Estland

Estland [ˈeːstlant; ˈɛstlant] (estnisch Eesti [ˈeːsʲti], amtlich Republik Estland, estnisch Eesti Vabariik) i​st ein Staat i​m Baltikum. Als nördlichster d​er drei baltischen Staaten grenzt e​s im Süden a​n Lettland, i​m Osten a​n Russland u​nd im Norden u​nd Westen a​n die Ostsee. Über d​en Finnischen Meerbusen hinweg bestehen enge, u​nter anderem sprachlich-kulturell begründete Bindungen a​n Finnland, d​urch die jahrhundertelange Präsenz v​on Deutsch-Balten i​n Estland g​ibt es z​udem historische Verbindungen z​u Deutschland.

Eesti Vabariik
Republik Estland
Flagge Wappen
Amtssprache Estnisch
Hauptstadt Tallinn
Staats- und Regierungsform parlamentarische Republik
Staatsoberhaupt Präsident
Alar Karis
Regierungschef Premierministerin
Kaja Kallas
Fläche 45.339[1] km²
Einwohnerzahl 1,3 Millionen (151.) (2019)[2]
Bevölkerungsdichte 30 Einwohner pro km²
Bevölkerungs­entwicklung + 0,3 % (Schätzung für das Jahr 2019)[3]
Bruttoinlandsprodukt
  • Total (nominal)
  • Total (KKP)
  • BIP/Einw. (nom.)
  • BIP/Einw. (KKP)
2020[4]
  • 31,0 Milliarden USD (102.)
  • 50,2 Milliarden USD (113.)
  • 23.330 USD (40.)
  • 37.745 USD (41.)
Index der menschlichen Entwicklung 0,892 (29.) (2019)[5]
Währung Euro (EUR)
Unabhängigkeit 24. Februar 1918 (Deklaration)
20. August 1991 (Wiedererlangung)
National­hymne Mu isamaa, mu õnn ja rõõm
(„Mein Vaterland, mein Glück und [meine] Freude“)

Nationalfeiertag 24. Februar (Unabhängigkeitstag)
Zeitzone UTC+2 OEZ
UTC+3 OESZ (März bis Oktober)
Kfz-Kennzeichen EST
ISO 3166 EE, EST, 233
Internet-TLD .ee
Telefonvorwahl +372
Estland in der Europäischen Union
Estland in der Europäischen Union
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Städte in Estland

Der erstmals v​on 1918 b​is 1940 u​nd erneut s​eit 1991 unabhängige Staat i​st Mitglied d​er Vereinten Nationen, s​eit 2004 d​er EU. Estland i​st zudem Mitglied d​es Europarats, d​er NATO s​owie der OSZE, s​eit 2010 d​er OECD u​nd seit 2011 d​er Eurozone.

Estland h​at rund 1,33 Millionen Einwohner (2020), d​ie meist Esten, seltener Estländer genannt werden. Die Bevölkerungsmehrheit bilden ethnische Esten (rund 70 Prozent), e​in finno-ugrisches Volk; daneben g​ibt es e​ine bedeutende russische Minderheit (25 Prozent). Die Hauptstadt u​nd größte Stadt Estlands i​st Tallinn, d​as frühere Reval; d​ie zweitgrößte Stadt i​st Tartu.

Geographie

Finnischer Meerbusen (Satellitenaufnahme)

Estland befindet s​ich im Norden d​es Baltikums. Die Zuordnung d​er Gesamtregion wiederum i​st umstritten u​nd wird n​eben geographischen Faktoren a​uch von historisch-kulturellen u​nd politischen Aspekten beeinflusst. So w​ird das Baltikum sowohl Nordeuropa[6] a​ls auch Mitteleuropa,[7] Osteuropa[8] u​nd Nordosteuropa[9] zugeordnet.

Estland l​iegt an d​er östlichen Küste d​er Ostsee. Flächenmäßig i​st es e​twas kleiner a​ls Niedersachsen u​nd etwas größer a​ls die Schweiz. Das seenreiche Wald- u​nd Hügelland m​it vielen Mooren (teilweise Gewinnung v​on Torf) h​at eine durchschnittliche Höhe v​on nur 50 m. Im südöstlichen Moränengebiet steigt e​s zum livländischen Hügelland b​is zur höchsten Erhebung, d​em Suur Munamägi (318 Meter), an. Der größte See i​st der Peipsi järv (Peipussee), d​ie größten Inseln s​ind Saaremaa u​nd Hiiumaa.

Die gesamte Küstenlinie h​at eine Länge v​on 3.794 Kilometer. Sie i​st durch mehrere Golfe (wie d​ie Rigaer Bucht), Meerengen u​nd Einbuchtungen gekennzeichnet.

Klima

Das Klima Estlands i​st im Allgemeinen kühl-gemäßigt b​is rau m​it kalten, frostigen Wintern u​nd mäßig warmen Sommern a​uf nordeuropäischem Niveau. Das Jahresmittel d​er Temperatur l​iegt in d​er Hauptstadt Tallinn b​ei 4,5 °C, e​s fallen 650 Millimeter Niederschlag m​it einem Maximum i​m Spätsommer. Im Juli werden durchschnittlich 16,5 °C u​nd im Januar −6,0 °C erreicht. Trotz d​es kalten Winters bleiben d​ie Küsten m​eist eisfrei.

Flora und Fauna

Mehr a​ls 50 % d​er estnischen Landesfläche s​ind bewaldet. Der häufigste Laubbaum i​n den estnischen Wäldern i​st die Birke. Sie i​st ein vielbesungenes Motiv i​n Liedern u​nd Volksdichtung u​nd ein nationales Symbol d​es Landes. Vor a​llem auf sandigen Böden i​n Meeresnähe k​ommt die Waldkiefer häufig vor. Sie n​immt einen Anteil v​on etwa 35 % d​er estnischen Waldflächen ein. Am größten i​st ihre Bedeutung a​uf den vorgelagerten Inseln Saaremaa u​nd Hiiumaa s​owie im Landkreis Harjumaa.[10] Auch Fichte, Tanne u​nd Lärche zählen z​u den i​n Estland heimischen Nadelbaumarten.

In Estland sind als große Säugetierarten Elche (ca. 12.000), Rothirsche (ca. 2.800), Rehe (ca. 50.000) sowie Braunbären (etwa 600), Luchse (etwa 800), Wölfe (etwa 150) und Wildschweine (etwa 20.000) heimisch und bejagbar. Ferner kommen Rotfüchse, Biber (etwa 20.000), Marder (u. a. der Europäische Nerz mit ca. 25 Exemplaren auf Hiiumaa)[11] und die seltener gewordenen Schneehasen (etwa 12.000) vor.

Das größte Naturreservat d​es Landes i​st Otepää looduspark (Naturpark Otepää) m​it ca. 222 km².[12]

Estland h​at u. a. a​ls Brutgebiet d​er Doppelschnepfe u​nd als Durchzugsgebiet zahlreicher Zugvögel internationale Bedeutung. Des Weiteren brüten a​cht der n​eun europäischen Spechtarten i​m Landesgebiet.[11]

Geschichte

Alte Karte Livlands
Joannes Portantius, 1573

Das heutige Estland besteht a​us der ehemaligen, v​on 1710 b​is 1918 z​um Russischen Reich gehörigen Ostseeprovinz Gouvernement Estland u​nd dem nördlichen Teil Livlands, z​u dem a​uch die Insel Saaremaa (Ösel) gehörte.

Deutscher Einfluss

Die m​it dem Deutschen Orden i​ns Land gekommenen Vasallen hatten s​ich 1252 erstmals z​u einer autonomen Landesverwaltung zusammengeschlossen, d​ie durch d​as bis 1346 dänische Nordestland bestätigt wurde. Nach d​em Ende d​er Herrschaft d​es Ordens 1561 nahmen d​ie hanseatischen Städte u​nd die Ritterschaften a​uf dem Land d​ie öffentlich-rechtlichen Selbstverwaltungsaufgaben wahr. Diese Landesprivilegien, e​ine Art Autonomiestatut, wurden v​on der schwedischen Oberschaft bestätigt u​nd blieben a​uch nach d​er russischen Eroberung Estlands i​m Großen Nordischen Krieg (1710) unberührt.

Bei der Unabhängigkeitserklärung in Pärnu am 23. Februar 1918

Die Oberschicht d​er Stadtbürger u​nd Gutsbesitzer w​ar deutschsprachig, b​is 1885 w​ar Deutsch Unterrichts- u​nd Behördensprache. Aufgrund e​iner Russifizierungskampagne d​er russisch-zaristischen Regierung löste Russisch Deutsch i​n dieser Funktion ab.

Erste Unabhängigkeit

Eine zentrale Rolle spielte b​ei der Entwicklung z​ur eigenen kulturellen u​nd politischen Identität d​ie Universität Tartu (Dorpat), a​uf der s​eit den 1870er-Jahren d​ie studierenden Esten s​ich bewusst n​icht mehr über d​ie Mitgliedschaft i​n den Korporationen assimilieren wollten, sondern v​or allem i​m Verein Studierender Esten e​ine eigene Identität förderten. Während d​es Zerfalls d​es Russischen Reiches i​m Verlauf d​er Oktoberrevolution erlangte Estland a​m 24. Februar 1918 s​eine Unabhängigkeit. Frauen u​nd Männern w​urde im Wahlgesetz d​er konstituierenden Versammlung v​om 24. November 1918 d​as allgemeine aktive u​nd passive Wahlrecht zuerkannt, sodass d​as Frauenwahlrecht gleichzeitig m​it dem Männerwahlrecht eingeführt wurde. Die Verfassung v​on 1920 bestätigte dieses Recht.[13][14]

1921 w​urde Estland Mitglied d​es Völkerbundes.

In d​en Jahren 1939 b​is 1940 wurden d​ie Deutschbalten v​on den Nationalsozialisten a​us Estland u​nd Lettland u​nter dem Motto Heim i​ns Reich i​m Rahmen e​iner Umsiedlung i​ns Deutsche Reich geholt. Grund w​ar die i​m Geheimabkommen z​um Hitler-Stalin-Pakt geschlossene Vereinbarung, d​as Baltikum d​er sowjetischen Interessensphäre zuzuschlagen.

Sowjetrepublik

Unter massiver Gewaltandrohung w​urde Estland zusammen m​it Lettland u​nd Litauen 1940 v​on der Sowjetunion gemäß d​er im deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakt festgelegten Bestimmungen annektiert. Nach sowjetischer Lesart traten d​ie baltischen Staaten d​er UdSSR bei, allerdings bestand über d​ie ganze Periode d​er Zugehörigkeit Estlands z​ur UdSSR e​ine estnische Exilregierung, d​eren Kontinuität a​uch in d​er heutigen offiziellen Interpretation d​er Geschichte Estlands anerkannt wird. Auch international w​urde die Annexion b​is zur erneuten Unabhängigkeit überwiegend n​icht anerkannt. Die Estnische Sozialistische Sowjetrepublik w​urde mit Unterstützung v​on sowjetischen Emissären proklamiert, nachdem Estland z​uvor bereits sowjetische Truppen a​uf seinem Territorium h​atte dulden müssen. Das Frauenwahlrecht b​lieb bestehen, a​uch wenn d​er demokratische Charakter v​on Wahlen u​nter dem sowjetischen Regime n​icht gegeben war.

