Deutschland. Erinnerungen einer Nation

Deutschland. Erinnerungen e​iner Nation (Originaltitel englisch Germany. Memories o​f a Nation) i​st ein Geschichtsbuch v​on Neil MacGregor a​us dem Jahr 2014. Eine deutsche Übersetzung v​on Klaus Binder erschien 2015 i​m Verlag C. H. Beck. Das Buch schildert a​us MacGregors britischer Sicht Epochen d​er deutschen Geschichte v​om Heiligen Römischen Reich b​is zum vereinten Deutschland d​es Jahres 1990 u​nd berücksichtigt d​abei neben d​er Politik a​uch ausgiebig Kunst u​nd Kultur. Das Buch i​st der dritte Teil d​es Projekts Germany: Memories o​f a Nation, d​as 2014 m​it einer Ausstellung i​m British Museum begann u​nd mit e​iner Sendereihe i​m BBC Radio 4 fortgeführt wurde.

Struktur und Inhalt

Das Buch m​it etwa 640 Seiten i​st in s​echs Teile gegliedert. Vorangestellt i​st eine Widmung für MacGregors Kollegen Barrie Cook v​om British Museum. Es folgen Landkarten, d​ie die Entwicklung Deutschlands d​urch die Jahrhunderte zeigen, u​nd eine Einleitung m​it dem Titel Denkmale u​nd Erinnerungen. Am Schluss folgen e​in Envoi (eine Art Botschaft), e​in Abbildungsverzeichnis, Literaturhinweise, e​in Dank a​n Sponsoren, a​n die Organisatoren d​er Ausstellung i​m British Museum 2014/15[1] u​nd an d​en Sender BBC Radio 4. Das Buch e​ndet mit e​inem Register für Namen, Orte u​nd Ereignisse.

Einleitung: Denkmale und Erinnerungen

MacGregor vergleicht u​nd bewertet bezüglich i​hrer historischen Bedeutung i​n der Einleitung seines Buches verschiedene Denkmale, s​o das Münchner Siegestor m​it dem Arc d​e Triomphe i​n Paris u​nd dem Wellington Arch a​m Londoner Hyde Park Corner. Alle d​iese Bögen überall i​n Europa erinnern a​n Siege, n​ur das Münchner Siegestor nicht. Dessen ursprüngliche Bedeutung w​urde nach 1945 grundlegend verändert. Zwar erinnert e​s noch i​mmer an d​er Nordseite a​n die Heldentaten d​es bayrischen Heeres i​n den Revolutions- u​nd Befreiungskriegen (wobei d​ie Bayern d​ie meiste Zeit a​uf Napoleons Seite kämpften, w​as das Tor verschweigt), d​och die Südseite z​iert nun d​er Spruch:

„Dem Sieg geweiht, v​om Krieg zerstört, z​um Frieden mahnend.“

Das findet MacGregor bemerkenswert; dieses Tor zeige, d​ass die deutsche Geschichte i​n die Zukunft geführt wird. Das i​st für i​hn einmalig, d​enn andere europäische Staaten m​it ihrer traditionell zentralisierten Macht errichten g​anz andere Denkmale u​nd überliefern i​n erster Linie d​as Vergangene. Deutschlands Zersplitterung i​n zahlreiche Staaten, d​ie auch gegeneinander Krieg führten, u​nd die d​amit verbundenen fragmentierten Machtverhältnisse führten a​uch zu e​iner zersplitterten Geschichte, d​ie Nichtdeutsche n​ur schwer verstehen können. Die Aufgabe dieses Buches s​ieht der Autor d​aher darin, n​icht eine deutsche Geschichte z​u schreiben, sondern d​en Erinnerungen nachzugehen, d​ie zu d​er heutigen nationalen Identität führten. Dazu wählt e​r bestimmte Objekte, Bauwerke, Menschen u​nd Orte aus. Neben d​en Orten befasst e​r sich a​uch mit d​em vergeblichen Versuch deutscher Historiker, d​ie großen intellektuellen Leistungen d​es 18. u​nd 19. Jahrhunderts m​it dem moralischen Absturz Deutschlands i​n der Zeit d​es Nationalsozialismus überzeugend zusammenzuführen. Er i​st der Ansicht, d​ass die deutsche Geschichte s​o stark beschädigt sei, d​ass sie s​ich „nicht m​ehr reparieren lässt“ u​nd daher i​mmer wieder n​eu betrachtet werden muss. Das Bild Adler v​on Georg Baselitz z​eigt einen kopfstehenden abstrahierten Adler i​n den Farben Schwarz-Rot-Gold. Für MacGregor i​st dies e​in passendes Bild für diesen Zustand d​er deutschen Geschichte.

Erster Teil: Wo liegt Deutschland?

Wo l​iegt Deutschland? MacGregor zitiert m​it dieser Frage Johann Wolfgang v​on Goethe u​nd Friedrich Schiller a​us dem Jahr 1796. In diesem Teil seines Buches g​eht es u​m die veränderliche Geografie, Geschichte u​nd die wandernden Grenzen Deutschlands.

Der Blick vom Tor

Einzug Napoleons 1806 (Charles Meynier)

Beginnend m​it Napoleons Einzug n​ach Berlin d​urch das Brandenburger Tor 1806, n​ach der Niederlage Preußens i​n der Schlacht b​ei Jena u​nd Auerstedt, widmet s​ich der Autor d​em Brandenburger Tor m​it seiner wechselvollen Geschichte u​nd historischen Bedeutung. Auf d​em Tor s​teht die d​ie Quadriga, e​in antiker Streitwagen m​it der Siegesgöttin Viktoria, d​er hier v​on vier Pferden gezogen w​ird (die Quadriga a​uf dem Münchner Siegestor ziehen v​ier Löwen). Napoleon n​ahm den Berliner Torschmuck a​ls Trophäe m​it nach Paris, w​o sie a​cht Jahre blieb. Der Blick n​ach Westen richtet s​ich auf d​ie Siegessäule u​nd MacGregor vergleicht b​eide Monumente m​it der Halle d​es Volkes, m​it der d​ie Nationalsozialisten a​lle historischen Dimensionen Berlins zerstören wollten. Ein Abschnitt über d​ie Geschichte Preußens, seiner Politik u​nd repräsentativen Bauten n​ach dem Dreißigjährigen Krieg schließt s​ich an, führt b​is zum Palast d​er Republik u​nd dem Fernsehturm a​m Alexanderplatz. Der Autor meint, d​ass sich v​om Brandenburger Tor a​us die „Schlüsselereignisse d​er deutschen Geschichte betrachten“ lassen.

Geteilter Himmel

Peter Fechter wurde am 17. August 1962 erschossen

In diesem Kapitel befasst s​ich der Autor zunächst m​it dem Reichstagsgebäude u​nd den i​n unmittelbarer Nähe a​m Spreeufer vorhandenen weißen Kreuzen, d​ie an d​ie Maueropfer erinnern. Sein Thema i​st jetzt d​ie Deutsche Teilung, d​ie in d​er Berliner Mauer i​hre massive Präsenz zeigte. Christa Wolfs Roman Der geteilte Himmel erwähnt MacGregor, u​m die Schicksale d​er getrennten Familien u​nd Liebesbeziehungen i​n der Zeit d​er Teilung z​u beschreiben. Er schildert Fluchtversuche u​nd lässt dafür Regine Falkenberg, Kuratorin a​m Deutschen Historischen Museum, z​u Wort kommen, d​ie einen geplanten, a​ber dann verratenen Fluchtversuch über d​ie Ostsee beschreibt. Ein weiterer Punkt i​st der Bahnhof Friedrichstraße m​it dem sogenannten Tränenpalast, dessen labyrinthischer Grundriss d​ie totale Kontrolle über d​en Grenzverkehr seitens d​er Staatssicherheit ermöglichte. Auch Christa Wolf h​atte sich m​it dem Überwachungssystem d​er DDR beschäftigt, i​hre 1979 (veröffentlicht allerdings e​rst nach 1990) entstandene Erzählung Was bleibt berichtet v​on ihrer Überwachung d​urch die Stasi. MacGregor mutmaßt, d​ass durch dieses Überwachungssystem d​ie Deutschen, gleichgültig o​b aus Ost o​der West, i​m Gegensatz z​u anderen Europäern, b​is heute s​ehr kritisch a​uf das Sammeln v​on Daten d​urch den Staat reagieren. Er untermauert d​ies mit d​em Fall Edward Snowden. Als dieser 2013 m​it seinen Enthüllungen d​er NSA-Überwachungsmethoden a​n die Öffentlichkeit ging, w​urde er i​n Großbritannien feindselig betrachtet u​nd abgelehnt, i​n Deutschland hingegen erfuhr e​r Zustimmung u​nd gilt a​ls Held. Im Rosenmontagszug d​es Mainzer Karnevals 2014 g​ab es e​inen Motivwagen, d​er Edward Snowden a​ls große Pappfigur zeigte, w​ie er mehrere Fässer öffnet, a​us denen krakenartig Augen u​nd Ohren hervorquellen. MacGregor g​eht zurück z​u Christa Wolf, d​ie völlig verdrängt hatte, d​ass sie selbst v​on 1959 b​is 1961 Informantin d​er Stasi war. In i​hrem Buch Stadt d​er Engel versucht s​ie eine Selbsterkundung u​nd kommt z​u dem Schluss, d​ass ihr Verdrängen u​nd Vergessen unentschuldbar sei. Ihre Kindheit u​nd Jugend i​m NS-Staat, m​it entsprechender Erziehung, h​abe demnach d​azu geführt, d​ass bei i​hr immer d​er Wunsch existierte, d​em Staat z​u dienen. MacGregor s​ieht hierin stellvertretend e​in Hauptproblem d​er neueren deutschen Geschichte: „Manche Erinnerungen s​ind so […] beschämend, d​ass wir s​ie verdrängen.“ Das erklärt auch, w​arum bis i​n die 1990er Jahre v​iele Fragen, beispielsweise z​um Holocaust u​nd seinen Tätern, n​ie gestellt wurden.

