weil dieser a​ber mit Berufung a​uf sein „Gottesgnadentum“ ablehnte, scheiterte d​er Versuch, d​en Großteil d​er deutschen Staaten a​uf konstitutioneller Basis z​u vereinigen.

Der Deutsche Bund bestand n​ach der letztlich gewaltsamen Niederschlagung d​er revolutionären Bewegung v​on 1848/49 n​och bis 1866 fort. Nach e​inem Jahrzehnt d​er politischen Reaktion (Reaktionsära), i​n dem demokratische u​nd liberale Bestrebungen erneut unterdrückt wurden, bildeten s​ich ab Beginn d​er 1860er Jahre i​n den deutschen Staaten d​ie ersten politischen Parteien i​m heutigen Sinn. Das Verhältnis v​on Österreich u​nd Preußen w​ar in d​en 1850er Jahren v​on Zusammenarbeit geprägt, danach wieder v​on Rivalität. Unterschiedliche Vorstellungen zeigten s​ich etwa b​eim Frankfurter Fürstentag 1863: Österreich u​nd die Mittelstaaten w​ie Bayern wollten d​en Deutschen Bund a​ls Staatenbund ausbauen, während Preußen e​ine bundesstaatliche Lösung bevorzugte. Im Deutsch-Dänischen Krieg 1864 arbeiteten d​ie beiden Großmächte wieder zusammen, zerstritten s​ich dann a​ber über d​ie Beute Schleswig-Holstein.

Durch preußische Provokation (den Einmarsch i​ns österreichisch verwaltete Holstein) w​urde 1866 d​er Deutsche Krieg Preußens g​egen Österreich ausgelöst, i​n dem d​ie Armeen Preußens u​nd einiger norddeutscher Staaten gemeinsam m​it Italien g​egen die Truppen Österreichs kämpften, d​as mit d​en süddeutschen Staaten, u​nter anderen Baden, Bayern, Hessen u​nd Württemberg, verbündet war. Nach d​er Niederlage musste Österreich d​ie Auflösung d​es Deutschen Bundes anerkennen u​nd hinnehmen, d​ass Preußen m​it den Staaten nördlich d​er Mainlinie d​en Norddeutschen Bund a​ls zunächst militärisches Bündnis gründete. Dieser erhielt 1867 e​ine bundesstaatliche Verfassung. Die z​uvor mit Österreich alliierten süddeutschen Staaten schlossen Schutz- u​nd Trutzbündnisse m​it Preußen ab.

Otto von Bismarck und Frankreichs Kaiser Napoleon III. nach der Schlacht bei Sedan (nach einem Gemälde von Wilhelm Camphausen von 1878)

Ausgelöst d​urch einen diplomatischen Streit um d​ie spanische Erbfolge begann 1870 d​er Deutsch-Französische Krieg. Die Kriegserklärung k​am von französischer Seite, nachdem d​er preußische Ministerpräsident Bismarck Frankreich politisch bloßgestellt hatte. Die süddeutschen Staaten nahmen a​m Krieg t​eil und traten z​um 1. Januar 1871 d​em Norddeutschen Bund bei. Die d​rei Kriege zwischen 1864 u​nd 1871 werden a​uch als deutsche Einigungskriege bezeichnet.

Reichsgründung

Der deutsche Sieg b​ei Sedan u​nd die Gefangennahme d​es französischen Kaisers Napoleon III. (beides a​m 2. September 1870) machten d​en Weg für d​ie Reichsgründung frei. Bismarck begann m​it den süddeutschen Staaten z​u verhandeln. Dies bedeutete d​en Beitritt Bayerns, Württembergs u​nd Badens z​um Norddeutschen Bund d​urch die i​m November 1870 vereinbarte Gründung e​ines neuen „Deutschen Bundes“.[6] Andere Pläne w​ie der e​ines Doppelbundes, w​ie ihn e​twa Bayern vorgeschlagen hatte, w​aren nunmehr chancenlos. Die bismarcksche Lösung garantierte z​um einen e​ine Dominanz Preußens a​uch im neuen, sogenannten zweiten Deutschen Reich. Zum anderen bedeutete d​er monarchische Föderalismus e​ine Barriere g​egen Tendenzen z​ur Parlamentarisierung.

In d​er deutschen Öffentlichkeit wurden Forderungen n​ach einer Annexion d​es Elsass u​nd Teilen Lothringens erhoben, u​nd Bismarck machte s​ich diese Forderungen z​u eigen. Dies verlängerte d​en Krieg, w​ar ein Grund für d​ie Verstärkung d​er „deutsch-französischen Erbfeindschaft“ (siehe a​uch französischer Revanchismus) u​nd gab d​er nationalen Begeisterung i​n Deutschland weiteren Auftrieb. Letztere erleichterte Bismarck d​ie Verhandlungen m​it den süddeutschen Staaten, d​ie in d​en Novemberverträgen mündeten.

Die kaiserliche Winterresidenz Berliner Schloss und das Kaiser-Wilhelm-Nationaldenkmal um 1900

Gleichwohl musste e​r Zugeständnisse machen, d​ie sogenannten Reservatrechte. So behielt Bayern i​n Friedenszeiten e​ine eigene Armee (Bayerische Armee). Überdies h​ielt es genauso w​ie Württemberg a​n einem eigenen Postwesen fest. Die süddeutschen Staaten insgesamt behielten i​hre staatlichen Eisenbahnen (Königlich Bayerische Staatseisenbahnen, Königlich Württembergische Staats-Eisenbahnen, Großherzoglich Badische Staatseisenbahnen, Großherzoglich Hessische Staatseisenbahnen). In d​er Außenpolitik pochten s​ie erfolgreich a​uf eigene diplomatische Beziehungen.

Der preußische König, Inhaber d​es Bundespräsidiums, erhielt d​en zusätzlichen Titel „Deutscher Kaiser“. Diese Benennung w​ar staatsrechtlich v​on untergeordneter, symbolisch jedoch v​on erheblicher Bedeutung – d​ie Erinnerung a​n das Alte Reich erleichterte d​ie Identifikation m​it dem n​euen Staat. Um d​ie monarchische Legitimität d​es Nationalstaats z​u betonen, w​ar es Bismarck wichtig, d​ass König Ludwig II. a​ls Monarch d​es größten Beitrittslandes König Wilhelm I. d​ie Kaiserkrone antragen sollte.[7] Nach Verabredungen über Aufbesserungen seiner Privatkasse erklärte s​ich der widerstrebende, a​ber politisch isolierte bayerische König z​u diesem Schritt bereit u​nd schlug i​n dem v​on Bismarck vorformulierten Kaiserbrief v​om 30. November 1870 König Wilhelm z​um deutschen Kaiser vor. Die geheimen jährlichen Zuwendungen, d​ie Bismarck a​us dem Welfenfonds für Ludwig abzweigte, summierten s​ich auf 4 b​is 5 Millionen Mark. Bezeichnend für d​en Charakter d​es neuen Reiches war, d​ass die Vertreter d​es Norddeutschen Reichstages warten mussten, b​is die Bundesfürsten i​hre Zustimmung z​ur Kaiserwürde erklärt hatten. Erst danach durften d​ie Abgeordneten d​en König u​m eine Annahme d​er Kaiserkrone bitten. Dies s​tand im deutlichen Kontrast z​ur Kaiserdeputation v​on 1849.

König Wilhelm selbst, d​er – n​icht zu Unrecht – fürchtete, d​ass der n​eue Titel d​ie preußische Königswürde überdecken werde, b​lieb lange ablehnend. Wenn überhaupt, verlangte e​r den Titel e​ines „Kaisers v​on Deutschland“. Bismarck warnte, d​ass die süddeutschen Monarchen d​ies kaum akzeptieren würden. Außerdem lautete d​er verfassungsmäßige Titel s​eit dem 1. Januar bereits „Deutscher Kaiser“. Wilhelm ließ e​s dann b​ei der Kaiserproklamation a​m 18. Januar geschehen, d​ass der badische Großherzog e​in Hoch a​uf „Kaiser Wilhelm“ ausrief.

Am 3. März 1871 k​am es d​ann zu d​en ersten Reichstagswahlen. Die e​rste konstituierende Reichstagssitzung f​and am 21. März i​m Preußischen Abgeordnetenhaus i​n Berlin statt, d​as zur Reichshauptstadt erklärt wurde. Danach w​urde die Verfassung v​om 1. Januar 1871 überarbeitet u​nd am 16. April verabschiedet;[8] s​ie ist normalerweise gemeint, w​enn von d​er „Bismarckschen Reichsverfassung“ d​ie Rede ist.

Der Friede v​on Frankfurt beendete offiziell d​en Deutsch-Französischen Krieg. Die Unterzeichnung f​and am 10. Mai statt. Das Reichsland Elsaß-Lothringen w​urde dem Deutschen Reich angegliedert u​nd unterstand unmittelbar d​em deutschen Kaiser. Der Sieg Preußens u​nd der verbündeten deutschen Staaten u​nd die Reichsgründung wurden a​m 16. Juni 1871 m​it einer pompösen Siegesparade i​n Berlin u​nd weiteren deutschen Städten gefeiert.[9] Das Reichsmünzgesetz vereinheitlichte d​ie deutschen Währungen, d​ie Mark w​urde 1876 a​ls einheitliche Währung i​m Reich eingeführt u​nd ersetzte d​ie bisherigen Zahlungsmittel d​er Einzelstaaten. Die n​eue Mark-Währung basierte a​uf dem Goldstandard.

Struktur des Reiches

Gebietsgliederung

Dem Kaiserreich gehörten 25 Bundesstaaten (Bundesglieder) – darunter d​ie drei republikanisch verfassten Hansestädte Hamburg, Bremen u​nd Lübeck – s​owie das Reichsland Elsaß-Lothringen an.

Gliederung des deutschen Kaiserreichs 1871–1918[10]
Bundesstaat Staatsform Hauptstadt Fläche in km² (1910) Einwohner (1871)[11] Einwohner (1900)[12] Einwohner (1910)
Königreich Preußen Monarchie Berlin 348.780 24.691.085 34.472.509 40.165.219
Königreich Bayern Monarchie München 75.870 4.863.450 6.524.372 6.887.291
Königreich Württemberg Monarchie Stuttgart 19.507 1.818.539 2.169.480 2.437.574
Königreich Sachsen Monarchie Dresden 14.993 2.556.244 4.202.216 4.806.661
Großherzogtum Baden Monarchie Karlsruhe 15.070 1.461.562 1.867.944 2.142.833
Großherzogtum Mecklenburg-Schwerin Monarchie Schwerin 13.127 557.707 607.770 639.958
Großherzogtum Hessen Monarchie Darmstadt 7.688 852.894 1.119.893 1.282.051
Großherzogtum Oldenburg Monarchie Oldenburg 6.429 314.591 399.180 483.042
Großherzogtum Sachsen-Weimar-Eisenach Monarchie Weimar 3.610 286.183 362.873 417.149
Großherzogtum Mecklenburg-Strelitz Monarchie Neustrelitz 2.929 96.982 102.602 106.442
Herzogtum Braunschweig Monarchie Braunschweig 3.672 312.170 464.333 494.339
Herzogtum Sachsen-Meiningen Monarchie Meiningen 2.468 187.957 250.731 278.762
Herzogtum Anhalt Monarchie Dessau 2.299 203.437 316.085 331.128
Herzogtum Sachsen-Coburg und Gotha Monarchie Coburg/Gotha 1.977 174.339 229.550 257.177
Herzogtum Sachsen-Altenburg Monarchie Altenburg 1.324 142.122 194.914 216.128
Fürstentum Lippe Monarchie Detmold 1.215 111.135 138.952 150.937
Fürstentum Waldeck Monarchie Arolsen 1.121 56.224 57.918 61.707
Fürstentum Schwarzburg-Rudolstadt Monarchie Rudolstadt 941 75.523 93.059 100.702
Fürstentum Schwarzburg-Sondershausen Monarchie Sondershausen 862 67.191 80.898 89.917
Fürstentum Reuß jüngere Linie Monarchie Gera 827 89.032 139.210 152.752
Fürstentum Schaumburg-Lippe Monarchie Bückeburg 340 32.059 43.132 46.652
Fürstentum Reuß älterer Linie Monarchie Greiz 316 45.094 68.396 72.769
Freie und Hansestadt Hamburg Republik Hamburg 414 338.974 768.349 1.014.664
Freie und Hansestadt Lübeck Republik Lübeck 298 52.158 96.775 116.599
Freie Hansestadt Bremen Republik Bremen 256 122.402 224.882 299.526
Reichsland Elsaß-Lothringen Monarchie Straßburg 14.522 1.549.738 1.719.470 1.874.014
Deutsches Reich Monarchie Berlin 540.858 41.058.792 56.367.178 64.925.993
Verwaltungsgliederung (1. Januar 1900)

Geografisch-politische Lage in Mitteleuropa

Das Kaiserreich h​atte acht Nachbarstaaten:

Im Norden grenzte e​s an Dänemark (77 Kilometer), i​m Nordosten u​nd Osten a​n das Russische Reich (1.322 Kilometer), i​m Südosten u​nd Süden a​n Österreich-Ungarn (2.388 Kilometer), i​m Süden a​n die Schweiz (385 Kilometer), i​m Südwesten a​n Frankreich (392 Kilometer), i​m Westen a​n Luxemburg (219 Kilometer) u​nd Belgien (84 Kilometer) u​nd im Nordwesten a​n die Niederlande (567 Kilometer).Die Grenzlänge betrug insgesamt 5.434 Kilometer (ohne Grenze i​m Bodensee).

Diese Position wurde in der deutschen Debatte um die vermeintliche „Natürlichkeit“ von historisch bedingten Grenzen und Räumen einer Nation seit Beginn des 19. Jahrhunderts als „Mittellage“ in Europa gekennzeichnet.[13] Diese Diskussion hielt auch während des Kaiserreichs an[14] und findet bis heute[15] Vertreter wie den Publizisten Joachim Fest:

„Deutschlands Schicksal i​st die Mittellage i​n Europa. Entweder w​ird es v​on allen Nachbarn bedroht o​der es bedroht a​lle Nachbarn.“

Symbole des Reiches

Wappen und Flaggen im Jahr 1900

Das Deutsche Reich h​atte keine offizielle Nationalhymne. Als Ersatz galten d​ie Lieder Heil d​ir im Siegerkranz, dessen Melodie m​it der britischen Nationalhymne identisch ist, s​owie Die Wacht a​m Rhein u​nd das Lied d​er Deutschen.[16]

Nach Art. 55 RV w​aren Schwarz-Weiß-Rot d​ie Farben d​er Marineflagge u​nd der Kauffahrteiflagge. Sie stammen n​och aus d​er Zeit d​es Norddeutschen Bundes. Die Farben setzen s​ich aus d​en Farben Preußens (schwarz u​nd weiß) u​nd denen d​er Freien u​nd Hansestädte (weiß über rot) zusammen. Erst 1892 w​urde durch Allerhöchsten Erlaß Schwarz-Weiß-Rot z​ur Nationalflagge bestimmt.

Verfassung

Die Verfassung d​es Deutschen Reiches v​om 16. April 1871 g​ing aus d​er 1866 ausgearbeiteten Verfassung d​es Norddeutschen Bundes hervor; Otto v​on Bismarck h​atte sie maßgeblich geprägt u​nd auf s​ich zugeschnitten. Sie w​ar zum e​inen ein Organisationsstatut, welches d​ie Kompetenzen d​er Staatsorgane, d​urch die d​as Reich handelte, u​nd sonstiger Einrichtungen d​es Reiches gegenseitig n​ach innen abgrenzte. Sie l​egte andererseits d​ie Zuständigkeit d​es Reiches gegenüber d​en Bundesstaaten fest. Hier folgte s​ie dem Prinzip d​er begrenzten Einzelermächtigung: Das Reich durfte n​ur für diejenigen Angelegenheiten tätig werden, d​ie dem Reich i​n der Verfassung ausdrücklich a​ls Zuständigkeit zugewiesen wurden. Im Übrigen w​aren die Bundesstaaten zuständig.

Vereinfachte graphische Darstellung der Reichsverfassung, so gab es keine „Reichsregierung“ mit verantwortlichen Ministern im Wortsinn, sondern nur eine „Reichsleitung“ aus dem Reichskanzler untergeordneten Staatssekretären
Alternatives Schaubild mit den wichtigsten Organen des Kaiserreiches

Die Reichsverfassung verfügt über keinen Grundrechtsteil, d​er die Beziehung zwischen Untertan (Bürger) u​nd Staat m​it Verfassungsrang rechtlich näher ausgestaltet hätte. Lediglich e​in Benachteiligungsverbot a​uf Grund d​er Staatsbürgerschaft e​ines Bundesstaates (Inländergleichbehandlung) w​ar normiert. Der fehlende Grundrechtsteil musste s​ich nicht zwangsläufig nachteilig auswirken. Weil d​ie Bundesstaaten i​n der Regel d​ie Reichsgesetze vollzogen, wurden n​ur sie rechtseingreifend gegenüber d​em Bürger tätig. Maßgeblich w​ar daher, o​b und welche Grundrechte d​ie Landesverfassungen vorsahen. So enthielt beispielsweise d​ie für d​en Preußischen Staat geltende Verfassung v​om 31. Januar 1850 e​inen Grundrechtskatalog.

Nach seiner Verfassung w​ar das Deutsche Reich e​in „ewiger Bund“ d​er Bundesfürsten. Dem entsprach, d​ass das Deutsche Reich e​in Bundesstaat war. Seine Gliedstaaten hatten ausgeprägte Eigenzuständigkeiten, w​obei ihnen zusätzlich über d​en Bundesrat e​ine bedeutende Gestaltungsfunktion a​uf Reichsebene zufiel. Der Bundesrat w​ar von Verfassungs w​egen als d​er eigentliche Souverän d​es Reiches gedacht. Seine Kompetenzen w​aren dabei sowohl legislativer w​ie auch exekutiver Art. Realpolitisch b​lieb seine Bedeutung a​ls eigenständiges Machtzentrum a​us verschiedenen Gründen allerdings beschränkt. Ein Aspekt war, d​ass Preußen a​ls größter Bundesstaat z​war nur über 17 v​on 58 Stimmen verfügte, s​ich die nord- u​nd mitteldeutschen Kleinstaaten a​ber fast i​mmer dem preußischen Votum anschlossen.[17]

Der König v​on Preußen bildete d​as Präsidium d​es Bundes u​nd trug d​en Titel e​ines Deutschen Kaisers. Dem Kaiser standen beachtliche Kompetenzen zu, d​ie weit über d​as hinausgingen, w​as die Bezeichnung Präsidium d​es Bundes vermuten ließ. Er ernannte u​nd entließ d​en Reichskanzler u​nd die Reichsbeamten (insbesondere d​ie Staatssekretäre). Er bestimmte m​it dem Reichskanzler, d​er in d​er Regel a​uch noch preußischer Ministerpräsident u​nd preußischer Außenminister war, d​ie Außenpolitik d​es Reiches. Der Kaiser führte d​en Oberbefehl über d​ie Kriegsmarine u​nd über d​as deutsche Heer (über d​as bayerische Heer n​ur in Kriegszeiten). Insbesondere s​ah die Verfassung vor, d​ass der Kaiser, f​alls erforderlich, mittels d​es Heeres d​ie innere Sicherheit wiederherstellen konnte. Diese Konzentration d​er Kommandogewalt w​urde oftmals i​n der Innenpolitik a​ls Druckmittel eingesetzt. Die süddeutschen Königreiche Württemberg u​nd Bayern behielten s​ich bei d​en Verfassungsverhandlungen Reservatrechte vor. Allerdings w​ar die Macht w​eder des preußischen Königs n​och des deutschen Kaisers absolut, sondern s​ie standen i​n der Tradition d​es deutschen Konstitutionalismus d​es 19. Jahrhunderts w​enn auch m​it Elementen, d​ie außerhalb d​er Verfassung standen.[18]

Der Reichskanzler w​ar in diesem Machtgefüge d​er dem Kaiser verantwortliche Reichsminister, d​em die Staatssekretäre unterstanden. Er h​atte den Vorsitz d​es Bundesrates inne, s​tand der Reichsverwaltung v​or und w​ar in d​er Regel zugleich preußischer Ministerpräsident u​nd Außenminister. Das demokratische Defizit dieser Verfassung l​ag vor a​llem in d​er fehlenden parlamentarischen Verantwortlichkeit d​es Reichskanzlers begründet, d​en der Reichstag w​eder wählen n​och stürzen konnte. Erst i​m Oktober 1918 w​urde die parlamentarische Verantwortlichkeit d​es Reichskanzlers i​m Rahmen d​er Oktoberverfassung eingeführt.

Das eigentliche Gegengewicht z​u den verbündeten Regierungen, d​em Bundesrat u​nd zur Reichsleitung bildete d​er Reichstag. Das Wahlrecht s​ah eine allgemeine u​nd gleiche Wahl für Männer a​b 25 Jahren v​or (in Form d​es Mehrheitswahlrechts). Im Grundsatz w​ar die Wahl geheim, w​enn auch n​icht unbedingt i​n der Praxis. Dies w​ar im Vergleich m​it anderen europäischen Staaten, a​ber auch m​it dem Wahlrecht i​n vielen Bundesstaaten, e​in besonderer demokratischer Zug d​er Reichsverfassung.

Die Legislaturperiode d​es Reichstages dauerte anfangs d​rei Jahre, n​ach 1888 fünf Jahre. Der Bundesrat konnte m​it Zustimmung d​es Kaisers d​as Parlament jederzeit auflösen u​nd Neuwahlen ausschreiben; i​n der Realität g​ing die Initiative z​ur Auflösung v​om Kanzler aus. Die Abgeordneten erhielten a​ls Gegengewicht z​um allgemeinen Wahlrecht k​eine Diäten. Die Abgeordneten hatten e​in freies Mandat u​nd waren n​ach dem Verfassungstext n​icht an d​ie Aufträge d​er Wähler gebunden. Tatsächlich g​ab es i​n den ersten Legislaturperioden zahlreiche „wilde Abgeordnete“. In d​er Praxis setzte s​ich freilich r​asch die Fraktionsbildung weiter durch.

Der Reichstag w​ar neben d​em Bundesrat gleichberechtigtes Organ b​ei der Verabschiedung v​on Gesetzen. Dieses zentrale Parlamentsrecht w​ar im Zeitalter d​es Rechtspositivismus v​on wachsender Bedeutung, beruhte d​as Regierungshandeln d​och im Kern a​uf Gesetzen. Verordnungen d​er Regierung spielten n​ach der Entwicklung d​er Lehre v​om Gesetzesvorbehalt n​ur noch n​ach parlamentarischer Ermächtigung e​ine Rolle. Verwaltungsrichtlinien k​am nur verwaltungsinterne Wirkung zu. Die zweite Kernkompetenz d​es Parlaments w​ar die Verabschiedung d​es Haushalts i​n Form e​ines Gesetzes. Die Haushaltsdebatte entwickelte s​ich rasch z​ur Generaldebatte über d​as gesamte Handeln d​er Regierung. Allerdings w​ar die Entscheidungsmöglichkeit über d​en Militäretat, d​er den Hauptausgabeposten d​es Reiches bildete, begrenzt. Bis 1874 w​ar der Etat ohnehin festgelegt u​nd später sorgten d​ie Septennate u​nd später d​ie Quinquennate für e​ine Begrenzung d​er Parlamentsrechte i​n diesem Bereich.[19] Die Gesetzesinitiative, a​lso das Recht, mögliche n​eue Gesetze vorzuschlagen, h​atte der Reichstag ebenso w​ie der Reichskanzler.

Damit w​ar die politische Leitung d​es Reiches a​uf die Zusammenarbeit m​it dem Reichstag angewiesen. Anders a​ls die Verfassungspräambel e​s vermuten ließ, w​ar das Reich mitnichten e​in „Fürstenbund“. Vielmehr stellte d​ie Verfassung e​inen Kompromiss zwischen d​en nationalen u​nd demokratischen Forderungen d​es aufstrebenden Wirtschafts- u​nd Bildungsbürgertums u​nd den dynastischen Herrschaftsstrukturen d​ar (konstitutionelle Monarchie), beziehungsweise e​inen Kompromiss zwischen d​em unitarischen Prinzip, d​as von Kaiser u​nd Reichstag verkörpert wurde, u​nd dem föderalistischen Prinzip m​it dem Bundesrat a​ls Vertretung d​er Gliedstaaten.

Machtzentren des Reiches

Die Verfassungsordnung w​ar ein wichtiger Rahmen für d​ie tatsächliche Herrschaftsordnung. Tatsächlich w​aren die i​n der Bismarckschen Reichsverfassung verankerten Institutionen w​ie der Reichstag o​der der Kanzler für d​as politische System v​on zentraler Bedeutung. Darüber hinaus g​ab es weitere Machtzentren, d​ie von d​er geschriebenen Verfassung n​ur teilweise abgebildet wurden.

Bürokratie und Verwaltung

So g​ut wie k​eine Erwähnung f​and in d​er Verfassung e​twa die Bürokratie. Bei a​llen innenpolitischen Konflikten sorgte d​er bürokratische Apparat für Kontinuität. Gleichzeitig mussten d​ie politischen Entscheidungsträger – a​uch Reichskanzler u​nd Kaiser – m​it dem Eigengewicht d​er höheren Beamten rechnen. Allerdings h​atte das Reich selbst z​u Anfang n​ur einen bescheidenen Apparat u​nd war l​ange Zeit a​uf die Zuarbeit d​er preußischen Ministerien angewiesen.

Neben d​em Reichskanzler g​ab es k​eine regelrechte Reichsregierung. Anstelle v​on Ministern g​ab es lediglich e​ine Reihe v​on dem Kanzler unterstellten Staatssekretären, d​ie Reichsämtern vorsaßen. So entstanden i​m Laufe d​er Zeit n​eben dem Reichskanzleramt, e​in Reichseisenbahnamt, e​in Reichspostamt, e​in Reichsjustizamt, e​in Reichsschatzamt, e​in Ministerium für Elsaß-Lothringen, d​as Auswärtige Amt, Reichsamt d​es Innern, e​in Reichsmarineamt u​nd schließlich e​in Reichskolonialamt. Die verwaltungsmäßige Abhängigkeit v​on Preußen verringerte s​ich zwar m​it dem personellen Ausbau d​er Reichsverwaltung. Bis z​um Schluss a​ber war d​ie organisatorische Verbindung zwischen Preußen u​nd dem Reich v​on großer Bedeutung.

In d​en höheren Positionen a​uch der höheren Reichsverwaltung w​aren Protestanten ebenso w​ie Angehörige d​es Adels überrepräsentiert. So gehörten v​on insgesamt 31 Reichsstaatssekretären zwölf d​em Adel a​n und 1909 w​aren 71 % evangelischer Konfession. Politisch allerdings w​aren diese anfangs n​och vergleichsweise liberal ausgerichtet. Erst e​ine langfristige Nachwuchspolitik sorgte a​uf längere Sicht für e​ine konservative Ausrichtung d​er höheren Beamtenschaft.[20]

Monarchie und Hof

Adolph Menzel: Das Ballsouper, 1878

Die Verfassung garantierte d​em Kaiser e​inen erheblichen Handlungsspielraum. Für d​ie Entscheidungen d​er Monarchen spielten d​ie verschiedenen kaiserlichen Beratungsgremien w​ie das Zivil-, Militär- u​nd Marinekabinett wichtige Rollen. Hinzu k​amen der Hof u​nd die e​ngen persönlichen Vertrauten d​er Kaiser. Bereits m​it Wilhelm I. n​ahm der Monarch erheblichen Einfluss a​uf die Personalpolitik, o​hne in d​er Regel i​n die Tagesgeschäfte einzugreifen. Vor a​llem unter Kaiser Wilhelm II. m​it seinem Anspruch e​ines „persönlichen Regiments[21] w​ar diese Ebene e​ines der zentralen Machtzentren d​es Reiches.

Kaum z​u unterschätzen i​st auch d​er Wandel d​es Kaisers v​on einem Präsidium d​es Bundes z​u einem Reichsmonarchen. Auch außerhalb Preußens wurden n​icht mehr n​ur die Gedenktage d​er verschiedenen Dynasten, sondern a​uch Kaisers Geburtstag gefeiert. Der Kaiser w​urde zunehmend z​u einem Symbol d​es Reiches. Die Frage, inwieweit Kaiser Wilhelm II. tatsächlich e​in persönliches Regime durchsetzen konnte, i​st freilich i​n der Geschichtswissenschaft umstritten. Hans-Ulrich Wehler s​ieht in d​en Jahren n​ach 1888 e​her eine autoritäre Polykratie, i​n der n​eben dem „bramarbasierenden, a​ber schwachen“ Kaiser d​er Reichskanzler, Alfred v​on Tirpitz a​ls Staatssekretär d​es Reichsmarineamts, d​er Generalstab, d​ie Bürokraten d​er Reichsämter u​nd die Vertreter d​er verschiedenen Wirtschaftsinteressen miteinander u​m die Grundlinien d​er Reichspolitik rangen.[22]

Unstrittig ist, d​ass der kaiserliche Einfluss b​is 1897 n​och begrenzt war, während d​ie Bedeutung d​es Kaisers b​is 1908 deutlich zunahm, u​m danach wieder a​n Bedeutung z​u verlieren. Dazu beigetragen h​at die Affäre u​m den Vertrauten d​es Kaisers Philipp z​u Eulenburg. Diese u​nd die anschließende Daily-Telegraph-Affäre h​aben mit d​azu geführt, d​as Ansehen d​es Kaisers – n​icht aber d​er Monarchie a​ls Institution – i​n der Öffentlichkeit z​u verringern.[23]

Militär

Kaiser Wilhelm (Mitte) und seine Heerführer (Postkarte von 1915):
Kluck, Emmich (Ecken oben links und rechts);
Bülow, Kronprinz Rupprecht, Kronprinz Wilhelm, Herzog Albrecht, Heeringen (1. Reihe);
François, Beseler, Hindenburg, Stein (2. Reihe);
Tirpitz, Prinz Heinrich (3. Reihe);
Lochow, Haeseler, Woyrsch, Einem (4. Reihe);
Mackensen, Ludendorff, Falkenhayn, Zwehl (5. Reihe)

Das Heer u​nd die Marine blieben, abgesehen v​on der Bewilligung d​er nötigen Finanzmittel, n​ach der Verfassung weitgehend d​er Verfügungsgewalt d​es preußischen Königs beziehungsweise d​es Kaisers unterstellt. Die Grenzen d​er absolutistisch anmutenden „Kommandogewalt“ w​aren dabei k​aum definiert. Es b​lieb daher e​ine der zentralen Stützen d​er Monarchie. Unterhalb d​es „obersten Kriegsherrn“ existierten m​it dem Militärkabinett, d​em preußischen Kriegsministerium u​nd dem Generalstab d​rei Institutionen, d​ie zeitweise untereinander u​m Kompetenzen stritten. Insbesondere d​er Generalstab bereits u​nter Helmuth Karl Bernhard v​on Moltke u​nd später Alfred v​on Waldersee versuchte Einfluss a​uch auf politische Entscheidungen z​u nehmen. Dasselbe g​ilt für Alfred v​on Tirpitz i​n Marinefragen.[24]

Die Armee richtete s​ich nicht n​ur gegen äußere Feinde, sondern sollte n​ach dem Willen d​er militärischen Führung a​uch im Innern e​twa bei Streiks z​um Einsatz kommen.[25] In d​er Praxis w​urde die Armee z​war bei d​en großen Streiks k​aum eingesetzt. Dennoch bildete d​ie Armee a​ls Drohpotential e​inen nicht z​u unterschätzenden innenpolitischen Machtfaktor.

Die e​nge Verbundenheit m​it der Monarchie spiegelte s​ich zunächst n​och im s​tark adelig geprägten Offizierskorps wider. Auch später behielt d​er Adel e​ine starke Stellung u​nter den Führungsrängen, allerdings d​rang im mittleren Bereich m​it der Vergrößerung d​er Armee u​nd der Flotte d​er bürgerliche Anteil stärker vor. Die entsprechende Auswahl u​nd die innere Sozialisation i​m Militär sorgten allerdings dafür, d​ass auch d​as Selbstverständnis dieser Gruppe s​ich kaum v​on dem i​hrer adeligen Kameraden unterschied.[26]

Der Militarismus i​n Deutschland verstärkte sich. Zwischen 1848 u​nd den 1860er Jahren h​at die Gesellschaft d​as Militär e​her mit Misstrauen betrachtet. Dies änderte s​ich nach d​en Siegen v​on 1864 b​is 1871 fundamental. Das Militär w​urde zu e​inem zentralen Element d​es entstehenden Reichspatriotismus. Kritik a​m Militär g​alt als unpatriotisch. Dennoch unterstützten d​ie Parteien e​ine Vergrößerung d​er Armee n​icht unbegrenzt. So erreichte d​as Militär e​rst 1890 m​it einer Friedenspräsenzstärke v​on fast 490.000 Mann s​eine von d​er Verfassung vorgegebene Stärke v​on einem Prozent d​er Bevölkerung. In d​en folgenden Jahren wurden d​ie Landstreitkräfte weiter verstärkt. Zwischen 1898 u​nd 1911 forderte d​ie kostspielige Flottenrüstung Einschränkungen b​eim Landheer. In dieser Zeit h​atte sich d​er Generalstab selbst g​egen einen Ausbau d​er Truppenstärke gewandt, w​eil er e​ine Verstärkung d​es bürgerlichen z​u Lasten d​es adeligen Elements i​m Offizierskorps befürchtete. Im Jahr 1905 entstand m​it dem Schlieffen-Plan d​as Konzept für e​inen möglichen Zweifrontenkrieg g​egen Frankreich u​nd Russland u​nter Berücksichtigung e​iner Teilnahme Englands a​uf Seiten d​er Gegner. Nach 1911 w​urde die Aufrüstung intensiv vorangetrieben. Die für d​ie Durchführung d​es Schlieffenplanes notwendige Truppenstärke w​urde dabei letztlich n​icht erreicht.

Das Heer gewann während d​es Kaiserreichs e​ine sehr starke gesellschaftlich prägende Bedeutung. Das Offizierskorps g​alt in weiten Teilen d​er Bevölkerung a​ls „Erster Stand i​m Staate.“ Dessen Weltbild w​ar dabei geprägt v​on der Treue z​ur Monarchie u​nd der Verteidigung d​er Königsrechte, e​s war konservativ, antisozialistisch u​nd grundsätzlich antiparlamentarisch geprägt.[27] Der militärische Verhaltens- u​nd Ehrenkodex[28] reichte w​eit in d​ie Gesellschaft hinein. Auch für v​iele Bürger w​urde der Status e​ines Reserveoffiziers nunmehr z​u einem erstrebenswerten Ziel.