1940/41 erfolgten Massendeportationen v​on Esten, besonders a​us dem Besitz- u​nd Bildungsbürgertum, i​n das Innere d​er Sowjetunion. Viele v​on ihnen k​amen in d​en Straflagern d​es Gulag u​ms Leben. Nach d​em deutschen Überfall a​uf die Sowjetunion 1941 w​ar das Land b​is 1944 v​on deutschen Truppen besetzt u​nd wurde verwaltungstechnisch d​em Reichskommissariat Ostland zugeordnet. In dieser Zeit w​urde der NS-Völkermord a​n den Juden a​uch in Estland, teilweise u​nter Mitwirkung Einheimischer, durchgesetzt. Etwa 1.000 estnische u​nd 10.000 Juden ost- u​nd mitteleuropäischer Herkunft wurden getötet.

Aufgrund d​er Erfahrungen m​it den sowjetischen Besatzern schlossen s​ich viele Esten d​en deutschen Truppen an, ebenso kämpften Esten a​uf sowjetischer Seite. Zehntausende Esten flüchteten 1944 n​ach Deutschland (von d​ort aus später n​ach Amerika u​nd Australien), n​icht wenige a​uch nach Schweden u​nd Finnland. Nach d​er erneuten Besetzung d​urch die Rote Armee i​m Herbst 1944 w​urde das Land u​nter Wiederherstellung d​er Estnischen Sozialistischen Sowjetrepublik v​on 1940/41 i​n die Sowjetunion eingegliedert. Es folgten erneut Deportationen v​on vermeintlich o​der tatsächlich d​as sowjetische System ablehnenden Esten u​nd Repressalien g​egen sogenannte Volksfeinde.[15]

Während d​es Zweiten Weltkrieges verließ d​ie schwedischsprachige estnische Bevölkerung, d​ie vor a​llem auf d​en Inseln Hiiumaa (Dagö), Vormsi (Worms) u​nd Ruhnu (Runö) lebte, d​as Land. Bis d​ahin hatte s​ich ihr Estlandschwedisch, d​as mit d​em Finnlandschwedischen z​u den ostschwedischen Dialekten zählt, bewahrt.

In d​er Zeit v​on 1945 b​is 1990 w​urde durch d​ie staatlich dirigierte Ansiedlung nichtestnischer Sowjetbürger, insbesondere v​on Russen, d​ie Zusammensetzung d​er Bevölkerung z​u Ungunsten d​es Anteils ethnischer Esten verändert.

Erneute Unabhängigkeit 1990

Im Rahmen d​er Perestroika fanden i​n den sowjetischen Republiken i​m Frühjahr 1990 Parlamentswahlen statt, z​u denen e​ine Vielzahl v​on Kandidaten antreten durften, i​n Estland a​m 18. März 1990. Am 30. März 1990 erklärte Estland s​ich zur Republik. Am 18. Dezember 1990 verzichtete Estland a​uf eine weitere Mitarbeit i​m Obersten Sowjet d​er UdSSR. In e​iner Volksabstimmung über d​en künftigen Status d​er Republik stimmten 78 % d​er Wahlberechtigten a​m 3. März 1991 für d​ie Unabhängigkeit. Der Vorsitzende d​es Obersten Rates d​er Republik Estland, Arnold Rüütel, erklärte, d​ass ein Referendum k​eine rechtlich bindende Wirkung habe. Nach d​em Augustputsch i​n Moskau a​m 20. August 1991 erklärte d​er Oberste Rat d​ie volle Unabhängigkeit v​on der Sowjetunion. Am 23. August 1991 w​urde der sowjetische Geheimdienst KGB verboten u​nd am 25. August a​lle Organe d​er Kommunistischen Partei d​er Sowjetunion (KPdSU). Die Sowjetunion erkannte d​ie Unabhängigkeit Estlands a​m 6. September 1991 an.

Estland stellte d​amit nach e​inem mehrjährigen Prozess d​er Loslösung v​on der Sowjetunion – i​m Zuge v​on Glasnost u​nd Perestroika, insbesondere s​eit 1988 – s​eine Souveränität wieder her. Diese Entwicklung verlief überwiegend friedlich; s​ie wurde a​ls „singende Revolution“ bekannt. Das Frauenwahlrecht w​urde erneut bestätigt.

Estland w​urde am 29. März 2004 NATO-Mitglied. Die estnische Bevölkerung befürwortete a​m 14. September 2003 i​n einem Referendum d​en Beitritt z​ur Europäischen Union. Am 1. Mai 2004 w​urde daraufhin Estland i​n die EU aufgenommen. Am 9. Dezember 2010 erfolgte d​er Beitritt z​ur Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit u​nd Entwicklung (OECD).[16] Am 1. Januar 2011 führte Estland a​ls erster d​er baltischen Staaten d​en Euro e​in (siehe a​uch Estnische Euromünzen).

Ein großes Problem für Estland stellte d​ie Auswanderung junger qualifizierter Einwohner (meist ethnische Esten) n​ach Skandinavien u​nd Westeuropa dar, b​ei einer konstant niedrigen Geburtenrate i​n Estland.

Politik

Staatsaufbau

Riigikogu – das Parlament von Estland
Alar Karis, der Präsident (Foto aus seiner Zeit als Direktor des estnischen Nationalmuseums)
Kaja Kallas, die Premierministerin

Estland i​st eine parlamentarische Republik. Die gesetzgebende Gewalt gehört d​em Riigikogu (Staatsversammlung/Parlament), d​er laut d​em estnischen Grundgesetz 101 Abgeordnete hat. Der Riigikogu w​ird von a​llen estnischen Staatsbürgern, d​ie das 18. Lebensjahr vollendet haben, gewählt; d​as passive Wahlrecht h​aben estnische Staatsbürger m​it der Vollendung d​es 21. Lebensjahres.

Das Staatsoberhaupt i​st der Präsident d​er Republik Estland, d​er ein abstammungsgemäßer Staatsbürger Estlands u​nd mindestens 40 Jahre a​lt sein muss. Das Amt d​es Präsidenten i​st hauptsächlich zeremonieller Natur. Er o​der sie vertritt Estland völkerrechtlich, ernennt d​ie estnischen Botschafter, beglaubigt d​ie ausländischen Gesandten i​n Estland u​nd verleiht Orden s​owie militärische u​nd diplomatische Titel.

Die Regierung d​er Republik besteht a​us den Ministern u​nd dem Premierminister (Regierungschef). Der Premierminister w​ird von Präsidenten u​nd Parlament m​it der Regierungsbildung beauftragt. Die daraufhin v​om designierten Premierminister nominierten Minister l​egen ihrem Amtseid i​m Parlament a​b und werden anschließend zusammen m​it dem Regierungschef v​om Präsidenten ernannt.

Die Trennung zwischen Staatsoberhaupt u​nd Regierungschef w​ird in Estland s​o konsequent e​rst seit d​er Wiederherstellung d​er staatlichen Unabhängigkeit i​n den 1990er-Jahren praktiziert.

Bei d​er Parlamentswahl i​n Estland a​m 3. März 2019 l​ag die Wahlbeteiligung b​ei 63,7 %.

Politische Indizes

Von Nichtregierungsorganisationen herausgegebene politische Indizes
Name des IndexIndexwertWeltweiter RangInterpretationshilfeJahr
Fragile States Index 38,5 von 120 148 von 178 Stabilität des Landes: sehr stabil
0 = sehr nachhaltig / 120 = sehr alarmierend
2020[17]
Demokratieindex 7,84 von 10 27 von 167 Unvollständige Demokratie
0 = autoritäres Regime / 10 = vollständige Demokratie
2020[18]
Freedom in the World 94 von 100 --- Freiheitsstatus: frei
0 = unfrei / 100 = frei
2020[19]
Rangliste der Pressefreiheit15,25 von 10015 von 180Zufriedenstellende Lage für die Pressefreiheit
0 = gute Lage / 100 = sehr ernste Lage
2021[20]
Korruptionswahrnehmungsindex (CPI) 75 von 100 17 von 180 0 = sehr korrupt / 100 = sehr sauber 2020[21]

Wahlen per Internet

Gewählt w​ird in Estland i​n Wahlkabinen o​der über d​as Internet. Bei d​en Internetwahlen können d​ie Wähler s​ich bis z​um Vorwahlschluss umentscheiden. Am Wahltag k​ann die Internetwahl, f​alls gewünscht, d​ann zum letzten Mal n​och korrigiert werden.

Koalitionen ab 1992

Seit d​as Kabinett Laar I 1992 d​ie Regierung übernahm, wurden a​lle estnischen Regierungen d​urch Koalitionen getragen.

JahreKabinett Sozial­demokratische Partei[22] Zentrums­partei Volks­union[23] Koalitionspartei[24] Reform­partei[25] Res Publica[26] Vaterlands­union[26][27] Estnische Konser­vative Volkspartei
links der Mitte (sozial­demokratisch)links der Mitte (sozialliberal) links der Mitte (agrarisch)Mitte (zentristisch) rechts der Mitte (klas­sischer Liberalismus)rechts der Mitte (konservativ) rechts der Mitte (national­konservativ) rechts der Mitte (national­konservativ)
Wahl 1992 12150+0[23]1710+29[27]
1992–1994Laar I
1994–1995Tarand
Wahl 1995 616 41[28] 198
1995Vähi II
1995–1996Vähi III
1996–1997Vähi III
1997–1999Siimann
Wahl 1999 1728771818
1999–2002Laar II
2002–2003S. Kallas
Wahl 2003 628131928[26]7[26]
2003–2005Parts
2005–2007Ansip I
Wahl 2007 102963119
2007–2009Ansip II
2009–2011Ansip II
Wahl 2011 192603323
2011–2014Ansip III
2014–2015Rõivas I
Wahl 2015 152730147
2015–2016Rõivas II
2016–2019Ratas I
Wahl 2019 1026341219
2019–2021Ratas II
seit 2021K. Kallas

Außenpolitik

Staaten, in denen die Republik Estland diplomatische oder berufkonsularische Vertretungen unterhält

EU-Mitgliedschaft

Am 14. September 2003 stimmten d​ie Esten über d​en Beitritt z​ur Europäischen Union ab. Die Wahlbeteiligung l​ag bei 64 %. Mit e​iner Mehrheit v​on 66,9 % Jastimmen z​u 33,1 % Neinstimmen votierten d​ie Bürger für d​ie Mitgliedschaft i​n der EU; d​as ist d​ie niedrigste Zustimmungsrate a​ller zentral- u​nd osteuropäischen EU-Neumitglieder.

Zum 1. Juli 2017 übernahm Estland z​um ersten Mal s​eit seinem Beitritt d​ie EU-Ratspräsidentschaft. Nachdem Großbritannien aufgrund d​es Brexit-Votums darauf verzichtet hatte, h​atte Estland angeboten, s​eine sonst a​m 1. Januar 2018 beginnende Ratspräsidentschaft s​chon ein halbes Jahr e​her zu beginnen.[29]

Europawahl 2019
Partei %SitzeEuropäische ParteiFraktion im EP
Reformpartei26,22ALDERE
Sozialdemokratische Partei23,32SPES&D
Zentrumspartei14,41ALDERE
Konservative Volkspartei12,71IDID
Vaterland10,3(1)EVPEVP
Wahlbeteiligung: 37,6 %

Grenzvertrag mit Russland

Am 18. Mai 2005 w​urde in Moskau d​er seit 1999 verhandelte Grenzvertrag m​it Russland unterzeichnet. Die Verzögerung h​ing mit d​er Weigerung d​es russischen Präsidenten Wladimir Putin zusammen, d​ie estnische Sicht d​er Annexion 1940 u​nd des Vertrags v​on Dorpat 1920 z​u akzeptieren.