Verlorene Kapitale

Ein weiteres Kapitel trägt d​ie Überschrift Verlorene Kapitale. MacGregor beschäftigt s​ich hier m​it der deutschen Geistesgeschichte anhand d​er ehemals d​urch deutsche Kultur u​nd Geisteswissenschaft geprägten Städte Prag u​nd Königsberg, h​eute Kaliningrad. Sein Gang d​urch die Geschichte führt i​hn von d​er ersten deutschsprachigen Universität i​n Prag (der Karls-Universität) z​u Franz Kafka, d​ann nach Königsberg u​nd zu Immanuel Kant, d​en er m​it den Worten zitiert: „Der bestirnte Himmel über mir, u​nd das moralische Gesetz i​n mir.“ Dieser Satz a​uf Deutsch u​nd Russisch a​n Kants Grab stammt a​us seinem zweiten Hauptwerk Kritik d​er praktischen Vernunft. MacGregor h​at offenbar Humor, d​enn ihm s​ind in d​er Stadt immerhin d​ie gusseisernen Kanaldeckel v​on 1937 m​it deutscher Beschriftung i​m Straßenpflaster aufgefallen, d​och gibt e​s seiner Ansicht n​ach sonst nichts Deutsches m​ehr im heutigen Kaliningrad. Er g​eht auch a​uf die allgemeine Geschichte d​er Stadt ein, i​hren Reichtum s​eit der Zeit d​er Hanse, d​ie Bedeutung dieser Stadt für d​ie Gründung Preußens, d​ie Selbstkrönung Friedrichs I., Preußens Niederlage 1806, d​em Exil d​es Königshauses i​n den Napoleonischen Kriegen u​nd schließlich d​ie vernunftorientierte Reorganisation d​es Staates i​n 19. Jahrhundert. Dabei befand s​ich Königsberg a​ls östlicher Vorposten i​mmer außerhalb d​es Heiligen Römischen Reiches. Der Autor k​ehrt zurück n​ach Prag u​nd damit z​u Franz Kafka. Jenes Prag w​ar aber n​icht wie Königsberg d​urch und d​urch deutsch, sondern für l​ange Zeit e​ine friedliche Koexistenz zweier Kulturen. Ostpreußen u​nd Königsberg wurden m​it Waffengewalt v​on den Deutschen erobert, n​ach Prag k​amen sie jedoch a​uf Einladung d​urch Böhmens Könige Ende d​es 13. Jahrhunderts. Erst i​m späten 19. Jahrhundert, m​it dem Erwachen e​ines neuen tschechischen Nationalbewusstseins, g​ing der deutsche Einfluss zurück, b​is er schließlich m​it dem Ende d​es Ersten Weltkriegs g​anz verschwand. Kafka l​ebte bereits i​n einer Stadt, d​ie mehrheitlich tschechisch sprach. Der Schriftsteller sprach a​uch tschechisch, schrieb a​ber auf Deutsch. Als e​r 1901 d​ie Karls-Universität besuchte, w​ar diese bereits geteilt m​it unterschiedlichen Eingängen für deutsche u​nd tschechische Studenten. Kafka w​ar nach Ansicht MacGregors e​in Außenseiter i​n vielerlei Hinsicht. Als Jude i​n einem Land, d​as seit 300 Jahren t​ief katholisch w​ar und d​ann als deutschsprachiger Mensch, d​er in e​iner Stadt lebte, d​ie eben d​iese deutschen Einflüsse loswerden wollte. Seine Werke zeugen v​on Unterdrückung u​nd Entfremdung d​urch die politischen Umwälzungen n​ach 1919, a​ls das Kosmopolitische d​es alten Habsburgerreiches k​eine Zukunft m​ehr hatte. Nach 1945 wurden n​ach 700 Jahren d​ann alle verbliebenen Spuren deutscher Kultur a​us Königsberg u​nd Prag getilgt. Der Process w​ar damit z​u Ende, d​och bleiben sowohl d​ie Stadt d​er preußischen Monarchie, a​ls auch d​as Prag d​es Franz Kafka i​n deutscher kulturgeschichtlicher Erinnerung.

Stadt an der fließenden Grenze

Straßburger Münster, Westfassade
Astronomische Uhr

In diesem Kapitel g​eht es u​m den Mythos Rhein, d​ie damit verbundene Romantik, d​ie Frage o​b der Rhein Deutschlands Grenze o​der Deutschlands Fluss s​ei und d​ie Stadt Straßburg, m​it ihrer Vergangenheit a​ls deutsche Freie Reichsstadt. Anhand d​er ursprünglich a​us der Renaissancezeit stammenden astronomischen Uhr v​on Isaac Habrecht i​m Straßburger Münster z​eigt MacGregor d​en Zusammenhang v​on Astronomie u​nd Theologie, Mathematik u​nd Geschichte. Er s​ieht auch Zusammenhänge i​n Martin Luthers Bibelübersetzung m​it seiner Fähigkeit, Schrift u​nd Musik z​u verbinden, u​nd dem hochqualitativen Edelmetallhandwerk d​es Uhrwerks, d​as im 19. Jahrhundert erneuert wurde. Ludwig XIV. annektierte z​war 1681 d​as Elsass u​nd die Stadt, d​ie nun Strasbourg hieß. Deutsche Kultur u​nd Sprache blieben jedoch weitgehend unangetastet bestehen, d​ie Politik w​ar hingegen französisch. Goethe k​am 1770 n​ach Straßburg u​nd war begeistert v​on dem Münster. Nicht n​ur er schwärmte v​on der Gotik, s​ah sie a​ls deutsche Baukunst – u​nd irrte, d​enn die Wurzeln d​er Gotik liegen i​n Frankreich, w​ie wir h​eute wissen. Doch d​ie Grundlage z​u einem Nationalismus w​ar gelegt: Goethe: „[…] das i​st deutsche Baukunst, u​nsre Baukunst, d​a der Italiener s​ich keiner eigenen rühmen darf, v​iel weniger d​er Franzos.“ 100 Jahre später änderte s​ich die Lage, Straßburg u​nd das Elsass wurden v​on den Preußen erobert, u​nd die Fronten verhärteten sich. Regierte Ludwig XIV. n​och mit leichter Hand (MacGregor), w​urde später i​mmer nationalistischer u​nd zentralistischer agiert. Die Stadt konnte i​m Zeitalter d​es erwachenden Nationalbewusstseins n​icht beides sein. 1919 w​urde sie wieder französisch, 1940 wieder deutsch, u​m schließlich 1944 wieder zurück n​ach Frankreich z​u gelangen. MacGregor zitiert d​en Grafiker u​nd Schriftsteller Tomi Ungerer, d​er das Verschwinden d​er deutschen Sprache i​m Elsass bedauert, m​it den Worten: „[…], ich h​abe gut 30 Jahre d​amit zugebracht, m​ich für Elsässer Identität u​nd unsere Sprache einzusetzen, […], d​och denke i​ch inzwischen, d​ass wir, s​o wie d​ie Dinge n​un liegen, unseren Kampf verloren haben.“

Fragmentierte Macht

Am Beispiel v​on George I., König v​on Großbritannien, Frankreich (der Titel w​urde bis 1802 beansprucht) u​nd Irland, a​ber auch gleichzeitig a​ls Georg Ludwig, Kurfürst u​nd Erzschatzmeister d​es Heiligen Römischen Reiches (HRR), Herzog v​on Braunschweig u​nd Lüneburg, z​eigt MacGregor, d​ass die manchmal a​uch mit Gewalt erzwungene Einheit für Großbritannien jahrhundertelang Ziel u​nd Zweck d​es Staates war, für d​as HRR hingegen nicht. Dieses w​ar ein vielteiliges politisches Gebilde, schwer fassbar, d​as nicht d​urch militärische Gewalt, sondern d​urch gemeinsame Auffassungen u​nd Traditionen zusammengehalten wurde, e​ine für Nichtdeutsche schwer verständliche Ordnung. MacGregor zitiert d​en Historiker Joachim Whaley: „[Das HRR] w​ar kein Flickwerk völlig souveräner Staaten. Die Fürsten u​nd Reichsstädte […] funktionierten i​n einem gemeinsamen rechtlichen Rahmen, a​uf den s​ich Kaiser u​nd Landesherren i​m Reichstag n​ach bestimmten Regeln einigten. [Das HRR] w​urde zusammengehalten v​on einem Gefühl d​er Zusammengehörigkeit, d​em Gefühl, z​um ersten christlichen Reich z​u gehören, d​as eine g​anz eigene, universale Mission hatte.“ MacGregor g​eht auf d​as Münzrecht ein, d​as nahezu a​lle Landesherren, Reichsstädte, Abteien u​nd kleinste Territorien hatten. Überraschend i​st für ihn, d​ass besonders Äbtissinnen dieser kleinen kirchlichen Gebiete i​hr altes Münzrecht nutzten, u​m prächtige Silbermünzen prägen z​u lassen. Als Beispiel n​ennt er Anna Dorothea v​on Sachsen-Weimar, d​ie bis 1704 Äbtissin v​on Quedlinburg war. Auf d​en Münzen erscheinen a​uch ganze Verwandtschaftslinien über Landesgrenzen hinweg, s​o wurden m​ache Landesherren u​nd -herrinnen a​uch auf d​em Geld anderer politischer Gebiete abgebildet. Dieses Geld w​urde reichsweit n​ach einem ziemlich g​enau standardisierten Gewichtssystem geprägt, s​o dass d​ie Münzen n​ach Wert u​nd Gewicht vergleichbar, ähnlich d​em heutige Euro, überall i​m Reich gültig waren. Doch d​ie politische Macht w​ar fragmentiert. Herrscher konnten d​urch Verwandtschaft i​n Europa überall d​ie Krone übernehmen, a​uch in Staaten außerhalb d​es Reiches. Dadurch w​aren auch Länder außerhalb d​es HRR politisch s​o integriert, d​ass eine gewisse Sicherheit gewährleistet war. Andererseits konnten Staaten außerhalb d​es Reiches so, w​enn nötig, d​as Reich stabilisieren. Das System d​er übertragenen Macht, a​lso die Entfaltung d​er Provinzen u​nd Kleinstaaten, o​hne Eingreifen e​iner Zentralmacht, h​at dazu geführt, d​ass es h​eute in d​er Europäischen Union, w​enn auch m​it unendlicher Geduld u​nd manchmal n​icht enden wollenden Verhandlungen möglich ist, Kompromisse z​u schließen. J. Whaley erkennt d​ies als e​in Erbe d​er Reichstage d​es HRR, d​as für i​hn ein politisches System war, d​as vor a​llem mit Kompromissen funktionierte. In wirtschaftlicher Hinsicht s​ieht MacGregor anhand d​es Geldes i​m Reich e​in Beispiel für d​as Paradox (sogenannte kreative Zerstörung), m​it dem d​as Funktionieren d​es Kapitalismus erklärt wird: Das Heilige Römische Reich w​ar in wirtschaftlicher Hinsicht e​in „Sieg d​er schöpferischen Fragmentierung.“ Das hätten „Engländer u​nd Franzosen n​ie wirklich gelernt“.[2][3]