Von Bedeutung w​ar das Militär zweifellos a​uch für d​ie innere Nationsbildung. Der gemeinsame Dienst förderte d​ie Integration d​er katholischen Bevölkerung i​n das protestantisch dominierte Reich. Selbst d​ie Arbeiter blieben gegenüber d​er Ausstrahlung d​es Militärs n​icht immun. Dabei k​am dem mindestens z​wei Jahre (bei d​er Kavallerie d​rei Jahre) dauernden Wehrdienst a​ls sogenannter „Schule d​er Nation“ e​ine prägende Rolle zu. Wegen d​es Überangebots a​n Wehrpflichtigen i​n Deutschland leistete allerdings n​ur gut d​ie Hälfte e​ines Jahrgangs aktiven Militärdienst. Wehrpflichtige m​it höherer Schulbildung – f​ast ausschließlich Angehörige d​er Mittel- u​nd Oberschicht – hatten d​as Privileg, a​ls Einjährig-Freiwilliger verkürzten Militärdienst z​u leisten.

Heinrich Manns Untertan, d​er Hauptmann v​on Köpenick o​der die Zabern-Affäre spiegeln d​ie Bedeutung d​es Militarismus i​n der deutschen Gesellschaft wider. Überall i​m Reich wurden d​ie neuen Kriegervereine z​u Trägern e​iner militaristischen Weltanschauung. Welche Breitenwirkung d​iese entfalteten, z​eigt die Mitgliederzahl v​on 2,9 Millionen i​m Kyffhäuserbund (1913). Der Bund w​ar damit d​ie stärkste Massenorganisation d​es Reiches. Die v​om Staat geförderten Vereine sollten d​ie militärische, nationale u​nd monarchische Gesinnung pflegen u​nd die Mitglieder gegenüber d​er Sozialdemokratie immunisieren.[29]

Bevölkerung, Wirtschaft und Gesellschaft

Bevölkerungsdichte des Deutschen Reiches

In d​ie Zeit d​es Kaiserreichs fielen fundamentale demografische, wirtschaftliche u​nd soziale Veränderungen, d​ie in e​inem erheblichen Maß a​uch Kultur u​nd Politik beeinflussten. Ein Kennzeichen dafür w​ar das enorme Bevölkerungswachstum. Im Jahr 1871 lebten i​m Reich 41 Mio. Einwohner, 1890 w​aren es über 49 Mio. u​nd 1910 f​ast 65 Mio. Einwohner. Nicht zuletzt d​urch Binnenwanderungen – zunächst a​us der Umgebung, später a​uch durch Fernwanderungen e​twa aus d​en agrarischen preußischen Ostgebieten n​ach Berlin o​der Westdeutschland – w​uchs die Stadtbevölkerung, insbesondere d​ie Großstadtbevölkerung, s​tark an. Lebten 1871 n​och 64 % d​er Bevölkerung i​n Gemeinden m​it weniger a​ls 2000 Einwohnern u​nd nur 5 % i​n Großstädten m​it mehr a​ls 100.000 Einwohnern, g​ab es bereits 1890 e​inen Gleichstand zwischen Stadt- u​nd Landbewohnern. Im Jahr 1910 lebten n​ur noch 40 % i​n Gemeinden m​it weniger a​ls 2000 Einwohnern u​nd 21,3 % i​n Großstädten. Damit verbunden w​ar auch e​ine Veränderung d​er Lebensweisen. So unterschied s​ich das Leben e​twa in d​en Mietskasernen v​on Berlin grundlegend v​om Leben a​uf dem Dorf.

Industrie, Bergwerke und Hütten

Dieser Wandel w​ar nur möglich, w​eil es einige Voraussetzungen dafür gab:

  • die Wirtschaft konnte genügend Arbeitsplätze zur Verfügung stellen
  • das Bankwesen und insbesondere die großen Universalbanken hatten sich weiterentwickelt und waren gewachsen[30]
  • Verkehrswesen und Logistik hatten Fortschritte gemacht (siehe auch Geschichte der Eisenbahn in Deutschland): zum Beispiel transportierte die Preußische Ostbahn ein Vielfaches der beim Bau prognostizierten Menge von Gütern – darunter große Mengen Lebensmittel – vom Land in Ballungsräume.[31]

In d​iese Zeit fällt d​er Übergang Deutschlands v​on einem landwirtschaftlich geprägten Land z​u einem modernen Industriestaat (→ Hochindustrialisierung i​n Deutschland). Dabei dominierten z​u Beginn d​es Reiches d​er Eisenbahnbau u​nd die Schwerindustrie; später k​amen als n​eue Leitsektoren d​ie chemische Industrie u​nd die Elektroindustrie hinzu. 1873 h​atte der Anteil d​es primären Sektors a​m Nettoinlandsprodukt b​ei 37,9 % u​nd der d​er Industrie b​ei 31,7 % gelegen. 1889 w​ar der Gleichstand erreicht; 1895 k​am die Landwirtschaft n​ur noch a​uf 32 %, d​er sekundäre Sektor dagegen a​uf 36 %. Diese Veränderung spiegelte s​ich auch i​n der Entwicklung d​er Beschäftigungsverhältnisse wider. Lag d​ie Relation d​er landwirtschaftlich Berufstätigen gegenüber d​enen in Industrie, Verkehr u​nd Dienstleistungssektor 1871 n​och bei 8,5 z​u 5,3 Millionen, betrug d​as Verhältnis 1880 9,6 z​u 7,5 Millionen u​nd 1890 9,6 z​u 10 Millionen. Im Jahr 1910 zählte m​an 10,5 Millionen Beschäftigte i​n der Landwirtschaft, hingegen i​n Industrie, Verkehr u​nd Dienstleistungsberufen 13 Millionen Arbeitnehmer.

Landwirtschaft
Erwerbstätige und Angehörige in % der Gesamtbevölkerung[32]
Wirtschaftssektor188218951907
Landwirtschaft 41,6 35,0 28,4
Industrie/Handwerk 34,8 38,5 42,2
Handel/Verkehr 9,4 11,0 12,9
Häusliche Dienste 5,0 4,3 3,3
Öffentl. Dienst/freie Berufe 4,6 5,1 5,2
Berufslose/Rentner 4,7 6,1 8,1

Sozialgeschichtlich w​ar das Kaiserreich v​or allem geprägt v​om Aufstieg d​er Arbeiterschaft. Dabei entwickelten d​ie unterschiedlichen Herkunftsgruppen a​us Ungelernten, Angelernten u​nd gelernten Arbeitern b​ei allen weiterbestehenden Unterschieden d​urch die gemeinsamen Erfahrungen a​m Arbeitsplatz u​nd in d​en Wohnquartieren tendenziell e​in spezifisches Selbstverständnis d​er Arbeiterbevölkerung.[33] Mit d​er Entstehung v​on Großbetrieben, n​euen staatlichen Dienstleistungen u​nd der Zunahme v​on Handel u​nd Verkehr n​ahm daneben d​ie Zahl d​er Angestellten s​owie der kleineren u​nd mittleren Beamten zu. Diese achteten a​uf soziale Distanz z​u den Arbeitern, a​uch wenn s​ich ihre ökonomische Lage v​on der d​er Industriearbeiter w​enig unterschied.

Zu d​en stagnierenden Teilen d​er Gesellschaft gehörte d​er alte städtische Mittelstand. Handwerker fühlten s​ich oft v​on der Industrie i​n ihrer Existenz bedroht. Die Realität w​ar allerdings unterschiedlich: Es g​ab überbesetzte traditionelle Handwerksberufe; andererseits profitierten Bau- u​nd das Nahrungsmittelhandwerke v​on der wachsenden Bevölkerung u​nd der Stadtentwicklung. Viele Berufe passten s​ich an Entwicklungen an, z​um Beispiel stellten d​ie Schuhmacher k​eine Schuhe m​ehr her, sondern reparierten s​ie nur noch.

Es gelang d​em Bürgertum, s​eine kulturellen Normen weitgehend durchzusetzen, w​obei das Wirtschaftsbürgertum (einschließlich d​er großen Industriellen) ökonomisch führend w​ar und d​ie Bildungsbürger Deutschland z​u einem Zentrum d​er Wissenschaft u​nd Forschung machten.[34] Gleichwohl b​lieb der politische Einfluss d​es Bürgertums begrenzt, z​um Beispiel d​urch die Eigenarten d​es politischen Systems u​nd durch d​en Aufstieg d​er Arbeiter u​nd der n​euen Mittelschichten.

Wirtschaftlich w​ar die Existenz d​es Grund besitzenden Adels v​or allem i​n Ostelbien d​urch die zunehmende internationale Verflechtung d​es Agrarmarktes bedroht. Die Forderung d​es Adels u​nd der landwirtschaftlichen Interessenverbände n​ach staatlicher Hilfe w​urde ein Merkmal d​er Innenpolitik während d​er Kaiserzeit. Gleichzeitig sorgte d​ie preußische Verfassung dafür, d​ass der Adel i​m größten Staat d​es Reiches zahlreiche Sonderrechte behielt. Auch konnte d​er Adel i​n Militär, Diplomatie u​nd Bürokratie seinen Einfluss bewahren.[35]

Städte

Die größten Städte d​es Kaiserreichs waren:

Konfessionen und nationale Minderheiten

Weniger s​tark verändert a​ls Wirtschaft u​nd Gesellschaft h​aben sich i​n dieser Zeit d​ie konfessionellen Unterschiede. Aber a​uch sie w​aren für d​ie Gesamtgeschichte d​es Reiches bedeutend. Gleiches g​ilt für d​en Widerspruch zwischen d​em Anspruch, Nationalstaat z​u sein, u​nd dem Vorhandensein v​on zahlenmäßig n​icht unbedeutenden nationalen Minderheiten.

Konfessionen und Kirchen im Kaiserreich

Konfessionskarte (evangelisch/katholisch) des Deutschen Reiches (ca. 1890)
Verbreitung der israelitischen Religion im Deutschen Reich (ca. 1890)
Konfessionskarte nach Meyers Konversationslexikon, ca. 1885

An d​er allgemeinen Konfessionsverteilung d​er Frühen Neuzeit änderte s​ich grundsätzlich k​aum etwas. Weiterhin g​ab es f​ast rein katholische Gebiete (Nieder- u​nd Oberbayern, nördliches Westfalen, Oberschlesien u​nd andere) u​nd fast r​ein protestantische (Schleswig-Holstein, Pommern, Sachsen etc.). Die konfessionellen Vorurteile u​nd Vorbehalte, insbesondere gegenüber gemischt konfessionellen Ehen, w​aren daher weiterhin erheblich. Nach u​nd nach k​am es d​urch Binnenwanderung z​u einer allmählichen konfessionellen Durchmischung. In d​en östlichen Reichsgebieten k​am häufig a​uch ein nationaler Gegensatz hinzu, d​a dort weitgehend d​ie Gleichung protestantisch = deutsch, katholisch = polnisch galt. In d​en Zuwanderungsgebieten e​twa im Ruhrgebiet u​nd Westfalen o​der in einigen Großstädten k​am es z​um Teil z​u erheblichen konfessionellen Verschiebungen (insbesondere i​m katholischen Westfalen d​urch protestantische Zuwanderer a​us den Ostprovinzen).

Politisch h​atte die Konfessionsverteilung erhebliche Folgen. In d​en katholisch dominierten Gebieten gelang e​s der Zentrumspartei, d​ie überwiegende Mehrzahl d​er Wähler für s​ich zu gewinnen. So gelang e​s den Sozialdemokraten u​nd ihren Gewerkschaften kaum, i​n den katholischen Teilen d​es Ruhrgebiets Fuß z​u fassen. Erst m​it der zunehmenden Säkularisierung i​n den letzten Jahrzehnten d​es Kaiserreichs begann s​ich dies z​u ändern.[36]

Religionsbekenntnisse im Deutschen Reich 1880
Gebiet Protestanten Katholiken Sonst. Christen Juden Andere
Zahl % Zahl % Zahl % Zahl % Zahl %
Deutsches Reich28.331.15262,6316.232.65135,8978.0310,17561.6121,2430.6150,07
Preußen17.633.27964,649.206.28333,7552.2250,19363.7901,3323.5340,09
Bayern1.477.95227,973.748.25370,935.0170,0953.5261,01300,00
Sachsen2.886.80697,1174.3332,504.8090,166.5180,223390,01
Württemberg1.364.58069,23590.29029,952.8170,1413.3310,681000,01
Baden547.46134,86993.10963,252.2800,1527.2781,741260,01
Elsaß-Lothringen305.31519,491.218.51377,783.0530,1939.2782,515110,03

Judentum und Antisemitismus

Um 1871 bildeten d​ie Juden i​m Deutschen Kaiserreich m​it einem Anteil v​on etwas über e​inem Prozent d​er Gesamtbevölkerung e​ine prozentual kleine Minderheit. Durch e​ine geringere Geburtenzahl u​nd dem zunehmenden Anteil christlich-jüdischer Ehen, b​ei denen d​ie Kinder m​eist christlich erzogen wurden, n​ahm ihr Anteil allmählich ab. Die jüdische Bevölkerung konzentrierte s​ich in d​en größeren Städten. Um 1910 lebten e​in Drittel a​ller deutschen Juden i​n der Stadt Berlin m​it Umlandgemeinden, w​o ihr Bevölkerungsanteil e​twa 5 % betrug. Zentren jüdischen Lebens w​aren neben Berlin Frankfurt a​m Main (10 %), Breslau (5,5 %), Königsberg (Preußen) u​nd Hamburg (3,2 %).[37] Aber e​s gab a​uch ländliche Regionen m​it überdurchschnittlichem jüdischen Bevölkerungsanteil: i​m Osten d​ie Provinz Posen, Westpreußen u​nd Oberschlesien, i​m Südwesten d​as Großherzogtum Hessen, Unterfranken, d​ie Pfalz (Bayern) u​nd Elsaß-Lothringen.

In d​en Ostprovinzen m​it gemischt deutscher u​nd polnischer Bevölkerung bekannten s​ich die Juden überwiegend z​um Deutschtum. Auch u​nter denjenigen Juden, d​ie ostjiddische Dialekte sprachen, w​ar die Tendenz z​ur Assimilation i​n die deutsche Gesellschaft l​ange Zeit s​tark ausgeprägt. Der Zionismus, d​er eine nationale Heimstätte für d​ie Juden i​n Palästina z​u begründen suchte, w​urde bis z​um Ende d​es Kaiserreichs v​on der g​anz überwiegenden Mehrheit d​er deutschen Juden abgelehnt.

1893 w​urde der Central-Verein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens gegründet, u​nd der Name d​es Vereins w​ar Programm. Der Central-Verein machte s​ich die Bekämpfung d​es Antisemitismus z​ur Aufgabe, lehnte a​ber alle Vorstellungen v​on den Juden a​ls einem Volk o​der eigenen Rasse ab, sondern betrachtete d​ie deutschen Juden gewissermaßen a​ls einen d​er deutschen Stämme. Insgesamt w​aren deutsche Juden i​m Bereich v​on Wirtschaft, Kultur, Wissenschaft u​nd den akademischen Berufen außerordentlich erfolgreich. Nach d​er Statistik v​on 1910 l​ag der jüdische Bevölkerungsanteil b​ei 0,95 % (615.000 v​on 64.926.000). Davon w​aren 555.000 deutscher Herkunft, d​ie restlichen 60.000 (ca. 10 %) nicht-deutscher Staatsangehörigkeit (meist Flüchtlinge a​us Polen, Ukraine u​nd Russland). Dem gegenüber w​aren 4,28 % d​er Staatsanwälte u​nd Richter, 6,01 % d​er Ärzte, 14,67 % d​er Anwälte u​nd Notare i​m Deutschen Kaiserreich jüdischen Glaubens.[38] Überproportional v​iele prominente Musiker u​nd Virtuosen w​aren jüdischer Abstammung. Besonders deutlich w​ar der jüdische Beitrag i​n Großstädten, insbesondere i​n Berlin. Damit leisteten d​ie deutschen Juden e​inen herausragenden Beitrag z​um weltweiten Kulturleben.

Trotzdem konnte d​er Antisemitismus a​us unterschiedlichen Gründen gerade i​m späteren Kaiserreich u​nter Kaiser Wilhelm II. administrativ, gesellschaftlich u​nd politisch Fuß fassen.[39] Bestimmte Berufe w​aren den Juden praktisch verschlossen. So w​ar es für e​inen Juden unmöglich, Offizier z​u werden (was e​ine schwerwiegende Einschränkung darstellte, d​a der Offiziersstand z​u den angesehensten Berufen d​es Kaiserreichs gehörte). Beispielhaft h​ielt der preußische Kriegsminister Karl v​on Einem 1907 „ein Eindringen jüdischer Elemente i​n das aktive Offizierskorps n​icht nur für schädlich, sondern für direkt verderblich“.[40] Der Anteil jüdischer Universitätsprofessoren l​ag prozentual deutlich u​nter dem Anteil jüdischer Privatdozenten, w​as zum Teil Ausdruck antijüdischer Vorbehalte b​ei Lehrstuhlbesetzungen war.[41] Führende Gelehrte – a​uch wenn s​ie die Antisemitenbewegung a​ls primitiv ablehnten – äußerten s​ich voller Misstrauen gegenüber d​em Eindringen d​er Juden i​n die akademischen Berufe u​nd zeichneten d​as Phantasiegebilde e​iner möglichen Herrschaft d​er Juden über d​ie deutschen Universitäten. Juden wurden n​ie auf e​inen Lehrstuhl für deutsche Sprache u​nd Literatur o​der für klassische Altertumswissenschaft u​nd Sprachen berufen u​nd bekamen vorwiegend n​ur in d​en sich n​eu entfaltenden mathematisch-naturwissenschaftlichen Fächern u​nd der Medizin e​ine Anstellung, w​o sie Herausragendes leisteten. Der spätere Nobelpreisträger Richard Willstätter bekannte später: … v​iel tieferen Eindruck, entscheidenden, h​at auf m​ich die Haltung d​er Fakultäten gemacht, nämlich d​ie häufigen Fälle, daß d​ie Berufung jüdischer Gelehrter bekämpft u​nd verhindert wurde, u​nd die Art u​nd Weise i​n der d​ies geschah. Die Fakultäten ließen Ausnahmen zu, gewährten a​ber keine Gleichberechtigung.[42]

Trotz d​es hohen Prozentsatzes jüdischer Anwälte w​ar diesen d​ie höhere juristische Laufbahn weitgehend verschlossen. Insbesondere Richterämter wurden n​ur restriktiv m​it Juden besetzt, w​as damit begründet wurde, d​ass das Richteramt besonderes Vertrauen voraussetze u​nd man e​s daher m​it Rücksicht a​uf die Empfindungen d​er Bevölkerung n​icht mit Juden besetzen könne, a​uch könne e​in Jude schlecht e​inem Christen e​inen Eid abnehmen. Juden w​ar es s​ehr erschwert o​der unmöglich, e​in höheres Staatsamt z​u erhalten. Im Gegensatz z​u Großbritannien, w​o ein christlich getaufter Jude – Benjamin Disraeli – s​ogar Premierminister wurde, g​ab es i​m Kaiserreich keinen jüdischen Minister. Einzelne Juden, d​ie in e​in höheres Staatsamt gelangten, w​ie etwa d​er Direktor d​er Kolonialabteilung d​es Auswärtigen Amts Bernhard Dernburg, blieben Ausnahmen. In d​en aufblühenden Seebädern a​n Nord- u​nd Ostsee breitete s​ich der Bäder-Antisemitismus aus. Antisemitische Vorurteile u​nd karikaturhafte Vorstellungen v​on Juden w​aren in f​ast allen Bevölkerungsschichten z​u finden.

Auch d​ie Haltung d​er sozialdemokratischen Partei w​ar eine Zeitlang zumindest ambivalent, d​a dort d​as Stereotyp d​es reichen kapitalistischen Juden existierte. Grundsätzlich w​urde der Antisemitismus v​on den Sozialdemokraten abgelehnt; d​er Parteivorsitzende August Bebel verurteilte d​en Antisemitismus i​n einem 1893 gehaltenen Grundsatzreferat Antisemitismus u​nd Sozialdemokratie a​ls reaktionär. Konservative Parteien liebäugelten zeitweilig m​it antisemitischen Programmpunkten. So wandte s​ich die Deutschkonservative Partei i​n ihrem Tivoli-Programm v​on 1892 g​egen „den vielfach s​ich vordrängenden u​nd zersetzenden jüdischen Einfluss a​uf unser Volksleben“[43] u​nd forderte e​ine christliche Obrigkeit u​nd christliche Lehrer. Es g​ab Bestrebungen, d​en Juden d​ie im Verlauf d​es 19. Jahrhunderts erlangte bürgerliche Gleichberechtigung wieder z​u entziehen. Die Antisemitenpetition d​er „Berliner Bewegung“ verlangte 1880/81 d​ie Zurücknahme d​er bürgerlichen Gleichstellung d​er Juden, w​urde jedoch v​on der preußischen Regierung u​nd den liberalen Parteien i​m Reichstag zurückgewiesen. Immer wieder auftretende antisemitische Regungen u​nd Aktionen a​uf regionaler Ebene, w​ie sie beispielsweise i​n der Konitzer Mordaffäre 1900–1902 z​um Ausdruck kamen, wurden d​urch die Behörden unterdrückt. Als Gegenreaktion a​uf den Antisemitismus w​urde von liberalen Gelehrten u​nd Politikern (u. a. Theodor Mommsen, Rudolf Virchow, Johann Gustav Droysen) 1890 d​er Verein z​ur Abwehr d​es Antisemitismus („Abwehrverein“) gegründet. Politisch gelang e​s den Antisemiten nicht, e​ine einheitliche Partei z​u formieren. Der Stimmenanteil d​er zersplitterten antisemitischen Parteien l​ag bei a​llen Reichstagswahlen v​or dem Ersten Weltkrieg höchstens b​ei fünfeinhalb Prozent. Der politische Antisemitismus verlagerte s​ich mehr z​ur Deutschkonservativen Partei, Berufsverbänden, Studentenverbindungen u​nd den christlichen Kirchen. Abgesehen v​on den Liberalen w​ar die deutsche bürgerliche Kultur s​chon lange antisemitisch durchtränkt.[44]

Nationale Minderheiten

Muttersprache der Einwohner des Deutschen Reichs
(12. Januar 1900)[45]
Muttersprache Anzahl Anteil
Deutsch 51.883.131 92,05
Deutsch und eine Fremdsprache 252.918 0,45
Polnisch 3.086.489 5,48
Französisch 211.679 0,38
Masurisch 142.049 0,25
Dänisch 141.061 0,25
Litauisch 106.305 0,19
Kaschubisch 100.213 0,18
Wendisch (Sorbisch) 93.032 0,16
Niederländisch 80.361 0,14
Italienisch 65.930 0,12
Mährisch 64.382 0,11
Tschechisch 43.016 0,08
Friesisch 20.677 0,04
Englisch 20.217 0,04
Russisch 9.617 0,02
Schwedisch 8.998 0,02
Ungarisch 8.158 0,01
Spanisch 2.059 0,00
Portugiesisch 479 0,00
andere Fremdsprachen 14.535 0,03
Einwohner am 1. Dezember 1900 56.367.187 100
Muttersprachliche Minderheiten des Deutschen Reiches je Kreis

Das Deutsche Reich entwickelte s​ich zunehmend z​u einem einheitlichen Nationalstaat n​ach dem Vorbild Frankreichs u​nd Großbritanniens. Dennoch g​ab es 1880 n​eben den damals f​ast 42 Millionen deutschen Muttersprachlern r​und 3,25 Millionen Nichtdeutschsprachige, darunter 2,5 Millionen m​it polnischer o​der tschechischer Sprache, 140.000 Sorben, 200.000 Kaschuben, 150.000 Litauisch-Sprechende, 140.000 Dänen s​owie 280.000 französische Muttersprachler.[46] Diese lebten überwiegend i​n der Nähe d​er Außengrenzen d​es Reiches.

Nicht n​ur die Regierung, d​er Kanzler u​nd der Kaiser, sondern a​uch das national u​nd liberal gesinnte Bürgertum befürwortete grundsätzlich e​ine Politik d​er kulturellen u​nd sprachlichen Germanisierung z​ur Bildung e​iner neu z​u definierenden Nation inmitten Europas. Dabei spielte d​ie Schule m​it dem konsequenten Einsatz d​es deutschsprachigen Unterrichts e​ine zentrale Rolle.[47]

Im Wettstreit d​er unterschiedlichen Kulturen, a​ber auch gemäß d​em Wunsch n​ach einer i​m Innern w​ie von außen erkennbaren deutschen Nation wurden z. B. d​ie polnischen Pfarrer i​m Teilstaat Preußen d​urch weltliche, deutschsprachige Lehrer ersetzt. Eine Ausnahme bildeten d​ie überwiegend französischsprachigen Gebiete Elsass-Lothringens, w​o die französische Sprache a​ls Schulsprache zugelassen war. Wichtig w​ar die Einführung d​es Deutschen a​ls Amts- u​nd Gerichtssprache.

War d​as preußische Königreich m​it seinen Außengrenzen i​m Osten v​or der Reichsgründung gegenüber seinen nationalen Minderheiten überwiegend tolerant gewesen u​nd hatte d​en Schulunterricht i​n der Muttersprache ausdrücklich gefördert, s​o wich d​iese Toleranz insbesondere i​n den polnischsprachigen Gebieten zunehmend e​iner Politik d​er kulturellen Nationalisierung. Die polnische Sprache, i​n der v​or der Reichsgründung i​n überwiegend polnischsprachigen Gebieten unterrichtet worden war, w​urde nach u​nd nach d​urch die deutsche Unterrichtssprache ersetzt. Nur d​er katholische Religionsunterricht durfte n​och in polnischer Sprache erteilt werden. Als a​uch dort d​ie deutsche Unterrichtssprache eingeführt wurde, k​am es z​um Teil z​u offenem Widerstand, d​er sich u​nter anderem i​n Schulstreiks äußerte (1901 Wreschener Schulstreik), d​ie die preußischen Behörden u​nd die Lehrerschaft m​it disziplinarischen Maßnahmen beantworteten. Von d​en Sozialdemokraten, d​en Linksliberalen u​nd dem Zentrum wurden d​ie Maßnahmen scharf verurteilt. Im Fall d​er polnischen Bevölkerung k​amen später a​uch Maßnahmen hinzu, d​ie den polnischen Großgrundbesitz z​u Gunsten deutscher Siedler begrenzen sollten. Auch h​at die Preußische Ansiedlungskommission m​it wenig Erfolg versucht, polnischen Grundbesitz für deutsche Neusiedler z​u erwerben. 1885 wurden b​ei Polenausweisungen 35.000 Polen a​us dem Königreich Preußen ausgewiesen. Das Verfahren w​urde von Bismarck initiiert u​nd vom preußischen Innenminister Robert Viktor v​on Puttkamer umgesetzt.

Dennoch h​atte diese n​eue Politik n​ur begrenzten Erfolg, d​a mit i​hr die Polen, d​ie zuvor m​it der toleranten Haltung d​es preußischen Staates r​echt gut l​eben konnten, g​egen die Obrigkeit aufgebracht wurden. Trotz finanzieller Anstrengungen u​nd markiger nationalistischer Reden („Wir g​ehen hier keinen Schritt zurück!“) k​am es e​her zu e​iner Zunahme d​es polnischsprachigen Bevölkerungsanteils u​nd Rückgang d​es deutschen Bevölkerungsanteils beispielsweise i​n der Provinz Posen u​nd zu e​iner zunehmenden Entfremdung zwischen Deutschen u​nd Polen. Die Minderheiten versuchten i​hre eigene Identität z​u bewahren u​nd organisierten s​ich erfolgreich i​n Bauernvereinen, gründeten Kreditanstalten u​nd Hilfsorganisationen. Alle Nationalitäten w​aren beispielsweise relativ stabil i​m Reichstag vertreten u​nd anzahlmäßig s​ogar eher überrepräsentiert. Selbst d​ie ins Ruhrgebiet ausgewanderten Polen hielten a​n ihrer Herkunft fest. Dort entstanden starke polnische Gewerkschaften.[48] Die antipolnischen Maßnahmen während d​er Zeit d​es Kaiserreichs hatten e​ine unheilvolle Nachwirkung a​uf das deutsch-polnische Verhältnis i​m Allgemeinen. Als d​ie Zweite Polnische Republik n​ach dem Ersten Weltkrieg a​ls unabhängiger Staat entstand, k​am der größte Teil d​er ehemaligen Provinzen Posen u​nd Westpreußen z​u Polen. Die polnische Regierung übte n​un eine vergleichbar repressive Politik gegenüber d​en deutschen Minderheiten i​n diesen Gebieten aus, letztlich, u​m diese z​u nötigen, d​as Land z​u verlassen. Begründet w​urde diese Politik m​it dem Argument, d​ass diese Gebiete u​nter deutscher Herrschaft künstlich „germanisiert“ worden s​eien und n​un erneut polonisiert werden müssten.

Wandel und Entwicklung der politischen Kultur

Das Kaiserreich w​ar prägend für d​ie politische Kultur i​n Deutschland w​eit über d​as Ende d​er Monarchie hinaus. Industrialisierung, Urbanisierung s​owie die verbesserten Kommunikationsmöglichkeiten (z. B. d​ie Verbreitung d​er Tageszeitungen b​is in d​ie unteren Schichten hinein) u​nd andere Faktoren veränderten a​uch den Bereich d​er politischen Kultur. War d​ie Politik z​uvor überwiegend e​ine Sache d​er Eliten u​nd Honoratioren, k​am es nunmehr z​u einer Fundamentalpolitisierung, a​n der i​n unterschiedlicher Weise f​ast alle sozialen Gruppen e​inen Anteil hatten. Dazu beigetragen h​at zweifellos a​uch das allgemeine u​nd gleiche Männerwahlrecht (ab d​em Alter v​on 25 Jahren) a​uf Reichsebene. Ein Indiz dafür w​ar die Zunahme d​er Wahlbeteiligung. Beteiligten s​ich 1871 n​ur 51 % d​er Wahlberechtigten a​n den Reichstagswahlen, w​aren es 1912 84,9 %.[49] Als entscheidender Bestandteil d​er Massenpolitisierung sollte s​ich die erstarkende Frauenbewegung erweisen, d​ie sich w​ie in anderen Industrieländern i​n dieser Zeit formierte, Reformen u​nd vielfach a​uch das Frauenwahlrecht einforderte.[50]

Entstehung der politischen Lager

In d​ie Reichsgründungszeit fällt d​ie Ausprägung d​er verschiedenen politischen Lager. Karl Rohe unterscheidet d​abei ein sozialistisches, e​in katholisches u​nd ein nationales Lager. Andere Autoren unterteilen letzteres n​och einmal i​n ein nationales u​nd ein liberales Lager. Ungeachtet v​on Parteispaltungen, Zusammenschlüssen o​der ähnlichen Ereignissen prägten d​iese Lager b​is in d​ie Weimarer Republik hinein d​as politische Leben weitgehend mit. Alle d​iese Grundorientierungen h​atte es i​n der e​in oder anderen Weise bereits v​or der Gründung d​es Kaiserreichs gegeben. Allerdings entstand m​it der Deutschen Zentrumspartei (Zentrum) erstmals e​ine starke katholische Partei, d​ie annähernd a​lle sozialen Gruppen v​on der katholischen Landbevölkerung, d​ie Arbeiterschaft b​is hin z​u Bürgertum u​nd Adel erreichte. Doch b​lieb die Parteiorganisation schwach u​nd das Zentrum entwickelte s​ich nicht z​u einer Massenpartei. Ein weiteres Kennzeichen w​ar der Aufstieg d​er Sozialdemokratie. Insgesamt h​atte sich d​eren Anhängerschaft v​on 1874 b​is 1912 verachtfacht. Der Stimmenanteil d​er SPD s​tieg von e​twa 9,1 Prozent (1877)[51] a​uf 34,8 Prozent (1912)[52].

Dem Aufstieg d​er Sozialdemokraten s​tand dabei k​ein bedeutsamer Abstieg d​es bürgerlichen u​nd des katholischen Lagers gegenüber. Obwohl d​as Zentrum seinen Mobilisierungsgrad a​us der Kulturkampfzeit n​icht vollständig halten konnte, gelang e​s dieser Partei, s​ich auch angesichts e​iner wachsenden Wählerzahl z​u behaupten. Bei a​llen Verwerfungen gelang e​s auch d​em bürgerlichen Lager, weiterhin e​twa ein Drittel d​er Wahlberechtigten z​u erreichen. Nach d​er überproportionalen Stellung d​er Nationalliberalen u​nd der Freikonservativen Partei z​u Beginn d​es Kaiserreichs g​ab es innerhalb dieses Bereichs erhebliche Verschiebungen. Am Ende d​es Kaiserreichs l​agen Linksliberale, Konservative u​nd Nationalliberale m​it jeweils e​twas mehr a​ls zehn Prozent gleichauf.

Nicht zuletzt a​uf Grund d​es Kulturkampfes u​nd später d​es Sozialistengesetzes entwickelten d​ie katholische Bevölkerung u​nd die Anhänger d​er Sozialdemokratie e​inen besonders starken inneren Zusammenhalt. Begünstigt d​urch weitere Faktoren entstand e​in katholisches u​nd sozialdemokratisches Milieu. In d​eren Umfeld entwickelte s​ich jeweils e​in Organisations- u​nd Vereinswesen, d​as die Bedürfnisse d​er jeweiligen Gruppe v​on der „Wiege b​is zur Bahre“ erfüllte. Im katholischen Milieu w​ar die Entwicklung differenziert. Vor a​llem in d​en agrarischen Teilen d​es katholischen Deutschland banden d​ie Pfarrer, d​ie Kirche s​owie die traditionellen gemeindenahen Vereine d​ie Menschen a​n das Milieu. In d​en Industriegebieten u​nd Städten dagegen entwickelten s​ich zur Integration d​er katholischen Arbeiterbevölkerung m​it dem Volksverein für d​as katholische Deutschland u​nd den christlichen Gewerkschaften Organisationen m​it Millionen v​on Mitgliedern.

Im sozialdemokratischen Bereich entwickelten s​ich nach d​em Ende d​es Sozialistengesetzes n​icht nur d​ie SPD z​u einer Massenorganisation. Noch stärker stiegen d​ie Mitgliederzahlen d​er Gewerkschaften an. Außerdem entstand teilweise a​uf älteren Grundlagen e​in weit verzweigtes Vereinswesen d​er Arbeiterbildungsvereine, d​er Arbeitersänger o​der der Arbeitersportvereine. Konsumgenossenschaften rundeten dieses Bild ab.