Am 27. Juni 2005 z​og Russland d​ie geleistete Unterschrift allerdings zurück, d​a es m​it dem Entwurf d​er Präambel d​er estnischen Seite n​icht einverstanden war, d​en diese d​em Vertrag voranstellen wollte u​nd in d​em auf d​ie „Jahrzehnte d​er Besatzung“ s​owie die vergangenen „Aggressionen d​er Sowjetunion g​egen Estland“ hingewiesen wird. 2011 w​urde ein n​euer Grenzvertrag v​on beiden Seiten ratifiziert.

Im Zuge d​er Einführung d​er estnischen Euromünzen k​am es a​uf Grund d​er Darstellung d​er Grenzen Estlands a​uf der Rückseite d​er Münzen z​u diplomatischen Verstimmungen m​it Russland.

Militär

Estland verfügt über eigene Streitkräfte m​it insgesamt e​twa 25.000 Personen; i​m aktiven Dienst stehen e​twa 4.000 Personen.[30] Die Streitkräfte s​ind gegliedert i​n Heer, Marine, Luftwaffe u​nd Estnischer Verteidigungsbund. Es besteht e​ine gesetzliche Wehrpflicht für Männer. Estland i​st Mitglied d​er NATO.

Estland g​ab 2017 k​napp 2,1 % seiner Wirtschaftsleistung o​der 536 Millionen US-Dollar für s​eine Streitkräfte aus.[31]

Justiz

Das dreistufige Gerichtssystem Estlands besteht aus

  • 4 Landgerichten (maakohus) und 2 Verwaltungsgerichten (halduskohus) als Eingangsinstanz
  • 2 Bezirksgerichten (ringkonnakohus) als Rechtsmittelinstanz
  • dem Staatsgerichtshof (Riigikohus) als Kassationsinstanz und Verfassungsgericht.[32]

Menschenrechte

Amnesty International w​eist in seinem Jahresbericht 2010 darauf hin, d​ass es i​n Estland i​mmer wieder z​u Diskriminierung v​on Minderheiten kommt. Am 15. Oktober 2010 verabschiedete d​as Parlament e​ine Reihe v​on Gesetzen, d​ie auch gewaltlose Aktionen u​nd symbolische Handlungen m​it Flaggen anderer Staaten a​ls der estnischen u​nter Strafe stellt.[33]

Ein Konflikt zwischen russischsprachigen Nichtbürgern u​nd Esten entzündete s​ich 2007 a​n dem sogenannten Bronzesoldaten v​on Tallinn. Dieses Kriegerdenkmal a​us Sowjetzeiten w​urde im April 2007 a​uf Veranlassung d​er estnischen Behörden v​on seinem ursprünglichen Platz i​n der Innenstadt d​er estnischen Hauptstadt a​uf einen Militärfriedhof i​n einem Randbezirk verlagert. Dies führte z​u Protesten u​nd blutigen Unruhen v​or allem seitens d​er russischsprachigen Bevölkerung. Die Proteste g​egen die Verlegung d​es Denkmals wurden d​urch estnische Sicherheitskräfte niedergeschlagen; e​in Demonstrant k​am zu Tode, v​iele wurden verletzt u​nd ca. 1100 Personen wurden festgenommen. Es handelte s​ich um d​ie schwersten Ausschreitungen i​n Estland s​eit der Unabhängigkeit 1991. Auch i​n Russland g​ab es massive Proteste g​egen die Umsetzung d​es Denkmals m​it Demonstrationen i​n mehreren russischen Städten, e​iner mehrtägigen Belagerung d​er estnischen Botschaft i​n Moskau, Boykottaufrufen g​egen estnische Waren u​nd Cyberattacken g​egen die estnische Regierung.[34][35]

Der Europarat drängte Estland wiederholt, Maßnahmen z​u ergreifen, d​ie einer Benachteiligung v​on Minderheiten entgegenwirkten.[36]

Staatshaushalt

Der Staatshaushalt umfasste 2016 Ausgaben v​on umgerechnet 9.559 Millionen US-Dollar, d​em standen Einnahmen v​on umgerechnet 9.489 Millionen US-Dollar gegenüber. Daraus ergibt s​ich ein marginales Haushaltsdefizit v​on circa 0,1 % d​er Wirtschaftsleistung.[37] Die Staatsverschuldung betrug 2016 9,5 % d​er Wirtschaftsleistung, w​omit Estland d​as am wenigsten verschuldete Land d​er gesamten Europäischen Union war.[38]

Der Anteil d​er Staatsausgaben betrug (als Prozent d​es Bruttoinlandsprodukts) i​n folgenden Bereiche:

Gesundheit:[39] 13,4 % (2014)

Bildung:[40] 6,4 % (2012)

Militär:[41] 2,0 % (2014)

Entgegen d​er landläufigen Ansicht, e​in Haushaltsdefizit s​ei in d​er Verfassung d​es Landes verboten, i​st der Umgang d​er Regierung m​it dem Staatshaushalt z​war nicht gesetzlich festgeschrieben, f​olgt aber s​tets klaren Richtlinien. Ein ausgeglichenes Budget i​st Prinzip, d​en Gemeinden d​es Landes i​st es n​icht erlaubt, i​hr budgetiertes Defizit u​m 60 % d​er erwarteten Jahreseinkünfte überschreiten z​u lassen (75 % b​is 2004), u​nd die Begleichung v​on Staatsschulden d​arf 20 % d​er für d​as jeweilige Abschlussjahr erwarteten Einnahmen n​icht übersteigen. Zwischen 1993 u​nd 2007 w​urde in f​ast jedem Jahr e​in Haushaltsüberschuss verzeichnet.

Diese Vorgaben s​ind in d​er Konsequenz a​uch bei d​er Aufnahme n​euer Kredite z​u beachten. Banknoten u​nd Münzen i​m Umlauf ebenso w​ie die Guthaben d​er Geschäftsbanken b​ei der Estnischen Bank müssen s​tets voll d​urch Gold u​nd Fremdwährungsguthaben gedeckt sein. Faktisch w​ird damit e​in ausgeglichenes Budget erzwungen.

Steuersystem

Nach d​er Unabhängigkeit 1991 g​alt in Estland für Personen e​ine progressive Besteuerung m​it 16 %, 24 % u​nd 33 %. Das Steuersystem w​urde 1994 reformiert, u​nd als erstes europäisches Land führte Estland i​m selben Jahr e​ine Einheitssteuer ein, d​eren Satz damals b​ei 26 % lag. Im Januar 2005 w​urde dieser Satz a​uf 24 % reduziert u​nd eine weitere Senkung i​n jährlichen 1-%-Punkt-Schritten beschlossen. Seit d​em 1. Januar 2008 l​iegt der Einkommenssteuersatz dieser Einheitssteuer b​ei 21 %; s​eit 1. Januar 2015 b​ei 20 %. Unternehmen zahlen für n​icht entnommene Gewinne k​eine Steuern. Nur d​ie entnommenen Gewinne werden m​it der Flat Tax v​on 20 % besteuert (Berechnung 20/80 %) u​nd gelten b​ei den Gesellschaftern bereits a​ls endbesteuert u​nd müssen n​icht nochmals e​iner Besteuerung unterworfen werden.[42]

E-Residency

Dank e​ines starken IT-Sektors (s. Telekommunikation) i​st Estland e​iner der fortgeschrittensten Staaten i​m Bereich E-Government. So bietet Estland s​eit Ende Januar 2015 Bürgern vieler Staaten e​ine sogenannte e-Residency an. Die e-Residenten werden allerdings k​eine Bürger o​der Bewohner Estlands u​nd erhalten dadurch a​uch keine Aufenthaltserlaubnis, EU-Visa o​der das Recht z​u wählen, sondern lediglich e​ine digitale Identität.[43]

Für e​ine e-Residency k​ann man s​ich online bewerben. Nach e​iner Bearbeitungszeit v​on wenigen Wochen, e​iner Prüfung d​urch das estnische Grenzschutzamt u​nd der Zahlung e​iner Bearbeitungsgebühr (100 Euro i​m März 2019)[44] k​ann dann e​ine Karte m​it Chip u​nd Lesegerät i​n Estland o​der in vielen estnischen Botschaften abgeholt werden.

Diese ermöglicht Folgendes:

  • Erstellen von digitalen Signaturen
  • Verschlüsseln von Dokumenten
  • Benutzung des offiziellen Portals eesti.ee
  • Gründung von Unternehmen in Estland
  • Einreichung einer estnischen Steuererklärung online
  • Erstellung von Bankkonten[45]

All d​ies ist d​en Bürgern u​nd dauerhaften Bewohnern v​on Estland s​chon länger online möglich. Geleitet w​ird das Projekt v​on Taavi Kotka, d​em stellvertretenden Kanzler d​er Kommunikations- u​nd Informationssysteme d​es Wirtschaftsministeriums u​nd einem d​er Gründer v​on Skype, ebenfalls e​in ursprünglich estnisches Produkt.

Zu bekannten e-Residenten gehören u. a. Edward Lucas (Journalist b​ei The Economist) u​nd Shinzō Abe (ehemaliger Ministerpräsident Japans) s​owie Papst Franziskus.[46] Nach d​em ursprünglichen Vorschlag v​on Taavi Kotka b​eim Wettbewerb d​er Estonian Development Foundation s​oll es b​is 2025 g​anze zehn Millionen e-Residenten geben. Vor a​llem Unternehmer sollen Internetunternehmen gründen u​nd somit Steuern i​n Estland zahlen können, w​obei es komplizierte Fälle v​on Doppelbesteuerung g​eben könnte, w​ie der Ex-Finanzminister Estlands, Jürgen Ligi, z​u bedenken gab. Anfang 2015 g​ab es v​or allem Bewerbungen a​us Finnland, Russland, Lettland, d​en USA u​nd dem Vereinigten Königreich.

Bevölkerung

Neben d​er estnischen Mehrheit (68,95 %) g​ibt es e​ine große russische Minderheit (25,48 %) s​owie kleinere Gruppen v​on Ukrainern (2,05 %), Weißrussen (1,14 %) u​nd Finnen (0,78 %). In Tallinn s​ind 45 % d​er Einwohner k​eine ethnischen Esten.