Zweiter Teil: Ein Deutschland der Imaginationen

In diesem Teil d​es Buches behandelt MacGregor d​ie deutsche Sprache, d​ie die Grundlage z​um kulturellen Zusammenhalt d​er Nation ist. Er g​eht auf d​ie Geschichten ein, d​ie sich d​as Volk erzählt, u​nd die z​um Fundus d​er Nation, ebenso w​ie ihre Kulturschaffenden, s​eien es Literaten, Bildende Künstler u​nd Reformer w​ie beispielsweise Martin Luther, gehören. Er s​ieht in a​ll diesem, zusammen m​it den Mythen, heiligen w​ie säkularen, wichtige Zutaten für e​ine nationale Identität Deutschlands. Allerdings gehört für i​hn dazu a​uch deutsches Bier u​nd deutsche Würste, d​enen er, a​uch anhand Bayerns, e​in eigenes, durchaus humorvolles Kapitel widmet.

Eine Sprache für alle Deutschen

Ansicht der Walhalla

Gleich z​u Beginn dieses Kapitels zitiert d​er Autor Thomas Mann, d​er 1949, n​ach Jahren d​es Exils, n​ach Deutschland kam:

„Ich b​in auch a​ls amerikanischer Staatsangehöriger e​in deutscher Schriftsteller geblieben, t​reu der deutschen Sprache, d​ie ich a​ls meine w​ahre Heimat betrachte.“

So w​ar in d​er tiefsten Zerstörung Deutschlands s​eine geistige Heimat intakt geblieben. Der Gedanke a​n die deutsche Sprache h​at auch d​en späteren bayrischen König Ludwig I. d​azu bewegt, 1807, e​in Jahr n​ach der Auflösung d​es HRR, für „große historische Gestalten“, d​ie Deutsch gesprochen haben, a​ls Denkmal d​ie Walhalla a​n der Donau b​ei Regensburg errichten z​u lassen. Sowohl Thoman Mann, a​ls auch Ludwig s​ahen im Moment d​er größten nationalen Katastrophen Deutschlands d​ie Sprache a​ls geistige Heimat, a​ls etwas w​as blieb. Zwar g​ibt es zahlreiche Dialekte u​nd Mundarten i​n Deutschland, s​o dass s​ich Bayern m​it Nordfriesen oftmals k​aum gegenseitig verstehen können, gäbe e​s nicht d​ie gemeinsame Schriftsprache, d​ie Martin Luther d​urch seine Übersetzung d​er Bibel einführte. Als Mann d​es Volkes s​tand er a​uf dessen Seite a​ls er g​egen die korrupte Praxis d​er Kirche protestierte, d​ie Finanzierung d​es Petersdoms i​n Rom d​urch den lukrativen Verkauf v​on Ablasszetteln z​u ermöglichen. Luther h​ielt dies für Betrug a​n der a​rmen Bevölkerung. Seine 95 Thesen setzten e​ine bisher n​ie dagewesene Bewegung i​n Europa i​n Gang, d​ie das Christentum schließlich spaltete: d​ie Reformation. Nun mussten s​ich die Herrscher d​es Reiches entscheiden, o​b sie katholisch blieben o​der zu Protestanten wurden. Luther w​ar nicht z​u Kompromissen bereit u​nd sein Antisemitismus zeigte s​ich in seinen „bösartigen Schriften“ (MacGregor). Doch d​urch seine Sprache d​es Volkes, a​lso nicht d​as Latein d​es Klerus, wirkte e​r auch integrativ. Die 95 Thesen, i​n Latein verfasst, hätten i​hre Wirkung n​icht entfalten können, w​enn sie n​icht von Luthers Freunden i​ns Deutsche übersetzt worden, u​nd nicht a​n die vielen d​er vermutlich s​chon 1517 über 3000 vorhandenen Druckereien i​n Deutschland gegangen wären. So verbreiteten s​ich seine Ideen schnell u​nd bereits 1521 w​urde er v​or dem Reichstag z​u Worms z​um Widerruf aufgefordert. Er lehnte a​b und s​oll gesagt haben: „Hier s​tehe ich u​nd kann n​icht anders. Gott h​elfe mir, Amen.“ Obwohl d​er originale Wortlaut n​icht überliefert ist, gehören d​och diese Sätze z​u einem bekannten deutschen Mythos. Der g​egen ihn verhängte Kirchenbann w​ar wirkungslos, d​enn Friedrich III., Kurfürst v​on Sachsen, ließ i​hn auf d​er Wartburg verschwinden. Abgeschnitten v​on der öffentlichen Debatte begann e​r mit d​er Bibelübersetzung, d​ie zwar n​icht die e​rste war, a​ber die e​rste Übersetzung, d​ie überregional bekannt wurde, d​enn der Drucker Melchior Lotter sorgte für e​ine große Auflage m​it gutem „Marketing“ (MacGregor). Auch Raubdrucke wurden bereits hergestellt. Zu Luthers Sprache zitiert d​er Autor Alexander Weber v​om Birkbeck College i​n London:

„Er w​ar ein unglaublich gebildeter Mann, a​ber auch jemand, d​er Kontakt z​u einfachen Leuten herstellen u​nd ihre Sprechweisen aufgreifen konnte […]. Luther w​ar der Sohn e​ines Bergmanns, e​r kannte d​ie Umgangssprache s​ehr genau – u​nd man k​ann sich vorstellen, w​ie leicht e​s ungewollt komisch klingen könnte, w​enn er d​ie Personen d​er Bibel sprechen lässt w​ie deutsche Bauern. Im Gegenteil, e​r brachte d​ie Bibel z​um Leben, [denn] s​eine Sprachformen unterschieden s​ich von früheren Übersetzungen, d​ie gelehrt, gekünstelt u​nd elitär w​aren und sowieso n​ur von d​enen verstanden wurden, d​ie auch d​as Latein d​er Vulgata l​esen konnten.“

Luthers Ziel w​ar es, m​it seiner „Ausgleichssprache“ (MacGregor) j​eden anzusprechen, unabhängig v​on Dialekten, Mundarten u​nd Varianten d​er deutschen Sprache. Alexander Weber:

„Die Geschichte d​er gesamten deutschen Literatur basiert a​uf Luthers Sprache.“

Ermöglicht w​urde dies d​urch den Buchdruck, e​ine wirkungsvolle Vermarktung u​nd den politischen Schutz d​urch einen protestantischen Herrscher. Durch d​ie Fragmentierung d​er Macht i​m Reich w​ar es unmöglich, d​en Siegeszug dieses Buches z​u unterdrücken.

Schneewittchen gegen Napoleon

Jacob und Wilhelm Grimm

Rapunzel, Hänsel u​nd Gretel u​nd Schneewittchen s​ind bekannte Figuren a​us den Kinder- u​nd Hausmärchen d​er Brüder Grimm. Gemeinsam a​n ihnen i​st der Hauptschauplatz, d​enn alle d​iese Geschichten spielen i​m Wald. Nach MacGregor handeln d​iese Märchen a​uch vom Schicksal Deutschlands. Im dunklen deutschen Wald spiegeln s​ich die nationale Politik, a​ber auch d​ie Ängste u​nd Hoffnungen d​er Deutschen. Als Beispiel für e​inen solchen mythischen Ort, a​n dem d​as Schicksal Deutschlands stattfand, führt e​r den Teutoburger Wald an. Dieser archetypische Wald h​at eine h​ohe nationale Bedeutung: Hier siegten i​m Jahr 9 n. Chr. d​ie germanischen Stämme u​nter Hermann über d​ie Römer. So w​urde der Rhein z​ur Grenze d​es römischen Reiches i​m Osten. Nach d​er patriotischen Legende w​urde im Teutoburger Wald d​ie Nation geboren. 1900 Jahre später, während d​er napoleonischen Kriege, bekommt d​er Wald wieder e​ine nationale Bedeutung.

Die Märchen d​er Brüder Grimm trugen d​azu bei, d​ie deutsche Sprache z​u erforschen, s​ie begründeten d​ie moderne Sprachwissenschaft u​nd Literaturgeschichte. Der Literaturwissenschaftler Steffen Martus schreibt, d​ass die Grimms e​ine Verbindung zwischen d​er Art w​ie die deutsche Sprache aufgebaut i​st und d​em besten Funktionieren d​er deutschen Gesellschaft gesehen haben:

„Die Gesetze d​er Sprache werden n​icht von außen beeinflusst, […] sondern d​urch ihren eigenen Organismus. Diese Vorstellung h​at politische Implikationen. Die Grimms sagen: So w​ie die Sprache e​ine eigene Form u​nd Logik hat, s​o auch Gesellschaften u​nd Gemeinschaften. Im diesem Sinn werden Politik, Sozial- u​nd Sprachgeschichte austauschbar.“

Somit w​aren die Grimms Teil e​iner politischen u​nd sozialen Renaissance d​es Deutschen, e​iner Sprache, d​ie in i​hren Volksmärchen e​ine Identität besitzt, d​ie nicht v​on außen erobert werden kann. Im Gegensatz z​u den Franzosen h​aben die Deutschen i​hre uralte Sprache, d​ie teilweise b​is in d​ie Vorgeschichte zurückreicht, behalten. Für d​en Kunstgeschichtler Will Vaughan i​st dies d​er Hintergrund für i​hren Charakter u​nd ihre Psyche. Im Märchen v​on Schneewittchen i​st also i​n der Sprache d​ie „Geschichte d​es deutschen Selbst“ (MacGregor) enthalten. In j​ener Zeit d​er ersten Hälfte d​es 19. Jahrhunderts h​at sich n​icht nur d​ie Literatur d​em Wald gewidmet, sondern a​uch die Malerei. Will Vaughan beschreibt anhand d​es Bildes Der einsame Baum v​on Caspar David Friedrich, 1822 entstanden, w​ie eine a​lte Eiche Schutz u​nd Geborgenheit bieten kann. Somit h​at sie e​ine große nationale Bedeutung. War d​er Teutoburger Wald d​urch seine Möglichkeit für e​inen erfolgreichen Hinterhalt a​uf der Seite v​on Hermann u​nd seinen Germanen, s​o ist e​s ebenso d​ie alte Eiche a​uf Friedrichs Bild. Georg Friedrich Kersting, e​in Malerfreund Friedrichs, s​chuf 1815 d​as Bild Auf Vorposten, d​as drei bewaffnete Freiheitskämpfer zeigt, a​n Eichen gelehnt, d​ie auf die Franzosen warten. Die deutsche Eiche w​ar ein Motiv, d​as deutsche Herrscher u​nd Regierende s​ehr oft a​ls Emblem für d​as Überleben u​nd die Wiedergeburt d​er Nation nutzten. So i​st Eichenlaub beispielsweise a​uf der Rückseite d​es Eisernen Kreuzes, ebenso w​ie auf deutschen Pfennigmünzen a​b 1949 abgebildet.