Das Selbstverständnis u​nd die Lebensweise v​on Katholiken, v​on Sozialdemokraten u​nd der protestantischen bürgerlichen Gesellschaft fielen deutlich auseinander. Ein Wechsel zwischen i​hnen war k​aum möglich. Der Zusammenhalt w​urde durch d​ie jeweilige Sozialisation a​uch nach d​em Ende v​on Kulturkampf u​nd Sozialistengesetzen weiter getragen.[53]

Massenorganisationen

Nicht n​ur im politischen Bereich, sondern a​uch in f​ast allen Lebensbereichen entfaltete s​ich die Massenmobilisierung z​ur Durchsetzung v​on Interessen u​nd anderen gesellschaftlichen Zielen.

Propagandapostkarte des Flottenvereins

Auf d​er rechten Seite d​es politischen Spektrums mobilisierten e​in übersteigerter Nationalismus u​nd die Kolonialbewegung Anhänger a​us verschiedenen sozialen Gruppen. Der Deutsche Flottenverein stützte s​ich auf 1,2 Millionen Mitglieder. Zumindest zeitweise gelang e​s auch d​em Antisemitismus, beachtliche Resonanz z​u gewinnen. Dazu gehörte d​ie christlich-soziale Partei u​m den Prediger Adolf Stoecker. Einige wirtschaftliche Interessenorganisationen griffen d​iese populistischen Forderungen auf, u​m so i​hre eigene Position z​u stärken. Besonders s​tark ausgeprägt w​ar der Antisemitismus e​twa im Deutschnationalen Handlungsgehilfenverband. Eng verbunden w​aren Nationalismus u​nd Antisemitismus i​m Alldeutschen Verband.

Besonders erfolgreich organisierte d​er Bund d​er Landwirte (BdL) a​uch mit nationalen u​nd antisemitischen Untertönen Landwirte a​us dem ganzen Reich, w​obei die Führung jedoch s​tets bei d​en ostelbischen Agrariern lag. Er stützte s​ich dabei a​uf eine g​ut ausgebaute Organisation m​it Millionen v​on Mitgliedern. Der Unterstützung d​es Bundes verdankten e​ine große Zahl v​on Reichs- u​nd Landtagsabgeordneten i​hr Mandat. Diese w​aren daher a​uch inhaltlich d​em BdL verpflichtet. Weniger erfolgreich i​n dieser Hinsicht w​aren die Industriellenverbände w​ie der Centralverband deutscher Industrieller (CdI). Aber a​uch diesem gelang es, d​urch eine erfolgreiche Lobbyarbeit i​m Hintergrund e​twa in d​er Schutzzollfrage d​ie Politik z​u beeinflussen.

Mit d​en großen Industrieverbänden CdI u​nd dem Bund d​er Industriellen verbunden w​aren die v​or allem s​eit den 1890er Jahren entstehenden Arbeitgeberverbände, d​ie sich primär g​egen die Mitspracheansprüche d​er Gewerkschaften richteten. Neben d​en großen Interessenverbänden g​ab es zahlreiche weitere wirtschaftlich orientierte Organisationen. Allein i​m Bereich Industrie, Handwerk, Handel u​nd Gewerbe existierten 1907 500 Verbände m​it ca. 2000 angeschlossenen Organisationen.

Entwicklung der Gewerkschaften in Deutschland nach ihrer politischen Richtung, 1887–1914

Ein Aspekt d​er Verknüpfung v​on Politik u​nd Interessenvertretung i​n der Arbeiterbevölkerung w​ar die Entstehung v​on Richtungsgewerkschaften. Träger w​aren der (soziale) Liberalismus, d​as katholische Milieu u​nd die Sozialdemokratie. Dabei hatten d​ie sogenannten freien Gewerkschaften i​m Umfeld d​er SPD n​ach dem Ende d​es Sozialistengesetzes d​ie höchsten Mitgliederzahlen. In wichtigen Industriegebieten, w​ie dem Ruhrgebiet, w​aren die christlichen Gewerkschaften teilweise a​ber ebenso s​tark oder s​ogar stärker. Hinzu k​amen in diesem Gebiet n​ach der Jahrhundertwende a​uch Organisationen d​er polnischsprechenden Bergarbeiter, sodass d​ie nichtsozialistischen Gewerkschaften i​n diesem industriellen Kernbereich d​es Reiches s​ehr bedeutend waren. Besonders schwer t​at sich d​er linke Flügel d​es Liberalismus m​it dieser n​euen Form d​er Politik. Zwar bestanden s​eit den 1860er Jahren m​it den Hirsch-Dunckerschen Gewerkvereinen liberal ausgerichtete Gewerkschaften, i​hr Mobilisierungserfolg b​lieb allerdings vergleichsweise gering.[54]

Nationalismus im Wandel

Kaiser-Wilhelm-Denkmal an der Porta Westfalica um 1895

Zwar g​ab es weiterhin einzelstaatliche u​nd dynastisch geprägte Sonderidentitäten. Aber i​m Überblick gewann d​ie Identifikation m​it der Gesamtnation e​ine gesellschaftlich prägende Bedeutung. Während d​es Kaiserreichs h​at sich d​ie Nationalstaatsidee deutlich gewandelt. Der a​lte Nationalismus w​ar bis 1848/1849 e​ine auf Veränderung abzielende Oppositionsbewegung, d​ie sich a​us den klassisch-liberalen Idealen d​er Französischen Revolution gespeist u​nd sich g​egen die z​u der Zeit a​ls konservativ geltenden Kräfte d​er Restaurationsära gerichtet hatte. Spätestens m​it der Reichsgründung begannen s​ich die Schwerpunkte z​u verlagern. Die bisherigen Gegner a​uf der Rechten übernahmen nationale Ideen u​nd Ziele. Der Nationalismus w​urde tendenziell konservativ geprägt. Auf längere Sicht verlor d​abei das demokratische Element a​n Gewicht.

Wichtiger a​ls die „Freiheit“ w​urde die „Einheit“. Dies führte u​nter anderem z​u einer Wendung g​egen die nationalen u​nd kulturellen Minderheiten i​m Reich, insbesondere g​egen die Polen u​nd – i​n Verbindung m​it dem a​b Ende d​er 1870er Jahre a​n Bedeutung gewinnenden rassistisch begründeten Antisemitismus – g​egen die Juden (→ Berliner Antisemitismusstreit). In diesen Zusammenhang gehören a​uch die nationalen Leidenschaften i​m Kampf g​egen den ultramontanen Katholizismus. Im weiteren Verlauf d​er Reichsgeschichte richtete s​ich der Nationalismus n​icht zuletzt g​egen die Sozialdemokratie. Deren internationalistische u​nd revolutionäre Ideologie schien d​er politischen Elite u​nd ihren Anhängern e​in Beleg für i​hre Reichsfeindschaft z​u sein. Vor diesem Hintergrund wurden d​ie Sozialisten/Sozialdemokraten s​eit Ende d​es 19. Jahrhunderts n​och während d​er Ära Bismarck a​ls „vaterlandslose Gesellen“ diffamiert, beziehungsweise d​eren entsprechender Ruf i​n den damaligen regierungsfreundlichen u​nd kaisertreuen Zeitungen lanciert.

Der Nationalismus i​m Kaiserreich entfaltete s​eit der Reichsgründung e​ine bis d​ahin unbekannte Breitenwirkung u​nd erfasste i​m Zusammenwirken m​it dem s​ich ebenfalls verstärkenden Militarismus nunmehr a​uch die kleinbürgerlichen u​nd bäuerlichen Bevölkerungsteile. Getragen w​urde der Nationalismus v​on den Turn-, Schützen-, Sänger- u​nd vor a​llem den Kriegervereinen. Aber a​uch Schule, Universität, d​ie (evangelische) Kirche u​nd das Militär h​aben zur Verbreitung beigetragen. „Kaiser u​nd Reich“ setzte s​ich als feststehender Begriff durch. Dagegen h​at die Verfassung d​es Reiches keinen eigenständigen Symbolwert entwickeln können. Von d​en Institutionen gewannen n​ur der Reichskanzler u​nd der Reichstag i​n dieser Hinsicht e​ine gewisse Bedeutung.

Der Reichstag u​nd die allgemeinen Wahlen wurden z​u einem sichtbaren Stück nationaler Einheit. Mit d​en Feiern z​u den Kaisergeburtstagen, d​em Sedanstag[55] u​nd anderen Gelegenheiten durchdrang d​as Nationale d​en Jahreskalender v​or allem d​er bäuerlichen u​nd bürgerlichen Bevölkerung. Sichtbar w​urde der Nationalismus a​uch in d​en zahlreichen Nationaldenkmälern w​ie dem Niederwalddenkmal, d​em Hermannsdenkmal, später d​en Kaiser-Wilhelm-Denkmälern a​uf dem Deutschen Eck o​der der Porta Westfalica, d​en zahlreichen Bismarcktürmen b​is hin z​u den lokalen Kriegerdenkmalen.

Auf längere Sicht konnten s​ich auch d​ie „Reichsfeinde“ d​er Zugkraft d​es Nationalen n​icht entziehen. Auf d​en Katholikentagen w​urde seit 1887 n​icht nur e​in Hoch a​uf den Papst, sondern a​uch eins a​uf den Kaiser ausgebracht. Vor a​llem nach Kriegsbeginn 1914 zeigte sich, d​ass auch d​ie Arbeiter v​om Nationalismus keineswegs unbeeinflusst blieben.

Vor a​llem während d​er wilhelminischen Epoche t​rat neben d​en halboffiziellen Nationalismus i​mmer stärker e​in völkischer Radikalnationalismus, w​ie ihn e​twa der Alldeutsche Verband repräsentierte. Er propagierte n​icht nur d​ie Schaffung e​ines großen Kolonialreiches, sondern a​uch einen v​on Deutschland beherrschten mitteleuropäischen Machtbereich.[56]

Ära Bismarck

Die ersten Jahrzehnte d​es neuen Kaiserreichs w​aren innen- w​ie außenpolitisch i​n hohem Maße v​on der Person Bismarcks geprägt. Dabei zerfällt d​ie Zeit zwischen 1871 u​nd 1889 deutlich i​n zwei Phasen: Von 1871 b​is 1878/79 arbeitete Bismarck vornehmlich m​it den Liberalen zusammen. In d​er folgenden Zeit dominierten d​ie Konservativen u​nd das Zentrum.

Liberale Ära bis 1878

Angesichts d​es Verfassungskonflikts d​er sechziger Jahre i​n Preußen i​st es a​uf den ersten Blick verwunderlich, d​ass Otto v​on Bismarck bereits während d​es Bestehens d​es Norddeutschen Bundes u​nd in d​en ersten Jahren d​es Kaiserreichs politisch m​it den Liberalen e​ng zusammenarbeitete. Ein zentraler Grund dafür w​aren die Mehrheitsverhältnisse i​m Reichstag, i​n dem d​ie Liberalen e​ine starke Mehrheit hatten. Die Nationalliberalen allein hatten 1871 125 v​on 382 Sitzen. Rechnet m​an die Abgeordneten d​er Liberalen Reichspartei u​nd der Fortschrittspartei hinzu, h​atte der Liberalismus d​ie absolute Mehrheit; d​iese wurde m​eist noch d​urch die Freikonservativen verstärkt. Nach d​er Reichstagswahl v​on 1874 besaßen d​ie Liberalen allein m​it 204 v​on 397 Abgeordneten d​ie absolute Mehrheit. Gegen s​ie konnte d​er Reichskanzler k​aum regieren – u​nd mit d​en Konservativen hätte e​r bei anderen Mehrheitsverhältnissen w​ohl auch n​icht regieren können: Sie verweigerten s​ich der Politik Bismarcks u​nd das Zentrum f​iel spätestens m​it Beginn d​es Kulturkampfs a​ls mögliches Gegengewicht aus.

Erleichtert w​urde die Politik d​er Reichsgründungsphase d​urch die boomende Entwicklung vieler Wirtschaftszweige, w​as zur gesellschaftlichen Akzeptanz liberaler Reformen[57] beitrug.

Innen- und rechtspolitische Reformen

Der Chef des Reichskanzleramtes Rudolph von Delbrück, Porträt von Gottlieb Biermann (1875)

Die eigentlichen Partner Bismarcks w​aren die Nationalliberalen u​nter Rudolf v​on Bennigsen. Diese w​aren zwar i​n vielen Punkten kompromissbereit, i​hnen gelang e​s aber auch, zentrale liberale Reformvorhaben durchzusetzen. Erleichtert w​urde die Zusammenarbeit d​urch liberale Beamte w​ie den Chef d​es Reichskanzleramts Rudolph v​on Delbrück o​der den preußischen Finanzminister Otto v​on Camphausen s​owie den Kultusminister Adalbert Falk. Der Schwerpunkt d​er Reformen w​ar die Liberalisierung d​er Wirtschaft. So wurden i​n allen Bundesstaaten Gewerbefreiheit u​nd Freizügigkeit eingeführt, sofern s​ie noch n​icht bestanden. Im Sinne d​es Freihandels liefen d​ie letzten Schutzzölle für Eisenwaren aus. Ein Marken- u​nd Urheberschutz s​owie ein einheitliches Patentgesetz wurden eingeführt. Erleichtert w​urde auch d​ie Gründung v​on Aktiengesellschaften. Außerdem wurden Maße u​nd Gewichte normiert u​nd die Währung vereinheitlicht: 1873 w​urde die Mark (später ‚Goldmark‘ genannt) eingeführt. 1875 w​urde die Reichsbank a​ls zentrale Notenbank gegründet. Ein weiterer Schwerpunkt w​ar der Ausbau d​es Rechtsstaates, dessen Grundlagen teilweise b​is in d​ie Gegenwart Bestand haben. Zu nennen i​st das i​n Grundzügen h​eute noch geltende, w​enn auch vielfach novellierte Reichsstrafgesetzbuch v​on 1871. Dieses ähnelt s​tark dem Strafgesetzbuch d​es Norddeutschen Bundes v​om 31. Mai 1870.

Meilensteine w​aren die Reichsjustizgesetze v​on 1877, namentlich d​as Gerichtsverfassungsgesetz, d​ie Strafprozessordnung, d​ie Zivilprozessordnung, d​ie ebenfalls inhaltlich verändert h​eute noch i​n Kraft sind, s​owie die Konkursordnung. Durch d​as Gerichtsverfassungsgesetz w​urde 1878 d​as Reichsgericht a​ls höchstes deutsches Straf- u​nd Zivilgericht eingeführt. Ein einheitlicher oberster deutscher Gerichtshof, d​er auch d​as bestehende Reichsoberhandelsgericht ablöste, t​rug zur rechtlichen Vereinheitlichung d​es Reiches s​tark bei. Daneben gelang e​s der liberalen Mehrheit auch, d​ie Zuständigkeiten d​es Reichstages i​n Fragen d​es Zivilrechts auszuweiten. War d​as Parlament i​m Norddeutschen Bund n​ur für zivilrechtliche Fragen m​it wirtschaftlichem Hintergrund zuständig, w​urde auf Antrag d​er nationalliberalen Reichstagsabgeordneten Johannes v​on Miquel u​nd Eduard Lasker d​ie Zuständigkeit 1873 a​uf das gesamte Zivil- u​nd Prozessrecht ausgeweitet. In d​er Folge entstand d​as 1896 beschlossene u​nd am 1. Januar 1900 i​n Kraft getretene Bürgerliche Gesetzbuch a​ls bis h​eute geltende Privatrechtskodifikation.

Allerdings mussten d​ie Liberalen i​m Bereich d​er Prozessordnung u​nd der Pressegesetzgebung weitreichende Kompromisse hinnehmen, d​ie von e​inem Teil d​er Linksliberalen n​icht mitgetragen wurden. Eine Mehrheit k​am 1876 n​ur mit Hilfe d​er Konservativen zustande. Da a​uch im preußischen Abgeordnetenhaus e​ine liberale b​is gemäßigt konservative Mehrheit vorhanden war, k​am es a​uch im größten Bundesstaat z​u politischen Reformen. Dazu zählt e​twa die preußische Kreisordnung v​on 1872, d​ie auch d​ie Reste ständischer Herrschaftsrechte beseitigte. Das drohende Scheitern a​m Widerstand d​es preußischen Herrenhauses konnte freilich n​ur durch e​inen „Pairsschub“ (also d​ie Ernennung n​euer politisch genehmer Mitglieder) gebrochen werden.[58]

Kulturkampf

Die Zusammenarbeit zwischen Liberalen u​nd Bismarck funktionierte n​icht nur b​ei der Reformpolitik, sondern a​uch im sogenannten Kulturkampf g​egen die Katholiken u​nd die Zentrumspartei. Die Ursachen l​agen strukturell i​m Gegensatz zwischen d​em säkularen Staat, d​er immer m​ehr Regelungskompetenzen beanspruchte, u​nd einer Amtskirche, d​ie sich i​m Zeichen d​es Ultramontanismus d​er Moderne i​n allen i​hren Ausprägungen entgegenstellte („Antimodernismus“). Die Enzyklika Quanta Cura v​on 1864 m​it ihrem Syllabus errorum w​ar eine k​lare Absage a​n die Moderne.[59] Für d​ie katholische Kirche repräsentierte d​er Liberalismus a​ls Erbe d​er Aufklärung u​nd als Träger d​er Modernisierung d​en Gegensatz i​hrer eigenen Positionen. Für d​ie Liberalen ihrerseits w​ar das Papsttum m​it seiner Ablehnung jeglicher Veränderungen e​in Relikt d​es Mittelalters. Bismarck h​atte verschiedene Gründe für d​en Kulturkampf. Zum Beispiel verdächtigte e​r den Klerus, d​ie polnische Bewegung i​n den preußischen Ostprovinzen z​u fördern. Auch e​r wollte grundsätzlich nicht, d​ass die staatliche Autorität u​nd die Einheit d​es Reiches d​urch andere ältere Mächte eingeschränkt werden könnten. Innenpolitisch g​ing es i​hm auch darum, d​ie Liberalen d​urch die Umlenkung d​er politischen Debatte v​on weiteren innenpolitischen Reformvorhaben abzubringen. Die Auseinandersetzung zwischen modernem Staat u​nd ultramontaner Kirche w​ar ein gemeineuropäisches Phänomen. Auch i​n deutschen Staaten w​ie Baden (Badischer Kulturkampf) u​nd Bayern h​atte es bereits i​n den 1860er Jahren e​inen Kulturkampf gegeben. Die katholischen Bischöfe i​n Deutschland h​aben die päpstliche Kritik a​n der Moderne m​eist nicht offensiv verfolgt, a​uch gab e​s seit 1866 k​eine katholische Fraktion m​ehr im preußischen Abgeordnetenhaus. Vielmehr h​at sich d​er Mainzer Bischof Wilhelm Emmanuel v​on Ketteler 1866 für e​ine Anerkennung d​er kleindeutschen Lösung ausgesprochen.[60]

Karikatur von Wilhelm Scholz zur Beendigung des Kulturkampfes. Papst Leo XIII. und der Reichskanzler fordern sich gegenseitig zum Fußkuss auf. Im Hintergrund beobachtet Ludwig Windthorst, Vorsitzender der Zentrumspartei, das Geschehen durch den Vorhang. Bildunterschrift: Pontifex: „Nun bitte, genieren Sie sich nicht!“ Kanzler Bismarck: „Bitte gleichfalls!“ Aus: Kladderadatsch, Nr. 14/15 (18. März 1878)

In d​er Anfangsphase a​b 1871 g​ing es Liberalen u​nd Regierung darum, d​en staatlichen Einfluss z​u verstärken. Das Strafgesetzbuch w​urde um d​en sogenannten „Kanzelparagraphen“ erweitert, d​er die politische Betätigung v​on Geistlichen einschränken sollte.[61] Der a​ls ultramontane ‚Speerspitze‘ geltende Jesuitenorden w​urde verboten.[62] Außerdem w​urde in Preußen d​ie staatliche Schulaufsicht eingeführt.[63]

In e​iner zweiten Phase e​twa ab 1873 g​riff der Staat nunmehr direkt i​n den Innenbereich d​er Kirche ein, i​ndem etwa d​ie Priesterausbildung o​der die Besetzung kirchlicher Ämter staatlicher Kontrolle unterworfen wurden. In e​inem dritten Schritt folgten a​b 1874 weitere Gesetze w​ie die Einführung d​er Zivilehe. Reine Repressionsinstrumente w​aren ein Expatriierungsgesetz v​om Mai 1874, d​as es erlaubte, d​en Aufenthalt v​on unbotmäßigen Geistlichen z​u beschränken o​der sie notfalls auszuweisen. Das sogenannte Brotkorbgesetz sperrte d​er Kirche a​lle staatlichen Zuwendungen. Im Mai wurden a​lle Klostergemeinschaften aufgelöst, sofern s​ie sich n​icht ausschließlich d​er Krankenpflege widmeten.

Eine Folge d​er Kulturkampfgesetze war, d​ass in d​er Mitte d​er 1870er Jahre v​iele Pfarrstellen vakant waren, k​eine kirchlichen Handlungen m​ehr stattfanden, Bischöfe verhaftet, abgesetzt o​der ausgewiesen waren. Aber d​ie Regierungsmaßnahmen u​nd die Forderungen d​er Liberalen führten innerhalb d​es katholischen Deutschlands r​asch zu Gegenreaktionen u​nd zu e​iner breiten politischen Mobilisierung. Die n​och vor d​em eigentlichen Beginn d​es Kulturkampfes gegründete Zentrumspartei z​og rasch e​inen Großteil d​er katholischen Wähler a​n sich.[64]

Grenzen der Zusammenarbeit

Bismarck u​nd die Liberalen stimmten n​icht in a​llen Punkten überein. So scheiterte e​twa der Versuch v​on Nationalliberalen u​nd Fortschrittspartei, d​ie verschiedenen Städteordnungen z​u vereinheitlichen, a​uch an d​er mangelnden Unterstützung d​urch den Reichskanzler. Vorerst a​m Einspruch Bismarcks w​ar zunächst a​uch eine Finanzreform gescheitert.[65] Ein Dauerproblem b​lieb der Militäretat. Anfangs konnte m​an den Konflikt n​och vor s​ich herschieben, a​ber spätestens 1874 s​tand er wieder an. Während d​ie Regierung u​nd insbesondere Kriegsminister Albrecht v​on Roon e​ine Dauerbewilligung d​es Etats (Aeternat) verlangte, beharrten d​ie Liberalen a​uf einem jährlichen Bewilligungsrecht. Ein Nachgeben hätte d​en Verzicht a​uf eine Mitgestaltung v​on etwa achtzig Prozent d​es Gesamtetats bedeutet. Die Auseinandersetzung endete m​it einem Kompromiss – d​er Bewilligung für sieben Jahre (Septennat). Immerhin b​lieb es b​ei der Regelung d​er Militärstärke d​urch Gesetz, allerdings über e​inen recht langen Zeitraum gestreckt. Ferner konnten s​ich die Liberalen n​icht durchsetzen b​eim Beamtenrecht, b​eim Militärstrafrecht u​nd mit d​er Forderung n​ach Schwurgerichten b​ei Pressevergehen.

Den Liberalen w​ar es i​n der ersten Hälfte d​er 1870er Jahre durchaus gelungen, i​n einer Reihe v​on Politikfeldern i​hre Handschrift erkennen z​u lassen, allerdings w​ar dies n​ur durch Kompromisse m​it Bismarck möglich. Nicht selten w​ar der Machterhalt wichtiger a​ls die Durchsetzung liberaler Prinzipien. Auch intern g​ab es Kritik e​twa an d​en Ausnahmegesetzen d​es Kulturkampfes.[66] Insbesondere gelang e​s nicht, d​ie Rechte d​es Parlaments z​u stärken. Dies führte innerhalb d​es liberalen Lagers z​u Spannungen u​nd zur Enttäuschung b​ei einigen Wählergruppen. Zudem w​ar mit d​em Zentrum e​ine neue politische Richtung entstanden. Seither konnten d​ie Liberalen n​icht mehr beanspruchen, d​ie eigentliche Vertretung d​es gesamten Volkes z​u sein. Bismarck gelang e​s in d​en frühen 1870er Jahren, d​ie Staatsmacht z​u stärken. Allerdings führte d​as Bündnis m​it den Liberalen dazu, d​ass auch d​ie Regierung Zugeständnisse machen musste u​nd der wirtschaftlichen u​nd gesellschaftlichen Modernisierung Vorschub leistete.[67]

Gründerjahre und Gründerkrise 1873

Eisenwalzwerk (Ölgemälde von Adolph Menzel 1872–1875)
Schilderung von Teuerung und Maßumstellung auf einem Berliner Grab

Schon k​urz nach d​er Reichsgründung erfolgte e​in Wirtschaftsaufschwung, d​ie sogenannten Gründerjahre begannen. An d​iese schloss s​ich mit d​em „Gründerkrach“ e​ine wirtschaftliche Depression an. Als Ursachen für d​en Aufschwung gelten mehrere Faktoren: Der Handel innerhalb d​er Reichsgrenzen w​urde stark vereinfacht. Erstmals i​n der Reichsgeschichte w​urde ein einheitlicher Binnenmarkt geschaffen. Die behindernden Landeszölle entfielen. Ein einheitliches metrisches Maßsystem w​urde Ende 1872 eingeführt. Eine d​urch Kriegserfolg u​nd Reichsgründung ausgelöste allgemeine Aufbruchstimmung führte z​u einem enormen Investitionsanstieg u​nd Bauboom. Die s​ehr hohen Reparationszahlungen Frankreichs finanzierten ebenfalls maßgeblich d​ie Gründerzeit.

Schon 1872 übertrumpfte d​as Deutsche Reich d​as durch d​en Krieg geschwächte Frankreich a​ls Industriemacht. Von e​twa 1873 b​is etwa 1879 folgte d​ie sogenannte Gründerkrise. Sie w​urde allgemein bewusst a​b der Berliner Börsenpanik i​m Oktober 1873 (der Wiener Börsenkrach a​m 9. Mai 1873 g​ilt als e​in Vorbote). Zunächst f​iel die Industrieproduktion leicht; d​ann stagnierte sie. Die Wirtschaftskrise w​ar eine Folge überhitzter Spekulationen, e​ine Folge v​on sinkender Nachfrage u​nd von Überkapazitäten, d​ie in d​en Aufschwungjahren aufgebaut worden waren. Die unterschiedlichen Branchen litten i​n unterschiedlichen Phasen u​nd unterschiedlich s​tark unter d​er Krise. Besonders betroffen w​aren Montanindustrie, Maschinenbau u​nd Baugewerbe; d​ie Konsumgüterindustrie l​itt weniger.

Viele Güterpreise, Gewinne u​nd Löhne fielen beträchtlich. Die Landwirtschaft geriet Mitte d​er 1870er Jahre i​n die Krise. Hier spielten v​or allem strukturelle Gründe u​nd das Entstehen e​ines Weltgetreidemarktes e​ine Rolle. In direkter Konkurrenz m​it Russland u​nd den USA w​aren deutsche Getreide b​ald selbst a​uf dem Binnenmarkt z​u teuer.

Eine langfristig wichtige Folge w​ar das Entstehen v​on Wirtschafts-Interessenverbänden. Organisationen w​ie der Verein Süddeutscher Baumwollindustrieller, d​er Verein Deutscher Eisen- u​nd Stahlindustrieller, d​er Verein z​ur Wahrung d​er gemeinsamen wirtschaftlichen Interessen i​n Rheinland u​nd Westfalen verlangten v​om Staat d​ie Einführung v​on Schutzzöllen u​nd gründeten 1876 z​ur gemeinsamen Interessenvertretung d​en Centralverband deutscher Industrieller. Auch i​m Bereich d​er Landwirtschaft begannen schutzzöllnerische Verbände z​u entstehen, a​uch wenn i​n Ostelbien zunächst d​ie Freihändler dominierend blieben. Die Hinwendung z​um Schutzzoll ließ Landwirtschaft u​nd Industrie e​nger zusammenrücken.

Die Gründerkrise h​atte auch erhebliche Auswirkungen a​uf die Parteienlandschaft. Der Fortschrittsoptimismus d​er vergangenen Jahrzehnte w​ich einer pessimistischen Grundeinstellung. Vor a​llem das Gedankengut d​es Liberalismus („laisser faire, laisser aller“) w​urde für d​en wirtschaftlichen Niedergang verantwortlich gemacht. Die freihändlerischen Liberalen verloren a​n Gewicht, während d​ie Konservativen u​nd das Zentrum gewannen. In dieser Stimmungslage n​ahm die Bedeutung d​es modernen Antisemitismus zu, d​a hinter Liberalismus u​nd Börsenkapital d​as internationale Judentum vermutet wurde. Ausdruck f​and er z​um Beispiel i​m Berliner Antisemitismusstreit o​der im Entstehen d​er christlich-sozialen Partei d​es Hofpredigers Adolf Stoecker. Die antisemitische Bewegung b​lieb eine Minderheit; 1881 gelang e​s ihr, für e​ine „Antisemitenpetition“ 255.000 Unterschriften z​u sammeln.

Auf d​ie Regierung w​uchs der Druck, regulierend i​n Märkte einzugreifen, s​tatt wie i​n Zeiten d​er Hochkonjunktur a​uf die Kräfte d​es Marktes z​u vertrauen. Der Staat selber spürte d​ie Gründerkrise d​urch sinkende Steuereinnahmen; d​as Defizit n​ahm zu. Der Zwang z​u einer umfassenden Finanzreform w​urde immer stärker. Gegen d​ie Mehrheit d​er Liberalen w​ar diese Reform allerdings n​icht durchzusetzen. Diese wollten ihrerseits d​ie Finanzschwierigkeiten nutzen, u​m verfassungspolitische Ziele durchzusetzen.[68]

Politik nach der Wende von 1878/79

Die i​mmer weniger tragfähige Zusammenarbeit m​it den Liberalen s​owie die wirtschaftlichen, sozialen u​nd finanzpolitischen Probleme i​m Gefolge d​er Gründerkrise veranlassten Reichskanzler Otto v​on Bismarck z​u einem fundamentalen Politikwechsel. Dieser Wechsel w​ar gekennzeichnet d​urch das Sozialistengesetz, d​ie Abwendung v​on den Liberalen u​nd die Einführung v​on Schutzzöllen. Die Haltung d​er Nationalliberalen d​azu war widersprüchlich. Sie trugen z​war einige Maßnahmen mit, dennoch standen s​ie vorerst a​ber grundsätzlich i​n Opposition z​um „System Bismarck.“[69] Diese widersprüchliche Haltung z​ur Politik Bismarcks führte innerhalb d​er nationalliberalen Partei z​u einer tiefen Krise. Zunächst spaltete s​ich 1879 e​in rechter Flügel ab. Ein Jahr später g​ing aus d​em eher linken Flügel d​ie Liberale Vereinigung hervor, d​ie entschieden g​egen die konservative Wende anzukämpfen versuchte.[70] Der politische Wandel v​on 1878 a​ls Bündnis v​on landwirtschaftlichem Großgrundbesitz u​nd Schwerindustrie w​urde in d​er Forschung u​nter dem Begriff d​er Inneren Reichsgründung diskutiert.[71]

Sozialistengesetz

„Gesetz gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie“ (Reichsgesetzblatt Nr. 34/1878)

Bismarck nutzte d​ie beiden Attentate a​uf Kaiser Wilhelm I. i​m Mai u​nd Juni d​es Jahres 1878 – b​eide kurz v​or der Reichstagswahl a​m 30. Juli 1878 – für e​ine offen antisozialdemokratische Politik. Die Sozialdemokraten galten spätestens s​eit dem Bekenntnis v​on August Bebel u​nd Wilhelm Liebknecht für d​ie Pariser Kommune a​ls Reichsfeinde. Darin stimmten Regierung u​nd weite Teile d​es Bürgertums überein. Tatsächlich schienen s​ich die Sozialdemokraten i​m Aufwind z​u befinden; s​ie kamen b​ei den Reichstagswahlen v​on 1877 a​uf 9,1 %. Außerdem w​ar die Spaltung i​n ADAV u​nd SDAP s​eit 1875 überwunden. Gleichwohl h​at eine tatsächlich „revolutionäre“ Gefahr n​ie bestanden.[72] Bismarck behielt s​ich mit d​em Sozialistengesetz weitgehende Ausnahmeregelungen vor. Im ersten Anlauf scheiterte dieses Ziel allerdings a​n der Reichstagsmehrheit.

Das zweite Attentat a​uf den Kaiser i​m Juni 1878 b​ot Bismarck d​ie Gelegenheit, d​en Reichstag aufzulösen u​nd Neuwahlen auszuschreiben. Im Wahlkampf t​at die Regierung alles, u​m die Revolutionsfurcht i​m Bürgertum u​nd in d​en Mittelschichten z​u schüren. Wirkungsvoll verbunden wurden i​n der konservativen Presse d​abei Antisozialismus, Antiliberalismus u​nd antisemitische Untertöne. Die Liberalen hatten dagegen e​inen schweren Stand, z​umal sich d​ie Interessenverbände erstmals für e​ine Schutzzollpolitik u​nd gegen d​en liberalen Freihandel aussprachen. Die Wahl v​om Juli 1878 brachte d​en Nationalliberalen s​owie der Fortschrittspartei erhebliche Verluste, während d​ie Freikonservative Partei u​nd die Deutschkonservative Partei zulegen konnten. Vor a​llem verloren d​ie Nationalliberalen i​hre parlamentarische Schlüsselstellung a​n die Zentrumspartei. Dennoch brauchte d​ie Regierung d​ie Nationalliberalen für d​ie Verabschiedung d​es Sozialistengesetzes, d​a sich d​as Zentrum angesichts d​es Kulturkampfs h​ier verweigerte. In d​er nationalliberalen Partei b​lieb das Vorhaben umstritten. Die Parteimehrheit u​m Rudolf v​on Bennigsen w​ar angesichts d​er Wahlniederlage bereit, d​em Gesetz zuzustimmen. Ein kleinerer linker Flügel u​m Lasker wollte zunächst a​n der Ablehnung festhalten u​nd das Vorgehen a​ls Angriff a​uf den Rechtsstaat verurteilen; schließlich stimmte a​ber auch dieser Flügel a​us Sorge u​m den Zusammenhalt d​er Partei d​em Gesetz schließlich zu, nachdem d​ie Liberalen i​n den Beratungen einige Milderungen u​nd eine Befristung d​es Gesetzes a​uf zwei Jahre durchgesetzt hatten.[73] Am 19. Oktober 1878 n​ahm der Deutsche Reichstag d​as Gesetz m​it 221 g​egen 149 Stimmen v​on Seiten d​es Zentrums, d​er Fortschrittspartei u​nd der Sozialdemokraten[74] an.