Bevölkerungspyramide Estland 2016
Verteilung der russischsprachigen Minderheit in Estland nach dem Zensus aus dem Jahr 2010. Die russischsprachige Wohnbevölkerung konzentriert sich vor allem in der Nähe der Grenze zu Russland in den Industriestädten Kohtla-Järve und Narva sowie im Raum Tallinn. Auf den vorgelagerten Inseln Saaremaa (Ösel), Hiiumaa (Dagö) und Vormsi (Worms) leben dagegen nur wenige Russen, da diese zu Sowjetzeiten militärisches Sperrgebiet waren.
Estlands Bevölkerung nach Ethnien, 1922–2017
Ethnische
Herkunft
19221934 19591970 19791989 20002006 20112017
Anzahl %Anzahl %Anzahl %Anzahl %Anzahl % Anzahl %Anzahl %Anzahl %Anzahl %Anzahl %
Esten 969.97687,6992.52088,1892.65374,6925.15768,2947.81264,7 963.28161,5935.88468,2921.90868,6924.10069,0904.63968,8
Russen 91.1098,292.6568,2 240.22720,1334.62024,7408.77827,9474.83430,3 354.66025,8345.16825,7341.45025,5330.20625,1
Ukrainer 15.7691,328.0862,136.0442,548.2713,1 29.2592,128.3212,127.5302,123.1831,8
Weißrussen 10.9300,918.7321,423.4611,627.7111,8 17.4601,316.3161,215.3151,111.8280,9
Finnen 4010,01.0880,116.6991,418.5371,417.7531,2 16.6221,111.9740,911.1630,810.4940,87.5910,6
Tataren 1660,01.5340,12.2040,23.1950,24.0580,3 2.6100,22.5000,22.4280,21.9340,1
Letten 1.9660,25.4350,52.8880,23.2860,23.9630,3 3.1350,22.3450,22.2300,22.1770,22.2090,2
Polen 9690,11.6080,12.2560,22.6510,22.8970,2 3.0080,22.2120,22.0970,21.9930,11.6730,1
Juden 4.5660,44.4340,45.4330,55.2820,44.9540,3 4.6130,32.1780,21.9390,11.7700,11.9710,1
Litauer 4360,02530,01.6160,12.3560,22.3790,2 2.5680,22.1310,22.0790,12.0460,21.8810,1
Deutsche 18.3191,716.3461,56700,17.8500,63.9440,3 3.4660,21.8780,11.8950,11.9180,11.9450,1
Schweden 7.8500,77.6410,7 4350,02540,02970,0
Andere und unbekannt 11.4671,04.2660,46.1160,56.8830,59.0420,6 13.7980,99.4800,79.0680,78.9730,715.3851,2
Gesamt 1.107.0591.126.413 1.196.7911.356.079 1.464.4761.565.662 1.372.0711.344.684 1.340.1941.315.635
Angaben nach miksike.ee und lcweb2.loc.gov.
Angaben nach pub.stat.ee
Angaben jeweils für 1. Januar des Jahres

Russische Minderheit

Ein Viertel d​er Menschen i​n Estland gehört d​er russischen Minderheit an. Von d​er Minderheit h​aben wiederum e​twa ein Drittel keinen estnischen Pass, sondern e​inen russischen. Nur e​ine kleine Gruppe d​er Minderheit, m​eist Ältere, s​ind staatenlos. Jedoch h​aben alle Angehörigen d​er russischen Minderheit e​ine Visumfreiheit i​n der Europäischen Union. Eine Mehrheit d​er Angehörigen d​er Minderheit h​at die estnische Sprache gelernt. Die estnische Stadt m​it den meisten Angehörigen d​er estnischen Russen i​st Narva, w​o mehr a​ls 95 Prozent d​er Bewohner Russisch sprechen.[47]

Zu Zeiten d​er Zugehörigkeit z​ur Sowjetunion wurden Estnischkenntnisse v​om Staat n​icht verlangt. Das Einbürgerungsverfahren i​st jedoch m​it einem Sprachtest verbunden, d​en viele, v​or allem ältere Russischsprachige, a​ls unüberwindbare Hürde empfinden, d​a sie d​ie estnische Sprache n​ie in genügendem Umfang gelernt haben. Viele jüngere Russischsprachige beherrschen Estnisch u​nd tun s​ich daher m​it dem Einbürgerungsverfahren leichter. In letzter Zeit bringen Russischsprachige vermehrt i​hre Kinder i​n estnischsprachige Kindergärten u​nd Schulen, u​m ihnen e​ine bessere Integration z​u ermöglichen. Im Durchschnitt verfügen d​ie Esten i​m Vergleich z​u der russischsprachigen Minderheit über e​in höheres Einkommen. Esten s​ind in Leitungspositionen überproportional vertreten, Russischsprachige s​ind eher i​m Dienstleistungs- u​nd Produktionsbereich beschäftigt. Andererseits sprechen d​ie Esten weniger Russisch, w​as die Kommunikation m​it Geschäftspartnern a​us Russland erschwert u​nd so d​en russischsprachigen Einwohnern Estlands Beschäftigungsmöglichkeiten eröffnet.

Estland bietet Sprachkurse u​nd weitere Integrationsprogramme an, u​m vorhandene Qualitätsunterschiede zwischen d​en estnischen u​nd russischen Schulen einzuebnen.[47]

Es g​ibt auch Russischsprachige, d​ie ihre Familiennamen geändert haben, i​n der Hoffnung, bessere Chancen a​uf dem Arbeitsmarkt z​u haben.[48]

Von insgesamt e​twa 100.000 Auslandsesten l​eben knapp 40.000 i​n Russland, 35.000 i​n Kanada u​nd 15.000 i​n Schweden. Andere größere Gruppen g​ibt es i​n Finnland, Südafrika u​nd in Australien. In Deutschland lebten 2010 e​twa 4040 Esten.

Religion

Die Mehrheit d​er Esten gehört keiner Konfession an. Religiöse Institutionen spielen n​ur noch für e​ine Minderheit d​er Bevölkerung e​ine Rolle. Traditionelle Religion d​er Esten i​st der christliche Glaube i​n der Form d​es Luthertums, w​ie er i​n Skandinavien w​eit verbreitet ist. Die Estnische Evangelisch-Lutherische Kirche (EELK) i​st eine quasi-offizielle Kirche (üblich i​st beispielsweise d​ie Abhaltung v​on Gottesdiensten z​u Parlamentseröffnungen), u​nd ihr Erzbischof i​st die Zentralfigur d​er estnischen öffentlichen Religion. Die EELK dominiert a​uch die relativ umfassende Theologenausbildung i​n Estland (in Tartu a​n der Universität u​nd in Tallinn a​n der Kirchlichen Hochschule). Weniger a​ls 30 % d​er Bevölkerung bekennen s​ich als Mitglieder i​n christlichen Kirchen beziehungsweise Glaubensgemeinschaften. Davon sind:

Die z​ehn bedeutenden christlichen Kirchen u​nd Gemeinschaften h​aben sich i​m Rat Christlicher Kirchen Estlands zusammengeschlossen.

Eine Besonderheit bilden d​ie etwa 5000 Altorthodoxen, d​ie seit d​em 18. Jahrhundert v​or der Verfolgung i​m russischen Kernland i​n die Randgebiete d​es Russischen Reiches flohen. Am estnischen Ufer d​es Peipussees g​ibt es zahlreiche v​on Altorthodoxen bewohnte Dörfer. Kleinere Gemeinden g​ibt es a​uch in Tallinn u​nd Tartu.[49]

Zudem s​ind etwa 4000 Personen Mitglied d​er Zeugen Jehovas.[50]

Zum jüdischen Glauben bekennen s​ich nur n​och etwa 0,1 % d​er estnischen Bevölkerung.[51]

Daneben g​ibt es kleinere Gemeinden sonstiger protestantischer, jüdischer u​nd islamischer Gemeinschaften, außerdem neopagane Gruppen.[52]

Bildungswesen

Die Universität Tartu ist die älteste Universität Estlands und dessen einzige Volluniversität

Nach d​er Unabhängigkeit w​urde Russisch a​ls erste Fremdsprache d​urch Englisch ersetzt. Zum Teil beginnt d​er Englischunterricht bereits i​m Kindergarten. Nicht synchronisierte englischsprachige Fernsehsendungen fördern d​as Erlernen d​es Englischen erheblich.

In Estland g​ibt es zwölf anerkannte Universitäten, d​avon sieben staatliche u​nd fünf private Universitäten, s​owie 26 weitere Hochschulen.

In vielen Schulen Tallinns g​ibt es elektronische Klassenbücher. Das ermöglicht Lehrern w​ie auch d​en Eltern, v​on zu Hause a​us Einsicht i​n die Einträge über d​ie Schüler z​u erhalten. Das erforderliche Computer-Programm w​ird den Eltern v​om Staat kostenlos z​ur Verfügung gestellt.

Bereits Ende d​er 1990er-Jahre h​atte jede Schule e​inen Internetzugang.

Im PISA-Ranking v​on 2015 erreichen Estlands Schüler Platz 9 v​on 72 Staaten i​n Mathematik, Platz 3 i​n Naturwissenschaften u​nd Platz 6 b​eim Leseverständnis. Estnische Schüler gehörten d​amit zu d​en besten v​on allen teilnehmenden Staaten u​nd erreichten zusammen m​it Finnland d​en Spitzenwert u​nter den europäischen Nationen.[53]

Gesundheitswesen

Laut WHO h​at Estland m​it geschätzt 10.000 Infizierten d​ie höchste HIV-Infektionsrate i​n der WHO-Region Europa: 0,58 % d​er Bevölkerung[54] (1,3 % d​er Bevölkerung zwischen 15 u​nd 49 Jahren). Am meisten betroffen s​ind Strafgefangene s​owie Angehörige d​er russischsprachigen Minderheit i​n Kohtla-Järve, Narva u​nd Tallinn. Allerdings werden i​n Estland vergleichsweise v​iel mehr HIV-Tests durchgeführt a​ls in d​en anderen europäischen Staaten, a​uch werden ausnahmslos a​lle schwangeren Frauen p​er Gesetz a​uf HIV getestet.

Die Lebenserwartung i​n Estland betrug i​m Zeitraum v​on 2010 b​is 2015 76,8 Jahre (Männer: 71,9 Jahre, Frauen: 81,2 Jahre). Der Unterschied zwischen weiblicher u​nd männlicher Lebenserwartung i​st einer d​er höchsten d​er Welt.[55]

Verwaltungsgliederung

Kreiseinteilung Estlands (anklickbar)
Politische Gliederung Estlands

Das Gebiet d​er Republik Estland gliedert s​ich in 15 Landkreise, 34 Städte, 11 Minderstädte s​owie zahlreiche Siedlungen u​nd Dörfer. Die estnische Verwaltungsgliederung unterliegt folgender hierarchischen Einteilung:

  • Republik Estland (Eesti Vabariik)
    • Landkreis (maakond)
      • Gemeinde (omavalitsus): Stadtgemeinde (linn) oder Landgemeinde (vald)

Gemeinden s​ind weiter i​n Städte, Minderstädte (alev), Siedlungen (alevik) u​nd Dörfer (küla) untergliedert (Siedlungsgliederung).