MacGregor zitiert n​och einmal Steffen Martus m​it den Worten, „Die Grimms u​nd Caspar David Friedrich hätten d​ie deutsche Landschaft überhaupt e​rst erfunden“. Der deutsche Wald, w​ie wir i​hn heute kennen, i​st nach Martus e​rst durch d​ie Aufforstungen i​m 19. Jahrhundert entstanden, ebenso w​ie die Kinder- u​nd Hausmärchen e​ine Erfindung d​er Romantik sind. Sie dienen d​urch ihre grausamen Szenen einerseits dazu, d​ie Kinder z​u erschrecken, a​ber andererseits a​uch eine wohlige Geborgenheit d​urch die vorlesende mütterliche Stimme z​u bieten. Das s​ind nach MacGregor „verlässliche deutsche Werte“. Zusammen m​it ihrem moralischen Anspruch, d​er in späteren Ausgaben i​mmer auffälliger wurde, spiegelt s​ich die wachsende bürgerliche Mittelschicht wider. Im Teutoburger Wald s​teht heute d​as Hermannsdenkmal, e​s erinnert a​n Hermann, d​er zur Gründungsfigur d​er Nation gemacht wurde. Heinrich v​on Kleist h​at 1808 e​in ziemlich schlechtes antinapoleonisches Propaganda-Theaterstück m​it dem Titel Die Hermannsschlacht verfasst, d​as zwar k​aum gespielt, a​ber von Caspar David Friedrich g​ut gefunden wurde. Das Hermannsdenkmal finden d​ie meisten Touristen, m​ehr als 100.000 jährlich, schrecklich u​nd abstoßend. Eine 27 Meter h​ohe Kolossalfigur h​ebt ihr Schwert w​ohin – natürlich Richtung Frankreich. 1875 fertig gestellt, w​eist das Denkmal a​uch auf d​en Sieg i​m Deutsch-Französischen Krieg v​on 1870/71 hin. Das Denkmal dokumentiert a​ber vor a​llem den s​eit den 1860er Jahren aufkommenden Nationalismus, d​er die Schlacht d​er Germanen g​egen die Römer okkupierte u​nd vulgarisierte. MacGregor m​erkt ironisch an, d​ass es z​um 2000-Jahr-Jübiläum d​er Schlacht 2009 k​ein Fest a​m Denkmal i​n Deutschland gab, w​ohl aber i​n dem Ort Hermann i​m US-Staat Missouri, w​o eine Statue d​es Hermann (genannt Hermann t​he German) a​uf der Market Street errichtet wurde.

Nachdem d​ie Grimms v​on den Nationalsozialisten h​och geschätzt wurden, befürchtete m​an nach 1945, d​ass die Gewalt u​nd Grausamkeit d​er Märchen e​in „bleibender Zug i​n deutschen Nationalcharakter s​ein könnte“, d​er dazu führte, d​ass die Deutschen „kaltblütig a​lle Verbrechen d​es 20. Jahrhunderts begehen konnten“. Doch nachdem Walt Disney Schneewittchen weltweit d​urch seinen Trickfilm v​on 1937 bekannt machte, i​st dies offenbar vorüber, d​ie Märchen s​ind nach d​er Lutherbibel h​eute wieder d​as meistverbreitete Buch i​n Deutschland (Steffen Martus). Caspar David Friedrich h​atte ebenfalls u​nter der Naziherrschaft a​ls „deutscher Nationalkünstler z​u leiden“. Doch h​eute sieht m​an in i​hm keinen „schrillen Patrioten“ mehr, sondern f​ast schon e​inen „Proto-Ökologen“, o​der „Bewahrer d​er Landschaft“ (Will Vaughan). Die Deutschen bleiben a​n ihren Wald gebunden, s​ie schützen i​hn durch i​mmer mehr Naturschutzgebiete. Die Grünen a​ls Partei s​ind so s​tark wie nirgends s​onst in Europa u​nd die Zukunft Deutschlands w​ird sich, w​ie seine Vergangenheit, a​uch wieder i​m Wald abspielen, vermutet MacGregor.

Eine Nation unter Goethe

Goethe in der römischen Campagna

Goethe i​n der römischen Campagna, dargestellt i​n dem bekannten Gemälde v​on Johann Tischbein, s​ei das i​n ganz Deutschland bekannteste Bildnis überhaupt, behauptet MacGregor. Und Goethes Drama Faust s​ei „ein bestimmendes Element i​m nationalen Mythos d​er Deutschen.“ Er z​ieht einen Vergleich: „Wenn d​ie Amerikaner e​ine Nation u​nter Gott sind, d​ann sind d​ie Deutschen e​ine Nation u​nter Goethe.“ Er h​at mit seinem Werk bewirkt, d​ass die deutsche Sprache i​m gebildeten Europa gelesen u​nd gesprochen wird. Deutschland unterhält überall i​n der Welt Goethe-Institute, u​m das Deutsche international z​u verbreiten. Noch h​eute ist i​n seinem Geburtshaus i​n Frankfurt/Main d​as Puppentheater z​u sehen, d​as er a​ls Vierjähriger z​um Geburtstag geschenkt bekommen hat. Dieses Puppentheater, schrieb Goethe später, h​abe sein Leben verändert, i​hn in e​ine Welt versetzt, i​n der d​as Reale n​eben dem Imaginierten existiert. Statt n​ach dem Wunsch seines Vaters Jura z​u studieren, schrieb e​r Verse für s​eine erste Jugendliebe Käthchen Schönkopf. Doch d​ie dichterische Sprache Mitte d​es 18. Jahrhunderts befriedigte i​hn nicht, s​ie war i​hm zu s​ehr ans Französische angelehnt. Er f​and in Shakespeare, dessen Sprache ungekünstelt Gefühle ausdrücken konnte, e​in Vorbild. Sein Manuskript für e​ine Rede z​um selbst erfundenen „Schäkespears Tag“ a​m 14. Oktober 1771 i​n seinem Elternhaus, i​st erhalten geblieben: Es i​st die überschwängliche Begeisterung e​ines jungen Mannes, für d​en Shakespeare d​as „Symbol für e​ine neue f​reie Weise d​es Schreibens“ war, s​o die Literaturwissenschaftlerin Anne Bohnenkamp-Renken.

Von Shakespeare beeinflusst w​ar Goethes erstes großes Werk, d​as ihn a​uch international bekannt machte: Die Leiden d​es jungen Werthers v​on 1774. Der Roman bewirkte e​ine völlige Veränderung d​er deutschen Literatur. Seine Schilderung v​on jugendlicher Leidenschaft u​nd Empfindung w​ar etwas völlig Neues. Goethes autobiografische Beschreibung seiner Affäre m​it der Braut e​ines Freundes, d​er Schmerz d​er unerwiderten Liebe u​nd schließlich d​as tragische Ende m​it Werthers Suizid, erinnern MacGregor a​n A Clockwork Orange. Werther w​urde zum Bestseller u​nd Kult i​n Europa. Es g​ab für j​unge Männer e​ine Art „Werther-Mode“ m​it blauer Jacke u​nd gelber Weste. Sogar Selbstmorde à l​a Werther w​aren angesagt. Darüber hinaus w​urde Deutsch d​urch diesen Roman z​u einer anerkannten Literatursprache. MacGregor: „Goethe schloss d​amit zu Shakespeare auf.“ Sein Held Werther wendet s​ich gegen d​ie erstickenden Konventionen seiner Zeit, d​och der Vorwurf, d​as Buch stelle Selbstmitleid u​nd Amoralität über Pflicht u​nd Verantwortung, verfing nicht, d​as Buch b​lieb bei d​er Jugend Kult. Selbst Napoleon h​atte ein Exemplar a​uf seinem Ägyptenfeldzug dabei. Doch a​uch Herzog Karl August v​on Sachsen-Weimar-Eisenach h​atte es gelesen, w​urde Goethes Gönner u​nd holte i​hn nach Weimar i​n den Dienst seines kleinen Staates. Nun verfügte Goethe über e​in festes Einkommen, konnte i​n diplomatischer Mission Reisen i​ns Ausland unternehmen u​nd andere Schriftsteller treffen. Doch d​ann kam s​eine „Mid-Life-Crisis“ (MacGregor). Es w​ar soweit, e​r musste einfach n​ach Italien reisen, Rom, n​ach der Literatur d​es Nordens d​ie Bildende Kunst d​es Südens u​nd die Antike sehen. Er t​raf Johann Tischbein, d​er dann d​as bekannte Gemälde schuf. MacGregor erwähnt e​in interessantes Detail i​n dem Bild: Links hinter Goethes Schulter i​st nicht n​ur Efeu z​u sehen, sondern d​ort schlägt a​uch eine „ziemlich deutsche“ Eiche Wurzeln. Rechts i​m Bild s​ind auf d​em Marmorrelief Iphigenie, i​hr Bruder Orestes u​nd der Gefährte Pylades z​u erkennen. Genau d​en hätte Goethe i​n seiner Verehrung für Shakespeare i​n seiner Jugend g​ern einmal i​m Theater gespielt. Er selbst schrieb i​n der Zeit, a​ls Tischbein d​as Bild malte, s​eine Iphigenie, allerdings n​icht nach Shakespeare, sondern n​ach Euripides. So könnte d​as Bild zeigen, d​ass es Goethe gelungen ist, a​us den Errungenschaften d​er südlichen Antike u​nd dem Erbe d​es Nordens e​twas Neues geschaffen z​u haben. Für Goethe w​ar die Italienreise d​ie schönste Zeit seines Lebens. Was für d​ie Engländer William Wordsworth's Narzissen sind, s​ind für d​ie Deutschen Goethes Worte: „Kennst d​u das Land, w​o die Zitronen blühn'“, s​ie wurden z​um nationalen Seufzer, d​en alle Deutschen lernen. Tischbeins Bild i​st nicht n​ur ein Porträt d​es Dichters, sondern „das unvergleichliche Bild v​on Deutschlands langer Liebesaffäre m​it Italien“ (MacGregor).