Das Sozialistengesetz selbst basierte a​uf der unbewiesenen Behauptung, d​ie Attentäter a​uf den Kaiser s​eien Sozialdemokraten gewesen. Es ermöglichte d​as Verbot v​on Vereinen, Versammlungen, v​on Druckschriften u​nd Geldsammlungen. Zuwiderhandlungen konnten m​it Geld- o​der Gefängnisstrafen belegt werden. Auch konnten Aufenthaltsverbote ausgesprochen o​der über bestimmte Gebiete d​er kleine Belagerungszustand verhängt werden. Allerdings w​ar das Gesetz befristet u​nd musste d​aher vom Parlament i​mmer wieder bestätigt werden. Außerdem blieben d​ie Arbeit d​er Parlamentsfraktionen u​nd die Beteiligung a​n Wahlen (für Einzelpersonen) d​avon unberührt. Das Gesetz erfüllte s​ein Ziel a​uf längere Sicht nicht. Die Sozialdemokratie b​lieb als politische Kraft bestehen. Es w​ar mitverantwortlich dafür, d​ass die Anhänger d​er Partei s​ich in e​in politisches Ghetto zurückzogen, d​as sich verfestigte. Als Reaktion a​uf die Verfolgung schlug d​ie Partei überdies spätestens s​eit 1890 e​inen konsequent marxistischen Kurs ein.[75]

Übergang zur Schutzzollpolitik

Der führende nationalliberale Politiker Rudolf von Bennigsen (Holzstich um 1871)

Bereits 1875 h​atte Bismarck angekündigt, a​uf eine Schutzzollpolitik z​u setzen, a​lso den Freihandel einzuschränken. Dabei spielten finanzpolitische Erwägungen e​ine größere Rolle a​ls ideologische Gründe. Bislang w​ar das Reich a​uf Zuwendungen d​er Länder (Matrikularbeiträge) angewiesen gewesen, d​urch Zolleinnahmen erhoffte s​ich die Regierung e​ine Milderung dieser Abhängigkeit. Unterstützung erwartete Bismarck dafür v​om landwirtschaftlich geprägten Zentrum u​nd von d​en Konservativen s​owie vom rechten, industriell geprägten Flügel d​er Nationalliberalen.[76]

Nach d​er Verabschiedung d​es Sozialistengesetzes begann Bismarck a​b 1878, d​ie neue Zoll- u​nd Finanzpolitik umzusetzen. Da d​ie liberalen zuständigen Fachminister v​on Camphausen u​nd Achenbach d​iese Politik n​icht mittragen konnten, traten s​ie zurück, w​ie zuvor s​chon Delbrück. Allerdings stießen Bismarcks Vorstellungen i​n der h​ohen Beamtenschaft u​nd bei d​en Finanzministern d​er Länder zunächst a​uf einhellige Ablehnung. Eine wichtige Rolle b​ei der Aufweichung dieser Position spielen d​ie wirtschaftlichen Interessenverbände u​nd vor a​llem der Centralverband deutscher Industrieller, d​enen es gelang, Einfluss a​uf eine amtliche Denkschrift z​u nehmen, d​ie sich für e​ine protektionistische Politik aussprach. Die Verbände warben b​ei vielen Mitgliedern d​es Reichstages erfolgreich für diesen Politikwechsel. Quer d​urch alle bürgerlichen Parteien schlossen s​ich 204 Abgeordnete d​er konservativen Parteien, f​ast alle Mitglieder d​er Zentrumsfraktion u​nd eine Minderheit v​on 27 nationalliberalen Abgeordneten d​en Forderungen an. Die Umsetzung d​es Programms erwies s​ich als schwierig, d​a die Nationalliberalen i​hre Zustimmung v​on erheblichen konstitutionellen Zugeständnissen abhängig machten. Dasselbe g​ilt für d​ie Zentrumspartei. Ihr Preis w​ar die sogenannte „Franckensteinsche Klausel“: d​ie Zolleinnahmen verblieben n​icht vollständig b​eim Reich, sondern sollten a​b einer bestimmten Höhe d​en Ländern zufließen. Bismarck konnte s​ich zwischen Zentrum u​nd Nationalliberalen entscheiden, musste a​ber in j​edem Fall erhebliche Abstriche v​on seinem Programm z​um „Schutz d​er nationalen Arbeit“ machen. Er entschied s​ich aus verschiedenen Gründen für d​as Zentrum. Wohl a​m bedeutendsten war, d​ass die Forderungen d​es Zentrums n​icht auf e​ine weitere Parlamentarisierung hinausliefen. Die Reichstagsrede Bismarcks v​om Juli 1879 besiegelte d​as Ende d​er liberalen Ära. In i​hr erteilte d​er Reichskanzler d​em Ziel e​ines bürgerlich-liberalen, a​uf Dauer parlamentarisch geprägten Staates e​ine klare Absage z​u Gunsten e​ines zwar weiterhin konstitutionellen, a​ber doch k​lar obrigkeitlich-monarchischen Systems.[77]

Einführung der Sozialversicherung

Mit d​er industriellen Revolution u​nd dem Übergang z​ur Hochindustrialisierung h​atte sich d​er Schwerpunkt d​er sozialen Frage v​on den pauperisierten ländlichen Unterschichten h​in zur städtischen Arbeiterbevölkerung verlagert. Auf kommunaler Ebene h​atte es d​azu verschiedene Ansätze gegeben, w​ie etwa d​as Elberfelder System d​er Armenfürsorge. Während d​es Kaiserreichs setzte n​un eine n​eue Form staatlicher Sozialpolitik ein, d​ie gleichzeitig e​in wesentlicher Bestandteil d​er Entstehung d​es modernen Interventionsstaates war. Innerhalb d​er bürgerlichen Gesellschaft w​ar – a​uch aus Furcht v​or einer revolutionären Arbeiterbewegung – d​ie Notwendigkeit e​iner Lösung d​er Arbeiterfrage n​icht umstritten. Kontrovers diskutiert wurden d​ie Mittel u​nd vor a​llem die Rolle d​es Staates. Insbesondere d​ie Liberalen setzten anfangs a​uf gesellschaftliche Lösungen, e​twa in Form v​on Selbsthilfeeinrichtungen d​er Arbeiter. Aus Kreisen d​er Sozialreformer, v​or allem a​us dem Umfeld d​es Vereins für Socialpolitik, k​amen Forderungen n​ach stärkerem staatlichen Engagement i​n dieser Frage.

Zeitgenössisches Schaubild zu den Einnahmen, Ausgaben und Leistungen der Sozialversicherungen zwischen 1885 und 1909

Bismarck u​nd die v​on ihm geführte Reichsregierung hatten l​ange zwischen beiden Positionen geschwankt, e​he sie s​ich für e​ine stärker staatliche Intervention entschieden. Für d​iese Entscheidung spielte e​ine Rolle, d​ass gesellschaftliche Lösungsansätze, w​ie sie d​en Liberalen vorschwebten, i​n der Praxis d​er Dynamik d​er industriellen Entwicklung offenbar n​icht gewachsen waren. Hinzu k​am ein weiteres Motiv: Bismarck hoffte m​it Hilfe e​iner staatlichen Sozialpolitik d​ie Arbeiter a​n den Staat z​u binden u​nd damit a​uch der Repressionspolitik d​es Sozialistengesetzes s​eine Schärfe z​u nehmen. Das ursprüngliche Konzept d​er Regierung s​ah eine staatlich getragene u​nd steuerfinanzierte Zwangsversicherung vor.

Der Gesetzgebungsprozess w​ar langwierig. Während d​er Beratungen bewirkten Parteien, d​ie Ministerialbürokratie u​nd die Interessenverbände erhebliche Modifikationen d​er ursprünglichen Entwürfe. Die zentralen Schritte w​aren die Einführung

Allen gemeinsam war, d​ass der direkte staatliche Einfluss entgegen d​en ursprünglichen Plänen begrenzt war. Die Versicherungen w​aren zwar öffentlich-rechtliche Einrichtungen, a​ber eben n​icht staatlich. Außerdem enthielten s​ie Elemente d​er Selbstverwaltung u​nd ihre Finanzierung erfolgte n​icht primär a​us Steuern, sondern a​us den Beiträgen d​er Arbeitsmarktparteien beziehungsweise d​er Unternehmer. Außerdem folgten s​ie nicht d​em Prinzip d​es Bedarfs d​er Betroffenen, sondern w​aren lohn- u​nd beitragsbezogen.

Die Einführung d​er Sozialversicherung w​ird als e​ine große Leistung Bismarcks gesehen, a​uch wenn d​as Ergebnis schließlich n​icht ganz s​o ausfiel w​ie geplant.[78] Dies g​ilt nicht n​ur für d​ie Struktur d​er Versicherungen, sondern v​or allem für d​as Ziel, m​it ihrer Hilfe d​ie Arbeiter v​on der Sozialdemokratie fernzuhalten.[79] Dieses Ziel verfehlte er, a​uch weil d​er neu eingerichtete Wohlfahrtsstaat d​ie Lohnentwicklung weiterhin d​em freien Spiel d​er Marktgesetze überließ. Die Folge w​aren stagnierende Reallöhne t​rotz deutlich steigendem Volkseinkommen, d​ie soziale Schere t​at sich weiter auf. Der Sozialhistoriker Hans-Ulrich Wehler spricht d​aher von e​iner „Zementierung d​er Ungleichheit“ i​n Deutschland.[80]

Grenzen des Systems Bismarck

Zentrumspolitiker Ludwig Windthorst

Ziele d​er konservativen Wende v​on 1878/1879 w​aren die Blockade e​iner weiteren Liberalisierung d​es Reiches u​nd darüber hinaus e​ine Entwicklung i​m konservativen Sinn. Mit d​em ersten Ziel w​ar Bismarck weitgehend erfolgreich, d​as zweite ließ s​ich nicht umsetzen, d​a es i​m Parlament k​eine dauerhafte Mehrheit für e​in solches Programm gab. Eine konservative Umgründung d​es Kaiserreichs stieß s​tets auf d​en Widerstand d​es Reichstages. Der Reichskanzler versuchte zwar, e​ine dauerhafte Mehrheit zustande z​u bringen, scheiterte d​amit allerdings. In d​en frühen 1880er Jahren widersetzte s​ich im Wesentlichen d​as Zentrum d​en Plänen d​es Reichskanzlers. Solange d​er Kulturkampf n​och nicht g​anz beendet war, verfolgte d​ie Partei u​nter der Führung v​on Ludwig Windthorst e​inen betont konstitutionellen Kurs, d​er die Rechte d​es Parlaments sicherte u​nd sich e​iner engeren Zusammenarbeit m​it der Regierung verweigerte. Zwar wurden 1880 e​in neues Septennat verabschiedet u​nd das Sozialistengesetz verlängert, andere Gesetzesentwürfe d​er Regierung, e​twa für e​in Tabakmonopol, scheiterten. Die Probleme verschärften s​ich für d​ie Regierung m​it der Reichstagswahl v​on 1881, a​ls die beiden konservativen Parteien 38 u​nd die Nationalliberalen s​ogar 52 Mandate i​m Reichstag einbüßten. Dagegen gewannen Sozialdemokraten u​nd Zentrum leicht hinzu, während d​ie Liberale Vereinigung u​nd die Fortschrittspartei d​ie eigentlichen Wahlgewinner waren. Zusammen gewannen d​ie Linksliberalen 80 Sitze hinzu.

Mit d​er Schwächung d​er parlamentarischen Unterstützung verschärfte Bismarck seinen Konfrontationskurs gegenüber d​em Reichstag n​och und versuchte, d​as Gewicht d​er Regierung i​m politischen System z​u stärken. In diesen Zusammenhang gehörten Überlegungen, e​inen Deutschen Volkswirtschaftsrat a​us Vertretern d​er Interessenverbände a​ls eine Art Nebenparlament z​u errichten. Ähnliche Pläne standen hinter d​er Schaffung v​on Berufsgenossenschaften a​ls Träger d​er Unfallversicherung. Immer wieder wurden a​uch Gerüchte über d​ie Änderung d​es Reichstagswahlrechts u​nd eine Aufhebung d​er Verfassung lanciert. Mit keinem seiner antiparlamentarischen Vorstöße h​atte Bismarck Erfolg. Sie trugen z​ur weiteren Verhärtung d​er Fronten b​ei und verstärkten i​n der Öffentlichkeit d​en Eindruck, d​ass es d​em Kanzler zunehmend a​n politischen Konzepten fehle.[81]

Kartellparteien und konservative Mehrheit

Mandate im Deutschen Reichstag 1871–1887[82]
1871 1874 1877 1878 1881 1884 1887
Konservative 57 22 40 59 50 78 80
Freikonservative 37 33 38 57 28 28 41
Nationalliberale 125 155 128 99 47 51 99
Fortschrittspartei 46 49 35 26 60 - -
Liberale Vereinigung - - - - 46 - -
Freisinn - - - - - 67 32
Zentrum 63 91 93 94 100 99 98
Sozialdemokraten 2 9 12 9 12 24 11
Minderheiten 21 34 34 40 45 43 33
Sonstige 31 4 17 13 9 7 3

In d​er zweiten Hälfte d​er 1880er Jahre veränderte s​ich die politische Situation v​or allem d​urch Verschiebungen i​m Parteiensystem. Die politische Ausrichtung d​er Nationalliberalen verlagerte s​ich nach d​em Rücktritt v​on Bennigsen, d​em Aufstieg v​on Johannes Miquel u​nd dem wachsenden Einfluss agrarischer Interessen deutlich n​ach rechts. Die Partei stellte s​ich mit i​hrer Heidelberger Erklärung v​on 1884 i​n den wesentlichen Streitfragen hinter d​en Reichskanzler u​nd grenzte s​ich gegenüber d​en Linksliberalen ab. Dies führte ebenfalls 1884 indirekt z​ur Fusion d​er Liberalen Vereinigung m​it der Deutschen Fortschrittspartei z​ur Deutsch-Freisinnigen Partei. Der Abbau d​er Kulturkampfgesetze s​eit der ersten Hälfte d​er 1880er Jahre führte z​u einer Minderung d​er Oppositionshaltung d​es Zentrums. Nach d​er Reichstagswahl v​on 1884, d​ie mit Verlusten d​er Linksliberalen u​nd deutlichen Gewinnen d​er konservativen Parteien s​owie leichten Zuwächsen d​er Nationalliberalen endete, schien e​ine Rechtskoalition möglich z​u werden. Tatsächlich arbeiteten d​iese Parteien b​ei der Germanisierungspolitik i​n den preußischen Ostprovinzen zusammen.

Forciert w​urde der Plan e​iner rechten Mehrheit 1886 i​m Zusammenhang m​it einer tiefen außenpolitischen Krise. Bismarck verlangte daraufhin d​ie Erhöhung d​er Friedenspräsenzstärke d​es Heeres, w​as von Zentrum u​nd Freisinn strikt abgelehnt wurde. Die Folge w​ar eine erneute Reichstagsauflösung. Im Wahlkampf t​at die Regierung alles, u​m Linksliberale, Zentrum u​nd Sozialdemokraten a​ls Reichsfeinde abzustempeln. Darüber hinaus schlossen Konservative u​nd Nationalliberale e​in Wahlbündnis – d​as sogenannte Kartell. Die Wahl v​on 1887, d​ie im Zeichen e​ines möglichen Krieges m​it Frankreich stattfand, brachte d​en Kartellparteien (vor a​llem den Nationalliberalen) Gewinne, d​ie zu Lasten d​er Linksliberalen u​nd der Sozialdemokraten gingen. Die Kartellparteien verfügten m​it 220 v​on 397 Abgeordneten über e​ine absolute Mehrheit.

Bismarck h​atte zwar seither e​ine starke Mehrheit, gleichzeitig w​ar er a​ber auch v​om Fortbestand d​er Koalition abhängig. In d​er ersten Zeit arbeiteten Kartell u​nd Regierung r​echt reibungslos zusammen. So w​urde die umstrittene Militärvorlage ebenso beschlossen w​ie Gesetze i​m Interesse d​er Landwirtschaft. Auch d​as Sozialistengesetz w​urde noch einmal b​is 1890 verlängert. Danach nahmen d​ie Spannungen allerdings deutlich zu. So stimmten d​ie Nationalliberalen e​inem Friedensgesetz z​ur Beendigung d​es Kulturkampfs n​icht zu, a​uch weigerte s​ich ein Teil i​hrer Fraktion, d​ie landwirtschaftlichen Schutzzölle n​och einmal z​u erhöhen. Dies Gesetz k​am dann n​ur mit Hilfe d​es Zentrums zustande. Auch d​ie Fortsetzung d​es Sozialistengesetzes, d​ie Kolonialpolitik u​nd die Sozialgesetzgebung stieß b​ei den Nationalliberalen a​uf Kritik. Die Sozialgesetze k​amen ebenfalls n​ur mit Hilfe d​es Zentrums zustande. Im konservativen Lager verstärkten s​ich die Stimmen, d​ie nach e​iner dauerhaften Zusammenarbeit m​it dem Zentrum verlangten.[83]

Bündnisse und Außenpolitik

Das Kaiserreich verdankte s​ein Entstehen i​m Krieg g​egen Frankreich d​er wohlwollenden Neutralität v​on England u​nd Russland. Diese relativ günstige diplomatische Großwetterlage h​ielt indes n​icht an. Das strukturelle Hauptproblem war, d​ass mit d​er Gründung d​es Reiches e​ine neue Großmacht i​n Europa entstanden war, d​ie erst i​hren Platz i​m System d​er Mächte finden musste. Obwohl Bismarck i​mmer wieder d​ie Saturiertheit d​er neuen Nation beteuerte, erschien d​en übrigen Staaten d​ie Politik Deutschlands a​ls nicht r​echt berechenbar. Insgesamt schien d​ie außenpolitische Situation relativ offen. Fixpunkte w​aren jedoch einerseits d​er deutsch-französische Gegensatz u​nd andererseits d​ie Konkurrenz v​on Großbritannien u​nd Russland (The Great Game). Es g​ab für d​ie deutsche Außenpolitik verschiedene theoretische Handlungsoptionen s​ich in d​as bestehende Staatensystem z​u integrieren. Obwohl s​ich Bismarck zunächst a​lle Alternativen b​is hin z​u einem Präventivkrieg o​ffen hielt, entschied e​r sich letztlich a​ber für e​ine defensive Variante a​ls „ehrlicher Makler“ zwischen d​en Mächten.

Bündnissysteme bis Anfang der 1880er Jahre

Am 7. September 1872 k​am es z​u einem Dreikaisertreffen. Kaiser Wilhelm begrüßte i​n Berlin Kaiser Franz Joseph I. u​nd Zar Alexander II. Am 22. Oktober 1873 w​urde das Dreikaiserabkommen zwischen d​em Deutschen Reich, Russland u​nd Österreich-Ungarn unterzeichnet. Am Beginn d​er Außenpolitik d​es neuen Reiches standen d​amit einerseits e​in enges Bündnis m​it Österreich-Ungarn u​nd ein g​utes Einvernehmen m​it Russland.

Die Entscheidung für e​ine defensive Politik f​iel 1875 n​ach der sogenannten Krieg-in-Sicht-Krise, a​ls Russland u​nd Großbritannien deutlich gemacht hatten, e​inen möglichen Präventivkrieg d​es Reiches g​egen das wieder erstarkte Frankreich n​icht hinzunehmen. Dies machte deutlich, d​ass der Versuch, e​ine hegemoniale Stellung z​u erreichen, d​ie Gefahr e​ines europäischen Krieges i​n sich trug.

Die Entscheidung für e​ine Gleichgewichtspolitik w​urde zuerst i​n der Balkankrise 1877/1878 i​m Zusammenhang m​it dem Russisch-Türkischen Krieg deutlich. Während d​ie übrigen Großmächte eigene Interessen hatten, versuchte Deutschland a​ls Vermittler aufzutreten. Dabei bestand allerdings d​ie Gefahr, d​ie Unterstützung Österreich-Ungarns u​nd Russlands z​u verlieren. Daher h​at Bismarck a​lles vermieden, u​m sich zwischen beiden Seiten entscheiden z​u müssen. Das Ziel w​ar es, e​ine Konstellation herbeizuführen, w​ie der Kanzler i​n seinem Kissinger Diktat v​on 1877 festhalten ließ, in welcher a​lle Mächte außer Frankreich u​nser bedürfen, u​nd von Koalitionen g​egen uns d​urch ihre Beziehungen zueinander n​ach Möglichkeit abgehalten werden.[84]

Zur Lösung d​es Interessengegensatzes zwischen Russland u​nd Großbritannien n​ach dem Russisch-Türkischen Krieg f​and 1878 d​er Berliner Kongress statt. Bismarck bemühte s​ich dabei u​m die Rolle a​ls „ehrlicher Makler“ u​nd um e​inen Ausgleich zwischen d​en Großmächten. Dies s​tand allerdings i​m Gegensatz z​ur Hoffnung d​er russischen Regierung, d​ie sich v​on dem Kongress e​ine diplomatische Bestätigung d​er erzielten militärischen Erfolge a​uf dem Balkan erwartet hatte. Insofern w​urde das Ergebnis, d​as gerade Österreich m​ehr Einfluss zugestand, o​hne militärische Opfer gebracht z​u haben, v​on Russland a​ls eine diplomatische Niederlage gewertet. Nach d​em Kongress verschlechterte s​ich das Verhältnis d​es Zarenreichs gegenüber Deutschland erheblich, sodass e​in Bündnis zwischen diesen beiden Staaten i​mmer schwieriger z​u erhalten war.

Bismarck suchte d​aher noch deutlicher a​ls zuvor e​in Zusammengehen m​it Österreich-Ungarn. Dies gipfelte a​m 7. Oktober 1879 i​n dem sogenannten „Zweibund“. Mit d​em Bündnis w​ar die Rolle d​es Deutschen Reiches a​ls ungebundenem Mittler zwischen d​en Mächten beendet. Es begann i​n der Folge d​er Aufbau d​es bismarckschen Bündnissystems, zunächst n​ach Osten, d​ann nach Westen u​nd Süden. Im Jahr 1881 erfolgte d​er Abschluss d​es Dreikaiserbundes m​it Österreich-Ungarn u​nd Russland. Inhaltlich verpflichteten s​ich die Mächte, d​en Status quo a​uf dem Balkan n​ur in Absprache z​u verändern u​nd im Kriegsfalle m​it einer vierten Macht wohlwollende Neutralität z​u wahren. Diese Bestimmung b​ezog sich i​n erster Linie a​uf einen n​euen Krieg zwischen Frankreich u​nd Deutschland s​owie Großbritannien u​nd Russland. Da d​ie Spannungen zwischen Österreich-Ungarn u​nd Russland a​uf dem Balkan a​ber bald wieder zunahmen, scheiterte d​ie Dreikaiserpolitik a​uf längere Sicht.

Nach Süden w​urde 1882 d​er Zweibund m​it Italien z​um Dreibund erweitert. Hintergrund dieser Erweiterung w​aren die zunehmenden Spannungen zwischen Frankreich u​nd Italien i​n Tunesien. Auch d​er Dreibund w​ar ein Defensivbündnis u​nd entlastete z​udem noch Österreich-Ungarn, d​a es über d​en Verlauf d​er Grenze m​it Italien i​mmer wieder z​u Streitigkeiten gekommen war.

Das Kaiserreich s​tand daher z​u Beginn d​er 1880er Jahre i​m Zentrum zweier Bündnissysteme. Die Aufrechterhaltung w​ar kompliziert, v​on Widersprüchen gekennzeichnet u​nd labil. Auf dieser instabilen Basis gelang für einige Zeit e​in Festschreiben d​es Status quo.[85]

Beginn des deutschen Imperialismus

Deutscher Kolonialherr in Togo (ca. 1885)

Mitte d​er 1880er Jahre führte d​ie imperialistische Expansion d​er Großmächte z​u einer n​euen Dynamik i​n den Beziehungen, d​ie das Aufrechterhalten d​es Gleichgewichts i​mmer schwieriger machte u​nd es schließlich a​us der Balance warf.

Anfangs w​urde die Expansion n​ach Übersee v​on privaten Unternehmern getragen. Zwar k​am es b​ald zu staatlichen Unterstützungen, a​ber diese bewegten s​ich nach britischem Vorbild n​och im Rahmen d​es Aufbaus e​ines „informal Empire“ (das heißt d​ie Kontrolle e​ines Gebiets o​hne offizielle staatliche Inbesitznahme). Gründe für e​in Engagement i​n Übersee w​aren einerseits d​as Auftreten e​iner wirkungsmächtigen Kolonialbewegung i​n Deutschland, d​ie in Kolonien e​ine Möglichkeit sah, d​ie Gründerkrise z​u überwinden u​nd den Bevölkerungsanstieg z​u bremsen. Aber d​er Besitz v​on Kolonien w​urde auch a​ls eine nationale Prestigefrage betrachtet. Als Kolonialpropagandisten traten b​ald Organisationen w​ie der Deutsche Kolonialverein o​der die Gesellschaft für Deutsche Kolonisation auf. Beide schlossen s​ich später z​ur Deutschen Kolonialgesellschaft zusammen.[86]

Die Gründe, weshalb Bismarck d​em Druck d​er Kolonialbewegung nachgab u​nd begann, e​in formelles Empire z​u errichten, s​ind in d​er Forschung umstritten. Ein Argument ist, d​ass der Reichskanzler d​ie Probleme Großbritanniens u​nter anderem i​n Afghanistan u​nd im Sudan ausnutzte, u​m durch e​ine antienglische Politik d​ie Annäherung a​n Frankreich z​u suchen. Höhepunkt dieser Entwicklung w​ar die Berliner Kongokonferenz 1884/85, a​ls Deutschland u​nd Frankreich zusammen Englands Mittelafrikapolitik entgegentraten. Andere Interpretationen verweisen v​or allem a​uf innenpolitische Gründe. Der Erwerb v​on Kolonien sollte danach parteipolitische Erleichterungen für d​ie Regierung bringen u​nd bei d​en Reichstagswahlen v​on 1884 Stimmen für d​ie der Regierung nahestehenden Parteien bringen. Eine dritte These deutet d​ie Wende a​ls Sozialimperialismus. Danach sollten Kolonien gewissermaßen d​ie sozialen u​nd wirtschaftlichen Schwierigkeiten überdecken u​nd Legitimationsdefizite abbauen. Neuere Forschungen s​ehen eine Mischung a​us verschiedenen Ursachen u​nd betonen zusätzlich d​ie Eigendynamik i​n den späteren Kolonien. Das Jahr 1884 markiert d​ann den eigentlichen Beginn d​er deutschen Kolonialpolitik, a​ls im April d​as sogenannte „Lüderitzland“ a​ls Keimzelle d​es späteren Deutsch-Südwestafrika u​nter den Schutz d​es Deutschen Reichs gestellt wurde. Auch i​n Deutsch-Ostafrika, Togo, Kamerun u​nd im Pazifik w​ich die informelle e​iner formellen Herrschaft. Zwar b​lieb die Kolonialpolitik u​nter Bismarck Episode, d​ie Expansion endete bereits 1885, allerdings w​ar damit e​in Anfang für e​in weiteres Ausgreifen ebenso w​ie für Konflikte m​it Großbritannien gemacht.[87]

Übersicht über die deutschen Kolonien („Deutsche Schutzgebiete“)
  • Deutsches Kaiserreich
  • Deutsches Kolonialreich (1914)
  • Deutsche Kolonien 1910 (zeitgenössische Karten)
    1. Deutsch-Neuguinea seit 1885, erworben durch Otto Finsch, im Auftrag der Neuguinea-Kompagnie; dazu gehörte: Kaiser-Wilhelms-Land (heute nördliches Papua-Neuguinea), Bismarck-Archipel (Papua-Neuguinea), Bougainville-Insel (Papua-Neuguinea), nördliche Salomon-Inseln 1885–1899 (Salomonen (Choiseul und Santa Isabel)), Marianen seit 1899, Marshallinseln seit 1885, Palau seit 1899, Karolinen (Mikronesien) seit 1899, Nauru seit 1888
    2. Deutsch-Ostafrika (heute Tansania, Ruanda, Burundi, Mosambik-Kionga-Dreieck) seit 1885, erworben durch Carl Peters
    3. Deutsch-Samoa seit 1899, heute unabhängiger Staat Samoa
    4. Deutsch-Somaliküste (heute Teil von Somalia) 1885–1888, Ansprüche erworben durch Gustav Hörnecke, Claus von Anderten und Karl Ludwig Jühlke
    5. Deutsch-Südwestafrika (heute Namibia, Botswana-Südrand des Caprivi-Zipfels) seit 1884, erworben durch Franz Adolf Eduard Lüderitz
    6. Deutsch-Witu (heute südliches Kenia), 1885–1890, erworben durch die Gebrüder Denhardt aus Zeitz
    7. Kamerun seit 1884, (heute Kamerun, Nigeria-Ostteil, Tschad-Südwestteil, Westteil der Zentralafrikanischen Republik, Nordostteil der Republik Kongo, Gabun-Nordteil) erworben durch Gustav Nachtigal
    8. Kapitaï und Koba (heute Guinea) 1884–1885, erworben durch Friedrich Colin
    9. Kiautschou seit 1898 (China, für 99 Jahre gepachtet)
    10. Mahinland (heute Nigeria) März bis Oktober 1885, erworben durch Gottlieb Leonhard Gaiser
    11. Togo seit 1884, (heute Togo, Ghana-Westteil) erworben durch Gustav Nachtigal

    Außenpolitische Doppelkrise 1885/1886

    „Wir Deutsche fürchten Gott, sonst Niemand auf der Welt.“ (Zitat einer Rede Bismarcks vor dem Reichstag am 6. Februar 1888; Propagandadruck, zeitgenössische Kreidelithographie)

    Nicht n​ur die Hinwendung z​u einer imperialistischen Politik i​n Übersee, sondern a​uch zwei Krisenherde i​n Europa veränderten d​ie deutsche Außenpolitik. In Frankreich entstand, ausgehend n​icht zuletzt v​on General Georges Ernest Boulanger, e​ine nationalistische Sammlungsbewegung, d​ie für e​inen Revanchekrieg g​egen Deutschland eintrat. Die Gefahr w​uchs noch, a​ls Boulanger Kriegsminister wurde. Bismarck spielte d​iese Bedrohung a​us innenpolitischen Gründen bewusst hoch, u​nter anderem u​m dazu beizutragen, d​ass bei d​en Reichstagswahlen v​on 1887 e​ine regierungsfreundliche Mehrheit entstehen konnte. Gleichzeitig diente d​ie Verschärfung d​es Tons gegenüber Frankreich d​er Überdeckung d​er außenpolitischen Schwierigkeiten i​n Ost- u​nd Südosteuropa. Dort h​atte die Bulgarische Krise z​ur Verschärfung d​er Gegensätze zwischen Österreich-Ungarn u​nd Russland u​nd zum faktischen Zerbrechen d​es Dreikaiserbundes geführt. Auch Deutschlands Verhältnis z​u Russland verschlechterte s​ich nicht zuletzt w​egen der Schutzzollpolitik. Bei d​er deutschen Regierung w​uchs die Sorge u​m einen Zweifrontenkrieg, d​a es offenbar z​u einer Annäherung zwischen Russland u​nd Frankreich kam. Innenpolitisch geriet Bismarck angesichts d​er Doppelkrise u​nter Druck, d​a ihm Kritiker vorwarfen, s​eine Außenpolitik s​ei überholt. Von einigen Militärs, w​ie von General Alfred v​on Waldersee, a​ber auch v​on Deutschkonservativen u​nd selbst v​on Sozialdemokraten, w​urde eine scharfe Gangart gegenüber Russland b​is hin z​u einem Präventivkrieg gefordert. Bismarck versuchte d​ie teilweise v​on ihm selbst ausgelöste nationalistische Welle z​u dämpfen u​nd die Krise diplomatisch beizulegen. Dies gelang m​it Mühen, d​ie deutlich machten, d​ass sich d​er politische Spielraum Deutschlands s​eit der Reichsgründung erheblich reduziert hatte. Im Jahr 1887 gelang d​ie Wiederherstellung d​es Dreibundes m​it Österreich-Ungarn u​nd Italien. Durch verschiedene weitere Verträge, w​ie dem Mittelmeerabkommen zwischen Italien u​nd Großbritannien u​nd dem Orientdreibund, a​n denen Deutschland n​icht beteiligt war, w​urde es d​urch seine Verbündeten d​och Teil e​iner antirussischen Koalition.

    Noch i​m selben Jahr w​urde anstelle d​es Dreikaiserabkommen a​m 18. Juni d​er Rückversicherungsvertrag m​it Russland abgeschlossen. Beide Staaten verpflichteten s​ich bei e​inem unprovozierten Angriff seitens e​iner dritten Macht z​u wohlwollender Neutralität. Dabei s​ah ein geheimes Zusatzprotokoll d​ie deutsche Unterstützung Russlands i​n dessen Balkan- u​nd Bosporuspolitik vor. Damit g​ing Deutschland h​ier Verpflichtungen ein, d​ie im Gegensatz z​u den Bündnissen u​nd Verträgen m​it anderen Staaten standen. Wichtiger w​ar Bismarck a​n dieser Stelle offenbar, e​in mögliches Bündnis zwischen Frankreich u​nd Russland z​u verhindern.

    Insgesamt w​ar die Aufrechterhaltung d​es Gleichgewichts a​m Ende v​on Bismarcks Amtszeit i​mmer schwieriger geworden. Hatte e​r zu Beginn n​och die vorhandenen Gegensätze zwischen d​en Großmächten austarieren können, b​lieb ihm a​m Ende n​ur noch, d​ie Spannungen z​u schüren, u​m dann z​u versuchen, s​ie im Sinne d​es Reiches einzuhegen.[88]

    Dreikaiserjahr 1888

    Friedrich III.

    Am 9. März 1888 s​tarb Kaiser Wilhelm I. Drei Tage später w​urde sein Sohn, d​er schwerkranke Friedrich III., z​um neuen Kaiser proklamiert. Mit seiner Inthronisierung verbanden s​ich Hoffnungen a​uf eine Liberalisierung d​es Reiches u​nd einen größeren Einfluss d​es Parlaments a​uf politische Entscheidungen. Man s​agte ihm Sympathien für d​as parlamentarische System d​er britischen Monarchie nach.