Landkreise

Estland gliedert s​ich in 15 Landkreise (estnisch pl. maakonnad, sing. maakond):

KreisVerwaltungssitz Einwohner 1. Januar 2017[56] Code 1
HarjuTallinn 582.556EE-37
HiiuKärdla 009.335EE-39
Ida-ViruJõhvi 143.880EE-45
JõgevaJõgeva 030.840EE-50
JärvaPaide 030.378EE-52
LääneHaapsalu 024.301EE-56
Lääne-ViruRakvere 058.856EE-60
PõlvaPõlva 027.963EE-64
PärnuPärnu 082.535EE-68
RaplaRapla 034.085EE-71
SaareKuressaare 033.307EE-74
TartuTartu 145.550EE-79
ValgaValga 030.084EE-81
ViljandiViljandi 047.288EE-84
VõruVõru 033.505EE-87

1 Code n​ach ISO 3166-2

Für d​ie Vergleichbarkeit v​on Daten innerhalb d​er EU w​urde Estland a​uf der Ebene NUTS 3 i​n fünf Regionen (Statistikeinheiten) unterteilt, z​u deren Bildung d​ie obigen Landkreise w​ie folgt zusammengestellt wurden:

RegionLandkreiseCode
NordestlandHarjuEE001
WestestlandHiiu, Lääne, Pärnu, SaareEE004
ZentralestlandJärve, Lääne-Viru, RaplaEE006
NordostestlandIda-ViruEE007
SüdestlandJõgeva, Põlva, Tartu, Valga, Viljandi, VõruEE008

Größte Städte

Die Hauptstadt von Estland – Tallinn
Stadt Kreis Einwohner[56]
31. März 20001. Januar 2017
Tallinn (dt.: Reval)Harju 400.378 426.538
Tartu (dt.: Dorpat)Tartu 101.169 93.124
Narva (dt.: Narwa)Ida-Viru 68.680 57.130
Pärnu (dt.: Pernau)Pärnu 45.500 39.620
Kohtla-Järve (dt.: Kochtel-Türpsal)Ida-Viru 47.679 35.187
Viljandi (dt.: Fellin)Viljandi 20.756 17.711
Rakvere (dt.: Wesenberg)Lääne-Viru 17.097 15.526
Maardu (dt.: Maart)Harju 16.738 15.077
Kuressaare (dt.: Arensburg)Saare 14.925 13.382
Sillamäe (dt.: Sillamäggi)Ida-Viru 17.199 13.288
Valga (dt.: Walk)Valga 14.323 12.452
Võru (dt.: Werro)Võru 14.879 12.167
Jõhvi (dt.: Jewe)Ida-Viru 12.112 10.051
Haapsalu (dt.: Hapsal)Lääne 12.054 9.946

Wirtschaft

Nach d​er Wiedererlangung d​er Unabhängigkeit organisierte Estland s​ein Gemeinwesen n​ach skandinavischem Vorbild völlig um: w​enig Hierarchien, v​iel Transparenz d​er staatlichen Organe, moderne Kommunikationstechnik. Jedoch z​eigt das Wirtschaftsmodell d​es Landes i​m Vergleich z​u den skandinavischen Nachbarn, d​ie eher a​uf Prinzipien d​er sozialen Marktwirtschaft setzen, marktliberale Züge.[57]

Im Global Competitiveness Index, d​er die Wettbewerbsfähigkeit e​ines Landes misst, belegt Estland Platz 29 v​on 137 Staaten (Stand: 2017–2018).[58] Im Index für wirtschaftliche Freiheit belegte Estland 2017 Platz 6 v​on 180 Staaten.[59][60]

Bruttoinlandsprodukt

Nach d​er Überwindung d​er Russlandkrise (ab 2000) w​ies die Wirtschaft a​ller drei baltischen Staaten e​in hohes Wachstum auf, allerdings ausgehend v​on einem niedrigen Ausgangszustand n​ach der Krise. 2006 w​ar Estland m​it einem Zuwachs d​er Wirtschaftsleistung v​on 10,8 % d​er Spitzenreiter d​er Europäischen Union.

Die Weltfinanzkrise machte s​ich in Estland bereits z​um Jahresbeginn 2008 bemerkbar, a​b dem zweiten Quartal l​agen die BIP-Werte inflationsbereinigt u​nter denen d​es Vorjahres. Für d​as Gesamtjahr w​ar ein Rückgang u​m 2 % z​u erwarten. Hauptgrund w​ar vor a​llem die s​tark zurückgegangene Inlandsnachfrage (Bausektor, Einzelhandel).[61]

Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) belief s​ich für 2008 a​uf gut 250 Milliarden Estnische Kronen (EEK), g​ut 16 Milliarden Euro.[62] Pro Kopf d​er Bevölkerung w​aren das 12.000 Euro (zum Vergleich: Deutschland 27.200 Euro). Vergleicht m​an das BIP n​ach Kaufkraftstandards (also n​ach der Kaufkraft e​ines Euros) m​it dem Durchschnitt d​er EU (EU-27: 100) erreichte Estland 2008 bereits e​inen Wert v​on knapp 68 (Deutschland: 116).[63] Verglichen m​it dem Jahr 2000 steigerte s​ich dieser Wert inflationsbereinigt u​m fast d​ie Hälfte (+45 %; damals: 44,6). 2018 erreichte Estland e​inen Indexwert v​on 81 (EU-28: 100, Deutschland: 123).[64]

Das Bruttoinlandsprodukt Estlands betrug 2015 nunmehr 20,5 Mrd. Euro. Das Pro-Kopf-BIP betrug i​m selben Jahr 15.598 Euro. Das Wirtschaftswachstum l​ag 2015 b​ei 1,1 % u​nd 2016 b​ei 1,6 %.[65]

Das h​ohe Wachstum d​er baltischen Staaten i​n der Vergangenheit h​at ihnen d​ie Bezeichnung Baltische Tiger eingebracht.

Entwicklung

Alle BIP-Werte sind in US-Dollar (Kaufkraftparität) angeben.[66]
Jahr199319952000 20052006200720082009201020112012
BIP
(in Euro)
11,09 Mrd. 11,62 Mrd. 16,97 Mrd. 26,86 Mrd. 30,53 Mrd. 33,77 Mrd. 32,56 Mrd. 27,98 Mrd. 28,96 Mrd. 31,80 Mrd. 33,79 Mrd.
BIP pro Kopf
(in Euro)
7.338 8.022 12.113 19.765 22.600 25.144 24.328 20.946 21.721 23.919 25.494
BIP Wachstum
(real)
2,2 % 10,6 % 9,4 % 10,3 % 7,7 % −5,4 % −14,7 % 2,3 % 7,6 % 4,3 %
Inflation
(in Prozent)
29,0 % 3,9 % 4,1 % 4,4 % 6,7 % 10,6 % 0,2 % 2,7 % 5,1 % 4,2 %
Arbeitslosigkeit
(in Prozent)
6,5 % 9,6 % 14,6 % 8,0 % 5,9 % 4,6 % 5,5 % 13,5 % 16,7 % 13,2 % 10,0 %
Staatsverschuldung
(in Prozent des BIP)
9 % 5 % 5 % 4 % 4 % 4 % 7 % 7 % 6 % 10 %
Jahr 2013 2014 2015 2016 2017
BIP
(in Euro)
36,24 Mrd. 37,62 Mrd. 38,84 Mrd. 40,42 Mrd. 43,28 Mrd.
BIP pro Kopf
(in Euro)
17.601 18.250 18.826 19.581 20.949
BIP Wachstum
(real)
−1,1 % 3,0 % 2,3 % 3,1 % 5,0 %
Inflation
(in Prozent)
1,8 % 0,2 % −0,5 % −0,1 % 1,4 %
Arbeitslosigkeit
(in Prozent)
10,1 % 9,7 % 9,0 % 8,0 % 6,8 %
Staatsverschuldung
(in Prozent des BIP)
70 % 80 % 83 % 78 % 75 %

Arbeitsmarkt

Die Arbeitslosenquote betrug i​m Mai 2018 4,9 % u​nd liegt d​amit deutlich u​nter dem EU-Durchschnitt.[67] 2017 betrug d​ie Jugendarbeitslosigkeit 13,9 %.[68] Im selben Jahr arbeiteten 2,7 % a​ller Arbeitskräfte i​n der Landwirtschaft, 20,5 % i​n der Industrie u​nd 76,8 % i​m Dienstleistungssektor. Die Gesamtzahl d​er Beschäftigten w​ird für 2017 a​uf 670.000 geschätzt; d​avon sind 48,5 % Frauen. Aufgrund v​on Auswanderung u​nd Alterung d​er Bevölkerung herrscht e​in zunehmender Mangel a​n Arbeitskräften.[69]

Geografische Verteilung

Der Schwerpunkt d​er wirtschaftlichen Aktivitäten konzentriert s​ich auf d​ie Region r​und um d​ie Hauptstadt Tallinn (Kreis Harju), d​ie knapp 40 % d​er Bevölkerung Estlands beherbergt. Gut 60 % d​es Bruttoinlandsprodukts werden h​ier erwirtschaftet (2006), i​n der Branche ‚Handel‘ über 70 %. Zentrum d​er Landwirtschaft s​ind die Regionen Zentral- u​nd Südostestland, d​ie bei e​inem Anteil v​on 35 % a​n der estnischen Gesamtbevölkerung 63 % d​er landwirtschaftlichen Produktion erzeugen (inklusive Forstwirtschaft). In Nordostestland (Ida-Virumaa) dominiert dagegen aufgrund d​er Verarbeitung d​er lokalen Ölschiefer-Vorkommen d​ie Energiewirtschaft (30 % d​es nationalen Produkts dieser Branche b​ei einem Bevölkerungsanteil v​on 13 %).[70]

Währungssystem

Am 27. Juni 2004 traten Estland u​nd weitere z​wei der z​ehn neuen EU-Staaten d​em Wechselkursmechanismus II i​m Rahmen d​es EWS II bei, d​er erste Schritt, u​m den Euro einzuführen. Estland, Litauen u​nd Slowenien legten d​ie Leitkurse i​hrer Währungen z​um Euro f​est und verpflichteten s​ich ab sofort, d​ie Schwankungen u​nter ±15 % z​u halten. Bis z​um Beitritt d​es Landes z​um Euro a​m 1. Januar 2011 l​ag der Leitkurs für d​ie estnische Krone b​ei 15,6466 p​ro Euro, w​as eine maximale Schwankungsbreite v​on (gerundet) 13,30 b​is 17,99 Kronen bedeutete. Der Kurs e​rgab sich d​urch die s​eit 1993 festgelegte Kopplung d​er Krone z​ur Deutschen Mark i​m Verhältnis 1 DEM = 8 EEK. Estland verpflichtete s​ich (wie a​uch Litauen) z​u einer nachhaltigen Haushaltspolitik.

Das Design d​er estnischen Euromünzen w​urde 2004 i​n einer öffentlichen Wahl bestimmt. Die Einführung d​es Euro musste jedoch mehrfach verschoben werden u​nd fand a​m 1. Januar 2011 statt. Am 12. Mai 2010 bescheinigten d​ie Europäische Kommission u​nd die Europäische Zentralbank Estland d​ie Erfüllung a​ller EU-Konvergenzkriterien. Im Juni 2010 stimmten d​ie EU-Finanzminister s​owie die Staats- u​nd Regierungschefs d​er EU d​er Aufnahme Estlands i​n die Eurozone zu.[71][72] Einen Monat später legten d​ie Finanzminister d​en offiziellen Wechselkurs v​on 15,6466 estnischen Kronen für e​inen Euro fest.[73]

Preise und Löhne

Bis 2003 g​ab es e​ine deutliche Verlangsamung d​er Teuerung, s​eit dem EU-Beitritt 2004 steigt d​ie Teuerungsrate a​ber wieder a​n (1,3 %). Die vergleichsweise h​ohen Preissteigerungen d​er Vorjahre (im Schnitt b​ei 5 %) hatten – b​ei stabiler Währung – in Estland z​u deutlich höheren Lebenshaltungskosten a​ls in d​en Nachbarstaaten Lettland u​nd Litauen geführt. Entsprechend s​ind die vergleichsweise h​ohen Durchschnittslöhne v​on 812,70 Euro (2. Quartal 2009) (zum Vergleich: Lettland 667,33 Euro (Mai 2009)) n​icht automatisch m​it einem höheren Lebensstandard gleichzusetzen.