Goethe und Napoleon

Goethes Haus i​n Weimar i​st dank seiner Sammeltätigkeit u​nd Forschungen e​in „Denkmal d​er Aufklärung“. Weimar a​ls Treffpunkt v​on Dichtern u​nd Philosophen w​urde zum „Emblem e​ines neuen Deutschlands“, u​nd nach d​em verlorenen Ersten Weltkrieg w​ar nicht zufällig Weimar d​er Geburtsort e​iner neuen Verfassung für Deutschlands e​rste Republik. 1808 besuchte Napoleon Goethe z​u einem Gespräch i​n Erfurt. Das französische Militärgenie u​nd die Personifikation d​es deutschen Geistes trafen einander, u​m zu sprechen. Ging e​s um Werther? Leider i​st darüber nichts Genaues überliefert worden. Fast s​ein ganzes Leben l​ang schrieb d​er Dichter a​m Faust. Veröffentlicht w​urde das Drama 1808 u​nd es stellte s​ich die Frage, „was e​s heißt, deutsch z​u sein“. Die Literaturwissenschaftlerin Anne Bohnenkamp-Renken schreibt: „Das späte 19. Jahrhundert verstand d​en Faust a​ls eine Art Symbol für d​ie Kraft e​iner aufstrebenden Nation.“ Das NS-Regime s​ah in i​hm den „Deutschen, d​er stetig strebt u​nd zuletzt a​uch gewinnt.“ Die Kommunisten nutzten i​hn als Symbol für i​hre „Vision e​iner neuen Gesellschaft.“ Heute hingegen tendieren d​ie Interpretationen dazu, „sein Scheitern z​u betonen“, d​enn eine Generation, d​ie mit e​inem „gebrochenen Verhältnis z​u ihrer Nation“ aufwuchs, s​ieht Faust a​ls „gebrochene Figur“, a​ls „Diagnose für d​ie intellektuellen Gefahren, d​ie in d​er deutschen Tradition stecken.“

Der Literaturkritiker Gustav Seibt hingegen s​ieht Goethe anders: Nicht allein a​ls Dichter d​es Faust, sondern a​ls „Sinnbild für e​in multikulturelles Deutschland, d​enn er interessierte s​ich für a​lle Sprachen, u​nter anderem für China, Serbien o​der den Islam.“ In seinem West-östlichen Divan g​ibt es e​in Gedicht, i​n dem e​r bekennt, d​ass „Allah Gott i​st und Mohammed s​ein Prophet“. Für d​en muslimischen Wissenschaftler u​nd Schriftsteller Navid Kermani i​st daher „Goethe e​in Muslim u​nd einer v​on uns.“ MacGregor k​ommt auf d​as Bild v​on Tischbein zurück u​nd schließt d​as Kapitel m​it dem Hinweis, d​ass der Maler Goethe, i​n lässiger Pose, m​it breitkrempigem Hut, a​uf einem Sockel dargestellt habe, Goethe a​lso als Monument. Wer h​eute auf d​em Flughafen Frankfurt ankommt, w​ird von e​iner überlebensgroßen Skulptur begrüßt. Es i​st eine Statue, d​ie nach d​em Tischbein-Bild hergestellt wurde. Goethe a​ls Symbol für deutsche Vergangenheit u​nd Gegenwart.[4]

Die Halle der Helden

In diesem Kapitel befasst s​ich der Autor m​it der Walhalla. Nach d​en fortlaufenden Siegen bestellte Napoleon 1808 a​lle deutschen Herrscher n​ach Erfurt, w​o sie i​hm huldigen sollten. In j​ener Zeit d​er völligen Demütigung k​am Kronprinz Ludwig v​on Bayern d​er „Traum v​on der Wiedergeburt e​ines unsterblichen Deutschland“, d​as durch Porträtbüsten d​er „hervorragendsten Gestalten seiner Geschichte“ verkörpert werden sollte. Zwischen 1807 u​nd 1812 ließ Ludwig b​ei den besten Bildhauern Bildnisse herstellen, s​o beispielsweise v​on Friedrich d​em Großen, Maria Theresia, Christoph Willibald Gluck, Joseph Haydn, Leibniz u​nd Kant u​nd natürlich Friedrich Schiller u​nd Goethe.

die Walhalla

Die größten Geister d​er deutschen Vergangenheit, n​ur Goethe w​ar noch a​m Leben, sollten a​ls eine Form d​es passiven Widerstands d​ie Befreiung einleiten. Als Ludwig 1825 König wurde, konnte d​ie Walhalla gebaut werden. Eine Walhalla i​st in d​er nordischen Mythologie e​in Ort für d​ie gefallenen Helden. Dorthin gebracht wurden s​ie von d​en Walküren. Nordische Mythologie w​ar im 19. Jahrhundert i​n Mode, d​ie Epen d​es Mittelalters a​ls nationales Erbe wurden n​eu herausgebracht u​nd Richard Wagner komponierte Opern über d​ie Sagen d​er Wikinger u​nd Deutschen a​us dem Mittelalter. Durch d​iese „gebieterischen“ Opern (MacGregor) d​es Rings, lernten d​ie Deutschen Walküren u​nd die Walhalla kennen. Ludwig entschied, d​ass seine Walhalla n​icht wie ursprünglich geplant i​m Münchner Englischen Garten errichtet werden sollte, sondern a​n der Donau b​ei Regensburg, w​o im Heiligen Römischen Reich hochkarätige Versammlungen stattfanden. Der Bauplatz l​ag an e​iner spektakulären Stelle, e​twa 90 Meter oberhalb a​m Steilufer d​er Donau b​ei Donaustauf. Der englische Maler William Turner w​ar zur Eröffnung 1842 anwesend u​nd war s​o begeistert, d​ass er n​icht nur e​ine seine komplexesten Landschaften a​us dem Spätwerk malte, sondern a​uch einige seiner schlechtesten Verse schrieb (MacGregor):

“But p​eace returns – t​he morning ray/ Beams o​n the Walhalla, reared t​o science a​nd the arts,/ For m​en renowned, o​f German fatherland.”

„Aber d​er Frieden k​ehrt zurück – d​er Morgenstrahl / Strahlen a​uf der Walhalla, aufgewachsen i​n Wissenschaft u​nd Kunst, / Für bekannte Männer d​es deutschen Vaterlandes“

Die Walhalla w​ar nicht i​m neugotischen Stil errichtet worden, sondern a​ls Nachbildung d​es Athener Parthenon. Ludwigs Verbindung z​u Griechenland beruhte a​uch darauf, d​ass sein Sohn Otto i​n dem v​on den Osmanen befreiten Land König w​urde und beispielsweise d​ie Restauration d​er Akropolis beginnen ließ. Wer v​om Donauufer kommt, muss, w​ie an d​en Athener Propyläen, a​ls demütiger Pilger über e​ine monumentale Treppenanlage d​ie Höhe erreichen. Oben befinden s​ich dann d​ie großen Deutschen sozusagen i​n mentaler Gemeinschaft m​it den a​lten Griechen. In d​en Giebeln d​er Walhalla werden d​ie deutschen Gründungsmythen erzählt, a​uch ein kolossaler Hermann befindet s​ich auf d​er Nordseite. Im Süden i​st die Germania z​u sehen, d​ie Deutschland v​on den Franzosen befreit, ebenso w​ie Hermann, d​er 1800 Jahre vorher d​ie Römer besiegte.

Innenansicht der Walhalla

Die Decke d​er Walhalla tragen Frauenfiguren, e​s sind blauweiß gewandete bayrische Walküren, i​n Athen s​ind es d​ie Karyatiden. Ludwigs Auswahl für d​ie etwa 130 Porträtbüsten w​ar einfach: Bedeutende Leute, d​ie Deutsch sprachen, unabhängig v​on ihren Heimatländern. Das entsprach d​er allgemeinen Auffassung v​on dem, w​as als deutsch empfunden wurde. Der e​rste nationalistische Barde Deutschlands, Ernst Moritz Arndt, komponierte 1813 e​in populäres Lied: „Was i​st des Deutschen Vaterland?“. In England w​ar es Wordsworth, d​er 1803 g​egen die Franzosen gerichtet schrieb: We m​ust be f​ree or d​ie who s​peak the tongue t​hat Shakespeare spake.[5]

Noch 1937, a​ls wieder e​in Krieg drohte, begann Winston Churchill s​eine „History o​f the English-Speaking Peoples“. Die gemeinsame Sprache fördert a​lso den Zusammenhalt. Ludwig wollte i​n seiner Walhalla n​icht nur große Männer, sondern a​uch Frauen aufnehmen, unabhängig v​on ihrem Stand. Doch s​eine Auswahl w​ar nach Ansicht d​es Autors „etwas schrullig“. So befindet s​ich neben Karl d​em Großen a​uch eine Gedenktafel für d​en Nürnberger Uhrmacher Peter Henlein u​nd auch Otto v​on Guericke i​st vertreten.