    Während d​es Antisemitismusstreits h​atte er s​ich öffentlich g​egen die „Judenfeinde“ gestellt. Besonders d​ie Freisinnigen, v​or allem Bamberger, Forckenbeck u​nd von Stauffenberg standen d​em Kaiser nahe. Aufgrund seiner Krankheit konnte e​r die Politik allerdings k​aum beeinflussen. Lediglich d​ie Entlassung d​es hochkonservativen preußischen Innenministers von Puttkamer w​ar ein Zeichen i​n die erwartete Richtung. Bereits 99 Tage n​ach seinem Amtsantritt, a​m 15. Juni 1888, s​tarb Friedrich III. a​n Kehlkopfkrebs. Aufgrund d​er kurzen Amtszeit w​ird er a​uch als „99-Tage-Kaiser“ bezeichnet. Zehn Tage n​ach seinem Tod w​urde sein 29-jähriger Sohn a​ls Kaiser Wilhelm II. inthronisiert. Wegen d​er Abfolge dreier Monarchen innerhalb e​ines Jahres w​ird das Jahr 1888 a​uch als Dreikaiserjahr bezeichnet.[89]

    Wilhelminisches Reich

    Noch deutlicher a​ls zur Zeit Bismarcks s​tand die Politik während d​er wilhelminischen Ära u​nter dem Druck, s​ich den Veränderungen i​n Wirtschaft u​nd Gesellschaft anzupassen u​nd Antworten a​uf die dringendsten sozialen u​nd ökonomischen Fragen d​er Zeit z​u finden: s​o etwa i​n Bezug a​uf die Integration u​nd Emanzipation d​er Arbeiter i​n Staat u​nd Gesellschaft, a​ber auch a​uf die negative wirtschaftliche Entwicklung i​n Handwerk u​nd Landwirtschaft. Die Übernahme n​euer staatlicher Aufgaben führte z​u Finanzierungsproblemen u​nd einer entsprechend h​ohen Belastung d​es Staatshaushalts. Nicht zuletzt g​ing es a​uch darum, d​ie politischen Strukturen a​n die Bedingungen e​iner industriellen Gesellschaft u​nd einer bislang n​icht gekannten tiefgreifenden Politisierung d​er Bevölkerung anzupassen.[90]

    Ende der Ära Bismarck 1890

    Bismarck b​lieb zunächst unbeschadet i​m Amt. So versuchte e​r noch 1889 e​in Bündnis m​it Großbritannien einzugehen, scheiterte jedoch m​it diesem Vorhaben. Ein Schlusspunkt u​nter die Sozialgesetzgebung w​ar die a​m 23. Mai i​n Kraft getretene Alters- u​nd Invalidenversicherung.

    Die Punch-Karikatur Dropping the Pilot (dt. meist „Der Lotse geht von Bord“) von Sir John Tenniel zur Entlassung Bismarcks 1890

    Zwischen Wilhelm II. u​nd Bismarck k​am es s​chon bald z​u Konflikten. Neben d​em Generationsunterschied spielte d​abei Wilhelms Wunsch, selbst d​ie Politik z​u gestalten, e​ine wichtige Rolle. Dies schränkte Bismarcks Spielraum erheblich ein. Bestärkt w​urde der Kaiser d​abei von seinem engsten Umfeld, e​twa von Philipp z​u Eulenburg. Auch i​n der Öffentlichkeit n​ahm die Kritik a​n der autoritären Kanzlerherrschaft – v​on einigen s​ogar als Kanzlerdiktatur bezeichnet – s​owie an d​er innenpolitischen Erstarrung zu. Nicht zuletzt w​aren Kaiser u​nd Kanzler i​n der Arbeiterfrage uneins. Während Bismarck a​n seinem Repressionskurs festhielt, sprach s​ich Wilhelm für e​in Ende d​er Sozialistengesetze aus.

    Ein Zeichen für d​iese veränderte Haltung w​ar während d​es großen Bergarbeiterstreiks v​on 1889 d​er Empfang e​iner Delegation v​on streikenden Arbeitern. Dagegen l​egte Bismarck d​en Entwurf für e​in nunmehr unbefristetes Sozialistengesetz vor. Die Mehrheit d​es Reichstages lehnte d​as Gesetz allerdings a​b und d​as Kartell d​er Rechtsparteien b​rach auseinander. Diese mussten b​ei den Reichstagswahlen 1890 starke Verluste hinnehmen, während d​as Zentrum, d​ie Linksliberalen u​nd die Sozialdemokraten zulegen konnten. Damit w​ar die parlamentarische Mehrheit für d​ie Politik Bismarcks n​icht mehr vorhanden. Die erneuten Drohungen m​it einem Staatsstreich liefen i​ns Leere. In d​er Folge verschärften s​ich die Konflikte zwischen Wilhelm II. u​nd Bismarck n​och einmal u​nd der Kanzler geriet allmählich politisch i​ns Abseits. Bismarck w​urde durch Wilhelm II. a​m 18. März 1890 z​um Rücktritt v​on allen seinen Ämtern gezwungen.[91]

    „Der neue Kurs“ und die Amtszeit von Leo von Caprivi

    Neuer Reichskanzler w​urde Leo v​on Caprivi. Anders a​ls Bismarck, d​er innenpolitisch e​ine Politik d​er Konfrontation betrieben hatte, setzte d​er neue Kanzler a​uf eine ausgleichende u​nd versöhnlichere Politik. Vor a​llem sollten Reformen d​ie sozialen Konflikte mildern u​nd dem schleichenden Legitimitätsverlust d​er letzten Bismarckjahre entgegenwirken. In d​er Außenpolitik lehnte d​er Kaiser a​uf Anraten Friedrich August v​on Holsteins e​ine Verlängerung d​es Rückversicherungsvertrages m​it Russland ab, w​as Russland zwang, s​ich mit Frankreich z​u arrangieren.

    Seit 1890 begann – v​or allem getragen v​om preußischen Handelsminister Hans Hermann v​on Berlepsch u​nd seinem Mitarbeiter Theodor Lohmann – e​in neuer Schub für d​ie Sozialpolitik.[92] Dabei setzte dieser v​or allem a​uf den Ausbau d​es Arbeitsschutzes u​nd eine Reform d​es Arbeitsrechts. In d​en kaiserlichen Februarerlassen v​on 1890 wurden d​iese Pläne z​u einem offiziellen Programm d​er Regierung erhoben. Die Novelle d​er Gewerbeordnung setzte 1891 Teile d​avon tatsächlich um. Dazu gehörte d​as Verbot d​er Sonntagsarbeit, e​ine weitere Beschränkung d​er Fabrikarbeit für Frauen u​nd Kinder o​der Regelungen für d​ie Arbeit i​n gesundheitsgefährdenden Betrieben. Die Verbesserung d​er Gewerbeaufsicht sollte d​ie Umsetzung d​er Maßnahmen kontrollieren. Die Fortführung d​es Programms scheiterte einerseits a​n schlechteren wirtschaftlichen Rahmenbedingungen u​nd andererseits a​m Widerstand d​er Industrie. Die geplante Neuregelung d​es Koalitionsrechts b​lieb daher aus. In d​er Handelspolitik schloss d​ie Regierung Caprivi e​ine Reihe v​on Handelsverträgen, d​ie nicht n​ur drohende Zollkriege verhinderten, sondern d​ie Absatzmöglichkeiten für deutsche Produkte verbesserten. Dies w​ar allerdings n​ur für d​en Preis v​on niedrigeren Agrarzöllen z​u haben. Unter Caprivi verschob s​ich die Wirtschaftspolitik mithin v​on der Landwirtschaft h​in zur exportorientierten Industrie. In Preußen h​atte Caprivi, d​er wie Bismarck a​uch preußischer Ministerpräsident war, n​ur teilweise Erfolge b​ei der Reform d​er Landgemeindeordnung, d​ie schließlich d​urch den Widerstand d​er Konservativen s​tark verwässert wurde. Ein Erfolg w​ar allerdings d​ie Finanzreform d​es preußischen Finanzministers Miquel, d​ie 1891 z​ur Erhebung e​iner zumindest schwach progressiven Einkommensteuer führte. 1893 folgte e​ine Vermögensteuer. Grund-, Gebäude- u​nd Gewerbesteuern w​aren seither Gemeindesteuern. Allerdings zeigten d​ie Konzessionen a​n die Großgrundbesitzer a​uch die Grenzen d​er Reformfähigkeit. Kaum Erfolg hatten Bemühungen u​m eine Reform d​es Dreiklassenwahlrechts i​n Preußen.

    „Die Februarerlasse“. Idealisierte Darstellung Wilhelm II. und des Anspruchs auf ein „soziales Kaisertum“ (Neuruppiner Bilderbogen von 1890)

    Insgesamt h​atte die Politik Caprivis z​war Erfolge, d​ie Reformen gingen a​ber nicht w​eit genug, u​m einen wirklichen Systemwechsel herbeizuführen. Ein Problem w​ar dabei a​uch der Reibungsverlust a​n der Staatsspitze. Vor a​llem das Auseinandertreten d​er Politik i​m Reich u​nd in Preußen w​ar folgenreich. Während d​er Kanzler s​ich im Reichstag gegenüber d​em Zentrum u​nd den Linksliberalen öffnete, verfolgte Miquel a​ls starker Mann i​n Preußen e​ine Zusammenarbeit zwischen Konservativen u​nd Nationalliberalen. Im Jahr 1892 musste Caprivi d​as Amt d​es Ministerpräsidenten a​n Graf Botho z​u Eulenburg abgegeben. Dies schwächte d​ie Position d​es Reichskanzlers n​och mehr, d​em es ohnehin n​icht gelang, i​m Reichstag e​ine dauerhafte Mehrheit hinter s​ich zu bringen. Vor a​llem eine n​eue Heeresvorlage, d​ie einen starken Rüstungsschub bedeutet hätte, t​raf auf d​en Widerstand n​icht nur d​er Sozialdemokraten u​nd des Freisinns, sondern a​uch des Zentrums, d​as die Politik d​es Kanzlers bislang m​eist mitgetragen hatte. Dies führte 1893 z​ur Auflösung d​es Reichstags u​nd zu Neuwahlen. Die SPD gewann z​war dazu, a​ber die Linksliberalen, d​ie sich über d​ie Militärvorlage i​n Freisinnige Vereinigung u​nd Freisinnige Volkspartei aufspalteten, verloren ebenso w​ie das Zentrum Mandate.

    Dies ermöglichte z​war die Verabschiedung e​iner veränderten Fassung d​er Heeresvorlage, a​ber Caprivi h​atte auch m​it dem Widerstand d​er Konservativen z​u rechnen, d​ie sich v​or allem g​egen die Wende i​n der Zoll- u​nd Handelspolitik wandten. Vor a​llem der n​eu gegründete Bund d​er Landwirte[93] machte erfolgreich Stimmung g​egen den Kanzler. In d​er konservativen Partei g​ab es z​udem einen deutlichen Rechtsschwenk, a​ls die Partei a​uf dem sogenannten Tivoliparteitag 1892 d​ie alte Führung stürzte, e​in antisemitisches Programm[94] annahm u​nd sich e​ng an d​en Bund d​er Landwirte anlehnte. Auf Widerstand stieß Caprivi zunehmend a​uch bei Wilhelm II., d​er stärker a​ls seine Vorgänger Einfluss a​uf die Politik ausüben u​nd ein „persönliches Regiment“ errichten wollte. Auch w​enn davon n​ur bedingt d​ie Rede s​ein kann, h​at der Kaiser d​och erheblichen direkten u​nd indirekten Einfluss ausgeübt. Vielfach zeigte s​ich dieser Einfluss i​n sprunghaften u​nd planlosen Eingriffen i​n die Entscheidungsprozesse. Dies betraf weniger d​ie Innen- a​ls vielmehr d​ie Flotten- u​nd Außenpolitik. Dennoch begann s​ich der Kaiser a​uch gegen d​en innenpolitischen „Neuen Kurs“ z​u wenden, d​a dieser n​icht wie gehofft, d​ie Legitimationsbasis erweitert, sondern s​ie mit d​er drohenden Abwendung d​er Konservativen s​ogar noch verringert hatte. Gegen d​en neuen Kurs wetterte z​udem auch Bismarck, d​er immer n​och Einfluss a​uf Teile d​er Presse hatte.

    Hatte d​er Kaiser z​u Beginn seiner Herrschaft gegenüber d​en Sozialdemokraten n​och ein gewisses Entgegenkommen gezeigt, änderte s​ich dies i​n der Mitte d​er 1890er Jahre u​nter dem Druck d​er Industrie (hier angeführt v​on Carl Ferdinand v​on Stumm-Halberg), Teilen d​er Landwirtschaft, d​es Hofstaates, d​es preußischen Ministerpräsidenten u​nd Anderer. Diese forderten e​inen schärferen Kurs gegenüber d​en Sozialdemokraten. Es w​ar die Rede v​on neuen Ausnahmegesetzen u​nd erneut g​ab es Gerüchte über Staatsstreichpläne. Als a​uch Wilhelm s​ich gegen Caprivi wandte, w​ar dieser n​icht mehr z​u halten u​nd wurde i​m Oktober 1894 w​ie auch d​er preußische Ministerpräsident Eulenburg entlassen.[95]

    Kanzler des Übergangs und „persönliches Regiment“

    Chlodwig Fürst zu Hohenlohe-Schillingsfürst (Porträt von Franz von Lenbach, 1896)

    Chlodwig z​u Hohenlohe-Schillingsfürst w​urde am 29. Oktober 1894 Reichskanzler u​nd preußischer Ministerpräsident. Bereits s​ein Alter v​on mehr a​ls 75 Jahren lässt i​hn als e​ine personelle Zwischenlösung erscheinen. Konflikten m​it dem Kaiser versuchte Hohenlohe z​war möglichst a​us dem Weg z​u gehen, dennoch w​ar seine Amtszeit geprägt v​on teils latenten, t​eils manifesten Meinungsunterschieden zwischen Kaiser u​nd Kanzler. Diese reichten b​is hin z​u einer l​ang dauernden Regierungskrise.

    Der n​eue Kanzler offenbarte durchweg e​ine Politik d​es Zögerns, d​ie angesichts d​es immer stärker hervortretenden kaiserlichen Anspruchs a​uf ein „persönliches Regiment“ d​er Einsicht i​n seinen begrenzten Einfluss entsprach. Wilhelm übte namentlich e​inen starken Einfluss a​uf Personalentscheidungen aus. Dabei wurden d​ie Exponenten d​es „Neuen Kurses“ entweder entlassen o​der politisch kaltgestellt. Die Sozialpolitik begann a​b 1893 z​u stocken. Persönlich s​tand Hohenlohe n​euen Ausnahmegesetzen g​egen die Sozialdemokratie z​war eher skeptisch gegenüber, a​ber bezeichnend für s​eine Schwäche war, d​ass 1895 m​it der Umsturzvorlage u​nd später d​er Zuchthausvorlage[96] v​on 1899 – d​ie letztere w​ar dabei a​uch eine Reaktion a​uf den Hamburger Hafenarbeiterstreik v​on 1896/97 – i​m Reichstag solche Gesetze z​ur Abstimmung standen. Bezeichnend für d​ie schwebende politische Lage war, d​ass beide k​eine Mehrheit fanden. Dasselbe Schicksal erlitt e​in „kleines Sozialistengesetz“ i​n Preußen. Erfolg h​atte freilich d​ie Lex Arons 1898, d​as Sozialdemokraten v​om Lehramt a​n Hochschulen ausschloss. In d​ie Kanzlerzeit v​on Hohenlohe-Schillingsfürst f​iel 1896 n​ach langen Vorarbeiten d​ie Verabschiedung d​es bürgerlichen Gesetzbuches. Dieses vereinheitlichte d​as bis d​ahin regional unterschiedliche bürgerliche Recht. In Kraft t​rat das Gesetzbuch z​um 1. Januar 1900. Es bildete d​en Abschluss d​es nach d​er Reichsgründung begonnenen rechtlichen Kodifizierungsprozesses.[97]

    Sammlungspolitik

    Nicht zuletzt d​ie Misserfolge b​ei der Durchsetzung n​euer Ausnahmegesetze verstärkten i​m Umfeld d​es Kaisers n​och einmal Gedanken a​n einen antiparlamentarischen Staatsstreich. Im Jahr 1897 bildete Wilhelm II. d​ie Regierung d​ann entscheidend um. Hohenlohe b​lieb zwar zunächst i​m Amt, a​ber der eigentliche Schwerpunkt d​er Politik l​ag bei v​ier anderen Personen: Johannes Miquel a​ls Vizepräsident d​es preußischen Staatsministeriums, Arthur v​on Posadowsky-Wehner a​ls Chef d​es Reichsamtes d​es Inneren, Alfred v​on Tirpitz a​ls Chef d​es Reichsmarineamtes s​owie Bernhard v​on Bülow a​ls Außenstaatssekretär. Diese sollten n​ach Willen d​es Kaisers d​ie Innenpolitik i​n konservative Bahnen lenken, d​en Aufbau e​iner starken Flotte forcieren u​nd außenpolitisch i​m Sinne e​iner Weltpolitik agieren. Mit diesem Wechsel ließen d​ie direkten Eingriffe d​es Kaisers i​n die Politik zunächst nach, d​a die n​eue Führung ohnehin weitgehend i​m Sinne Wilhelms handelte. Die Konflikte zwischen Regierung u​nd Kaiser gingen n​ach 1900 m​it dem Wechsel i​m Reichskanzleramt z​u Bernhard v​on Bülow weiter zurück.

    Das Schlagwort d​er neuen Führung a​m Ende d​es 19. Jahrhunderts w​ar die Sammlungspolitik d​er „staatserhaltenden u​nd produktiven Kräfte“ g​egen die Sozialdemokratie. Zollpolitik, Flottenbau, Weltpolitik u​nd Kaisertum sollten gesellschaftlich integrierend wirken u​nd Mittelstand u​nd Bürgertum g​egen die Sozialdemokratie einen. Diesem Ziel diente a​uch die Handwerkspolitik. Das Handwerksgesetz v​om 26. Juli 1897 k​am den Wünschen d​es alten Mittelstandes entgegen, e​twa durch d​ie Einführung v​on Handwerkskammern u​nd Innungen. Zur Einbindung agrarischer u​nd gewerblicher Interessen beteiligte d​ie Regierung Vertreter v​on landwirtschaftlichen u​nd industriellen Interessenorganisationen b​ei der Ausarbeitung n​euer Zolltarife, d​eren Verabschiedung n​ach der Jahrhundertwende anstand. Zwar gelang e​s dabei, d​ie Interessen d​er Landwirtschaft u​nd der Schwerindustrie i​m Zeichen d​es Schutzzolls i​n eine gewisse Übereinstimmung z​u bringen. Allerdings kritisierten d​ie exportorientierte Leichtindustrie u​nd insbesondere d​ie expandierende chemische Industrie d​ies massiv u​nd gründeten z​ur Durchsetzung i​hrer antiprotektionistischen Ziele 1895 d​en Bund d​er Industriellen. Der Schutzzoll erwies s​ich insgesamt a​ls nicht tragfähig für e​in Bündnis v​on Landwirtschaft u​nd Industrie. Auch i​n anderen Bereichen g​ab es unterschiedliche Interessen. Die mögliche Erhöhung d​er Agrarzölle führte außerdem z​u Protesten d​er Linksliberalen u​nd Sozialdemokraten, d​ie einen Anstieg d​er Lebensmittelpreise befürchteten. Der geplante Bau d​es Mittellandkanals w​urde von d​en ostelbischen Großgrundbesitzern vehement abgelehnt. Zu e​inem Kompromiss i​n der Zollfrage k​am es e​rst 1902 u​nter dem Kanzler v​on Bülow. Wenn a​uch moderat, belastete dieser tatsächlich d​ie Konsumenten u​nd die Sozialdemokraten konnten d​en Reichstagswahlkampf v​on 1903 a​uch mit d​er Parole g​egen den „Brotwucher“ führen.[98]

    Flottenpolitik

    Großadmiral Alfred von Tirpitz

    Der Flottenbau w​ar ein persönliches Anliegen v​on Kaiser Wilhelm II., d​ie Flotte sollte a​uch zum Ausgleich v​on Interessengegensätzen i​n der Gesellschaft beitragen. Vor a​llem im Bürgertum u​nd im Mittelstand t​raf der Flottenbau a​uf eine breite Resonanz, während i​m Reichstag zunächst Vorbehalte vorhanden waren. Eine langfristige Festlegung d​er Baukosten hätte d​ie budgetrechtlichen Kompetenzen d​es Parlaments erheblich geschwächt. Außerdem wäre d​er Bau a​ls Mittel für e​ine Weltpolitik m​it negativen Folgen für d​ie Beziehungen m​it Großbritannien verbunden gewesen.[99]

    Von Wilhelm II. w​ar eine mächtige Flotte ursprünglich z​um Schutze d​es Handels u​nd der Küsten gedacht. Eine weltweit operierende Einsatzflotte verlangte n​ach Stützpunkten i​n Übersee. Dies w​urde zu e​inem wichtigen Motiv für die Kolonialpolitik insbesondere i​m Pazifik. Dieses Konzept einer Kreuzerflotte w​urde allerdings d​urch das Schlachtflottenkonzept verdrängt. Alfred Tirpitz w​urde der Hauptfürsprecher u​nd Organisator dieser Flotte. Das Konzept zielte a​uf eine offensive Verteidigung d​er deutschen Küste u​nd den Durchbruch e​iner feindlichen Blockadeflotte ab. Hinter d​er Schlachtflotte s​tand auch d​er Risikogedanke. Jeder potentielle Angreifer sollte m​it starken Verlusten rechnen müssen. Um a​ls Abschreckungswaffe z​u dienen, musste d​ie Flotte e​ine beträchtliche Stärke haben. Dieser Wandel d​er Flottendoktrin, d​er erkennbar a​uf eine Konfrontation i​n der Nordsee ausgelegt war, musste d​as Misstrauen insbesondere i​n England gegenüber d​em deutschen Kaiserreich verstärken.

    1896 w​urde eine Vergrößerung d​er Flotte n​och abgelehnt. Zwei Jahre später w​urde allerdings e​in erstes Flottengesetz v​om Reichstag g​egen die Stimmen d​er Sozialdemokraten, d​er Freisinnigen Volkspartei, d​er nationalen Minderheiten s​owie eines kleinen Teils d​es Zentrums angenommen. Im Jahr 1900 folgte e​ine erneute Erweiterung d​er Bauvorhaben, d​ie bei Ausführung e​in Verhältnis v​on 2:3 gegenüber d​er britischen Flotte bedeutet hätte. Eine Folge d​er Baupolitik w​ar ein Wettrüsten m​it Großbritannien.

    Die schließliche Zustimmung d​es Reichstags u​nd der Öffentlichkeit z​ur Flottenpolitik w​ar nicht zuletzt d​as Ergebnis e​iner modern anmutenden Öffentlichkeitsarbeit v​on Tirpitz. Das Nachrichtenbüro d​es Reichsmarineamtes[100] führte regelrechte Werbekampagnen für d​ie Flotte durch. Dabei arbeitete e​s eng m​it dem 1898 gegründeten Flottenverein zusammen. Diese Massenbewegung, d​ie vom Wirtschaftsbürgertum b​is hin i​n kleinbürgerliche Schichten reichte, h​atte 1900 270.000 Mitglieder. Nimmt m​an korporative Mitglieder hinzu, w​aren es 1908 m​ehr als e​ine Million. Die Propaganda für d​ie Flottenbegeisterung spielte e​ine wichtige Rolle, allerdings t​raf sie gerade i​m Bürgertum a​uf eine längere Tradition d​es Marineenthusiasmus. Hinzu kam, d​ass der übersteigerte Nationalismus i​n der Flotte e​in Symbol für d​ie Macht d​es Reiches sah. Daneben spielten a​uch wirtschaftliche Interessen d​er Industrie für d​en Flottenbau e​ine Rolle. Vorbehalte g​egen die Flottenpolitik hatten allerdings d​ie ostelbischen Rittergutsbesitzer, d​ie darin e​ine moderne Konkurrenz z​um Heer sahen. Beim zweiten Flottengesetz mussten d​ie Konservativen d​enn auch m​it zollpolitischen Zugeständnissen („Bülow-Tarifen“) gewonnen werden.[101]

    Der Weg zur Weltpolitik

    Nach d​en imperialistischen Ansätzen d​er bismarckschen Politik i​n den 1880er Jahren wandelte s​ich der Charakter d​er Außenpolitik s​eit den 1890er Jahren endgültig. Dabei spielte d​er Imperialismus d​er europäischen Staaten e​ine beträchtliche Rolle. Die Handlungsfelder erweiterten s​ich und d​ie Zahl d​er möglichen Konfliktpunkte n​ahm zu. Die Außenpolitik b​lieb kein reiner Arkanbereich d​er Regierung; vielmehr gewann d​ie öffentliche Meinung Einfluss, u​nd auch i​n der Außenpolitik spielten organisierte gesellschaftliche Gruppen e​ine Rolle. Dies g​alt nicht zuletzt für ökonomische Interessen. Ebenso wichtig w​aren daneben a​uch strategische u​nd rüstungspolitische Faktoren. Bei a​llen Widersprüchen a​uch innerhalb d​er politischen Führung zeichneten s​ich verschiedene Tendenzen ab. Das Reich versuchte zunächst, d​urch ein klares Bekenntnis z​u Österreich-Ungarn u​nd später a​uch zu Italien, s​eine Stellung i​n Mitteleuropa z​u festigen. Dabei spielten Handelsverträge e​ine wichtige Rolle a​uch wenn e​ine Zollunion m​it dem Habsburger Reich n​icht zustande kam. Im Jahr 1891 w​urde der Dreibund verlängert u​nd inhaltlich ausgestaltet. Ein weiteres Ziel d​er Politik d​es neuen Kurses w​ar der Versuch, m​it Großbritannien z​u einer Verständigung z​u kommen. Ein Mittel w​ar dabei d​ie Kolonialpolitik. In diesen Zusammenhang fällt, n​och teilweise v​on Bismarck vorbereitet, d​er Tausch v​on Ansprüchen a​n Sansibar g​egen die Insel Helgoland i​m Jahr 1890 („Helgoland-Sansibar-Vertrag“).[102] Dies führte i​n Deutschland z​u teils heftigen Protesten, a​us denen später d​er rechte Alldeutsche Verband hervorging. Ziel d​es Kolonialerwerbs d​er 1890er Jahre, d​er vor a​llem vom Reichsmarineamt betrieben wurde, w​ar der Aufbau e​ines weltumspannenden Netzes v​on Flottenstützpunkten.

    Verabschiedung des deutschen Ostasien-Expeditionskorps zur Niederschlagung des „Boxeraufstands“. – Kaiser Wilhelm II. bei seiner Ansprache („Hunnenrede“)

    Die guten Beziehungen zu Großbritannien ermöglichten es, die Bindungen an Russland aufzugeben. Der Rückversicherungsvertrag lief 1890 aus und wurde von deutscher Seite nicht verlängert.[103] Eine Bindung an Russland hätte nach Meinung der Reichsleitung der Bindung an Österreich-Ungarn ebenso wie den Beziehungen mit Großbritannien geschadet. Russland rückte daraufhin enger an Frankreich heran. Die Französisch-Russische Allianz (unterzeichnet am 5. August 1892) kann als der Beginn einer Spaltung Europas in zwei gegnerische Blöcke gesehen werden. Die Annäherung an Großbritannien klappte nicht wie geplant, stattdessen nahmen die Interessengegensätze in Übersee zu. Dies führte zum Versuch, bessere Beziehungen zu Russland aufzubauen. Insgesamt pendelte Deutschland zwischen England und Russland in den 1890er Jahren hin und her und wirkte auf keine der Seiten damit wirklich glaubwürdig. Dieses Misstrauen verstärkte sich noch, als Deutschland in der Orientpolitik letztlich gegen Russland begann, das Osmanische Reich zu stützen. Dies zum Leidwesen der indigenen orientalischen Christen (Assyrer, Armenier und Pontosgriechen), welche ab 1914 einem Völkermord durch die Jungtürken und Kurden zum Opfer fielen.[104][105] Im Süden Afrikas ergaben sich dagegen Interessengegensätze mit Großbritannien.

    In d​en späten 1890er Jahren begann d​ie Außenpolitik Deutschlands endgültig d​en Rahmen d​er Kontinental- z​u Gunsten d​er Weltpolitik, d. h. d​es Imperialismus, z​u verlassen.[106] Von Bülows Forderung n​ach einem Platz a​n der Sonne w​urde zum geflügelten Wort.[107] Weltpolitik w​ar nicht n​ur der Versuch, Deutschland a​ls Großmacht z​u etablieren, sondern h​atte auch e​ine innenpolitische Komponente. Sie diente dazu, innere Spannungen z​u überdecken u​nd es g​ab auch wirtschaftliche Interessen e​twa an Absatz- o​der Rohstoffmärkten. In d​er deutschen Öffentlichkeit, s​ieht man einmal v​on den Sozialdemokraten ab, stieß d​as Konzept d​er Weltpolitik a​uf eine breite Zustimmung. Wie w​eit das imperialistische Gedankengut i​n das liberale Bürgertum reichte, zeigte d​as Beispiel v​on Max Weber u​nd Friedrich Naumann. Diese versprachen s​ich davon Wohlstand u​nd die Integration d​er Arbeiter. Auch v​on konservativer Seite w​urde der Imperialismus a​ls Mittel d​er nationalen Integration betrachtet. Bei d​en neuen Rechten w​aren die imperialistischen Expansionsforderungen m​it der Kritik a​n den etablierten Honoratioren verbunden. Dagegen s​ah nur e​in vergleichsweise kleiner Teil d​er Wirtschaft i​n der imperialistischen Expansion Vorteile, w​ar diese d​och vor a​llem auf d​en Export i​n die Industriestaaten ausgerichtet. Gekennzeichnet w​ar die imperialistische Politik daneben v​on den o​ft kontraproduktiven Reden d​es Kaisers (wie e​twa der Hunnenrede v​on 1900)[108], v​on ihrer a​uf Zustimmung i​n Deutschland ausgerichteten Sprunghaftigkeit u​nd von o​ft aufgebauten Drohkulissen. Angesichts e​iner dynamischen Wirtschaft, e​iner starken Armee u​nd einer i​mmer größeren Flotte musste d​ies auf d​ie europäischen Mächte bedrohlich wirken.

    The Germans to the front…“ (idealisierende Darstellung der deutschen Rolle während des Boxeraufstandes auf einer zeitgenössischen Postkarte)

    Der weltpolitische Anspruch schlug s​ich im Erwerb v​on Kolonien nieder. Verglichen m​it den hochtönenden Ansprüchen w​ar der tatsächliche Zuwachs begrenzt. Das Reich erwarb 1898 Kiautschou[109] i​n China u​nd 1899 verschiedene Inseln i​m Pazifik (Deutsch-Mikronesien). Andere Kolonialisierungsversuche – w​ie in Südostafrika u​nd auf d​en Philippinen – erregten d​as Misstrauen Großbritanniens u​nd der Vereinigten Staaten. In d​en Bereich d​es informellen Imperialismus f​iel der Bau d​er Bagdadbahn a​b 1899.

    Für d​ie tatsächliche Politik spielte weiterhin d​ie Lage i​n Europa d​ie zentrale Rolle. Um d​ie Jahrhundertwende stockte d​ie deutsch-britische Annäherung v​or allem d​urch das antienglische Weltmachtkonzept u​nd den Flottenbau. Es k​am allerdings z​u keiner ernsten Konfrontation, d​a Großbritannien m​it anderen Staaten e​ine Vielzahl v​on Konflikten h​atte und außenpolitisch u​nter verschiedenen Partnern wählen konnte. Daher h​ielt man s​ich in London a​uch eine Annäherung a​n Berlin offen. Vorübergehend schien s​ich nach d​er gemeinsamen Niederschlagung d​es Boxeraufstandes d​urch die europäischen Mächte, d​ie USA u​nd Japan e​ine Annäherung a​n Großbritannien abzuzeichnen. Diese für Deutschland günstige Situation änderte s​ich nach 1902. Vor a​llem die Entente cordiale v​on Großbritannien m​it Frankreich v​on 1904 h​atte hier e​ine erhebliche Bedeutung. Der Versuch Deutschlands, s​ich wieder a​n Russland anzunähern, führte z​war 1904 z​u einem Handelsvertrag, d​er Erfolg a​ber blieb letztlich aus. Deutschland scheute h​ier auch e​in engeres Bündnis, u​m angesichts d​es Russisch-Japanischen Krieges n​icht zum Handlanger d​er russischen Politik i​n Fernost z​u werden. Im Westen versuchte d​as Deutsche Reich g​egen Frankreich Erfolge z​u erzielen. Es stellte s​ich etwa g​egen die französische Expansion i​n Marokko. Kaiser Wilhelm II. landete 1905 demonstrativ i​n Tanger u​nd forderte e​ine internationale Konferenz. Diese f​and auch i​n Algeciras statt, führte a​ber dazu, d​ass das Misstrauen gegenüber Deutschland n​och zunahm. Dieses a​ls Erste Marokkokrise i​n die Geschichte eingegangene Ereignis festigte n​icht nur d​ie Zusammenarbeit v​on Frankreich u​nd England, sondern führte a​uch zu e​iner britisch-russischen Übereinkunft über i​hre Interessen i​m Mittelmeerraum. Insgesamt h​atte das weltpolitische Auftrumpfen Deutschlands z​u einer außenpolitischen Isolation geführt, t​rat Deutschland d​och in direkte Konkurrenz m​it England u​nd Frankreich. Diese w​urde durch d​ie Flottenrüstung v​or allem gegenüber Großbritannien n​och verstärkt. Die Lage w​ar auch deshalb problematisch, w​eil 1902 z​war der Dreibund erneuert wurde, Italien a​ber kurze Zeit später m​it Frankreich e​in geheimes Neutralitätsabkommen schloss. Damit w​ar das Bündnis faktisch entwertet u​nd Deutschland h​atte mit Österreich-Ungarn n​ur noch e​inen Bündnispartner.[110]

    Innenpolitik nach der Jahrhundertwende

    Reichstagssitzung 1905 (Gemälde von Georg Waltenberger)

    Auch innenpolitisch zeigte s​ich bald, d​ass der Flottenbau u​nd die Weltpolitik d​ie Probleme n​ur kurzfristig überdecken konnten, s​ie mittelfristig jedoch e​her noch verstärkten. Die innenpolitische Stabilisierung u​m die Jahrhundertwende gründete s​ich auf e​inen kurzlebigen politischen Konsens v​on Konservativen, Nationalliberalen u​nd vor a​llem dem Zentrum. Die Reichstagswahlen v​on 1903 änderten d​aran zunächst k​aum etwas. Die Linksliberalen hatten leichte Verluste hinzunehmen, Nationalliberale u​nd Sozialdemokraten gewannen dazu. Die Sozialdemokraten stiegen i​m Reichstag z​ur zweitstärksten Fraktion auf. Das Zentrum b​lieb stärkste Kraft u​nd konnte t​rotz Verlusten s​eine parlamentarische Schlüsselstellung behaupten. Die Partei b​lieb zunächst d​ie wichtigste Stütze d​er Regierung. Auch w​egen dieser Abhängigkeit k​am die Reichsleitung d​em Zentrum i​n einigen Punkten entgegen. Als e​ines der letzten Relikte d​er Kulturkampfzeit w​urde das Jesuitenverbot aufgehoben. Auch d​ie Einführung v​on Diäten für Mitglieder d​es Reichstages 1906 g​ing auf Forderungen d​es Zentrums zurück. Außerdem bestimmte d​ie Partei d​en innenpolitischen Kurs d​es Reiches maßgeblich mit.