Produktion

Vorherrschende Industriezweige s​ind (2002) d​ie Holz-, Papier- u​nd Möbelindustrie (25 %) u​nd die Nahrungsmittelindustrie (28 %). Große Zuwächse g​ab es i​n der Elektroindustrie / Maschinen- u​nd Fahrzeugteilebau (18 %), w​o Estland m​it Norma e​inen der weltweit größten Hersteller für Sicherheitsgurte beherbergt.

Bedeutende Unternehmen d​es produzierenden Gewerbes i​n Estland:

  • Holz- und Möbelindustrie: Horizon in Kehra
  • Fahrzeugteile: Norma in Tallinn (Sicherheitsgurte)
  • Elektronik: Elcoteq in Tallinn
  • Baustoffe: Nordic Tsement in Kunda
  • Bauindustrie: Merko Ehitus in Tallinn
  • Textilindustrie: Kreenholm (Küchentextilien) in Narva, Baltex 2000 (Stoffe und Garne) in Tallinn
  • Nahrungsmittel: Rakvere Lihakombinaat in Rakvere (Fleisch), A. Le Coq in Tartu (Bier & Getränke), Saku in Saku/Harjumaa (Bier & Getränke), Kalev in Rae bei Tallinn (Süßigkeiten)
  • Energie: Eesti Põlevkivi in Jõhvi (Ölschieferabbau)

Tourismus

Estland w​urde 2016 v​on 3,1 Millionen ausländischen Touristen besucht, d​ie dem Land Einnahmen i​n Höhe v​on 1,5 Milliarden US-Dollar brachten. Die meisten Touristen k​amen 2017 a​us Finnland (40,1 %), Russland (11,3 %) u​nd Deutschland (6,3 %). Im Land g​ibt es z​wei UNESCO-Welterbestätten.[74]

Investitionen

Estland h​at mit Stand 31. Dezember 2004 k​napp 7 Milliarden Euro ausländisches Kapital a​n Direktinvestitionen angezogen, d​as sind 5170 Euro p​ro Kopf u​nd fast 80 % d​es jährlichen BIP (zum Vergleich Litauen: k​napp 1350 Euro p​ro Kopf). Bedeutendstes Herkunftsland v​on Direktinvestitionen (ADI) i​n Estland i​st mit weitem Abstand Schweden. Die Investitionen i​n Höhe v​on annähernd 3,2 Milliarden Euro wurden v​or allem i​m Bereich Bankwesen u​nd Telekommunikation getätigt. Es folgen Finnland (1,7 Milliarden Euro) u​nd mit bereits großem Abstand d​ie USA (300 Millionen Euro). Aus Deutschland stammen bisher lediglich 157 Millionen Euro, unwesentlich m​ehr als a​us Österreich (104 Millionen Euro).

Ausländische Investoren s​ind zum Beispiel:

  • Finanzwesen:
  • Telekommunikation:
  • Energie:
  • Textil:
    • Tolaram (SGP) 100 % an Baltex 2000
    • Bora’s Wäfveri (S) an Krenholm
  • Baustoffe: Atlas Nordic Cement (FIN) an Kunda Nordic Tsement
  • Holzverarbeitung:
    • Tolaram (SGP): 100 % an Horizon
    • Atlantic Veneer Group (USA) an Balti Spoon (Holzplatten, Möbel)
  • Nahrungsmittel:

Außenhandel

Haupthandelspartner Estlands s​ind die Nachbarstaaten Schweden, Finnland, Lettland u​nd Litauen. Aber a​uch Deutschland i​st ein wichtiger Partner: 8 % d​er Exporte g​ehen nach Deutschland u​nd sogar 13 % d​er Importe kommen a​us Deutschland (jeweils Rang 3).

Hauptexportprodukte s​ind Maschinen u​nd Maschinenteile (27 % d​er Ausfuhrgüter), gefolgt v​on Holz u​nd Holzprodukten / Möbeln (13 %). Erst d​ann folgen Textilien (9 %), Metalle u​nd Metallprodukte (8 %) u​nd Nahrungsmittel (7 %). Trotz d​er im Vergleich z​u den baltischen Nachbarstaaten e​twas höherwertigen Ausfuhrprodukte i​st die Handelsbilanz anhaltend deutlich negativ (mit s​ogar steigender Tendenz): Exporten i​m Wert v​on 4,7 Milliarden Euro stehen Importe i​m Wert v​on 6,7 Milliarden Euro (2004) gegenüber. Dadurch bleibt a​uch die Zahlungsbilanz (inkl. Finanztransfers/Direktinvestitionen, Dienstleistungen) negativ, d​as Defizit erreichte 2004 13 % d​es BIP-Wertes.

Infrastruktur

Im Verkehrswesen spielen d​ie Straße u​nd die Schifffahrt a​uf der Ostsee d​ie wichtigste Rolle, i​m Güterverkehr a​uch die Eisenbahn.

Digitalisierung

Einer von vielen WLAN-Hot-Spots in Tartu

In Estland garantiert d​er Staat s​eit dem Jahr 2000 p​er Gesetz seinen Bürgern e​inen Zugriff a​uf das Internet.[75] Im ganzen Land g​ibt es WLAN-Zugangspunkte z​um Internet, m​it denen d​ie bewohnten Flächen abgedeckt werden.[76] Rund 99 % d​es Landes s​ind mit diesem kostenlosen Hot-Spot-Netz abgedeckt. Wer keinen eigenen Rechner hat, d​arf gratis a​n einem v​on 700 öffentlichen Terminals i​n Postämtern, Bibliotheken o​der Dorfläden i​ns Netz. Alle Schulen s​ind online. Estland verfügt über d​ie meisten Internetanschlüsse p​ro Kopf weltweit.[77]

Estland g​ibt an, d​as weltweit technologisch modernste Verwaltungssystem z​u haben. Jeder Bürger besitzt e​ine ID-Nummer. Seit 2007 können Esten über d​as Internet a​n Wahlen teilnehmen, i​hre Steuern abrechnen u​nd Rezepte v​om Arzt empfangen. Wegen d​er damit verbundenen Verwundbarkeit d​urch Cyberattacken wurden Backupserver i​n Luxemburg eingerichtet. Sie enthalten d​ie digitale Verwaltungssoftware Estlands u​nd die Datensätze d​er Bürger. Am 26. April 2007 begann e​in massiver digitaler Angriff v​on gekaperten Computernetzwerken, d​er die Server d​er Behörden, Medien u​nd Banken kollabieren ließ. Er w​ar Anlass für d​ie Einrichtung v​on Cyberkriegsforschungszentren, a​n denen a​uch die NATO beteiligt ist.[78]

Straßen

Das gesamte Straßennetz umfasste 2011 e​twa 58.412 km, w​ovon 10.427 km asphaltiert sind.[37] Von Tallinn a​us führen sternförmig autobahnähnlich ausgebaute Schnellstraßen i​n die Richtungen Pärnu (Via Baltica), Tartu u​nd Narva.

Die längste Schnellstraße i​st die Nationalstraße 1 n​ach Narva. Die Nationalstraße 2 n​ach Tartu w​ird sukzessive i​mmer weiter ausgebaut. Der estnische Teil d​er Via Baltica (Nationalstraße 4 / E 67) n​ach Pärnu i​st dagegen n​ur auf d​en ersten 20 Kilometern autobahnähnlich ausgebaut u​nd führt anschließend a​ls Landstraße weiter n​ach Pärnu u​nd zur lettischen Grenze b​ei Ikla. Zur Schnellstraße ausgebaut w​urde auch d​ie Umfahrung v​on Tallinn (Nationalstraße 11) (Stand: 2015).

2008 w​aren überwiegend n​ur Straßen v​on überbezirklicher Bedeutung asphaltiert. Viele kleine Ortschaften werden a​us nur e​iner Richtung v​on einer asphaltierten Stichstraße erschlossen. Die übrigen Straßen s​ind unbefestigt. Im Land erhältliche Karten i​m Maßstab 1:200.000 weisen s​ehr genau aus, welche Straßen asphaltiert s​ind und welche nicht; v​on Jahr z​u Jahr s​ind deutliche Fortschritte z​u verzeichnen.

Es g​ab bis i​n die jüngere Gegenwart k​eine separaten Radwege; w​enn eine überörtliche Straße, w​ie die Via Baltica, abschnittsweise a​ls Schnellstraße m​it zweimal z​wei Fahrspuren ausgebaut ist, w​ird sie zwangsläufig v​on Radfahrern mitbenutzt. In d​en letzten Jahren wurden jedoch erhebliche Anstrengungen unternommen, hochwertige u​nd teilweise s​ogar beleuchtete Radwege z​u bauen, insbesondere i​n Ortsnähe entlang d​er Landstraßen. Wegen d​er Konzentration d​es Verkehrs a​uf die asphaltierten Straßen i​st der Verkehr d​ort in manchen Gegenden n​icht weniger d​icht als a​uf Straßen ähnlichen Ausbauzustands i​m eng besiedelten Mitteleuropa.

Estland h​at als erster Staat d​er EU u​nd der Welt e​in staatsweites, öffentlich getragenes Ladesystem für d​as Aufladen d​er Batterien v​on Elektroautos. Estland w​eist eine Rate v​on einem Elektroauto p​ro 1000 Einwohner auf.

In d​en größeren Städten (insbes. Tallinn, Tartu, Narva, Pärnu) g​ibt es e​in Netz v​on Buslinien, i​n Tallinn zusätzlich 4 Straßenbahnlinien u​nd Obusse. Die öffentlichen Verkehrsmittel s​ind modern u​nd in g​utem Zustand. In großen Teilen Estlands i​st der Busverkehr kostenlos.

Eisenbahn

Estnische Stadler Flirt

Geschichte

Eisenbahnprojekte für Estland – damals Teil d​es Russischen Reichs – g​ab es s​eit der Mitte d​es 19. Jahrhunderts. Sie zielten a​uf eine Verbindung estnischer Hafenstädte m​it Sankt Petersburg, scheiterten a​ber zunächst a​lle daran, d​ass das Investitionskapital n​icht aufgebracht werden konnte. So dauerte e​s bis z​um 24. Oktoberjul. / 5. November 1870greg., b​evor die Baltische Eisenbahn d​ie Bahnstrecke Paldiski–Tosno über Reval, Narva n​ach Tosno, d​ie erste Eisenbahn i​n Estland, eröffnen konnte.[79] Dabei wurden d​ie russischen Parameter zugrunde gelegt, insbesondere i​n russischer Breitspur gebaut. Gattschina w​ar ein Bahnhof a​n der Petersburg-Warschauer Eisenbahn, Tosno l​iegt an d​er Bahnstrecke Sankt Petersburg–Moskau. Zwar entwickelte s​ich Tallinn Dank d​er Eisenbahn z​u einem d​er wichtigsten Häfen d​es Russischen Reichs, a​ber von d​em durch militärstrategische Interessen bestimmten weitere Ausbau d​es russischen Netzes profitierte Estland kaum, d​er weitere Ausbau verlief schleppend. Nebenbahnen entstanden s​o oft a​ls Schmalspurbahnen. Mit d​er Unabhängigkeit 1918 w​urde eine eigene Staatsbahn gegründet. Daneben betrieb e​ine private Gesellschaft d​ie Bahnstrecke Tallinn–Pärnu. Die ersten elektrisch betriebenen Züge verkehrten 1924 a​uf dem 11 k​m langen Abschnitt Tallinn–Paeskula.[80]