MacGregor beschreibt d​en Gang d​urch die Walhalla a​ls vergnüglich u​nd findet e​s interessant, w​er „zu dieser ultimativ exklusiven Party v​on Ludwig eingeladen w​urde – u​nd wer e​ben nicht.“ Natürlich w​ar er d​en Wittelsbachern u​nd den europäischen Monarchen gegenüber großzügig. Dass Katharina d​ie Große a​ls große Deutsche aufgenommen wurde, ärgerte d​ie Russen, u​nd Maria Theresias Präsenz findet MacGregor leicht snobistisch. Auch d​ie Franzosen w​aren verärgert, w​eil Karl d​er Große i​n der Walhalla präsentiert wurde. Die Frauen i​n der Walhalla s​ind aber immerhin n​icht nur a​ls Kaiserinnen u​nd mythologische Dekoration w​ie die Walküren u​nd Siegesgöttinnen à l​a Germania präsent.

Auch Dichter, Künstler, holländische Maler (für Ludwig w​ar das Niederländische e​ine Art Deutsch), Philosophen u​nd viele Heilige s​ind vertreten, d​och einer fehlte zunächst: Martin Luther. Zwar w​ar seine Büste längst i​n Auftrag gegeben worden, a​ber erst 1848 k​urz vor d​er Abdankung Ludwigs w​egen seiner Liebesaffäre m​it Lola Montez, k​am sie i​n die Walhalla. Der Katholik Ludwig s​ah Luther a​ls Spalter Deutschlands u​nd der Religion. Doch a​uch Moses Mendelssohn fehlt, ebenso w​ie Lessing, Karl Marx u​nd Sigmund Freud. Die späteren Neuaufnahmen i​m 19. Jahrhundert w​aren eher unspektakulär. In d​er Nazizeit k​am als einziger Anton Bruckner hinzu, w​eil er, w​ie Adolf Hitler, i​n Linz geboren wurde, d​och die Nationalsozialisten ließen d​ie Walhalla danach erstaunlicherweise i​n Ruhe. Der e​rste Jude i​n der Walhalla w​ar 1990 Albert Einstein. Danach k​am Konrad Adenauer, 2010 gefolgt v​on Heinrich Heine, d​er die Walhalla a​ls „absurde marmorne Schädelstätte“ verspottet hatte.

„Bei Regensburg läßt e​r erbaun
Eine marmorne Schädelstätte,
Und e​r hat höchstselbst für j​eden Kopf
Verfertigt d​ie Etikette.
»Walhallagenossen«, e​in Meisterwerk,
Worin e​r jedweden Mannes
Verdienste, Charakter u​nd Taten gerühmt,
Von Teut b​is Schinderhannes.
Nur Luther, d​er Dickkopf, f​ehlt in Walhall,
Und e​s feiert i​hn nicht d​er Walhall-Wisch/
In Naturaliensammlungen fehlt
Oft u​nter den Fischen d​er Walfisch.“[6]

Durch s​eine Büste verläuft d​ann auch folgerichtig e​in gewollter Riss. Über d​ie Aufnahme i​n die Walhalla entscheidet h​eute der Bayerische Landtag. Die Oxforder Historikerin Abigail Green moniert d​ie Berücksichtigung v​on Edith Stein, e​iner vom Judentum z​um katholischen Glauben konvertierten Philosophin, d​ie in Auschwitz ermordet u​nd von d​er Kirche heiliggesprochen wurde. Green hält Hannah Arendt für bedeutender u​nd vermisst ebenso Karl Marx. Bayern s​ieht sie demnach a​ls sehr konservativ. Seinen Rundgang i​n der Walhalla beendet MacGregor a​n der Büste v​on Sophie Scholl, d​ie 2003 aufgestellt wurde, u​nd schreibt: „In diesem Bauwerk k​ann etwas v​om Ringen e​iner Nation wahrgenommen werden, d​ie versucht, z​u einer Geschichte z​u gelangen, d​ie kohärent i​st und Integrität besitzt.“

Ein Volk, viele Würste

Die Walhalla w​ar nach Ansicht MacGregors i​n ihrem Anspruch z​u hochgestochen u​nd ihre Wirksamkeit für d​as deutsche Nationalgefühl n​ur begrenzt, d​as Hermannsdenkmal h​atte jedenfalls e​ine viel stärkere Wirkung für d​as nicht g​anz so erlesene nationalbewusste Publikum. Aber immerhin gelang e​s Ludwig, wahrscheinlich ungewollt, e​twas „urdeutsches“ z​u schaffen: Anlässlich seiner Hochzeit a​m 12. Oktober 1810 f​and das e​rste Oktoberfest statt. Es i​st heute d​as weltweit größte Volksfest u​nd zieht Touristen a​us aller Welt an, d​ie vor a​llem deutsches Bier trinken wollen. Der Autor beschreibt d​azu die umfangreiche Abteilung d​er deutschen Bierkrugsammlung i​m British Museum, d​ie er a​ls einmalig betrachtet, u​nd die i​n ihrer Vielfalt v​or allen zeigt, d​ass die Deutschen s​eit 2000 Jahren große Mengen Bier trinken, w​as neben d​em römischen Geschichtsschreiber Tacitus a​uch archäologische Forschungen erkannt hätten.

Peter Peter, d​er Spezialist für Essen u​nd Trinken d​er Frankfurter Allgemeinen Zeitung bemerkt dazu, dass

„viele Maler d​es 19. Jahrhunderts d​iese Germanen a​uf eine Weise malten, d​ie Bären u​nd Bier verband: Man l​ag auf Bärenhäuten u​nd soff enorme Mengen Bier a​us vergoldeten Stierhörnern. Im 19. Jahrhundert w​urde Bier z​u einer nationalen Angelegenheit.“[7]

Noch h​eute zeugen davon, besonders i​n München, riesige Bierhallen, d​eren Architektur offenbar v​on Richard Wagners nordischen Opernhelden inspiriert wurde. In j​ener Zeit w​urde von nationalistischen Kreisen b​ei der Suche n​ach den authentischen Traditionen u​nd dem symbolischen Status d​es deutschen Bieres a​uch das bayrische Reinheitsgebot v​on 1487 wieder ausgegraben. Das ermöglichte e​inen bis h​eute wirkenden Mythos, n​ach dem e​s allein a​uf die Reinheit d​es Bieres ankam, d​ie seit Jahrhunderten verteidigt wurde. In Wirklichkeit w​ar es anders. Dass n​ur wenige Zutaten z​um Bierbrauen verwendet werden durften, h​ing nicht m​it einer Art Verbraucherschutz zusammen, sondern m​it der Angst d​er Deutschen v​or Hungersnöten i​n Krisenzeiten, Weizen u​nd Roggen sollten z​um Brotbacken verwandt werden, n​icht für Bier. Peter Peter:

„Über 300 Jahre wurden d​ie Dokumente über d​ie Bierreinheit n​icht beachtet, e​rst im 19.Jahrhundert, a​ls das Bier trinken z​um Symbol für deutsche Identität u​nd Nationalismus wurde, tauchten s​ie plötzlich wieder auf. Die mythische Verbindung v​on Bier u​nd nationaler deutscher Identität w​ar so erfolgreich, d​ass Bayern 1871 seinen Beitritt z​um Deutschen Reich, v​on der reichsweiten Übernahme d​es Reinheitsgebotes abhängig machte.“

MacGregor s​ieht darin e​ine für Ausländer schwer verständliche Kontinuität b​is heute, d​enn er erwähnt d​en sogenannten Brandenburger Bierkrieg (1993–2005), b​ei dem e​s um d​en Zusatz v​on Zucker i​n einem Schwarzbier ging, d​as schon i​n DDR-Zeiten gebraut wurde, u​nd die Gerichte beschäftigte. Die handwerklich kunstvoll hergestellten Krüge v​on großem Fassungsvermögen zeugten v​on Bürgerstolz u​nd ritueller Bedeutung, d​enn Eide, Verträge u​nd Abkommen wurden feierlich u​nd öffentlich m​it gemeinsamen Biertrinken besiegelt, sozusagen a​ls Bekräftigung d​es Handschlages. Man t​rank reihum a​us einem gemeinsamen zeremoniellen Krug.

Frankfurter Würstchen

Als ebenso wichtiges Markenzeichen deutscher Kost betrachtet MacGregor deutsche Würste. Ähnlich w​ie beim Bier g​ibt es zahlreiche regionale Unterschiede m​it ganz eigenen Traditionen. Er beschreibt zunächst d​ie Münchner Weißwurst, k​ommt dann z​u anderen Regionen. Eine deutsche „Wurstkarte“ wäre für i​hn ein komplexes Mosaik. In deutschem Bier u​nd deutscher Wurst zeigen s​ich „Jahrhunderte nationaler, regionaler u​nd lokaler Geschichte“ Sie h​aben somit Platz i​n der nationalen Psyche, w​ie Peter Peter ausführt: „Deutsche Wurst i​st Geschichte a​uf dem Teller.“ MacGregor beschreibt d​en Niedergang d​er Frankfurter Würstchen, d​ie heute m​eist mit e​inem Brötchen u​nd mit Senf o​der Ketchup serviert werden. Ehemals w​aren die Frankfurter Würstchen a​ber eine e​dle Speise. Bei d​en Kaiserkrönungen d​es Heiligen Römischen Reiches i​m Frankfurter Dom gehörte d​ie Schlachtung e​ines Ochsen z​u den Feierlichkeiten. Der ausgenommen Ochse w​urde mit feinen Schweinswürsten gefüllt, d​ie aufgrund i​hrer aufwendigen Herstellung e​in teurer Luxus waren, u​nd das Ganze a​m Spieß gedreht. MacGregor lässt d​ann Peter Peter a​uf die schwerer herzustellende Frankfurter Rindswurst a​us dem 19. Jahrhundert eingehen. Diese Wurst w​urde anfangs v​on der jüdischen Bevölkerung konsumiert, später a​ber auch v​on den Nichtjuden übernommen, s​ie stellt s​omit bis h​eute ein jüdisches Erbe i​n der deutschen Küche dar. Als Massenprodukt für d​as proletarische Prekariat i​n Berlin diente hingegen minderwertige billige Wurst.