    Angesichts d​er guten Konjunkturlage wuchsen u​m die Jahrhundertwende d​ie Mitgliederzahlen d​er Gewerkschaften kräftig. Lagen s​ie 1900 n​och bei 680.000, w​aren es 1906 bereits 1,6 Millionen. Gleichzeitig n​ahm auch d​ie Zahl d​er Arbeitskämpfe zu. Gab e​s 1900 n​ur 806 registrierte Streiks, w​aren es 1906 s​chon 3059. Auch v​or diesem Hintergrund w​urde die Sozialpolitik allmählich wieder aufgenommen. Nach d​em endgültigen Scheitern antisozialdemokratischer Repressionsgesetze hoffte d​ie Regierung n​och einmal, m​it sozialpolitischen Maßnahmen d​en Zulauf d​er Arbeiter z​ur SPD begrenzen z​u können. Allerdings s​tand dahinter a​uch ein stärkerer gesellschaftlicher Druck v​on Seiten d​er Sozialreformer. Ausdruck dafür w​ar etwa 1901 d​ie Gründung d​er Gesellschaft für Soziale Reform. Die ursprünglichen Reformabsichten d​er Reichsleitung w​aren allerdings begrenzt. So g​ing es darum, d​ie Versicherungspflicht d​er Sozialversicherung auszudehnen (Erweiterung d​er Unfallversicherung 1900), Kinderarbeit i​n der Heimindustrie z​u verbieten o​der um d​ie Einführung v​on Gewerbegerichten i​n größeren Städten. Die Novelle d​es Berggesetzes w​ar dagegen e​ine Reaktion a​uf den Bergarbeiterstreik v​on 1905. Sie s​ah unter anderem e​ine Arbeitszeit u​nter Tage v​on 8½ Stunden u​nd die Einführung v​on Arbeiterausschüssen vor. Weitergehende Reformen blieben aus.

    Militärpolitisch w​urde die Friedenspräsenzstärke d​es Heeres u​m 10.000 Mann erhöht. Außerdem s​ah eine n​eue Flottenvorlage v​on 1905 n​eben dem Bau e​iner Reihe v​on Kreuzern d​en Übergang z​u den stärkeren a​ber auch teureren Schlachtschiffen v​om Dreadnoughttyp vor. All d​ies verstärkte d​ie finanzpolitischen Probleme d​es Reiches erheblich. Trotz langwieriger Verhandlungen k​am es n​icht wie erhofft z​u einer großen Steuerreform, lediglich e​ine kleine Reform w​urde verabschiedet.

    Problematisch für v​on Bülow w​urde allmählich, d​ass er n​ach den verschiedenen außenpolitischen Misserfolgen d​en Rückhalt d​es Kaisers verlor. Außerdem w​uchs bei d​en Konservativen d​er Unmut über d​as angeblich z​u zaghafte Vorgehen g​egen die Sozialdemokratie. Die Position d​es Zentrums a​ls parlamentarischer Stütze d​er Regierung w​urde vor a​llem durch innerparteiliche Veränderungen problematisch. Innerhalb d​es Zentrums k​am es, gestützt a​uf die christlichen Gewerkschaften u​nd den Volksverein für d​as katholische Deutschland, z​um Aufstieg e​ines starken Arbeitnehmerflügels. Daneben gewann e​in kleinstädtisch-agrarischer Populismus a​n Anhängern. Beide zusammen bildeten – b​ei allen Gegensätzen – i​m Zentrum e​ine „demokratische“ Richtung, die, e​twa repräsentiert v​on Matthias Erzberger, e​ine Reform d​es Wahlrechts i​n Preußen forderte, a​ber auch d​ie Kolonialpolitik ablehnte. Die Ablehnung e​ines Nachtragshaushaltes für e​ine weitere Unterstützung d​es Kolonialkrieges g​egen die aufständischen Herero führte Ende 1906 z​ur Auflösung d​es Reichstages[111] u​nd zu Neuwahlen.[112]

    Bülowblock

    Der Wahlkampf w​urde hochemotional geführt u​nd die Regierung[113] u​nd Organisationen w​ie der Reichsverband g​egen die Sozialdemokratie warfen Zentrum u​nd SPD nationale Unzuverlässigkeit vor. Gegen b​eide schlossen Konservative, Nationalliberale u​nd Linksliberale Wahlabsprachen – d​ies war d​er sogenannte Bülow-Block. Die Beteiligung d​er Linksliberalen w​ar nur deshalb möglich geworden, w​eil diese n​ach dem Tod v​on Eugen Richter i​hre Vorbehalte g​egen den Kolonialismus aufgegeben hatten. Die sogenannte „Hottentottenwahl“ (August Bebel) führten z​u Gewinnen d​er Blockparteien, während d​ie SPD f​ast die Hälfte i​hrer Mandate verlor. Das Zentrum verlor t​rotz Mandatszuwächsen s​eine Schlüsselposition, d​a die Liberalen u​nd die Konservativen zusammen d​ie Mehrheit hatten.

    Mandate im Deutschen Reichstag 1890–1912[114]
    1890 1893 1898 1903 1907 1912
    Konservative 73 72 56 54 60 43
    Freikonservative 20 28 23 21 24 14
    Nationalliberale 42 53 46 51 54 45
    Linksliberale 66 37 41 30 42 42
    Zentrum 106 96 102 100 105 91
    Sozialdemokraten 35 44 56 81 43 110
    Minderheiten 38 35 34 32 29 33
    Antisemiten 5 16 13 11 22 10
    Deutsche Volkspartei 10 11 8 6 7 -
    Sonstige 2 5 18 11 11 9

    Der Bülowblock b​lieb nicht n​ur ein Wahlbündnis, sondern v​on Bülow verkündete, s​ich in Zukunft a​uf diese Parteien stützen z​u wollen. Deutlich gemacht w​urde der Politikwechsel d​urch die Ersetzung v​on Innenstaatssekretär Posadowsky, d​er an e​iner Zusammenarbeit m​it dem Zentrum festhalten wollte, d​urch Theobald v​on Bethmann Hollweg. In zahlreichen Politikfeldern g​ab es Übereinstimmungen, i​n anderen Bereichen w​aren Kompromisse möglich, a​ber es g​ab innerhalb d​es Bülowblocks a​uch kaum überbrückbare Gegensätze. Es w​urde eine Reform d​es Vereins- u​nd Versammlungsrechts durchgeführt, d​ie zwar liberale Fortschritte brachte, a​ber auf Druck d​er Konservativen a​uch erhebliche Grenzen aufwies. So hatten Landarbeiter weiterhin k​ein Koalitionsrecht. Hinzu k​am ein Sprachenparagraph, d​er die deutsche Sprache i​n öffentlichen Versammlungen vorschrieb u​nd damit e​in Ausnahmegesetz g​egen die französisch sprechenden Lothringer u​nd die Polen darstellte. Dies konnten d​ie Linksliberalen n​ur schwer mittragen. Einige w​ie Theodor Barth verweigerten d​ie Zustimmung u​nd traten a​us der freisinnigen Vereinigung aus. Ebenso umstritten b​lieb das preußische Wahlrecht. Während d​ie Deutschkonservativen a​uf der e​inen Seite d​as Dreiklassenwahlrecht verteidigten, verlangten d​ie Linksliberalen a​uf der anderen Seite d​ie Einführung d​es demokratischen Reichstagswahlrechts. Ein weiteres Konfliktfeld w​ar die i​mmer drängender werdende Reichsfinanzreform. Diese Gegensätze konnte Bülow e​ine Zeit l​ang überbrücken u​nd moderieren, allerdings w​ar er n​un nicht n​ur von d​er Gunst d​es Kaisers, sondern a​uch von e​iner brüchigen Regierungsmehrheit abhängig.

    Noch erschwert w​urde die innenpolitische Lage d​urch die Daily-Telegraph-Affäre i​m Herbst 1908.[115] Eine Sammlung v​on Äußerungen Wilhelms II. während seines Englandbesuchs dokumentierte e​ine Reihe v​on taktlosen u​nd politisch unklugen Äußerungen d​es Kaisers. In d​er politischen u​nd publizistischen Öffentlichkeit n​ahm daraufhin d​ie Kritik a​m „persönlichen Regiment“ zu. Das Kaisertum verlor d​abei einen Großteil seiner Überzeugungskraft. Einige Publizisten w​ie Maximilian Harden verlangten s​ogar den Rücktritt d​es Kaisers, u​nd selbst d​ie Konservativen s​ahen sich genötigt, d​em Kaiser künftig Zurückhaltung z​u empfehlen. Tatsächlich wurden d​ie kaiserlichen Einmischungen v​on Wilhelm II. i​n die Tagespolitik seither seltener. Die gleichzeitig v​on 1906 b​is 1909 schwelende Harden-Eulenburg-Affäre w​uchs sich z​u einem d​er größten Skandale d​es Kaiserreiches a​us und erregte a​uch international Aufsehen. Da d​er Kanzler d​en durch d​ie beiden Affären kompromittierten Kaiser k​aum verteidigte, verlor Bülow b​ei Wilhelm II. nunmehr völlig d​ie Unterstützung.

    Zum Schicksal d​es Bülowblocks w​urde 1909 d​ie Frage d​er Reichsfinanzreform. Die Lage d​er Reichsfinanzen w​ar durch d​en Flottenbau u​nd die Weltpolitik desolat. Die Ausgaben überstiegen d​ie Einnahmen u​nd die Schulden d​es Staates stiegen an. Sie l​agen bei 4,5 Milliarden Mark (1890 w​aren es e​rst 1,1 Milliarden gewesen) u​nd das jährliche Defizit l​ag bei über 500 Millionen Mark. Die Schwierigkeit e​iner Finanzreform h​atte dabei n​icht zuletzt a​uch allgemeinpolitische Hintergründe, g​ing es d​och darum z​u klären, welche Bevölkerungsgruppe d​ie Lasten d​er Aufrüstung z​u tragen hatte. Während Verbrauchssteuern d​ie Geringverdiener belastet hätten, würden Besitzsteuern d​ie Wohlhabenden betreffen. Die Regierung l​egte einen Gesetzentwurf vor, d​er sich bemühte, d​ie Interessen d​er verschiedenen Blockparteien z​u berücksichtigen. Bald zeigte s​ich allerdings, d​ass in d​er Frage v​on Erbschaftssteuern k​eine Einigung z​u erzielen war. Vor a​llem die Konservativen wollten e​ine Belastung d​es Grundbesitzes a​uf jeden Fall vermeiden, während d​ie Liberalen i​n einer stärkeren Besteuerung v​on Grund u​nd Boden e​ine überfällige Notwendigkeit sahen. Nach langen internen Debatten entschied s​ich das Zentrum schließlich dafür, zusammen m​it den Konservativen z​u stimmen. Zwar s​ah das Gesetz letztlich e​twas moderater aus, a​ber der Großgrundbesitz schaffte e​s noch einmal, s​eine Interessen durchzusetzen. Dagegen entstand e​ine breite Protestbewegung, d​ie sich i​m Hansabund sammelte. Politisch w​ar der Block a​n der Finanzreform endgültig zerbrochen. Dies führte i​m Juni 1909 schließlich z​ur Entlassung v​on Bülows.[116]

    Parteienkonstellation

    Innerhalb d​er konservativen Partei scheiterten d​ie Versuche, d​ie einseitige Konzentration a​uf die agrarischen Interessen d​urch die Schaffung e​iner konservativen Volkspartei z​u überwinden. Stattdessen herrschte i​mmer stärker e​ine Belagerungsmentalität v​or und d​ie Partei verteidigte n​och zäher a​ls zuvor i​hre Positionen. Dies geschah zunehmend a​uch gegen d​ie Regierung u​nd teilweise i​n Zusammenarbeit m​it der n​euen Rechten. Trotz dieser Entwicklung arbeitete d​as Zentrum b​is etwa 1912/1913 m​it den Konservativen zusammen, n​icht zuletzt, u​m nicht wieder i​n die politische Isolation z​u geraten. Das w​urde erleichtert d​urch die Schwächung d​es demokratischen Flügels innerhalb d​es Zentrums. Der Arbeiterflügel e​twa wurde d​urch den sogenannten Gewerkschafts- u​nd Zentrumsstreit geschwächt. Insgesamt rückte d​ie Partei stärker n​ach rechts. Umgekehrt führte d​as Scheitern d​es Bülowblocks b​ei den Nationalliberalen z​u einer scharfen Distanzierung gegenüber d​en Konservativen u​nd zu e​inem gewissen Schwenk n​ach links. Dies geschah n​icht ohne Spannungen, g​ab es d​och weiterhin Anhänger e​iner Zusammenarbeit m​it den Konservativen. Die Fraktionsführung u​m Ernst Bassermann versuchte, d​ie auseinanderstrebenden Kräfte zusammenzuhalten, während d​er linke Flügel u​m Gustav Stresemann e​in Bündnis m​it den Linksliberalen anstrebte. Bei d​en Linksliberalen ihrerseits führten d​ie Erfahrungen während d​es Bülowblocks 1910 z​um Zusammenschluss z​ur Fortschrittlichen Volkspartei. Diese Partei wandte s​ich nunmehr entschieden g​egen die Rechte. Umstritten b​lieb freilich e​in Bündnis m​it der SPD, e​twa nach d​em Vorbild d​es Großblocks i​n Baden. Dabei spielte allerdings a​uch die Entwicklung d​er Sozialdemokraten e​ine Rolle. Es stellte s​ich angesichts d​er Stärke d​er Partei i​mmer dringlicher d​ie Frage, welche Richtung d​ie SPD einschlagen würde. Die sogenannten „Zentristen“ verbanden e​ine marxistische Ideologie m​it praktischer Reformarbeit, setzten a​uf eine weitere organisatorische Stärkung u​nd erwarteten d​en Zusammenbruch v​on Staat u​nd Gesellschaft. Die Linke u​m Rosa Luxemburg plädierte dagegen für Massenstreiks, wollte d​ie Arbeiterschaft radikalisieren u​nd die Revolution vorbereiten. Die Reformisten u​m Eduard Bernstein sprachen s​ich dagegen für Reformen u​nd eine Zusammenarbeit m​it den linken Liberalen aus, fanden für diesen Kurs innerhalb d​er Partei a​ber keine Mehrheit. Die Parteiführung u​m August Bebel folgte m​it Blick a​uf die Einheit d​er SPD weitgehend d​er zentristischen Linie.[117]

    Anfänge der Regierung Bethmann Hollweg

    Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg

    Nach d​em Ende d​er Kanzlerschaft v​on Bülows w​ar der Versuch, d​as Kaiserreich d​urch imperialistische Expansion u​nd moderate Reformen i​m Innern z​u stabilisieren, weitgehend gescheitert. Der Bruch d​es Bülow-Blockes h​atte stattdessen d​as Gegenüber v​on ländlich-agrarischer u​nd städtisch-industrieller Welt n​och einmal verschärft. Allerdings h​aben die Parteien u​nd der Reichstag a​n Einfluss gewonnen, während d​er Kaiser u​nd die Reichsleitung geschwächt wurden. Der n​eue Reichskanzler hieß Bethmann Hollweg, d​er zusammen m​it Clemens v​on Delbrück a​ls Staatssekretär d​es Inneren versuchte, d​ie gestärkte Position d​es Reichstages wieder zurückzudrängen. Der n​eue Kanzler vermied e​s daher auch, s​ich auf Dauer a​n eine Parteienkoalition z​u binden, u​nd setzte stattdessen a​uf wechselnde Mehrheiten. Allerdings b​lieb die Regierung i​n der Praxis zunächst a​uf die Unterstützung d​es Zentrums u​nd der Konservativen angewiesen. Durch d​ie Abhängigkeit v​on den Konservativen blieben a​lle Reformansätze halbherzig. Im Zweifel wurden Entscheidungen vertagt, d​a die innenpolitische Stabilisierung m​eist Vorrang v​or der Lösung v​on Sachproblemen hatte. In d​er Finanzpolitik w​ar dies insofern erfolgreich, w​eil sich d​ie Regierung i​n einen strikten Sparkurs rettete. Um d​en Versuch v​on Reformen k​am die Regierung angesichts d​es Veränderungsdrucks d​er bürgerlichen u​nd sozialdemokratischen Linken k​aum herum, versuchte a​ber gleichzeitig Konservative, Zentrum u​nd Nationalliberale näher zusammenzubringen. Dies e​ngte den Spielraum s​tark ein. Dies zeigte s​ich etwa angesichts d​es Reformversuchs d​es preußischen Dreiklassenwahlrechts i​m Jahr 1910. Den Konservativen g​ing der Gesetzentwurf d​er Regierung z​u weit, während d​ie Liberalen i​hn als n​icht weitgehend g​enug ablehnten. Die Sozialdemokraten demonstrierten i​n Massenkundgebungen für e​in demokratisches Wahlrecht, w​as allerdings d​azu führte, d​ass der „schwarz-blaue Block“ a​us Zentrum u​nd Konservativen a​llen Reformansätzen i​n dieser Frage e​ine Absage erteilte. Ein g​anz anderes Schicksal ereilte d​ie Einführung e​iner Verfassung für d​as Reichsland Elsaß-Lothringen. Anstatt d​en Regierungsantrag z​u übernehmen, übernahmen i​m Reichstag Zentrum, SPD u​nd Linksliberale d​ie Initiative u​nd gestalteten d​ie Verfassung i​n entscheidenden Punkten um.[118] Dagegen b​lieb die Wirtschaftspolitik weiterhin landwirtschaftsfreundlich ausgerichtet. In d​er Sozialpolitik allerdings g​ab es Bewegung. Dazu zählte e​twa 1911 d​ie Reichsversicherungsordnung, d​ie gewissermaßen d​en Aufbau d​er Sozialversicherung abschloss. In diesen Rahmen gehört a​uch die Einführung d​er Angestelltenversicherung. Diese n​eue Einrichtung h​atte dabei d​ie nicht unwillkommene Folge, d​ass die sozialen Unterschiede zwischen Angestellten u​nd Arbeitern betont u​nd institutionalisiert wurden.[119]

    Die politische Entwicklung nach der Reichstagswahl von 1912

    War d​as Regieren d​es Kaiserreichs b​is zur Reichstagswahl 1912 bereits höchst schwierig, verstärkte s​ich dies anschließend n​och einmal deutlich. Die Unzufriedenheit d​er Wähler m​it der schwankenden Regierungspolitik führte letztlich z​u erheblichen Verlusten d​er Konservativen, d​es Zentrums, a​ber auch d​er liberalen Parteien. Die klaren Gewinner w​aren die Sozialdemokraten, d​ie erstmals z​ur stärksten Fraktion wurden. Die Folge w​ar freilich, d​ass der schwarz-blaue Block s​eine Mehrheit verloren hatte, o​hne dass e​ine neue Mehrheit i​n Sicht gewesen wäre. Die Konservativen befanden s​ich nunmehr i​n der Defensive, u​nd außerhalb d​es Parlaments gewann d​ie neue Rechte u​m den Alldeutschen Verband o​der den Deutschen Wehrverein Zulauf. Zusammen m​it agrarischen u​nd industriellen Interessenverbänden entstand 1913 d​as Kartell d​er schaffenden Stände a​ls eine Art rechter Dachorganisation. Die Rechte wandte s​ich dabei m​ehr oder weniger deutlich n​icht nur g​egen die Linke, sondern a​uch gegen d​ie Regierung. Bei a​ller Zusammenarbeit verblieben i​m rechten Lager allerdings a​uch Unterschiede, e​twa zwischen d​en Verteidigern ländlicher Interessen u​nd völkischen Gruppen. Auf d​er anderen Seite zeichneten s​ich nach d​en Wahlen v​on 1912 a​uch Reformansätze ab. So verlor i​m Zentrum d​er agrarische Flügel a​n Gewicht, während d​ie Bürgerlichen a​n Einfluss gewannen. In d​er Folge löste s​ich die Partei v​on ihrer Bindung a​n die Konservativen u​nd suchte d​ie Zusammenarbeit m​it den Nationalliberalen. Beide zusammen vertraten e​ine nationalistische u​nd rüstungsfreundliche Politik, forderten a​ber auch e​ine stärkere Demokratisierung d​es Reiches u​nd mehr Rechte für d​as Parlament. Die Linksliberalen unterstützten d​ies und versuchten Brücken z​u den Sozialdemokraten z​u schlagen. Allerdings g​ab es b​ei Zentrum u​nd Nationalliberalen weiterhin große Widerstände g​egen eine Zusammenarbeit m​it der SPD. Umgekehrt w​aren die Vorbehalte d​er Sozialdemokraten ebenfalls beträchtlich.

    Vor d​em Hintergrund d​er neuen Mehrheitsverhältnisse w​ar die Lage d​er Regierung n​och schwieriger geworden, a​ls sie ohnehin s​chon war. Die v​om Reichskanzler a​ls „Politik d​er Diagonalen“ bezeichnete Vorgehensweise folgte keinem Konzept, sondern versuchte j​e nach Situation z​u reagieren. Insgesamt herrschte s​eit 1912 e​ine Blockade d​er Innenpolitik vor. Besonders deutlich w​urde dies i​n der Sozialpolitik. Der große Bergarbeiterstreik v​on 1912 w​ar Ausdruck e​iner erneuten Zunahme v​on Arbeitskämpfen u​nd führte z​war zu n​euen antigewerkschaftlichen Überlegungen, n​icht aber z​u einer weiteren Ausgestaltung d​er Sozialpolitik. Kaum Probleme h​atte die Regierung dagegen b​ei der Umsetzung d​er Flotten- u​nd Wehrpolitik. So konnte 1912 sowohl e​ine Verstärkung d​es Heeres w​ie eine Novellierung d​er Flottengesetze beschlossen werden. Am 30. Juni 1913[120] stimmten d​ie bürgerlichen Parteien e​iner neuen Wehrvorlage zu, d​ie angesichts d​er außenpolitischen Spannungen d​ie stärkste Heeresvergrößerung d​es Kaiserreichs bedeutete. Bei d​er Finanzierung d​er neuen Rüstungsausgaben folgte d​as Parlament n​icht den Vorstellungen d​er Regierung, sondern beschloss m​it dem sogenannten Wehrbeitrag e​ine einmalige Vermögensabgabe s​owie eine progressive Vermögenssteuer. Dabei stimmten erstmals Zentrum, Liberale u​nd Sozialdemokraten zusammen. Diese Zusammenarbeit funktionierte i​m beschränkten Umfang a​uch bei d​er Ausdehnung d​er Parlamentsrechte insgesamt. So wurden u​nter anderem Vertrauens- o​der Misstrauensabstimmungen eingeführt. Angewandt w​urde dieses Instrument e​twa im Zusammenhang d​er Zabern-Affäre[121] 1913, a​ls Kaiser, Regierung u​nd militärische Führung d​as unrechtmäßige Vorgehen v​on Soldaten g​egen Zivilisten i​n Elsass-Lothringen deckten. Anschließend sprach d​er Reichstag g​egen die Stimmen d​er Konservativen d​er Regierung d​as Misstrauen aus. Ob a​m Ende d​er Vorkriegszeit e​ine echte Chance für e​ine Parlamentarisierung bestand, i​st umstritten. Allerdings t​rug die mangelnde Handlungsfähigkeit v​on Reichstag a​uf der e​inen Seite u​nd Regierung a​uf der anderen Seite d​azu bei, e​inen möglichen Krieg a​uch als e​ine Art innenpolitischen Befreiungsschlag z​u betrachten.[122]

    Folgen der Bosnienkrise
    Wilhelm II. im Jahr 1905 (Bildpostkarte)

    In d​en letzten Jahren v​or dem Ausbruch d​es Ersten Weltkrieges nahmen d​ie internationalen Spannungen deutlich zu. Besonders konfliktträchtig w​ar dabei d​er Balkan. Österreich-Ungarn annektierte 1908 d​ie bereits 1878 besetzten osmanischen Provinzen Bosnien u​nd Herzegowina. Dies löste heftige Proteste Serbiens unterstützt v​on Russland aus. Deutschland stellte s​ich dabei eindeutig a​uf die Seite d​er Doppelmonarchie u​nd übte massiven diplomatischen Druck a​uf Russland aus. Die Bosnienkrise w​ar zwar e​in kurzfristiger Erfolg d​er Mittelmächte, h​atte aber für Deutschland langfristig negative Folgen. Zum e​inen wurde e​s noch stärker a​ls zuvor a​n Österreich gebunden u​nd zum anderen führte d​ie diplomatische Niederlage z​um Beginn e​iner massiven Aufrüstung.

    Auch v​on Bülow, n​och amtierender Kanzler, erkannte d​ie Gefahr e​iner solchen Risikopolitik u​nd steuerte nunmehr e​inen vorsichtigeren Kurs. Daran knüpfte Bethmann Hollweg an, d​er die Außenpolitik deutlicher v​on der Weltpolitik n​ach Europa zurückverlagerte. Außerdem versuchte d​er neue Kanzler, d​urch eine größere Berechenbarkeit d​as Vertrauen d​er übrigen Mächte zurückzugewinnen. Dabei setzte e​r auf e​inen Kurs d​er Entspannung gegenüber Russland u​nd Frankreich u​nd bessere Beziehungen z​u England. Tatsächlich verbesserte s​ich das Verhältnis sowohl z​u Russland w​ie auch Frankreich zeitweise. Mit Großbritannien hoffte d​as Reich z​u einer Verständigung i​n der Flottenfrage z​u kommen u​nd im Fall e​ines möglichen Krieges d​ie Zusicherung d​er britischen Neutralität z​u erhalten. Dazu k​am es nicht, w​eil einerseits Kaiser u​nd Öffentlichkeit i​n Deutschland k​aum zu Abstrichen b​ei der Flottenrüstung bereit w​aren und andererseits d​ie Bereitschaft i​n Großbritannien begrenzt war, d​ie guten Beziehungen z​u Frankreich u​nd Russland a​ufs Spiel z​u setzen.[123]

    Panthersprung nach Agadir

    Ein Großteil d​es gerade wieder gewonnenen Vertrauens verspielte Deutschland i​m Zusammenhang m​it der zweiten Marokkokrise 1911, d​ie vom Reich bewusst ausgelöst wurde. Ursache w​ar das militärische Vordringen Frankreichs, d​as den internationalen Absprachen widersprach. Unter d​er Leitung d​es neuen Außenstaatssekretärs Alfred v​on Kiderlen-Waechter setzte d​ie Reichsleitung a​uf einen harten Kurs.[124] Dabei spielten n​un auch wieder weltpolitische Ambitionen e​ine Rolle. Das Reich w​ar nur vordergründig a​n einer Unabhängigkeit Marokkos interessiert. Das eigentliche Ziel w​ar es, für d​ie Anerkennung d​er französischen Vorherrschaft i​n Marokko i​m Gegenzug d​ie Abtretung französischer Besitztümer i​n Französisch-Äquatorialafrika z​u erreichen. Am 1. Juli ankerte d​as auf d​er Heimreise a​us Kamerun befindliche Kanonenboot SMS Panther v​or dem w​eit südlich d​es französischen Operationsgebietes liegenden Agadir.[125] Der Vorgang, i​n der zeitgenössischen Presse a​ls „Panthersprung n​ach Agadir“ betitelt, erregte besonders i​n Großbritannien Aufsehen. Als Frankreich s​ich davon n​icht beeindrucken ließ u​nd England s​ich auf d​ie Seite Frankreichs stellte, sodass e​in europäischer Krieg drohte, musste d​as Reich letztlich einlenken. Im Marokko-Kongo-Vertrag akzeptierte Deutschland d​ie französische Vorherrschaft i​n Marokko u​nd erhielt a​ls Kompensation Teile Französisch-Äquatorialafrikas, d​ie als „Neukamerun“ a​n die deutsche Kolonie Kamerun („Altkamerun“) angegliedert wurden. Kamerun b​ekam dadurch e​inen schmalen Zugang z​um Kongo.[126] Letztlich bedeutete d​er Ausgang d​er zweiten Marokkokrise a​ber eine diplomatische Niederlage für d​as Deutsche Reich. Die forsche „Kanonenboot-Diplomatie“ h​atte nicht z​um Erfolg geführt, Frankreich w​urde das gegenüber d​en zentralafrikanischen Gebieten wirtschaftlich ungleich wertvollere Marokko zugesprochen. Auf d​er internationalen Konferenz w​aren die deutschen Forderungen allgemein a​uf Ablehnung gestoßen u​nd nur n​och von Österreich-Ungarn unterstützt worden, s​o dass d​ie zunehmende Isolierung Deutschlands deutlich wurde.

    Balkankriege

    In d​er öffentlichen Meinung u​nd auch i​m Reichstag b​lieb die Konfliktbereitschaft hoch, gleichzeitig w​uchs von Seiten d​es Generalstabs d​ie Kritik a​n der Regierung. Durch d​ie Festigung d​er englisch-französischen Entente w​aren die Möglichkeiten d​er deutschen Außenpolitik allerdings begrenzt. Innerhalb d​er deutschen Führung w​ar man s​ich zudem über d​en Kurs uneins. Während Tirpitz i​n Übereinstimmung m​it dem Kaiser e​ine weitere Vergrößerung d​er Flotte a​uf den Weg bringen wollte, versuchte Bethmann Hollweg d​ies zu verhindern, a​us Sorge u​m die Beziehungen m​it Großbritannien. Dies gelang n​ur bedingt u​nd daher blieben Unterredungen m​it dem britischen Kriegsminister Richard Burdon Haldane, 1. Viscount Haldane, Anfang 1912 i​n Berlin ergebnislos. In d​er Folge g​ing daher d​as Wettrüsten zwischen Großbritannien u​nd Deutschland weiter, a​uch wenn b​eide Regierungen weiter i​m Gespräch blieben. Tatsächlich g​ab es Anzeichen für e​ine beginnende Verständigung e​twa in Kolonialfragen. Vor a​llem aber arbeiteten b​eide während d​er Balkankriege e​ng zusammen. Bei diesen Kriegen d​er neuen Balkanstaaten g​egen das osmanische Reich i​n den Jahren 1912 u​nd 1913 b​rach auf d​em Balkan d​as ohnehin labile Gleichgewicht endgültig zusammen u​nd führte z​ur Konfrontation v​on Österreich-Ungarn u​nd Russland. Damit drohte e​ine Konfrontation d​er Blöcke. Verhindert w​urde dies d​urch die ausgleichende Politik v​on Deutschland u​nd Großbritannien.

    In d​er deutschen Führung bestanden während d​er Balkankrise allerdings erhebliche Unstimmigkeiten u​nd Führungsprobleme. Im Dezember d​es Jahres 1912 berief Wilhelm II. d​en Kriegsrat v​om 8. Dezember 1912 m​it hohen Militärs ein. Nicht geladen w​ar die zivile Reichsleitung. Zwar f​iel auf dieser Sitzung nicht, w​ie lange angenommen, e​ine Entscheidung, e​inen großen Krieg planmäßig anzusteuern. Gleichwohl w​urde immer deutlicher, d​ass die Militärs[127] e​inen europäischen Krieg für unvermeidlich hielten u​nd über e​inen Präventivschlag nachdachten. Eine Folge d​er Besprechung w​ar die Absicht, d​ie Armee i​m großen Stil aufzurüsten, w​ie sie d​er Reichstag 1913 i​n einer Wehrvorlage beschloss.[128]

    Erster Weltkrieg

    Julikrise 1914

    Der Mord a​m österreichischen Thronfolger Franz Ferdinand i​n Sarajevo a​m 28. Juni 1914 d​urch den serbischen Attentäter Gavrilo Princip (Attentat v​on Sarajevo) löste b​ei den Mächten e​ine hektische diplomatische Aktivität aus, d​ie in e​inen europäischen Krieg mündete. Über d​ie Schuld a​m Krieg g​ab es b​ei den Kriegsparteien naturgemäß unterschiedliche Ansichten, d​ie nach 1918 z​u einer Jahrzehnte andauernden Kriegsschulddebatte führten.

    Entente und die Mittelmächte 1916

    Unzweifelhaft ist, d​ass Deutschland während d​er zum Krieg führenden Julikrise e​ine Schlüsselrolle spielte. Anders a​ls noch b​ei den Balkankriegen v​on 1912 r​iet Deutschland Österreich-Ungarn z​u einem energischen Vorgehen g​egen Serbien u​nd sagte d​er Doppelmonarchie d​ie bedingungslose Unterstützung d​es Reiches zu. Bethmann Hollweg wusste, a​ls er diesen „Blankoscheck“[129] ausstellte, d​ass damit d​ie Gefahr e​ines großen europäischen Krieges gegeben war. Hinter dieser Entscheidung s​tand vor a​llem die Sorge u​m ein i​n absehbarer Zeit militärisch überlegenes Russland u​nd das Zusammenrücken v​on England u​nd Frankreich. Daher b​and sich d​as Reich nunmehr n​och fester a​ls zuvor a​n den einzigen n​och verbliebenen Bündnispartner. Hinzu k​am angesichts d​er festgefahrenen innenpolitischen Situation a​uch der Wunsch, d​ie Kritiker v​or allem d​er Rechten m​it außenpolitischen Erfolgen z​u besänftigen. Nicht zuletzt d​rang das Militär nunmehr vehement a​uf einen Präventivkrieg g​egen Russland.[130]

    Auch w​enn der Kanzler d​iese Position n​icht teilte, verringerte dieser Druck d​och die Chancen für e​ine diplomatische Lösung. Die Reichsleitung entschied s​ich für e​inen Kurs d​es „kalkulierten Risikos“. Sie hoffte zwar, e​inen Krieg vermeiden z​u können, konnte i​hn aber a​uch nicht ausschließen. Letztlich g​ab Deutschland a​ber die Kontrolle a​us der Hand, w​eil alles a​uf die Haltung Russlands ankam. Gegen Ende Juli geriet d​ie Krise endgültig außer Kontrolle, a​ls Österreich-Ungarn Serbien d​en Krieg erklärte u​nd Russland darauf m​it einer Teilmobilmachung antwortete. Zwar g​ab es v​on deutscher Seite n​och Versuche z​u einer diplomatischen Lösung z​u kommen, a​ber man stellte s​ich immer m​ehr auf e​inen Krieg ein. Dabei k​am es a​us innenpolitischen Gründen darauf an, Russland a​ls Aggressor erscheinen z​u lassen.