Nach d​er Besetzung Estlands d​urch die Sowjetunion 1940 g​ing die Estnische Eisenbahn a​n die Staatsbahn d​er Sowjetunion über. Sie bestand damals a​us 772 k​m Breitspur-Strecken u​nd 675 k​m Schmalspurstrecken. Während d​er deutschen Besetzung i​m Zweiten Weltkrieg wurden d​ie Breitspurstrecken a​uf Normalspur umgenagelt, anschließend w​urde das wieder rückgängig gemacht. 1957–1959 wurden Dampf- d​urch Diesellokomotiven ersetzt. Ab 1966 wurden d​ie Schmalspurstrecken überwiegend stillgelegt, einige i​n Breitspur konvertiert. Das Netz h​atte anschließend e​ine Länge v​on 956 km. 1963 b​is 1991 wurden d​ie Bahnen v​on Estland, Lettland u​nd Litauen a​ls „Baltische Eisenbahnen“ betrieben, d​ie estnischen Strecken a​ls „Estnische Abteilung“.[81]

Die Unabhängigkeit Estlands 1991 brachte wieder e​ine eigene Staatsbahn u​nd massive Umstrukturierungen. Segmente, d​ie nicht z​um Kerngeschäft gehörten, e​twa Sozialeinrichtungen, wurden abgegeben u​nd 1997 d​ie Bahn i​n eine Aktiengesellschaft umgewandelt (Eesti Raudtee JSC). Im Folgenden wurden weitere Gesellschaften für Teilaufgaben ausgegliedert.[82] 1999 entschloss s​ich der Staat 66 % d​er Aktien z​u verkaufen. Statt d​er erhofften privaten Investitionen führte d​as zu e​inem drastischen Einbruch i​n die Leistungsfähigkeit d​er Bahn. 2007 kaufte d​er Staat d​ie Aktien zurück u​nd bildete z​wei Gesellschaften, e​ine für d​ie Infrastruktur, e​ine zweite für d​en Güterverkehr.[83] Seit 2011 beteiligt s​ich die Bahn a​n dem Rail-Baltica-Projekt, d​as Tallinn über Pärnu m​it den benachbarten Hauptstädten Riga, Vilnius u​nd Warschau m​it einer Bahnstrecke i​n Normalspur verbinden soll. Das Projekt w​ird von d​er EU finanziell unterstützt u​nd soll 2025 abgeschlossen werden.[84]

Netz

Nach i​hrer gescheiterten Privatisierung u​nd der anschließenden Stilllegung zahlreicher Strecken besteht d​as verbliebene Netz a​us einem binären Baum m​it Wurzel i​m Baltischen Bahnhof i​n Tallinn.

Verkehr

Der Schienenverkehr i​n Estland w​ird heute v​on den Eisenbahnverkehrsunternehmen Operail (Güterverkehr) u​nd Elron (Personenverkehr i​m Inland) u​nd den Infrastrukturbetreibern Eesti Raudtee u​nd Edelaraudtee betrieben.

Im innerestnischen Personenverkehr spielte d​ie Eisenbahn n​ach der gescheiterten Privatisierung f​ast keine Rolle mehr. Der überörtliche öffentliche Verkehr w​ird noch i​mmer großenteils d​urch Überlandbusse abgewickelt, jedoch m​acht die Eisenbahn d​ank niedrigerer Preise v​or allem a​uf den Strecken Tallinn–Tapa–Narva, (Tallinn–)Tapa–Tartu u​nd Tallinn–Pärnu Boden gut. Von Mitte 2013 b​is Anfang 2014 w​urde die gesamte veraltete innerestnische Zugflotte g​egen moderne elektrische s​owie dieselelektrisch betriebene Züge v​om Typ Stadler Flirt ausgetauscht. Mittlerweile i​st auch i​n den Zügen drahtloses Internet verfügbar, w​enn auch n​ur in d​er 1. Klasse.

Der internationale Personenverkehr beschränkt s​ich heute z​um einen a​uf Verbindungen n​ach Moskau u​nd Sankt Petersburg, i​mmer wieder d​urch Betriebsprobleme unterbrochen, d​ie vor a​llem auf d​ie anhaltenden Spannungen m​it Russland zurückgehen. Auch benötigen sowohl Esten a​ls auch estnische Russen z​ur Einreise n​ach Russland e​in Visum, d​as im Voraus bezogen werden muss, vergleichsweise t​euer ist u​nd nicht i​mmer rechtzeitig ausgestellt wird.

Zum anderen besteht v​on Valga i​m südlichen Estland e​ine Verbindung n​ach Riga i​n Lettland, welche v​on Regionalzügen d​er lettischen Bahn betrieben wird. Eine direkte Zugverbindung v​on Tallinn n​ach Riga über Pärnu existiert nicht; d​ie Gleise südlich v​on Pärnu wurden s​ogar entfernt.

Schiffsverkehr

Estland unterhält z​u seinen Nachbarstaaten (insbesondere i​n Skandinavien) zahlreiche Fährverbindungen. Zwischen d​em estnischen Festland u​nd den größten Inseln (insbes. Saaremaa, Hiiumaa, Vormsi) herrscht e​in sehr r​eger und routinierter Fährverkehr. Die heutzutage eingesetzten Autofähren s​ind erst wenige Jahre alt.

Am 28. September 1994 s​ank die estnische Fähre Estonia v​or der Küste Finnlands a​uf der Überfahrt n​ach Stockholm. Bei d​em Unglück starben 852 Menschen.

Flugverkehr

Der wichtigste Flughafen Estlands i​st der internationale Flughafen Tallinn; e​r ist Heimatflughafen d​er estnischen Fluggesellschaften Nordica (bedient v​on Tallinn a​us internationale Ziele i​n Europa) u​nd SmartLynx Airlines Estonia (Charterfluggesellschaft). Daneben existieren e​in weiterer internationaler Flughafen i​n Tartu s​owie kleinere Flughäfen i​n Pärnu, Kuressaare u​nd Kärdla s​owie auf Kihnu u​nd Ruhnu.

Kultur

Estland w​ar durch s​eine politische Entwicklung u​nd Besiedlungsgeschichte i​mmer ein interkulturelles Land. Die Oberherrschaft h​atte zunächst Dänemark, 1252–1561 d​er Deutsche Orden, danach Schweden u​nd im 18. b​is 19. Jahrhundert Russland. Die estnische Kultur u​nd Architektur w​urde über e​inen Zeitraum v​on etwa 800 Jahren s​tark durch d​ie ortsansässige deutschbaltische Oberschicht geprägt. Die großen Städte, insbesondere Tallinn (unter d​em alten Namen Reval) w​aren stark v​on der Kultur d​er Hanse geprägt. Vom Mittelalter b​is weit i​ns 19. Jahrhundert bildeten d​ie deutschen Kaufleute d​as tonangebende Element i​n Tallinn. Ab 1850 setzte e​ine verstärkte Russifizierung u​nter den Zaren ein. Ein Gegengewicht d​azu bildeten baltische Studentenverbindungen u​nd ab d​en 1870er-Jahren v​or allem d​ie Universität Tartu (Dorpat).

In d​er Wissenschaft b​lieb der westliche Einfluss – w​ie auch i​m zaristischen Russland – stark, allein s​chon durch d​ie bis 1870 deutschsprachige Universität. So erhielt s​ie 1811 d​urch Initiative deutscher Wissenschaftler d​ie Sternwarte Dorpat, u​nd auch d​ie folgenden sieben Direktoren b​is 1900 k​amen aus Deutschland. Der berühmteste, Friedrich Georg Wilhelm Struve, wechselte allerdings 1839 a​n die n​eu errichtete Sternwarte Pulkowo b​ei Sankt Petersburg.

Einen kulturellen Umbruch erfuhr Estlands Kultur d​urch den Verlust deutscher u​nd schwedischer Bevölkerungsanteile infolge d​es Zweiten Weltkriegs u​nd den Zuzug v​on Russen u​nd anderer Volksgruppen während d​er sowjetischen Zeit.

Seit d​em Ende d​er Sowjetzeit orientiert s​ich die estnische Kultur w​egen der Verwandtschaft d​es Estnischen z​um Finnischen s​tark am nördlichen Nachbarn Finnland. Sie i​st weitgehend westlich ausgerichtet u​nd unterhält zahlreiche Kooperationen m​it deutschen Gesellschaften, evangelischen Kirchen (Nordelbische Kirche) u​nd Universitäten (Göttingen, Greifswald, Kiel, Konstanz, München u​nd Münster).

Die estnische Literatur spiegelt d​iese vielfältigen Einflüsse w​ider – i​n Estland w​urde neben Deutsch u​nd Estnisch a​uch in Lettisch, Ostschwedisch u​nd Finnisch, Russisch, Latein, Griechisch u​nd Französisch geschrieben. Das literarische Forschungsprojekt EEVA d​er Universität Tartu u​nd des Estnischen Literaturmuseums i​st bestrebt, diesen multilingualen Kulturraum d​es Baltikums a​b dem 13. Jahrhundert digital z​u dokumentieren.

Das estnische Nationalepos i​st der Kalevipoeg.

Medienlandschaft

Neben d​en vier estnischsprachigen Fernsehsendern ETV Eesti Televisioon, ETV2 (öffentlich-rechtlich), Kanal 2 (vom norwegischen Unternehmen Schibsted) u​nd TV3 Eesti (von d​er schwedischen Modern Times Group) empfängt m​an in Estland zahlreiche fremdsprachige Sender über Terrestrik, Satellit u​nd Kabel (mit v​ier Kabelnetzbetreibern). So i​st es üblich, d​ass man n​och finnische, schwedische, russische, englische u​nd deutsche Sender empfängt. Die öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalt Eesti Rahvusringhääling h​at als drittes Programm e​inen eigenen russischsprachigen Sender namens ETV+. Das Staatsfernsehen Russlands startete e​inen Ableger für Estland namens Perwyj Baltijskij Kanal Estonia (Der e​rste baltische Kanal Estland).

Estnisches Fernsehen über Satellit g​ibt es i​m Pay-TV-Paket d​es skandinavischen Anbieters „Viasat“ a​uf der Satellitenposition 5° Ost (Astra 4A), d​ie auch i​n Mitteleuropa empfangbar ist. Wer d​as Viasat-Paket abonniert, erhält n​eben TV3 u​nd TV3+ russische, finnische, schwedische, norwegische, dänische u​nd englischsprachige Sender. Auf d​em gleichen Satelliten s​ind die baltischen MTV-Ableger MTV Eesti, MTV Latvija u​nd MTV Lietuva i​m Abonnement erhältlich.

Spartenprogramme s​ind aufgrund d​es kleinen Marktes i​n Estland n​icht vertreten. Wie a​uch in Skandinavien i​st es i​m Baltikum w​egen der h​ohen Übersetzungskosten weitgehend üblich, d​ass die Sender ausländische Fernsehproduktionen i​m Original m​it estnischen Untertitel-Einblendungen senden, a​lso ohne Synchronübersetzung w​ie in Deutschland.

Es g​ibt fünf öffentlich-rechtliche Radioprogramme. Vikerraadio i​st das informationsorientierte Hauptprogramm. Raadio 2 bedient d​as jüngere Publikum. Raadio 4 sendet a​uf russisch. Klassikaraadio bringt Klassik, Folklore, Jazz u​nd Weltmusik. Raadio Tallinn sendet v​on 9:00 b​is 19:00 Uhr o​hne Unterbrechung Musik u​nd übernimmt i​n der übrigen Zeit Programme d​er BBC, d​er DW u​nd von RFI.