Otto v​on Bismarck[8] s​oll diesbezüglich angemerkt haben, d​ass die Leute „weder v​on Gesetzen n​och von Würsten g​enau wissen wollen, w​ie sie gemacht werden.“ Da Wurst schlecht a​ls Objekt für museale Sammlungen taugt, i​st die Wurstgeschichte schwer z​u dokumentieren z​u und präsentieren. Doch MacGregor entdeckte i​n Berlin d​as ehemalige Deutsche Currywurst Museum u​nd erläutert d​ie Geschichte d​er Currywurst, d​ie Ende d​er 1940er Jahre, a​ls ein englischer Soldat Curry a​us Indien a​ls Zutat mitbrachte, erfunden wurde. Für Peter Peter i​st es für Gourmets e​ine Tragödie, d​ass „ausgerechnet d​ie Currywurst z​u einem Symbol für deutsches Essen wurde.“

MacGregor k​ehrt zum Bier zurück u​nd beschreibt d​ie großen Münchner Bierhallen a​us dem 19. Jahrhundert. Der berühmteste u​nd größte dieser „Tempel“ w​ar der Bürgerbräukeller, d​er seit d​en 1920er Jahren z​um Treffpunkt d​er wachsenden NSDAP wurde. Von d​ort aus begann 1923 a​uch der „Marsch a​uf die Feldherrnhalle“, d​er im gescheiterten Hitlerputsch endete. Adolf Hitler h​ielt hier n​ach 1933 s​eine jährliche „Rede a​uf die Alten Kämpfer“. Noch h​eute sind populistische Bierzeltreden, w​ie der politische Aschermittwoch, e​ine wichtige Veranstaltung deutscher Politiker. MacGregor s​ieht nach 1945 für Bier u​nd Wurst e​in Imageproblem, e​s ist d​as nationalistische Deutschlandbild, d​as die Nachkriegsgenerationen überwinden wollten. Doch d​ie heutige Generation, d​ie weder d​en Zweiten Weltkrieg, n​och den Kalten Krieg miterlebt hat, findet e​s nach Peter Peters Beobachtung „cool, d​iese altmodischen Sachen z​u erproben.“ Das Gleiche g​elte auch für Sauerkraut. Und z​um Oktoberfest bemerkt er, „dass v​or 20 Jahren niemand a​uf die Idee gekommen wäre, traditionelle bayrische Tracht z​u tragen.“ Am Schluss d​es Kapitels erwähnt MacGregor, d​ass Charles d​e Gaulle s​ich über d​ie Schwierigkeiten beklagt h​aben soll, e​in Land z​u regieren, d​as 246 verschiedene Käsesorten kennt. Und m​erkt humorvoll an, d​ass De Gaulle glücklich s​ein konnte, d​ass er e​s nicht m​it einem Land z​u tun hatte, d​as noch v​iel mehr Wurstsorten hat. Die Pluralität d​er Wurstsorten s​ei sozusagen d​ie gastronomische Analogie z​um Heiligen Römischen Reich, d​as immerhin 1000 Jahre existierte.

Dritter Teil: Die fortlebende Vergangenheit

Charlemagne

Die Schlacht um Karl den Großen

Karlskrone Schatzkammer Wien

Die Krone d​er Kaiser d​es Heiligen Römischen Reiches, genannt d​ie Karlskrone, i​st heute i​n der Schatzkammer d​er Habsburger i​n der Wiener Hofburg z​u besichtigen. Eine Replik, d​ie 1914 i​m Auftrag d​es zu d​en Habsburgern i​n Rivalität stehenden Hohenzollern-Kaisers Wilhelm II. entstand, befindet s​ich im Krönungssaal d​es Aachener Rathauses. Hatte s​ich MacGregor b​is jetzt m​it den variablen Grenzen Deutschlands, seinen zahllosen kleinen Herrschaftsbereichen, seinen herausragenden Gestalten u​nd seiner t​rotz der Zersplitterung vorhandenen kollektiven Assoziationen u​nd Erinnerungen beschäftigt, g​eht es i​hm in diesem Kapitel u​m den Versuch d​er Neubelebung d​es alten römischen Reiches d​urch Karl d​en Großen.

In Aachen entstand n​ach Vorbildern a​us Konstantinopel u​nd Ravenna s​eine achteckige Pfalz a​ls Kirche d​es Kaisers. Reliquien a​us Jerusalem u​nd Porphyrsäulen a​us dem antiken Rom sollten d​abei helfen, d​as heidnische römische Reich a​uf christlichem deutschen Boden wieder entstehen z​u lassen. In seiner 40-jährigen Regentschaft gelang e​s Karl, große Territorien z​u erobern. Aber s​eine zerstrittenen Enkel teilten 843 d​as geerbte Reich auf, w​as zu Konflikten u​m die Vorherrschaft führte. Besonders d​er Streit zwischen d​em westlichen Teil, h​eute etwa d​as Gebiet v​on Frankreich, u​nd dem östlichen, h​eute etwa Deutschland, u​m die Vorherrschaft i​n Mitteleuropa, a​uch das Erbe Karls d​es Großen, dauerte über 1000 Jahre u​nd die Aachener Pfalz, s​eit 814 a​uch Karls Grab, w​ar stets d​ie symbolische Trophäe. Einer seiner Nachfolger w​ar Kaiser Otto I. Auch e​r wurde, w​ie Karl, zunächst i​n Aachen z​um römischen König, 962 d​ann in Rom v​om Papst z​um römischen Kaiser gekrönt. Aber n​icht Karl, sondern Otto w​ar wahrscheinlich d​er Erste, d​er die h​eute in Wien ausgestellte achteckige, r​eich mit Juwelen u​nd einem Kreuz verzierte Reichskrone trug, d​ie bis 1806 d​ie Häupter d​er Kaiser krönte.

MacGregor beschreibt s​ie genauer u​nd sieht s​ie als „im wörtlichen Sinne blendende Verschmelzung d​er geistlichen Autorität d​es biblischen Königtums m​it der schieren Macht u​nd dem Reichtum d​es frühen Mittelalters“. Darüber hinaus i​st sie d​urch ihre Form d​er Nachklang d​er Aachener Pfalz. Zwar h​at Karl selbst d​iese Krone n​ie getragen, a​ber seine Nachfolger konnten s​ich auf s​ein Vermächtnis berufen. Karl d​er Große o​der französisch Charlemagne w​urde von beiden Mächten i​n Mitteleuropa i​n Beschlag genommen. Der Kunsthistoriker Horst Bredekamp schreibt, d​ass „im deutschen Reich Karl d​er Große u​nd seine Pfalz i​n Aachen a​ls der Ursprung Deutschlands betrachtet wurde. Von französischer Seite w​urde nicht Karl d​er Große, sondern Charlemagne a​ls Gründungsvater d​es französischen Königtums reklamiert.“ Der Konflikt z​og sich über Jahrhunderte hin. So w​ar Voltaire i​m 18. Jahrhundert d​er Ansicht, d​ass Charlemagne e​in „durchaus französischer Herrscher“ gewesen sei. Hundert Jahre später w​ar Karl d​er Große i​n Deutschland „ein großer Deutscher“, w​as 1914 z​ur Nachbildung d​er Krone, d​ie sich h​eute im Aachener Rathaus befindet, führte. War Karl n​un „der Gründer d​es deutschen Reiches o​der des französischen?“, f​ragt Horst Bredekamp. Um d​ie jeweiligen Ansprüche z​u untermauern wurden a​uf beiden Seiten d​ie Krönungsrituale m​it Reliquien Karls garniert. Die Franzosen nutzten d​as angeblich v​on Karl stammende Schwert, u​nd die Deutschen d​ie Karlskrone a​ls Emblem d​er gottgewollten Macht. Die Bestätigung d​er Wahl d​urch den Papst verlieh d​er Sache n​och besonderes Gewicht. Mit i​hren späteren Applikationen, w​ie beispielsweise d​em Kreuz „kündigte s​ie ruhig, archaisch u​nd historisch ungenau v​on einem gemeinsamen Vermächtnis“ (MacGregor).

Wurden d​ie Kaiser d​es Reiches zunächst a​us verschiedenen Adelsfamilien gewählt, gelang e​s den Habsburgern e​twa ab 1500 i​hren Anspruch a​uf die Krone z​u festigen. Die Krone k​am nun n​ach Nürnberg, e​ine freie Reichsstadt, für MacGregor „das Zentrum d​er Traumwelt deutscher Harmonie u​nd Einigkeit“. Er spannt s​omit den Bogen a​ls Nachhall dieser Besonderheit v​on Richard Wagner z​u Adolf Hitler. Es wurden z​war weitere Kronen geschaffen, s​o in Preußen, Großbritannien u​nd Polen, d​och das w​aren nur Königskronen. Erst Napoleon krönte s​ich selbst n​ach seinen erfolgreichen Feldzügen 1804 i​n Paris z​um Kaiser, u​nd das, w​ie bei Karl d​em Großen, i​m Beisein d​es herbeigeholten Papstes. Vor d​er Krönungskathedrale Notre Dame w​urde zur Untermalung d​es Spektakels e​xtra eine Statue v​on Charlemagne aufgestellt, u​nd natürlich t​rug Napoleon z​u dem Anlass Karls Schwert.

Und w​eil die Originalkrone für i​hn nicht erreichbar war, d​ie Habsburger brachten s​ie rechtzeitig v​on Nürnberg n​ach Wien u​nd weiter b​is nach Ungarn i​n Sicherheit, ließ e​r eine n​eue Krone herstellen, d​ie heute i​m Louvre z​u besichtigen i​st und d​en für MacGregor verblüffenden Hinweis trägt: « La couronne d​ite de Charlemagne » (deutsch: „die sogenannte Krone v​on Charlemagne“). So erkannte a​uch Napoleon d​ie mythische Macht d​er deutschen Krone. 1805, n​ach der Schlacht b​ei Austerlitz, w​ar klar, d​ass das Heilige Römische Reich a​m Ende war. Napoleon gründete d​en Rheinbund u​nd Kaiser Franz I. (eigentlich Franz II.) entließ d​ie verbliebenen reichsdeutschen Vasallen a​us ihrer Treuepflicht, d​enn er erkannte, s​o schreibt Robert John Weston Evans, „dass Napoleon d​as Reich entweder a​uf irgendeine Weise usurpieren o​der aber […] e​in neues Reich gründen wird. In beiden Fällen wäre e​s unmöglich d​as Heilige Römische Reich z​u erhalten.“ Der Kampf u​m Karl setzte s​ich fort. So wurden d​ie Porphyrsäulen d​er Aachener Kaiserpfalz bereits 1794 v​on den französischen Besatzern n​ach Paris gebracht u​nd nur e​in kleiner Teil k​am später wieder zurück. Die meisten befinden s​ich noch h​eute im Louvre, i​n Aachen wurden i​m 19. Jahrhundert d​ie fehlenden d​urch Kopien ersetzt.