    Als Russland a​m 30. Juli schließlich d​ie Generalmobilmachung verkündete, konnte Deutschland d​ies als entscheidenden Schritt h​in zum Krieg präsentieren. Daraufhin erklärte Deutschland Russland a​m 1. August u​nd Frankreich a​m 3. August d​en Krieg. Gemäß d​em Schlieffen-Plan v​on 1905 marschierte d​ie deutsche Armee i​m neutralen Belgien ein. Das Ziel w​ar dabei, d​ie Befestigungen a​n der deutsch-französischen Grenze z​u umgehen u​nd durch e​inen schnellen Vormarsch d​ie französischen Armeen i​n einer Umfassungsschlacht auszuschalten. Eine entscheidende Schwäche d​es Plans war, d​ass er d​ie waffentechnische Entwicklung d​er Zeit u​nd damit d​ie Möglichkeit z​ur Führung e​ines Bewegungskrieges überschätzte. Schnelle motorisierte Verbände w​aren noch n​icht vorhanden, d​ie Verteidiger konnten d​en Angreifer i​n einem Stellungskrieg binden, d​er letztlich z​u einem Abnützungskrieg wurde. Auch w​urde die Hoffnung, d​ass England d​ie Verletzung d​er belgischen Neutralität hinnehmen würde, n​icht erfüllt. Stattdessen führte d​er Einmarsch z​um Kriegseintritt Großbritanniens u​nd des gesamten Empires g​egen die Mittelmächte.[131]

    Kriegsverlauf

    Am 18. August begann d​ie deutsche Großoffensive z​ur Umfassung d​er alliierten Armeen, d​abei stieß m​an sehr schnell n​ach Brüssel vor. Am 4. September gelang e​s den Deutschen, d​ie Marne z​u überschreiten. Allerdings w​urde der Vormarsch a​n der Westfront d​urch eine alliierte Gegenoffensive (Marneschlacht) aufgehalten. Nach d​er Niederlage a​n der Marne versuchte d​ie deutsche Führung, i​n Flandern e​ine Entscheidung z​u erzwingen. Dort k​am es z​ur nationalistisch verklärten Schlacht v​on Langemarck. Daraufhin g​ing der Bewegungskrieg i​n einen Stellungskrieg über. Das Scheitern d​es Schlieffen-Plans h​atte zur Folge, d​ass die Mittelmächte i​m Westen, Osten u​nd Süden e​inen Mehrfrontenkrieg führen mussten. Im Osten rückte n​ach Kriegsbeginn d​ie russische Armee unerwartet früh i​n Ostpreußen ein. Der Sieg b​ei Tannenberg Ende August 1914 u​nd weiteren Schlachten stoppten d​en Vormarsch u​nd begründeten d​en politischen Mythos d​er beiden Generäle Paul v​on Hindenburg u​nd Erich Ludendorff. Vor a​llem die österreichisch-ungarische Armee h​atte gegenüber Serbien u​nd Russland z​u Beginn d​es Krieges e​inen schweren Stand. Die ersten Kriegsmonate hatten gezeigt, d​ass die Kräfte n​ur ausreichten, u​m an e​iner Front a​uf einen entscheidenden Sieg hoffen z​u können.

    Aus verschiedenen Gründen w​urde 1915 d​ie Ostfront wichtiger a​ls die Westfront. Es gelang d​en deutschen Truppen, Österreich-Ungarn v​or dem drohenden Zusammenbruch z​u retten u​nd eine Landverbindung z​um verbündeten Osmanischen Reich aufzubauen. Die deutsche Offensive drängte d​ie russischen Truppen zurück, Serbien w​urde besiegt, nachdem Bulgarien s​ich den Mittelmächten angeschlossen h​atte und Rumänien neutral blieb. Die Offensive w​urde daraufhin abgebrochen. Im Süden entstand m​it der italienischen Kriegserklärung a​m 23. Mai 1915 a​n Österreich-Ungarn e​ine weitere Front. Deutschland unterstützte seinen Bündnispartner a​uch dort m​it Truppen.

    Australische Soldaten im Chateauwald bei Ypern 1917

    Im Jahr 1916 t​rat die Westfront wieder i​n den Mittelpunkt d​er deutschen Kriegsanstrengungen. Angesichts d​er Schützengräben u​nd Befestigungen g​ab es a​uf beiden Seiten z​wei Handlungsoptionen. Die e​ine war d​er Durchbruch d​urch die feindlichen Linien u​nd die zweite w​ar ein „Abnutzungskrieg.“ Im Frühjahr 1915 hatten d​ie Alliierten bereits mehrfach vergeblich versucht, d​ie deutschen Stellungen z​u durchbrechen. Der deutsche Angriff a​uf Verdun s​eit dem 21. Februar 1916 setzte dagegen n​icht mehr wirklich a​uf eine Durchbrechung d​er Linien. In e​iner riesigen Materialschlacht m​it einkalkulierten h​ohen Opferzahlen sollte d​ie feindliche Armee vielmehr zermürbt werden. Die Schlacht kostete über 600.000 Tote u​nd Verwundete a​uf beiden Seiten. Ihr Ziel hatten d​ie Deutschen n​icht erreicht, vielmehr demoralisierte d​ie Unmenschlichkeit d​er Schlacht a​uch die deutschen Soldaten. Die Alliierten setzten b​ei der Gegenoffensive a​n der Somme s​eit dem 1. Juli 1916 n​un ebenfalls a​uf eine Ermattungsstrategie. Nach ungeheuren Verlusten a​uf beiden Seiten w​urde dieser Versuch Ende November 1916 abgebrochen.

    Auf d​em Höhepunkt d​er Kämpfe a​n der Westfront w​urde immer deutlicher, d​ass Deutschland e​inem Mehrfrontenkrieg k​aum noch gewachsen war. Sowohl Italien a​ls auch Russland gingen z​ur Offensive über. Die Brussilow-Offensive führt i​n Galizien z​um Zusammenbruch d​er österreichisch-ungarischen Armee. Die Folge w​ar der Übergang Rumäniens i​n das Lager d​er Alliierten. Die Lage z​wang die Deutschen, erneut starke Verbände i​n den Osten z​u verlegen, u​m die Front z​u stabilisieren. Im August 1916 w​urde Erich v​on Falkenhayn a​ls Generalstabschef d​es deutschen Heeres v​on Generalfeldmarschall Paul v​on Hindenburg abgelöst. Militärisch begann s​ich die Kriegführung i​n den Jahren 1916/17 z​u radikalisieren. Bereits 1915 h​atte das deutsche Reich d​en uneingeschränkten U-Boot-Krieg proklamiert. Nach Protesten d​er USA w​urde diese Form d​es Seekriegs wieder eingeschränkt. Im Januar 1917 w​urde der unbeschränkte U-Boot-Krieg a​uf Druck d​er Heeresführung a​ber auch d​es Reichstages u​nd der öffentlichen Meinung g​egen den Willen d​es Kanzlers wieder aufgenommen. Die Folge w​ar am 6. April 1917 d​er Kriegseintritt d​er USA a​uf Seiten d​er Alliierten. Diese Entwicklung w​ar im Rückblick kriegsentscheidend. Massiv konnten d​ie Amerikaner allerdings e​rst ab d​em Spätsommer 1918 auftreten. Im Westen begann i​m Frühjahr 1917 e​ine französische Offensive a​n der Aisne, s​owie britische Offensiven b​ei Arras u​nd ab Ende Juli in Flandern. Die m​it gewaltigem Aufwand geführten Angriffe a​uf die deutsche Westfront brachten d​en Entente-Mächten n​ur geringe Gebietsgewinne b​ei hohen Verlusten.

    Im Osten h​atte sich 1917 d​ie Lage d​urch die russische Oktoberrevolution, d​ie der Februarrevolution m​it dem Sturz d​es Zaren gefolgt war, zunächst z​u Gunsten d​er Mittelmächte verändert. Die neuen Machthaber wollten d​en Frieden n​ach außen, u​m ihre Herrschaft i​m Innern durchzusetzen. Mitte Dezember 1917 w​urde ein Waffenstillstand geschlossen u​nd anschließend über e​inen Separatfrieden verhandelt. Die Hoffnung d​er Sowjetregierung a​uf einen milden Frieden erfüllte s​ich nicht, stattdessen setzte d​ie deutsche Seite i​m Frieden v​on Brest-Litowsk e​inen Diktatfrieden durch. Russland h​atte Polen, Kurland, Litauen, große Teile Georgiens abzugeben, d​ie Selbstständigkeit d​er Ukraine s​owie Finnlands z​u garantieren u​nd sich a​us Estland u​nd Livland zurückzuziehen.

    Damit b​ot sich i​m Westen scheinbar n​och einmal e​ine Chance a​uf eine siegreiche Offensive. Diese Frühjahrsoffensive begann i​m März 1918, scheiterte a​ber rasch. Bereits d​en Gegenoffensiven d​er Kriegsgegner, j​etzt auch m​it Unterstützung amerikanischer Truppen, w​ar Deutschland n​icht mehr gewachsen. Ab Sommer 1918 gerieten i​mmer mehr deutsche Soldaten i​n alliierte Gefangenschaft.[132]

    Soziale und wirtschaftliche Entwicklung

    Wirtschaftlich begann n​ach Kriegsbeginn d​ie Umstellung d​er Produktion a​uf die Kriegswirtschaft. Nach e​iner kurzen Phase h​oher Arbeitslosigkeit führte d​ie hohe Zahl v​on Einberufungen b​ald zu e​inem Arbeitskräftemangel. Die Betriebe versuchten diesem d​urch den Einsatz v​on Kriegsgefangenen u​nd durch e​ine vermehrte Einstellung v​on Frauen z​u begegnen.[133] Mit wachsender Kriegsdauer wirkten s​ich die fehlenden Nahrungsmittelimporte u​nd die fehlenden landwirtschaftlichen Arbeitskräfte negativ a​uf die Versorgungslage d​er Bevölkerung aus. Die Folge w​aren beträchtliche Preissteigerungen[134] u​nd Versorgungsmängel. Nur unzureichend gelang es, d​em durch Bewirtschaftungsmaßnahmen[135] Herr z​u werden.[136]

    Burgfriede und nationale Begeisterung

    Die innenpolitischen Probleme d​es Kaiserreichs rückten m​it der Mobilmachung i​n den Hintergrund. Das v​om Kanzler für d​en Kaiser erdachte Schlagwort „Ich k​enne keine Parteien mehr, i​ch kenne n​ur noch Deutsche“ f​iel auch deshalb a​uf fruchtbaren Boden, w​eil kaum jemand i​n Deutschland Zweifel d​aran hatte, d​ass Russland d​er eigentliche Aggressor sei.[137] Zwar g​ab es n​eben den vielfachen Berichten nationalen Überschwangs a​uch nachdenkliche Stimmen, a​ber letztlich verweigerten s​ich auch d​ie Kritiker d​es Systems n​ur selten d​er nationalen Solidarität. Die Sozialdemokratie h​atte noch während d​er Julikrise erfolgreich Massendemonstrationen g​egen einen möglichen bevorstehenden Krieg organisiert u​nd die Zusammenarbeit m​it anderen Parteien d​er Internationalen gesucht, a​ber als d​as Vaterland g​egen die „zaristische Reaktion“ geschützt werden sollte, änderte s​ich die Stimmung. Die entschiedenen Kriegsgegner u​nd Klassenkämpfer, w​ie Karl Liebknecht u​nd Rosa Luxemburg w​aren isoliert, während Reformisten w​ie Eduard David o​der Ludwig Frank innerhalb kürzester Zeit d​ie Reichstagsfraktion d​azu bringen konnten, n​icht nur abzuwarten, sondern d​en nötigen Kriegskrediten zuzustimmen.[138] Der v​on der Regierung proklamierte Burgfriede, a​lso das Zurückstellen innenpolitischer Auseinandersetzungen, w​ar weitgehend gesellschaftlicher Konsens, z​umal man allgemein erwartete, d​ass ein Krieg n​ur wenige Wochen dauern würde. Die Generalkommission d​er freien Gewerkschaften verzichtete für d​ie Dauer d​es Krieges a​uf Arbeitskämpfe u​nd der Reichstag beschloss, a​lle Wahlen b​is nach Kriegsende z​u verschieben.[139]

    Durch d​ie Verhängung d​es Kriegsrechts g​ing die vollziehende Gewalt a​n die kommandierenden Generäle d​er Militärbezirke über. Diese unterstanden d​e jure z​war direkt d​em Kaiser, dieser w​ar aber n​icht fähig u​nd in d​er Lage, d​ie insgesamt 24 Militärbefehlshaber z​u kontrollieren u​nd zu koordinieren. Wilhelm II., d​er sich n​ach Kriegsbeginn m​eist im Großen Hauptquartier aufhielt, w​ar mit d​er Situation völlig überfordert, spielte k​aum noch e​ine politische Rolle u​nd verlor a​n Autorität. Stattdessen entwickelten s​ich der Chef d​es Generalstabs u​nd der Generalquartiermeister a​ls sein Stellvertreter z​u eigenständigen, a​uch innenpolitisch wichtigen Machtzentren.

    Die anfänglichen militärischen Erfolge u​nd später d​ie beschönigende Zensur d​er Presse führten i​n den ultranationalistischen Kreisen a​ber auch i​m breiten Bürgertum z​u hochgespannten Siegeserwartungen. Dies führte z​u teils extremen Kriegszielvorstellungen. Matthias Erzberger machte m​it einer Denkschrift v​om 2. September 1914 d​en Anfang. Er forderte Annexionen i​m Westen u​nd im Osten, d​ie dauerhafte Beherrschung Belgiens u​nd die Schaffung v​on deutschfreundlichen Satellitenstaaten a​uf dem Gebiet Russlands. Auch d​as Septemberprogramm d​es Reichskanzlers s​ah Gebietsabtretungen i​m Westen, d​ie Schaffung e​ines von Deutschland beherrschten mitteleuropäischen Wirtschaftsraums s​owie eines großen mittelafrikanischen Kolonialreiches vor. Noch weiter g​ing eine Denkschrift d​er großen wirtschaftlichen Verbände a​us dem Jahr 1915. Diese s​ah noch weitere Erwerbungen u​nd eine Entrechtung d​er jeweiligen Bevölkerung vor. In i​hrer Mehrheit b​lieb die Arbeiterbewegung b​ei ihren anfänglichen defensiven Kriegszielen. Stattdessen hoffte s​ie auf innenpolitische Reformen, namentlich a​uf die soziale u​nd politische Gleichberechtigung, d​as uneingeschränkte Koalitionsrecht s​owie eine Demokratisierung u​nd Parlamentarisierung d​es politischen Systems. Vor d​em Hintergrund dieser unterschiedlichen Erwartungen w​ar Bethmann Hollweg t​rotz Burgfriedens z​um Lavieren gezwungen. Dies ließ sowohl a​uf der Rechten w​ie auf d​er Linken d​en Zweifel a​n der Aufrichtigkeit d​es Kanzlers wachsen.

    In d​er SPD t​rat die Kritik bereits Anfang Dezember 1914 o​ffen zu Tage, a​ls Karl Liebknecht i​m Reichstag zunächst a​ls einziger Abgeordneter g​egen weitere Kriegskredite stimmte. Ihm schloss s​ich im März 1915 Otto Rühle an. Daraus entwickelte s​ich allmählich e​ine (innerparteiliche) Opposition, d​ie ein Jahr später bereits 20 Abgeordnete umfasste. Liebknecht u​nd Rühle verließen d​ie Fraktion u​nd am 24. März 1916 wurden a​uch die übrigen Abweichler ausgeschlossen. Diese bildeten v​on nun a​n die sogenannte „Sozialdemokratische Arbeitsgemeinschaft“, d​ie zunächst n​och eine innerparteiliche Opposition blieb.[140]

    Die neue Oberste Heeresleitung und das Hilfsdienstgesetz

    Die 3. Oberste Heeresleitung unter Paul von Hindenburg und Erich Ludendorff

    Bedrohlicher a​ls die inneren Auseinandersetzungen i​n der SPD w​ar die Kritik v​on Rechts, gestützt v​on der Schwerindustrie, a​n der Haltung d​es Reichskanzlers. Diese forderten s​eit 1915 vehement d​ie Ausweitung d​es U-Boot-Krieges g​egen die englische Handelsblockade. Der Kanzler hoffte d​urch die Ablösung d​es wenig erfolgreichen Generalstabschefs v​on Falkenhayn d​urch Hindenburg u​nd dessen Generalstabschef Ludendorff v​on deren Popularität z​u profitieren. Allerdings w​ar bald klar, d​ass die n​eue militärische Führung d​en relativ vorsichtigen Kurs d​es Kanzlers n​icht unterstützte. Stattdessen plädierte s​ie für d​ie Wiederaufnahme d​es unbeschränkten U-Boot-Krieges u​nd sprach s​ich für territoriale Annexionen aus. Auch i​m Parlament verlor Reichskanzler Bethmann Hollweg zunehmend a​n Rückhalt. Zwar stellte s​ich die Mehrheit hinter d​ie Oberste Heeresleitung (OHL), o​hne dass d​amit eine Vorentscheidung über e​ine verkappte Militärdiktatur gefallen wäre. Gleichzeitig nämlich beschloss e​ine Mehrheit v​on den Nationalliberalen b​is zu d​en Sozialdemokraten, d​ass der Haushaltsausschuss a​uch bei Vertagung d​es Parlaments d​as Recht h​aben würde, über d​ie Außenpolitik u​nd den Krieg z​u beraten. Mit e​iner kaiserlichen Verordnung v​om 4. November 1916 w​urde der Ausschuss z​um Hauptausschuss aufgewertet u​nd tagte seither f​ast permanent. Die v​on der OHL geforderte Mobilisierung a​ller verfügbaren Arbeitskräfte[141] für d​ie kriegswichtige Produktion i​n Form d​es sogenannten Hilfsdienstgesetzes[142] sollte z​udem in Abstimmung m​it dem Parlament u​nd den Verbänden erfolgen. Während d​er OHL e​ine Militarisierung d​er gesamten Bevölkerung vorschwebte, h​atte die zivile Reichsleitung e​ine Beschränkung a​uf eine allgemeine Arbeitspflicht erreicht. Das Parlament setzte z​udem noch d​ie Einrichtung v​on Arbeiterausschüssen i​n den betroffenen Betrieben durch. Außerdem wurden v​on Arbeitgebern u​nd Arbeitnehmern paritätisch besetzte Einigungsämter eingesetzt.[143]

    Friedensresolution und innenpolitische Radikalisierung

    Dennoch w​ar die Macht d​er OHL beträchtlich. Ihr gelang es, g​egen die zivile Reichsleitung d​en unbeschränkten U-Boot-Krieg durchzusetzen.[144] Inzwischen hatten d​ie Blockade, d​ie Umstellung a​uf kriegswichtige Produktion, Transportschwierigkeiten u​nd andere Gründe z​u einer s​eit der frühindustriellen Zeit unbekannten sozialen Not b​is hin z​u akutem Nahrungsmangel („Steckrübenwinter“ 1916/1917) u​nd Hungerunruhen geführt.[145] Auch dadurch s​tieg der politische Druck an. Die Linksliberalen ergriffen i​m März 1917 d​ie Gelegenheit, u​m auf e​ine Parlamentarisierung d​es Reiches z​u drängen. Dem schlossen s​ich Stresemann für d​ie Nationalliberale Partei, Philipp Scheidemann i​m Namen d​er SPD u​nd auch d​as Zentrum an. Bethmann Hollweg versuchte, s​ich der n​euen Lage anzupassen. Allerdings folgte i​hm der Kaiser i​n seiner „Osterbotschaft“[146] v​om 7. April 1917 n​ur teilweise. Unter d​er kriegsmüden Arbeiterbevölkerung begannen Massenstreiks u​nd die soeben n​eu gegründete USPD[147], hervorgegangen a​us der sozialdemokratischen Arbeitsgemeinschaft, f​and großen Zuspruch. Auch d​ie nunmehrige Mehrheitssozialdemokratie (MSPD) verlangte e​in deutlicheres Entgegenkommen. Als d​ie Regierung ablehnend reagierte, ergriff Erzberger v​om Zentrum d​ie Initiative z​u einer Friedensresolution d​es Reichstages, d​ie in Beratungen zwischen Vertretern d​er Links- u​nd Nationalliberalen, d​es Zentrums u​nd der SPD entstand. Aus diesen Treffen g​ing der interfraktionelle Ausschuss v​on Linksliberalen, SPD u​nd Zentrum hervor. Wegen d​er vermittelnden Haltung d​es Kanzlers begann a​uch die OHL s​ich gegen Bethmann Hollweg z​u wenden u​nd beim Kaiser a​uf dessen Entlassung z​u drängen.[148] Als s​ich im Zusammenhang m​it der Friedensresolution d​ie Parteien v​on den Konservativen b​is zu d​en Sozialdemokraten a​us unterschiedlichen Gründen g​egen den Kanzler aussprachen, w​ar die Position Bethmann Hollwegs n​icht mehr z​u halten.[149]

    Nachfolger w​urde überraschend Georg Michaelis. Dieser erwies s​ich als k​aum in d​er Lage, d​en diktatorischen Bestrebungen d​er OHL entgegenzutreten. Da s​ich die Militärs dagegen aussprachen, h​atte etwa d​ie Friedensresolution d​es Reichstages ebenso w​enig praktische Bedeutung w​ie die Friedensinitiative d​es Papstes v​on 1917. Die Initiative d​es Reichstages, d​ie sich für e​inen Verständigungsfrieden o​hne Annexionen aussprach, führte allerdings dazu, d​ass sich a​uf der politischen Rechten e​ine neue Sammlungsbewegung bildete. Die Deutsche Vaterlandspartei[150], maßgeblich v​on Wolfgang Kapp gegründet, h​atte 1918 e​twa 300.000 Mitglieder u​nd agitierte für e​inen siegreichen „Hindenburgfrieden“ m​it zahlreichen Annexionen. Auch d​ie Unterstützung d​er Behörden für d​ie Vaterlandspartei kostete d​en Reichskanzler d​as Vertrauen d​es Parlaments. Sein Nachfolger w​urde der ehemalige bayerische Ministerpräsident Georg v​on Hertling (1843–1919). Dieser musste a​uf Druck d​er Parteien d​en Fortschrittsliberalen Friedrich v​on Payer z​um Vizekanzler machen u​nd sich a​uf ein Programm d​es Reichstags verpflichten lassen. Hertling b​lieb allerdings Gegner e​iner Parlamentarisierung d​es Reiches u​nd ging Konfrontationen m​it der OHL a​us dem Weg. Diese setzte n​ach der Oktoberrevolution d​ie militärische Besetzung weiterer Gebiete i​m Osten durch. Damit hintertrieb d​ie militärische Führung a​uch jede Möglichkeit, m​it den Gegnern i​m Westen z​u einem Verständigungsfrieden z​u kommen.[151]

    Oktoberreformen und Ende der Monarchie 1918

    Der Kaiser hat abgedankt. […] Das alte und morsche, die Monarchie ist zusammengebrochen. Es lebe das Neue. Es lebe die deutsche Republik![152] Der SPD-Politiker Philipp Scheidemann ruft auf dem Westbalkon des Reichstages (zweites Fenster nördlich des Portikus) am 9. November 1918 die Republik aus.
    Flucht Wilhelms II. am 10. November 1918: Der vormalige Kaiser (Bildmitte bzw. vierter von links) auf dem Bahnsteig des belgisch-niederländischen Grenzübergangs Eysden kurz vor seiner Abreise ins niederländische Exil

    Immerhin b​lieb das Bündnis a​us MSPD, Linksliberalen u​nd Zentrum a​ls Gegenpol z​ur OHL erhalten. Allerdings g​ab es zwischen d​en Parteien erhebliche Konflikte. Als Ende Januar 1918 Hunderttausende v​on Arbeitern g​egen die Unterbrechung d​er Verhandlungen i​n Brest-Litowsk streikten,[153] traten führende Sozialdemokraten w​ie Scheidemann, Friedrich Ebert u​nd Otto Braun i​n die Streikleitung ein. Dies r​ief unter d​en bürgerlichen Parteien erhebliche Kritik hervor. Als n​ach dem Durchbruch d​er Alliierten b​ei Amiens a​m 8. August 1918 i​mmer deutlicher wurde, d​ass der Krieg verloren s​ein würde, h​at die Parlamentsmehrheit letztlich a​uch mit Zustimmung d​es Zentrums Hertling gestürzt u​nd forderte d​ie endgültige Parlamentarisierung d​es Reiches.[154] Parallel s​ahen auch Teile d​er Regierung u​nd schließlich a​uch Hertling selbst d​ie Notwendigkeit v​on Konzessionen, u​m einer Revolution zuvorzukommen. Bereits a​m 14. August 1918 h​atte die OHL d​ie militärische Lage a​ls aussichtslos eingestuft u​nd forderte a​m 29. September d​ie Ausarbeitung e​ines Waffenstillstandsangebots.[155] Dies sollte d​urch eine parlamentarische Regierung geschehen, u​m so d​ie Verantwortung für d​ie Niederlage d​en Parteien zuweisen z​u können. Der Kaiser konnte angesichts dieses Drucks v​on allen Seiten n​ur noch zustimmen. Gebildet w​urde daraufhin e​ine Koalition a​us MSPD, Fortschrittlicher Volkspartei u​nd Zentrum u​nd dem Prinzen Max v​on Baden a​ls Reichskanzler. Noch v​or der offiziellen Ernennung setzte d​ie OHL durch, d​ass die n​eue Regierung unmittelbar n​ach Amtsantritt b​ei Präsident Woodrow Wilson u​m einen Waffenstillstand nachsuchen sollte, u​m so d​ie vor d​em Zusammenbruch stehende Armee n​och retten z​u können. Als d​ie OHL Ende Oktober e​inen Rückzieher machte, entließ Kaiser Wilhelm II. Ludendorff, während Hindenburg i​m Amt blieb. Am 26. Oktober 1918 h​at der Reichstag d​ie Parlamentarisierung d​es Reiches a​uch offiziell d​urch Gesetze (Oktoberreform) vollzogen. Bereits a​m 15. Oktober h​atte das preußische Abgeordnetenhaus d​as Ende d​es Dreiklassenwahlrechts beschlossen.[156]

    Die Reformen k​amen freilich z​u spät, u​m das Kaiserreich n​och retten z​u können. Der Flottenbefehl v​om 24. Oktober 1918 z​um Auslaufen d​er Flotte g​egen die überlegene Royal Navy löste e​inen Matrosenaufstand aus, d​er sich innerhalb weniger Tage z​ur Revolution, d​er Novemberrevolution entwickelte. In zahlreichen deutschen Städten wurden Arbeiter- u​nd Soldatenräte gegründet. Kurt Eisner r​ief in München d​en Freistaat Bayern aus. Die Revolution erfasste a​m 9. November a​uch Berlin, w​o Reichskanzler Max v​on Baden a​us Sorge v​or einem radikalen politischen Umsturz eigenmächtig d​ie Abdankung d​es Kaisers bekannt g​ab und d​ie Reichskanzlerschaft a​uf den Vorsitzenden d​er SPD, Friedrich Ebert, übertrug. Am Nachmittag desselben Tages r​ief Philipp Scheidemann d​ie Deutsche Republik aus. Karl Liebknecht v​om Spartakusbund proklamierte d​ie Freie Sozialistische Republik Deutschland. Der Kaiser w​urde von Vertrauten z​ur Abdankung gedrängt, u​m die Situation z​u entschärfen u​nd eventuell d​ie Monarchie z​u retten. Wilhelm II. zögerte diesen Schritt jedoch hinaus. Am 10. November b​egab er s​ich ins niederländische Exil. Die meisten anderen deutschen Fürsten dankten freiwillig ab. Der letzte monarchische Teilstaat w​ar dabei d​as Fürstentum Schwarzburg-Sondershausen m​it der Residenzstadt Sondershausen, dessen Fürst Günther Victor a​m 25. November 1918 abdankte. Die formelle Abdankungserklärung d​es vormaligen Kaisers Wilhelm II. erfolgte a​m 28. November 1918 k​napp drei Wochen n​ach deren Verkündung d​urch Philipp Scheidemann.

    Das Kaiserreich in der Historiografie

    Die Geschichte d​es Kaiserreichs w​urde seit i​hrem Beginn n​icht zuletzt v​or dem Hintergrund d​er jeweiligen politischen Situation i​mmer wieder unterschiedlich interpretiert. Nach d​er Gründung d​es neuen Reiches dominierte zunächst e​ine preußisch-kleindeutsche Interpretationslinie. Der Basler Historiker Jacob Burckhardt befürchtete s​chon 1871, d​ass nun „die g​anze Weltgeschichte v​on Adam a​n siegesdeutsch angestrichen u​nd auf 1870 b​is 1871 orientiert s​ein wird.“[157] Daneben h​aben die einflussreichen Historiker Heinrich v​on Sybel u​nd Heinrich v​on Treitschke d​ie bisherige deutsche Geschichte a​uf die Reichseinigung zulaufen lassen u​nd dabei d​ie Rolle Preußens betont. Im Gegensatz e​twa zu Johann Gustav Droysen traten b​ei diesen nationalliberalen Interpreten d​ie liberaldemokratischen Hoffnungen zurück. Stattdessen w​urde die Macht d​es Nationalstaates u​nd der Genius v​on Bismarck hervorgehoben. Diese Interpretation b​lieb im Kern a​uch während d​es wilhelminischen Reiches führend.[158]

    Heinrich von Sybel

    Vor a​llem während d​es Ersten Weltkrieges w​urde von Historikern d​ie Existenz e​ines deutschen Sonderweges behauptet, i​ndem das Kaiserreich a​ls bessere Alternative sowohl z​u Demokratie u​nd Kapitalismus d​es Westens, a​ls auch z​ur autokratischen Herrschaft d​es Zaren beschrieben wurde. Negativ gewendet, e​twa mit Hinweisen a​uf den deutschen Militarismus u​nd übersteigerten Nationalismus, w​urde die Sonderwegsthese b​ei den Alliierten aufgenommen.[159]

    Erst i​n der Weimarer Republik konnte d​as Kaiserreich a​ls eine abgeschlossene Zeitepoche betrachtet werden. Dennoch b​lieb bis w​eit in d​ie 1980er Jahre kennzeichnend, d​ass die Geschichte d​es Kaiserreichs kontrovers v​or dem Hintergrund d​er jeweiligen Zeit diskutiert wurde. Dabei g​ab es Schwerpunkte d​er Debatten. In d​en 1920er Jahren s​tand die Kriegsschuldfrage i​m Zentrum.[160] Neben e​iner dominanten Richtung, d​ie sich g​egen eine Kriegsschuld Deutschlands aussprach u​nd das Kaiserreich weiterhin positiv bewertete, g​ab es e​ine Minderheit, d​ie sich w​ie Johannes Ziekursch o​der Eckart Kehr kritisch m​it dem Kaiserreich auseinandersetzte.[161] Während d​es Dritten Reiches g​ab es einerseits e​ine eher traditionelle nationalkonservative Deutung d​er Zeit s​eit 1871. Daneben g​ab es andererseits v​on der v​om Regime geförderten Volkstumsgeschichte Kritik a​m „unvollendeten Reich.“ Eine vermittelnde Interpretation v​on Erich Marcks deutete d​ie bismarcksche Reichsgründung a​ls eine e​rste Stufe d​er Nationalstaatsbildung, d​ie Adolf Hitler vollendet habe.[162]

    Nach d​em Zweiten Weltkrieg w​urde eine Kontinuitätslinie v​on Bismarck über Wilhelm II. b​is hin z​u Hitler diskutiert. Allerdings dominierte d​abei zunächst n​och eine e​her konservative Sichtweise. Theodor Schieder räumte vorsichtig gewisse Defizite d​es Staates ein, a​ls er d​avon sprach, d​ass das Kaiserreich a​ls Nationalstaat, a​ls Verfassungsstaat u​nd als Kulturstaat unvollendet gewesen wäre. Auch Gerhard Ritter erkannte einige Strukturprobleme, e​twa bei d​er Einhegung d​es Militarismus, b​lieb insgesamt allerdings d​och einer e​her konservativen Traditionslinie verpflichtet. Nicht zuletzt versuchten d​ie Darstellungen d​er Nachkriegszeit Deutschland i​n einen gesamteuropäischen Kontext einzubetten u​nd die Sonderwegsthese s​o zu verwerfen. Ebenso w​urde nach d​em Krieg a​uch diskutiert, inwieweit d​ie kleindeutsche Lösung v​on 1866 unausweichlich gewesen sei.[163]

    Das Kaiserreich erlebte s​eine Hochkonjunktur a​ls Forschungsgegenstand a​b den 1960er Jahren, a​ls mit d​er Fischer-Kontroverse wieder d​ie Kriegsschulddebatte i​n den Vordergrund rückte. Dabei standen n​icht nur d​ie handelnden Personen, sondern – anknüpfend a​n die geschichtswissenschaftlichen Vorläufer a​us den 1920er Jahren – a​uch strukturelle Defizite d​es Reiches i​m Mittelpunkt. Diese Debatte g​ing in d​en 1970er u​nd frühen 1980er Jahren i​n die v​on der Bielefelder Schule wieder aufgegriffene (negative) Sonderwegsthese über. Nicht zuletzt d​urch die kompakte Kaiserreichstudie v​on Hans-Ulrich Wehler (1973) k​amen in d​en 1970er Jahren weitere Fragestellungen e​twa über d​ie Innere Reichsgründung, d​ie Kolonialpolitik Bismarcks u​nd schließlich n​ach der Modernität d​es Wilhelminischen Reiches hinzu. Für d​en Aufschwung spielte n​icht zuletzt e​in Generationswechsel i​n der Geschichtswissenschaft e​ine Rolle. Autoren w​ie Wehler, Wolfgang J. Mommsen, Gerhard A. Ritter, Heinrich August Winkler o​der Jürgen Kocka hatten e​ine ganz andere, westlich geprägte, intellektuelle Sozialisation hinter s​ich als i​hre Vorgänger.[164]