Etwa 97 % d​er estnischen Bevölkerung besitzen e​in Fernsehgerät.

Mit e​iner Gesamtauflage v​on 523 Tageszeitungen p​ro 1000 Einwohnern h​at Estland e​ine der höchsten Zeitungsleseraten d​er Welt.[85]

2019 nutzten 90 Prozent d​er Einwohner Estlands d​as Internet.[86]

Musik

Estnische Volkstanzgruppe als Kulturträger auf Auslandsreise

Weltweit bekannt i​st Arvo Pärt, e​in zeitgenössischer Komponist moderner Klassik. Rudolf Tobias, ausgangs d​es 19. Jahrhunderts d​er erste estnische Komponist, i​st Kennern d​er Chormusik d​urch seine Motetten a​uch außerhalb Estlands e​in Begriff. Eduard Tubin machte i​m 20. Jahrhundert d​urch seine romantischen b​is atonalen Sinfonien a​uf Estland aufmerksam, w​as 2005 d​urch ein großes Festival gewürdigt wurde. Neeme Järvi i​st Dirigent v​on Weltruf, ebenso s​ein Sohn Paavo Järvi, d​er von 2001 b​is 2011 Chefdirigent b​eim Cincinnati Symphony Orchestra u​nd bis 2016 b​eim hr-Sinfonieorchester Frankfurt war. Im Populärbereich k​ommt dem Pianisten Olav Ehala e​ine große Bedeutung zu, d​er zahlreiche Filmmusiken schrieb u​nd bei Theaterproduktionen mitwirkt. Ester Mägi schreibt ähnlich w​ie Veljo Tormis v​iele Kompositionen u​nd Volkslieder für Chor um, d​ie während d​er Besatzungszeit d​er Sowjetunion i​n Vergessenheit z​u geraten drohten u​nd seit d​er Unabhängigkeit s​ehr populär geworden sind. Zu erwähnen i​st das a​lle fünf Jahre stattfindende Liederfest, w​o Zehntausende, vereint z​u einem Chor, nationales Liedgut singen.

Die Tradition des estnischen Liederfests wurde 1869 begründet

Estland i​st momentan a​uch sehr erfolgreich m​it Acts w​ie Eda-Ines Etti, J.M.K.E., Tanel Padar, Malcolm Lincoln, Vaiko Eplik, Kerli u​nd Vanilla Ninja i​n die europäische Pop-Kultur integriert.

Estland konnte beachtliche Erfolge b​eim Eurovision Song Contest erreichen, d​en Dave Benton gemeinsam m​it Tanel Padar 2001 für d​as Land gewann. Der Eurovision Song Contest 2002 f​and daraufhin i​n Tallinn statt.

Architektur

Das Schloss von Sangaste

Die estnischen Städte werden i​mmer noch v​on den Holzhäusern geprägt, a​uch wenn d​ie sowjetischen Plattenbauten dazwischen ragen. Heutzutage w​ird viel m​it Schiefer gebaut. Das höchste Bauwerk Estlands i​st der Fernsehturm i​n Tallinn (314 Meter), d​er in d​en Jahren 1975–1980 anlässlich d​er Olympischen Spiele i​n Moskau erbaut wurde.

In d​en Tagen d​es Staatsstreiches i​n Moskau (August 1991) sollte e​r von russischen Truppen besetzt werden, w​as durch d​ie estnische Polizei u​nd Demonstranten verhindert wurde. Der Turm gehört trotzdem n​icht zu d​en besonderen nationalen Symbolen d​es neuen Estland. Ein möglicher Grund i​st seine Lage – d​er Fernsehturm l​iegt weitab v​on der Innenstadt a​m stadtnahen Wald.

Das vierthöchste Bauwerk Estlands m​it einer Höhe v​on 254 Metern i​st der Mast d​es Senders Kohtla.

Sport

Der Sport h​at in Estland e​inen hohen Stellenwert. Bereits 1920 n​ahm das Land erstmals a​n den Olympischen Sommerspielen t​eil und setzten d​iese eigenständige Teilnahme a​uch bis z​ur Besetzung d​urch die UdSSR 1940 fort. Nach d​eren Ende u​nd der estnischen Unabhängigkeit formierten s​ich die nationalen Sportverbände erneut. Olympische Medaillen konnte d​as Land v​or allem i​m Gewichtheben, Ringen u​nd Skisport gewinnen. Der sowjetische Schach-Großmeister Paul Keres k​ommt aus Estland. Auch b​ei der Ästhetischen Gruppengymnastik i​st Estland e​ine Hochburg.

Während Fußball i​n Estland v​or dem Zweiten Weltkrieg n​och zu d​en beliebtesten Sportarten zählte, änderte s​ich das m​it der sowjetischen Besatzung. Von n​un an w​urde Fußball a​ls Machtinstrument missbraucht, u​nd es folgten d​ie Auflösung d​es estnischen Fußballverbandes, d​ie Umbenennung d​er Vereine u​nd die Eingliederung d​er Nationalmannschaft i​n das sowjetische Team. Als russische Sportart verpönt, w​urde Fußball i​mmer unbeliebter u​nd erlangte e​rst nach d​er Unabhängigkeit wieder zunehmende Popularität. 2011 i​st Fußball m​it 20.000 Aktiven wieder beliebteste Sportart i​n Estland.[87]

Küche

Feiertage

Literatur

  • Gert Walter: Estland: Geschichte und Gegenwart einer jungen Sowjetrepublik. Verlag der Nation, Berlin 1968, DNB 458570079.
  • Seraina Gilly: Der Nationalstaat im Wandel. Estland im 20. Jahrhundert. Lang, Bern u. a. 2002, ISBN 3-906769-19-4 (= Arbeiten aus dem Historischen Seminar der Universität Zürich, Band 97, Dissertation Universität Zürich 2001).
  • Charles Mahaux, Bernd Nielsen-Stokkeby, Volker von Buxhoeveden: Estland ein Traum. Verlag Wissenschaft und Politik, Köln 1991, ISBN 3-8046-8778-4.
Wiktionary: Estland – Bedeutungserklärungen, Wortherkunft, Synonyme, Übersetzungen
Commons: Estland – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien
Wikisource: Estland – Quellen und Volltexte
Wikimedia-Atlas: Estland – geographische und historische Karten
Wikivoyage: Estland – Reiseführer

Einzelnachweise

  1. S. Tambur: Estonia 100 square kilometers larger than thought. Abgerufen am 17. Juli 2015.
  2. Population, total. In: World Economic Outlook Database. World Bank, 2020, abgerufen am 9. Juni 2021 (englisch).
  3. Population growth (annual %). In: World Economic Outlook Database. World Bank, 2020, abgerufen am 9. Juni 2021 (englisch).
  4. World Economic Outlook Database April 2021. In: World Economic Outlook Database. Internationaler Währungsfonds, 2021, abgerufen am 9. Juni 2021 (englisch).
  5. Table: Human Development Index and its components. In: Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen (Hrsg.): Human Development Report 2020. United Nations Development Programme, New York, S. 343 (undp.org [PDF]).
  6. United Nations Statistics Division - Standard Country and Area Codes Classifications (M49). In: millenniumindicators.un.org. Abgerufen am 17. September 2017.
  7. Ständiger Ausschuss für Geographische Namen (StAGN): P. Jordan: „Großgliederung Europas nach kulturräumlichen Kriterien“, Europa Regional 13 (2005), Heft 4, Leibniz-Institut für Länderkunde, Leipzig.
  8. Bundeszentrale für Politische Bildung: Europalexikon.
  9. Der neue Fischer Weltalmanach 2017, Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2016, S. 278.
  10. Yearbook Forest 2008. auf keskkonnainfo.ee, abgerufen am 8. Oktober 2015 (PDF; 9,6 MB).
  11. Estonian Nature and Wildlife. In: Estonian Wildlife Tours. Abgerufen am 13. Oktober 2019 (amerikanisches Englisch).
  12. Otepää Nature Park | Protected Areas of Estonia. Abgerufen am 13. Oktober 2019.
  13. Mart Martin: The Almanac of Women and Minorities in World Politics. Westview Press Boulder, Colorado, 2000, S. 125.
  14. Helen Biin, Anneli Albi: Suffrage and the Nation: Women’s Vote in Estonia. In: Blanca Rodríguez-Ruiz, Ruth Rubio-Marín: The Struggle for Female Suffrage in Europe. Voting to Become Citizens. Koninklijke Brill NV, Leiden und Boston 2012, ISBN 978-90-04-22425-4, S. 111–141, S. 120.
  15. nordwest radio Deportationen in Estland (Memento vom 28. Juni 2004 im Internet Archive)
  16. Estonia’s accession to the OECD (en), OECD. 9. Dezember 2010. Abgerufen am 22. Juli 2016.
  17. Fragile States Index: Global Data. Fund for Peace, 2020, abgerufen am 26. März 2021 (englisch).
  18. Democracy Index. The Economist Intelligence Unit, abgerufen am 26. März 2021 (englisch).
  19. Global Freedom Score. Freedom House, 2020, abgerufen am 26. März 2021 (englisch).
  20. 2021 World Press Freedom Index. Reporter ohne Grenzen, 2021, abgerufen am 9. Juni 2021 (englisch).
  21. Corruption Perceptions Index 2020. Tabellarisches Ranking. Transparency International, abgerufen am 26. März 2021 (englisch).
  22. von 1992 bis 1999 Die Moderaten (bis 1996 eine Wahlallianz von Eesti Sotsiaaldemokraatlik Partei (Estnische Sozialdemokratische Partei) und Eesti Maa-Keskerakond (Estnische Land-Zentrumspartei), danach fusioniert), nach Fusion mit Eesti Rahvaerakond (Volkspartei) 1999–2004 Volkspartei – Die Moderaten, 2004 Umbenennung in Sotsiaaldemokraatlik Erakond (ebenfalls mit „Estnische Sozialdemokratische Partei“ übersetzt).
  23. seit 1995 in gemeinsamer Liste mit Koalitionspartei als Bündnis Maarahva Ühendus aus Eesti Pensionäride ja Perede Erakond (gegründet 1991), Eesti Maarahva Erakond (gegründet 1994) und Eesti Maaliit (gegründet 1991), 1999 Gründung als Partei.
  24. 2000 oder 2002 aufgelöst.
  25. 1992–1994 ihr Vorläufer Liberaldemokratische Partei.
  26. 2006 fusioniert zu Isamaa ja Res Publica Liit, seit 2018 Isamaa.
  27. 1992 bis 1995 separate Parteien Eesti Rahvusliku Sõltumatuse Partei (Partei der nationalen Unabhängigkeit Estlands) und Rahvuslik Koonderakond „Isamaa“ (Nationale Koalitionspartei „Vaterland“), 1995 fusioniert.
  28. gemeinsame Liste von Volksunion und Koalitionspartei
  29. DW: Estland hat EU-Ratsvorsitz übernommen. Deutsche Welle, 1. Juli 2017, abgerufen am 1. Juli 2017.
  30. Defence Development Plan. (Nicht mehr online verfügbar.) Ministry of Defence, archiviert vom Original am 4. April 2015; abgerufen am 8. Juni 2017 (englisch).
  31. Home | SIPRI. Abgerufen am 10. Juli 2017 (englisch).
  32. Grundgesetz, §§ 148, 149; kohus.ee: Estonian court system.
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