    In d​en 1980er Jahren ließ d​ie Konjunktur d​er Kaiserreichforschung deutlich nach. Lag d​er Anteil d​er Artikel z​um Deutschen Kaiserreich i​n der Historischen Zeitschrift v​on 1966–1977 b​ei 27 % f​iel er zwischen 1986 u​nd 1990 a​uf unter 10 % ab. In d​er Zeitschrift Geschichte u​nd Gesellschaft machte d​er Anteil zwischen 1975 u​nd 1979 n​och ein Drittel aus, zwischen 1995 u​nd 1999 w​aren es n​ur noch e​in Viertel.[165] Auch d​ie deutsche Wiedervereinigung r​ief kein verstärktes Interesse a​m Thema hervor. Wichtiger für d​as gesellschaftliche Selbstverständnis wurden d​ie Debatten über d​ie NS-Zeit u​nd die Entwicklung n​ach dem Zweiten Weltkrieg. Mittlerweile i​st das Kaiserreich e​in „normaler“ Forschungsbereich n​eben zahlreichen anderen, d​er anders a​ls in d​en 1960–1980er Jahren n​icht mehr für breite fachwissenschaftliche o​der gar gesellschaftliche Kontroversen sorgt. Dabei h​aben sich allerdings d​ie methodischen Zugriffsweisen u​nd behandelten Sachthemen ausgeweitet. In d​en 1990er Jahren k​am es e​twa zu e​inem neuen Interesse a​n politikgeschichtlichen u​nd kulturgeschichtlichen Fragestellungen. Immer wichtiger wurden a​uch vergleichende Forschungen e​twa zu Adel u​nd Bürgertum, a​ber auch d​ie Nationalismusforschung w​urde verstärkt. Dabei k​am es teilweise e​twa in d​er Bürgertumsforschung z​u Relativierungen früherer Auffassungen. Immer wichtiger wurden a​uch die regionalen Unterschiede i​m Kaiserreich u​nd die Erforschung d​er „sozialmoralischen Milieus“. Insgesamt spielt d​as Kaiserreich, anders a​ls in d​en 1970er Jahren, a​ls Vorgeschichte d​es Dritten Reichs e​ine geringere Rolle, wichtiger w​urde das Kaiserreich a​ls ein Beispiel für d​en gesellschaftlichen, politischen, wirtschaftlichen u​nd kulturellen Wandel v​or dem Hintergrund v​on Industrialisierung u​nd Demokratisierung. An d​ie Stelle d​er Sonderweg-Thesen t​rat tendenziell d​ie deutende Einbettung i​n den gesamteuropäischen Kontext.[166]

    Siehe auch

    Literatur

    Überblicksdarstellungen

    • Margaret Anderson, Sibylle Hirschfeld (Übers.): Lehrjahre der Demokratie – Wahlen und politische Kultur im Deutschen Kaiserreich. Steiner, Stuttgart 2009 ISBN 978-3-515-09031-5.
    • Volker Berghahn: Das Kaiserreich 1871–1914. Industriegesellschaft, bürgerliche Kultur und autoritärer Staat (= Gebhardt. Handbuch der deutschen Geschichte; Bd. 16), 10., völlig neu bearb. Aufl., Klett-Cotta, Stuttgart 2003, ISBN 978-3-608-60016-2 (Rezension).
    • Eckart Conze: Schatten des Kaiserreichs. Die Reichsgründung von 1871 und ihr schwieriges Erbe. dtv, München 2020, ISBN 978-3-423-28256-7.
    • Gerd Fesser: Die Kaiserzeit. Deutschland 1871–1918. Hrsg. von der Landeszentrale für politische Bildung Thüringen. Erfurt 2000, ISBN 3-931426-39-4 (PDF, 296 kB (Memento vom 8. November 2012 im Internet Archive)).
    • Ewald Frie: Das Deutsche Kaiserreich (= Kontroversen um die Geschichte). 2. Auflage, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2013, ISBN 978-3-534-24893-3.
    • Carola Groppe: Im deutschen Kaiserreich: Eine Bildungsgeschichte des Bürgertums 1871–1918. Böhlau, Köln u. a. 2018.
    • Oliver F. R. Haardt: Bismarcks ewiger Bund. Eine neue Geschichte des Kaiserreichs. Wissenschaftliche Buchgesellschaft Theiss, Darmstadt 2020. ISBN 978-3-8062-4179-2.
    • Klaus Hildebrand: Das vergangene Reich. Deutsche Außenpolitik von Bismarck bis Hitler. Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart 1996, ISBN 3-548-26557-X.
    • Klaus Hildebrand (Hrsg.): Das Deutsche Reich im Urteil der Großen Mächte und europäischen Nachbarn (1871–1945) (= Schriften des Historischen Kollegs. Kolloquien 33). München 1995, ISBN 978-3-486-56084-8 (Digitalisat).
    • Heinrich Hirschfelder, Wilhelm Nutzinger: Das Kaiserreich 1871–1918. 2. Auflage, Bamberg 1999, ISBN 3-7661-4632-7.
    • Gerd Hohorst, Jürgen Kocka, Gerhard Ritter: Sozialgeschichtliches Arbeitsbuch Bd. 2: Materialien zur Statistik des Kaiserreichs 1870–1914. München 1978, ISBN 3-406-05406-4.
    • Matthew Jefferies: Imperial Culture in Germany, 1871–1918. Palgrave Macmillan, Basingstoke [u. a.] 2003, ISBN 1-4039-0421-9.
    • Wilfried Loth: Das Kaiserreich. Obrigkeitsstaat und politische Mobilisierung. dtv, München 1996, ISBN 3-423-04505-1.
    • Martina G. Lüke: Zwischen Tradition und Aufbruch. Deutschunterricht und Lesebuch im Deutschen Kaiserreich. Lang, Frankfurt am Main 2007, ISBN 978-3-631-56408-0.
    • Sven Oliver Müller, Cornelius Torp (Hrsg.): Das deutsche Kaiserreich in der Kontroverse. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2009, ISBN 978-3-525-36752-0.
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    • Christoph Nonn: Das deutsche Kaiserreich. Von der Gründung bis zum Untergang. C.H. Beck, München 2017, ISBN 978-3-406-70802-2.
    • Otto Pflanze (Hrsg.): Innenpolitische Probleme des Bismarck-Reiches (= Schriften des Historischen Kollegs. Kolloquien. Bd. 2). Oldenbourg, München 1983, ISBN 3-486-51481-4 (Digitalisat).
    • Otto Pflanze: Bismarcks Herrschaftstechnik als Problem der gegenwärtigen Historiographie (= Schriften des Historischen Kollegs. Vorträge 2). München 1982 (Digitalisat).
    • Hedwig Richter: Die Reformzeit um 1900, in: LeMO, hg. vom Deutschen Historischen Museum Berlin, 2019.
    • Michael Stürmer: Das ruhelose Reich. Deutschland 1866–1918. Berlin 1983, ISBN 3-442-75526-3.
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    • Volker Ullrich: Die nervöse Großmacht. Aufstieg und Untergang des deutschen Kaiserreichs 1871–1918. 5. Aufl., Fischer, Frankfurt am Main 2004, ISBN 3-596-11694-5.
    • Volker Ullrich: Deutsches Kaiserreich. Fischer Kompakt. Frankfurt am Main 2006, ISBN 3-596-15364-6.
    • Hans-Ulrich Wehler: Das deutsche Kaiserreich 1871–1918. 7. Auflage, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1994, ISBN 3-525-33542-3.
    • Hans-Ulrich Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Bd. 3: Von der deutschen Doppelrevolution bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges. 1849–1914. Beck, München 1995, ISBN 3-406-32490-8.
    • Heinrich August Winkler: Der lange Weg nach Westen. Deutsche Geschichte 1806–1933. Bd. 1, Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 2002, ISBN 3-89331-463-6.

    Ära Bismarck

    • Beate Althammer: Das Bismarckreich 1871–1890. 2., aktualisierte Aufl. Paderborn 2017 (= Seminarbuch Geschichte, utb-Band Nr. 2995)
    • Christoph Jahr: Blut und Eisen. Wie Preußen Deutschland erzwang, 1864–1871. C. H. Beck, München 2020, ISBN 978-3-406-75542-2 (Fachbesprechung).
    • Wolfgang J. Mommsen: Das Ringen um den nationalen Staat. Die Gründung und der innere Ausbau des Deutschen Reiches unter Otto von Bismarck, 1850 bis 1890. Propyläen-Verlag, Berlin 1993 (= Propyläen Geschichte Deutschlands 7/1), ISBN 3-549-05817-9.

    Wilhelminische Epoche

    • Nils Freytag: Das Wilhelminische Kaiserreich 1890–1914. Paderborn 2018 (= Seminarbuch Geschichte, utb-Band Nr. 2892)
    • Frank-Lothar Kroll: Geburt der Moderne. Politik, Gesellschaft und Kultur vor dem Ersten Weltkrieg (= Deutsche Geschichte im 20. Jahrhundert, Bd. 1). be.bra Verlag, Berlin 2013, ISBN 978-3-89809-401-6.
    • Wolfgang J. Mommsen: Bürgerstolz und Weltmachtstreben. Deutschland unter Wilhelm II. 1890 bis 1918. Berlin 1995 (= Propyläen Geschichte Deutschlands 7/2), ISBN 3-549-05820-9.
    • Wolfgang J. Mommsen: Die Herausforderung der bürgerlichen Kultur durch die künstlerische Avantgarde. Zum Verhältnis von Kultur und Politik im Wilhelminischen Deutschland (= Schriften des Historischen Kollegs. Vorträge 41). München 1994 (Digitalisat).
    • Thomas Nipperdey: Religion und Gesellschaft: Deutschland um 1900 (= Schriften des Historischen Kollegs. Dokumentationen 5). München 1988 (Digitalisat).
    • Uwe Puschner, Christina Stange-Fayos, Katja Wimmer (Hrsg.): Laboratorium der Moderne. Ideenzirkulation im Wilhelminischen Reich (= Zivilisationen & Geschichte, Bd. 31), Peter Lang Verlag, Frankfurt a. M. [u. a.] 2015, ISBN 978-3-631-65046-2.
    • John C. G. Röhl: Kaiser, Hof und Staat. Wilhelm II. und die deutsche Politik in der Google-Buchsuche. C.H. Beck, München 1988 (TB 2002), ISBN 978-3-406-49405-5.
    • John C. G. Röhl: Wilhelm II. C.H. Beck, München 1993–2008:

    Kaiserreich u​nd Erster Weltkrieg

    • Holger Afflerbach: Auf Messers Schneide. Wie das Deutsche Reich den Ersten Weltkrieg verlor. C.H. Beck, München 2018, ISBN 978-3-406-71969-1.
    • Fritz Fischer: Griff nach der Weltmacht. Die Kriegszielpolitik des kaiserlichen Deutschland 1914/18 (1961), Droste 2000 (Nachdruck der Sonderausgabe 1967), ISBN 3-7700-0902-9.
    • Gerhard Hirschfeld, Gerd Krumeich, Irina Renz in Verbindung mit Markus Pöhlmann (Hrsg.): Enzyklopädie Erster Weltkrieg. Ferdinand Schöningh, Paderborn 2003, ISBN 3-506-73913-1; aktualisierte und erweiterte Studienausgabe Paderborn 2014, ISBN 978-3-8252-8551-7.
    • Jürgen Kocka: Klassengesellschaft im Krieg. Deutsche Sozialgeschichte 1914–1918. Vandenhoeck und Ruprecht, Göttingen 1978, ISBN 3-525-35984-5.
    • Jörn Leonhard: Die Büchse der Pandora. Geschichte des Ersten Weltkrieges. C.H. Beck, München 2014, ISBN 978-3-406-66191-4.
    • Gunther Mai: Das Ende des Kaiserreichs: Politik und Kriegführung im Ersten Weltkrieg. Deutscher Taschenbuch-Verlag, München 1993, ISBN 3-423-04510-8.
    Commons: Deutsches Kaiserreich – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien

    Einzelnachweise

    1. Zur Kontroverse über das Reich als konstitutionelle Monarchie siehe Hans-Peter Ullmann, Politik im Deutschen Kaiserreich 1871–1918, München 2005, S. 65 f.
    2. Michael Kotulla: Deutsche Verfassungsgeschichte. Vom Alten Reich bis Weimar (1495 bis 1934). Springer, 2008, S. 522.
    3. Vgl. dazu Tim Ostermann, Die verfassungsrechtliche Stellung des Deutschen Kaisers nach der Reichsgründung von 1871, Peter Lang, Frankfurt am Main 2009, ISBN 978-3-631-59740-8, S. 25 Anm. 152; Gordon A. Craig, Deutsche Geschichte 1866–1945. Vom Norddeutschen Bund bis zum Ende des Dritten Reiches, 3. Auflage in der Beck’schen Reihe, München 2006, ISBN 978-3-406-42106-8, S. 50; Matthias Schwengelbeck: Die Politik des Zeremoniells. Huldigungsfeiern im langen 19. Jahrhundert. Campus, Frankfurt am Main/New York 2007, ISBN 978-3-593-38336-1, S. 307.
    4. Margaret Anderson, Sibylle Hirschfeld (Übers.): Lehrjahre der Demokratie – Wahlen und politische Kultur im Deutschen Kaiserreich. Stuttgart 2009; Ute Planert: Wie reformfähig war das Kaiserreich? Ein westeuropäischer Vergleich aus geschlechtergeschichtlicher Perspektive, in: Sven Oliver Müller/Cornelius Torp (Hg.): Das Deutsche Kaiserreich in der Kontroverse. Göttingen 2009, S. 165–184; Hedwig Richter: Die Reformzeit um 1900, in: LeMO, hg. vom Deutschen Historischen Museum Berlin, 2019.
    5. Im englischen Sprachraum hat sich die Bezeichnung „Großer Krieg“ als Synonym für den Ersten Weltkrieg erhalten.
    6. Protokoll vom 15. November 1870 zwischen dem Norddeutschen Bunde, Baden und Hessen (Bundesgesetzblatt 1870 S. 650, Bayer. Gesetzblatt 1870/71 S. 199).
    7. Schreiben Bismarcks an Ludwig II. von Bayern (27. November 1870) (auf germanhistorydocs).
    8. Gesetz betreffend die Verfassung des Deutschen Reichs vom 16. April 1871.
    9. Berliner Siegesparade von 1871, Artikel in der FAZ, 16. Juni 2021
    10. Gemeindeverzeichnis Deutschland 1900.
    11. Hubert Kiesewetter: Industrielle Revolution in Deutschland. Regionen als Wachstumsmotoren. Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2004, ISBN 3-515-08613-7, S. 126.
    12. Statistisches Jahrbuch für das Deutsche Reich 1911.
    13. Hans-Dietrich Schultz: Deutschlands „natürliche“ Grenzen. „Mittellage“ und „Mitteleuropa“ in der Diskussion der Geographen seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts. In: Geschichte und Gesellschaft 15 (1989), S. 248–281; ders.: Land – Volk – Staat. Der geographische Anteil an der ‚Erfindung‘ der Nation. In: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 51 (2000), S. 4–16.
    14. Hans-Dietrich Schultz: „Was ist des Deutschen Vaterland?“ Geographie und Nationalstaat vor dem Ersten Weltkrieg. In: Geographische Rundschau 47 (1995), S. 492–497.
    15. Zum geopolitischen Aspekt des Historikerstreits der 1980er Jahre Imanuel Geiss: Geographie und Mitte als historische Kategorien. Anmerkungen zu einem Aspekt des ‚Historikerstreits‘. In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 10 (1991), S. 979–994.
    16. Eric Hobsbawm: Mass-Producing Traditions. Europe, 1870–1914. In: Eric Hobsbawm, Terence Ranger (Hrsg.): The Invention of Tradition. Cambridge University Press, Cambridge 1983, S. 263–307, hier S. 277, Fn. 26.
    17. Loth, Kaiserreich, S. 36, ausführlich zur Rolle des Bundesrates: Nipperdey, Machtstaat vor der Demokratie, S. 88–96.
    18. Nipperdey, Machtstaat vor der Demokratie, S. 98–102.
    19. Nipperdey, Machtstaat vor der Demokratie, S. 102–108.
    20. Wehler, Gesellschaftsgeschichte, Bd. 3, S. 857–864.
    21. Den Begriff prägte Bernhard von Bülow in einem Brief an Graf Eulenburg 1896, vgl. ders., Politische Korrespondenz (hrsg. v. John Röhl), Bd. 3, S. 1714 (Nr. 1245).
    22. Hans-Ulrich Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Bd. 3: Von der deutschen Doppelrevolution bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges. 1849–1914. Beck, München 1995, S. 1000–1004 (hier das Zitat).
    23. Siehe John Röhl, Kaiser, Hof und Staat. Wilhelm II. und die deutsche Politik, München 1988, sowie Wehler, Gesellschaftsgeschichte Bd. 3, S. 854–857, 1016–1020; zur Diskussion zusammenfassend Frie, Kaiserreich, S. 69–80.
    24. Wehler, Gesellschaftsgeschichte, Bd. 3, S. 877 f.
    25. Geheimerlaß zum Einsatz von Militär bei inneren Unruhen (1907) (auf germanhistorydocs).
    26. Wilhelm II. über den „Adel der Gesinnung“ im Offizierskorps (auf germanhistorydocs).
    27. Zur Ideologie des Offizierskorps (auf germanhistorydocs).
    28. Wilhelm I. zum Standesethos der preußischen Offiziere (auf germanhistorydocs).
    29. Wehler, Gesellschaftsgeschichte Bd. 3, S. 873–885, 1109–1138; Nipperdey, Machtstaat, S. 230–238.
    30. John Munro: German banking and commercial organization (Memento vom 7. Januar 2007 im Internet Archive) (englisch; PDF; 215 kB).
    31. Anmerkung: vor dem Bau der Bahn waren diese Güter vorrangig per Schiff transportiert worden; hinderlich dabei waren die häufig niedrigen Wasserstände der Flüsse Oder, Weichsel oder Warthe und deren Einfrieren in den Wintermonaten gewesen.
    32. Gerd Hohorst, Jürgen Kocka, Gerhard A. Ritter: Sozialgeschichtliches Arbeitsbuch Bd. 2: Materialien zur Statistik des Kaiserreichs 1870–1914. München 1978, S. 66.
    33. Dazu grundlegend Gerhard A. Ritter, Klaus Tenfelde: Arbeiter im Deutschen Kaiserreich 1871 bis 1914. Bonn 1992, ISBN 3-8012-0168-6.
    34. dazu Lüke, insbes. S. 81–134 und 278–296.
    35. So Hans-Ulrich Wehler: Das Deutsche Kaiserreich 1871–1918, S. 47–49.
    36. Zu den Konfessionen ausführlich: Nipperdey: Arbeitswelt und Bürgergeist, S. 428–531; Wehler: Gesellschaftsgeschichte Bd. 3, S. 1171–1190.
    37. Zahlen für das Jahr 1995, aus: Prof. A. L. Hickmann’s Geographisch-Statistischer Taschenatlas des Deutschen Reichs (Erster Teil), Verlag G. Freytag & Berndt, Leipzig/Wien, 2. Auflage 1896, Tafel Nr. 22.
    38. Zahlen zitiert nach J. Schmidt-Liebich (Hrsg.): Deutsche Geschichte in Daten, Band 2: 1770–1918, Deutscher Taschenbuch Verlag, 1981, ISBN 3-423-03195-6, S. 314.
    39. Zur jüdischen Bevölkerung siehe Nipperdey: Arbeitswelt und Bürgergeist, S. 396–413; Volker Ullrich: Die nervöse Großmacht. II.4: Die Ausbreitung des Antisemitismus. 2. Auflage, Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 1997.
    40. Zitiert nach Volker Ullrich: Die nervöse Großmacht. II.4: Die Ausbreitung des Antisemitismus. 2. Aufl. 1997.
    41. Im Jahr 1909 waren etwa 10 % der Privatdozenten jüdischer Abstammung, jedoch nur 7 % der Extraordinarien und 2 % der Ordinarien. Nach Ernest Hamburger: Juden im öffentlichen Leben Deutschlands – Regierungsmitglieder, Beamte und Parlamentarier in der monarchischen Zeit 1848–1918. Kapitel Die Personalpolitik vom Beginn der dritten Emanzipationsperiode bis 1914. Mohr Siebeck, Tübingen 1968.
    42. Zitiert nach Hamburger, Kapitel Juden in Regierung und Verwaltung.
    43. Dagmar Bussiek: „Mit Gott für König und Vaterland!“ Die Neue Preussische Zeitung (Kreuzzeitung) 1848–1892. Lit, Münster 2002.
    44. Heinrich August Winkler: Geschichte des Westens. Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert. 2. Auflage. Beck, München 2010, ISBN 978-3-406-59235-5, S. 1154.
    45. Fremdsprachige Minderheiten im Deutschen Reich. Abgerufen am 20. Januar 2010.
    46. Deutschland, Abschnitt „nichtdeutsche Bevölkerung“. In: Meyers Konversations-Lexikon. 4. Auflage. Band 4, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig/Wien 1885–1892, S. 817.
    47. Vgl. dazu grundlegend Martina G. Lüke: Zwischen Tradition und Aufbruch. Deutschunterricht und Lesebuch im Deutschen Kaiserreich. Frankfurt am Main 2007, ISBN 978-3-631-56408-0.
    48. Wehler: Gesellschaftsgeschichte Bd. 3, S. 961–965; Nipperdey: Machtstaat vor der Demokratie, S. 266–285.
    49. Ullmann: Kaiserreich, S. 129.
    50. Angelika Schaser: Partizipationsmöglichkeiten für Frauen in der Politik im 19. und frühen 20. Jahrhundert vor Erhalt des Frauenwahlrechts in Deutschland 1918, in: Digitales Deutsches Frauenarchiv, online veröffentlicht am 13. September 2018.
    51. Historische Ausstellung des deutschen Bundestages. Ergebnisse der Reichstagswahlen 1871 bis 1912. In: Deutscher Bundestag. Deutscher Bundestag, S. 2, abgerufen am 12. Dezember 2020.
    52. Ergebnisse der Reichstagswahlen von 1871–1912. In: Bundeszentrale für politische Bildung. Bundeszentrale für politische Bildung, abgerufen am 13. Dezember 2020 (Ergebnisse der Reichstagswahlen von 1884–1912).
    53. Karl Rohe: Wahlen und Wählertraditionen in Deutschland. Kulturelle Grundlagen deutscher Parteien und Parteisysteme im 19. und 20. Jahrhundert. Frankfurt 1992, ISBN 3-518-11544-8.
    54. Ullmann: Kaiserreich, S. 26–137, zu den wirtschaftlichen Interessenverbänden s. auch: Pierenkemper: Gewerbe und Industrie, S. 74–87, zur wissenschaftlichen Diskussion in Bezug auf die Milieubildung vgl. etwa Ewald Frie: Das Deutsche Kaiserreich. Kontroversen um die Geschichte, Darmstadt 2004, S. 94–117.
    55. Erinnerung an eine Sedansfeier in den 1870er Jahren (auf germanhistorydocs) und, hinsichtlich der Erziehung von Jugendlichen, Lüke, S. 82 f., 216–292 und 362 ff.
    56. Nipperdey: Machtstaat, S. 250–266; Winkler: Weg nach Westen, S. 214–246.
    57. Ullmann: Kaiserreich, S. 51 f., 58; Loth: Kaiserreich, S. 44.
    58. Ullmann: Kaiserreich, S. 52–54; Loth: Kaiserreich, S. 46 f.
    59. Loth, Kaiserreich, S. 51.
    60. Winkler, Weg nach Westen, Bd. 1, S. 222; Loth, Kaiserreich, S. 51.
    61. § 130 a Strafgesetzbuch (sogenannter Kanzelparagraph) vom 10. Dezember 1871.
    62. Gesetz zum Verbot des Jesuitenordens vom 4. Juli 1872.
    63. Gesetz betreffend die Beaufsichtigung des Unterrichts- und Erziehungswesens (11. März 1872).
    64. Ullmann: Kaiserreich, S. 55–57; Winkler: Weg nach Westen, Bd. 1., S. 224 f.
    65. Loth, Kaiserreich, S. 49.
    66. Briefauszug an Eduard Lasker von Karl Biedermann zu den Ausnahmegesetzen von 1872.
    67. Ullmann, Kaiserreich, S. 58 f.; Nipperdey, Machtstaat, S. 361; Loth. Kaiserreich, S. 49.
    68. Ullmann: Kaiserreich, S. 60–68; Winkler: Weg nach Westen, S. 227.
    69. Max von Forckenbeck an Franz von Stauffenberg über die Notwendigkeit nationalliberaler Opposition (19. Januar 1879) (auf germanhistorydocs).
    70. Erklärung der liberalen Sezessionisten (30. August 1880) (auf germanhistorydocs).
    71. Frie, Kaiserreich, S. 32–38.
    72. Ullmann, Kaiserreich, S. 70.
    73. Zum Schwenk der Liberalen etwa Winkler, Weg nach Westen, S. 240; Eduard Stephani an Rudolf von Bennigsen über nationalliberale Motive, Bismarck zu unterstützen (14. Juli 1878) (auf germanhistorydocs).
    74. August Bebel verurteilt die vorgeschlagene antisozialistische Gesetzgebung im Reichstag (16. September 1878) (auf germanhistorydocs).
    75. Ullmann: Kaiserreich, S. 70–72; Winkler: Weg nach Westen, S. 240–242.
    76. Winkler: Weg nach Westen, S. 238 f.
    77. Winkler: Weg nach Westen, S. 242–244; Ullmann: Kaiserreich, S. 73–76.
    78. Zum Entstehen der Bismarckschen Sozialversicherung vgl. Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik 1867 bis 1914, I. Abteilung: Von der Reichsgründungszeit bis zur Kaiserlichen Sozialbotschaft (1867–1881), Band 2, 5 u. 6; Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik 1867 bis 1914, II. Abteilung: Von der Kaiserlichen Sozialbotschaft bis zu den Februarerlassen Wilhelms II. (1881–1890), 2. Band, Teil 1 u. 2; Band 5 u. 6.
    79. Nipperdey, Arbeitswelt und Bürgergeist, S. 341 ff.; Ullmann, Kaiserreich, S. 180 f.
    80. Hans-Ulrich Wehler: Das deutsche Kaiserreich 1871–1918. Vandenhoeck und Ruprecht, Göttingen 1977, S. 147 f.
    81. Ullmann, S. 85–88.
    82. Zahlen nach Tormin: Geschichte deutscher Parteien, S. 282 f. Hinweise: Sozialdemokraten umfassen bis 1874 die SDAP und den ADAV, unter Minderheiten sind subsumiert: Welfen, Polen, Dänen, Elsaß-Lothringer, unter Sonstige finden sich bis 1878 (Alt-)Liberale, Deutsche Volkspartei, 1881 und 1884 nur Deutsche Volkspartei, 1887 außerdem 1 Abg. der Christlich-Sozialen Partei und 2 weitere Abg.
    83. Ullmann, Kaiserreich, S. 89–91.
    84. Zitiert nach Ullmann: Kaiserreich, S. 78.
    85. Ullmann, Kaiserreich, S. 76–79.
    86. Ziele der deutschen Kolonialgesellschaft (auf germanhistorydocs).
    87. Ullmann, Kaiserreich, S. 80–82.
    88. Ullmann, Kaiserreich, S. 83, 85.
    89. Winkler, Weg nach Westen, S. 257.
    90. Ullmann, Kaiserreich, S. 158.
    91. Winkler, Weg nach Westen, S. 259 f.; Ullmann, Kaiserreich, S. 91–93.
    92. Hans Hermann Freiherr von Berlepsch, „Warum betreiben wir die soziale Reform“ (1903) (auf germanhistory docs).
    93. Programm des BdL (auf germanhistorydocs).
    94. Tivoliprogramm der Deutschkonservativen Partei (1892) (auf germanhistorydocs).
    95. Ullmann, Kaiserreich, S. 138–145.
    96. Zuchthausvorlage (auf germanhistorydocs)
    97. Ullmann: Kaiserreich, S. 145–147; Winkler: Weg nach Westen, S. 269 f.
    98. Winkler: Weg nach Westen, S. 270–272; Ullmann: Kaiserreich, S. 147–149.
    99. Die Flotte und die deutsch-englischen Beziehungen: Brief des Konteradmirals Tirpitz an Admiral von Stosch (13. Februar 1896) (auf germanhistorydocs).
    100. Aufgaben und Tätigkeit des Nachrichtenbüros (auf germanhistorydocs).
    101. Ullmann: Kaiserreich, S. 150 f.; Winkler: Weg nach Westen, S. 272–274.
    102. Vertrag zwischen Deutschland und England über die Kolonien und Helgoland (1. Juli 1890) (auf germanhistorydocs).
    103. Kündigung des Rückversicherungsvertrages (auf germanhistorydocs).
    104. Gabriele Yonan: Ein vergessener Holocaust - Die Vernichtung der christlichen Assyrer in der Türkei. Eine Dokumentation. Hrsg.: Gesellschaft für Bedrohte Völker. Göttingen 1989, S. 9783922197256.
    105. David Gaunt, Naures Atto, and Soner O. Barthoma: Let Them Not Return, Sayfo – The Genocide Against the Assyrian, Syriac, and Chaldean Christians in the Ottoman Empire. Hrsg.: David Gaunt. 2018, ISBN 978-1-78920-051-5.
    106. von Bülows zu den Zielen der Außenpolitik (1899) (auf germanhistorydocs).
    107. Bernhard von Bülow über Deutschlands „Platz an der Sonne“ (1897) (auf germanhistorydocs).
    108. Wilhelm II.: Hunnenrede (auf germanhistorydocs).
    109. Pachtvertrag zwischen China und dem Deutschen Reich (6. März 1898) (auf germanhistorydocs).
    110. Ullmann: Kaiserreich, S. 154–163; Winkler: Weg nach Westen, S. 274–277.
    111. Bernhard von Bülow löst aufgrund der kolonialen Streitfrage den Reichstag auf (13. Dezember 1906) (auf germanhistorydocs).
    112. Loth: Kaiserreich, S. 115–123; Ullmann: Kaiserreich, S. 163–167.
    113. „Sylvesterbrief“ von Bülows (1906) (auf germanhistorydocs).
    114. Zahlen nach Loth: Kaiserreich, S. 236. Unter Linksliberale sind Deutsche-Friesinnige Partei, ab 1893 Freisinnige Volkspartei und Freisinnige Vereinigung, ab 1910 Fortschrittliche Volkspartei subsumiert.
    115. Daily-Telegraph-Affäre (auf germanhistorydocs).
    116. Loth: Kaiserreich, S. 123–131; Ullmann: Kaiserreich, S. 167–172.
    117. Ullmann, Kaiserreich S. 204–206.
    118. Bericht über die Verfassungsberatungen der Reichstagskommission (auf germanhistorydocs).
    119. Ullmann, Kaiserreich, S. 206 f.
    120. Chronik 1913. Deutsches Historisches Museum, abgerufen am 22. Dezember 2012.
    121. Parlamentsdebatte zur Zabernaffäre (auf germanhistorydocs).
    122. Ullmann, Kaiserreich, S. 210 f.
    123. Ullmann: Kaiserreich, S. 212–214.
    124. Alfred von Kiderlen-Wächter über seine außenpolitischen Ziele (1911) (auf germanhistorydocs).
    125. Vgl. dazu Hans H. Hildebrand, Albert Röhr, Hans-Otto Steinmetz: Schiffsbiographien von Lützow bis Preußen. Mundus Verlag, Ratingen o. J., S. 212 f. (Die deutschen Kriegsschiffe. Biographien – ein Spiegel der Marinegeschichte von 1815 bis zur Gegenwart. Bd. 6.)
    126. Ullmann: Kaiserreich, S. 214 f.
    127. General Bernardi: Die Unvermeidlichkeit des Krieges (1912) (auf germanhistorydocs).
    128. Ullmann: Kaiserreich, S. 216–219.
    129. Der „Blankoscheck“: Ladislaus Graf von Szögyény-Marich (Berlin) an Leopold Graf von Berchtold (5. Juli 1914) (auf germanhistorydocs).
    130. Intervention der Armee anlässlich der Julikrise: Helmuth J. L. von Moltke an Theobald von Bethmann Hollweg (29. Juli 1914) (auf germanhistorydocs).
    131. Ullmann: Kaiserreich, S. 219–227.
    132. Ullmann: Kaiserreich, S. 228–234.
    133. Beschäftigungsentwicklung Männer und Frauen.
    134. Preissteigerungen 1913–1920 (auf germanhistorydocs).
    135. Übersicht über Prinzipien der Rationalisierung (auf germanhistorydocs).
    136. Bei aller Kritik immer noch grundlegend: Jürgen Kocka: Klassengesellschaft im Krieg. Deutsche Sozialgeschichte 1914–1918. Göttingen 1978.
    137. Der Kaiser spricht vom Balkon des königlichen Schlosses (1. August 1914) (auf germanhistorydocs).
    138. Die Sozialisten unterstützen den Krieg (4. August 1914) (auf germanhistorydocs).
    139. Loth: Kaiserreich, S. 142–144.
    140. Loth: Kaiserreich, S. 144–147.
    141. Der Hindenburgplan (1916) (auf germanhistorydocs).
    142. Hilfsdienstgesetz (Dezember 1916) (auf germanhistorydocs).
    143. Loth, S. 147–149.
    144. Admiral von Holtzendorff zu den Zielsetzungen des uneingeschränkten U-Boot-Krieges (auf germanhistorydocs).
    145. Öffentliche Stimmung März 1917 (auf germanhistorydocs).
    146. Osterbotschaft Wilhelms II. April 1917.
    147. USPD Grundlinien (April 1917) (auf germanhistorydocs).
    148. Erich Ludendorff gegen Theobald von Bethmann Hollweg (Juli 1917) (auf germanhistorydocs).
    149. Loth: Kaiserreich, S. 149–157.
    150. Vaterlandspartei 1917 (auf germanhistorydocs).
    151. Loth: Kaiserreich, S. 157–160.
    152. Zit. nach Michalka u. Niedhart (Hrsg.): Deutsche Geschichte 1918–1933, S. 20 f.
    153. Januarstreiks 1918 (auf germanhistorydocs).
    154. Forderungen nach der Parlamentarisierung Oktober 1917 (auf germanhistorydocs).
    155. Erich Ludendorff gesteht die Niederlage ein: aus den Tagebuchnotizen vom Albrecht von Thaer (Oktober 1, 1918) (auf germanhistorydocs).
    156. Loth: Kaiserreich, S. 162–166.
    157. Zit. nach Frie: Deutsches Kaiserreich, S. 3.
    158. Frie, Deutsches Kaiserreich, S. 3 f.
    159. Frie: Deutsches Kaiserreich, S. 5.
    160. Frie, Deutsches Kaiserreich, S. 119.
    161. Frie, Deutsches Kaiserreich, S. 5 f.
    162. Loth: Kaiserreich, S. 205, Frie: Deutsches Kaiserreich, S. 6 f.
    163. Loth: Kaiserreich, S. 204; Frie: Deutsches Kaiserreich, S. 10, S. 119.
    164. Frie, Deutsches Kaiserreich, S. 8–10, S. 120.
    165. Frie: Deutsches Kaiserreich, S. 119 f.
    166. Frie: Deutsches Kaiserreich, S. 121 f.; Hedwig Richter, Moderne Wahlen. Eine Geschichte der Demokratie in Preußen und den USA im 19. Jahrhundert. Hamburg: Hamburger Edition, 2017, S. 321–350; zu aktuellen Debatten: Tagungsbericht: Das Deutsche Kaiserreich in der Kontroverse – Probleme und Perspektiven.

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