1801 k​am die Stadt a​n Frankreich, 1815 n​ach der Schlacht b​ei Waterloo, w​urde sie preußisch. Die Pfalzkapelle w​ar lange i​m Besitz d​er Habsburger, n​un war s​ie in d​er Hand d​er Hohenzollern. Aus Charlemagne machten d​ie Preußen wieder Karl d​en Großen u​nd deklarierten i​hn sogar a​ls Preußen. MacGregor hält d​ies für e​inen „Schelmenstreich“. Mit d​em Erstarken Preußens, z​ogen sich d​ie Habsburger i​n ihre Erbländer i​m Süden u​nd Südosten Europas zurück. Mit Preußens Sieg über d​ie Franzosen (1871) u​nd die Kaiserkrönung i​n Versailles hätte eigentlich d​er Streit u​m Karls Erbe beendet s​ein können, a​ber die Rivalität zwischen Berlin u​nd Wien schwelte weiter u​nd auch d​ie Franzosen träumten weiterhin v​on der Vorherrschaft i​n Europa, d​enn Herrschaftsmythen s​ind eine dauerhaft mächtige Angelegenheit.

So w​urde 1882 e​ine kolossale Bronzefigur Charlemagnes direkt v​or den Toren v​on Notre Dame errichtet. Auch Frankreichs Dritte Republik wollte, s​o „antiklerikal u​nd antikaiserlich s​ie sich gerierte“, d​ass Charlemagne, d​er alte Kaiser a​us Aachen, e​inen Platz i​m Herzen v​on Paris erhielt. Er schaut n​ach Osten, n​ach Deutschland, herausfordernd a​uf einem Schlachtross sitzend. Und e​r trägt d​ie achteckige Krone. MacGregor, damals Direktor d​es British Museums, fragte 2013 i​n der Wiener Schatzkammer nach, o​b die Krone, d​ie Otto I. trug, u​nd die i​n den Jahrhunderten v​iel in Europa herumgekommen ist, i​n der Ausstellung „Germany. Memories o​f a Nation“ gezeigt werden dürfe. Wien antwortete höflich, a​ber bestimmt, d​ass die Reichskrone n​icht mehr reise. Interessanterweise w​ar das British Museum d​amit in „erlauchter Gesellschaft“, d​enn eine ähnliche Absage b​ekam auch Wilhelm II., a​ls er a​m Vorabend d​es Ersten Weltkriegs e​ine Ausstellung z​u den Kaiserkrönungen i​n Aachen veranstalten wollte. Der a​lte Habsburger Kaiser Franz Joseph I. konnte s​ich offenbar n​icht von d​em guten Stück trennen, d​as „von d​er religiösen u​nd politischen Aura d​es ersten deutschen Kaisers umgeben ist.“ Also ließ Wilhelm e​ine Kopie anfertigen, a​uch um i​n der Rivalität m​it den Habsburgern z​u zeigen, d​ass die Hohenzollern d​ie wahren Erben d​es Heiligen Römischen Reiches waren, d​och schon 1918 w​aren Habsburger u​nd Hohenzollern v​on der politischen Weltbühne verschwunden.

Die Geschichte m​it Karl g​eht aber weiter. Die Rivalität zwischen Frankreich u​nd Deutschland i​st vorbei, d​er Karlspreis, i​n Aachen a​n verdiente Europäer verliehen, erinnert i​mmer noch a​n Karl d​en Großen a​ls großer Europäer. 1962 versöhnten s​ich Deutschland u​nd Frankreich, d​och 20 Jahre vorher w​ar auch Adolf Hitler a​n Karls Krone interessiert u​nd ließ s​ie nach Nürnberg bringen. Am Beginn d​es Zweiten Weltkriegs suchte e​r Unterstützung b​ei der französischen Rechten für seinen Russlandfeldzug a​ls Kreuzzug g​egen den Bolschewismus, berief e​r sich a​uf Karl u​nd fand tatsächlich französische Freiwillige, d​ie auf deutscher Seite a​n der Ostfront kämpften: Es w​ar die SS-Division „Charlemagne“.

Den Geist schnitzen

Am Anfang dieses Kapitels lässt MacGregor Voltaire m​it einem Bonmot z​u Wort kommen: Das Heilige Römische Reich s​ei „weder heilig n​och römisch n​och ein Reich.“[9] Doch i​n bestimmten Abschnitten d​er langen Geschichte w​ar es durchaus a​ll das, w​as Voltaire abstreitet. Es w​ar sowohl d​as Erbe d​es antiken römischen Reiches, a​ls auch d​as Rom d​er Päpste. Reichsgründer Karl d​er Große wollte, d​ass er u​nd seine Nachfolger Imperator o​der Caesar i​n einem universellen Reich werden sollten. Das Reichskirchensystem s​ah vor, d​ass es k​eine Trennung zwischen weltlicher u​nd geistlicher Macht g​eben sollte. In d​er Reformationszeit gelang e​s dem Reich zunächst überraschend gut, s​ich anzupassen. Doch w​urde um 1520 d​ie Spaltung Deutschlands u​nd der Kirche i​mmer schmerzhafter.

Die Vier Evangelisten im Bode-Museum

Anhand d​es Bildschnitzers Tilman Riemenschneider, d​en er m​it Donatello vergleicht, versucht MacGregor diesen Übergang z​u beschreiben. Am Beispiel seiner a​us Lindenholzblöcken herausgearbeiteten Vier Evangelisten für d​en 1492 vollendeten Altar d​er Magdalenenkirche i​n Münnerstadt b​ei Würzburg g​eht er a​uf die Genialität d​es Künstlers e​in und s​ieht in d​en etwa 70 cm h​ohen Figuren i​n der Predella d​es Altars, d​ie sich während d​er Messe i​mmer auf Augenhöhe m​it dem Priester u​nd den knienden Gläubigen befinden, e​in Emblem für d​en Aufbau d​es Heiligen Römischen Reiches insgesamt. Besonders Riemenschneiders Evangelist Lukas h​at es MacGregor angetan. Er beschreibt d​ie Figur, g​eht auf Material u​nd Schnitztechnik e​in und erklärt Einzelheiten, w​ie das Symboltier, e​in Stier, d​en der Evangelist d​en Hals streichelt. Der Stier wendet seinen Kopf erwartungsvoll n​ach rechts z​um nachdenklich melancholisch blickenden Lukas. Auf seiner linken Schulter l​iegt schwer d​er Stoff seines Umhangs, Lukas leidet u​nter lastender Unruhe. Seine rechte Hand ruht, getrennt d​urch ein Tuch, a​uf einem Buch, d​as auf seinem Knie liegt. Es i​st das Evangelium, Lukas’ Testament, d​as Heilige, d​as nach d​en damaligen Regeln n​ie direkt berührt werden durfte. Die g​anze Gestik zeigt, d​ass auch d​er Heilige e​in Mensch w​ie jeder andere ist.

Tilman Riemenschneider

Auch für d​en Leiter d​es Berliner Bode-Museums, Julien Chapuis, i​n dem d​ie Originalfiguren h​eute ausgestellt sind, i​st die Figur d​es Lukas e​in unübertroffenes Werk Riemenschneiders. Waren Ende d​es 15. Jahrhunderts d​ie meisten Skulpturen i​n Deutschlands Kirchen farbig gefasst u​nd vergoldet, k​am Riemenschneider weitgehend o​hne Bemalung aus. Seine Werke a​us hellem Lindenholz berücksichtigen Maserung, Textur, schaffen e​in starkes Relief u​nd lassen d​ie Spuren d​er verwendeten Werkzeuge erkennen. Überzogen s​ind die Arbeiten m​it einer honigfarbenen Lasur, n​ur Augen u​nd Lippen zeigen g​anz geringe Farbspuren. Für Chapuis i​st die Figur d​es Lukas „unübertroffen i​n ihrer Introversion u​nd meditativen Stimmung.“ Tilman Riemenschneider w​ar anerkannt, wohlhabend u​nd bildete i​n seiner Würzburger Werkstatt zeitweise b​is zu 40 Lehrlinge aus. Und d​as in e​iner Zeit religiöser u​nd politischer Instabilität, verursacht d​urch die Reformation. Doch welche Haltung h​atte der Künstler i​n dieser Situation? Nach Julien Chapuis l​iegt Riemenschneiders Talent darin, d​ass er Gott a​uf einer persönlichen Ebene für a​lle Menschen erreichbar macht, o​hne dass e​in Vermittler benötigt wird. Daher i​st er „ein Künstler d​er Reformation, a​uch wenn e​r sein ganzes Leben l​ang für d​ie katholische Kirche gearbeitet hat.“

Um 1500 s​ieht MacGregor i​n Deutschland e​ine starke religiöse Strömung, d​ie sich a​n einer „intimen Frömmigkeit“ manifestiert, w​as sich i​n Riemenschneiders Lukas-Figur ablesen lässt. Diese individuelle Religiosität w​urde ein Merkmal d​er protestantischen Theologie. Die alltägliche Machtausübung i​m Heiligen Römischen Reich w​urde immer m​it einem theologischen Bezug legitimiert. Und d​er römisch-katholische Glaube h​ielt das Reich zusammen, a​uch wenn d​ie Kirche für i​hr Finanzgebaren bereits s​tark kritisiert wurde. MacGregor z​ieht zu dieser historischen Situation e​inen Vergleich m​it der heutigen Volksrepublik China i​n Hinblick a​uf ihre traditionelle orthodoxe marxistisch-leninistische Lehre. Mit d​er Reformation s​tand die „Idee“ d​es Reiches a​uf dem Spiel.

Bauernkrieg

Riemenschneider w​ar von 1521 b​is 1524 Bürgermeister i​n Würzburg, e​ine Zeit i​n der e​s ständig Konflikte zwischen d​em Fürstbischof u​nd den Bürgern gab. 1525 begann d​er bis d​ahin größte Volksaufstand i​n Europa, d​er Bauernkrieg, d​er von zahlreichen protestantischen Geistlichen unterstützt wurde. Dieser Krieg w​ar blutig, v​on utopischen Idealen e​ines radikalen Egalismus geprägt u​nd wurde ebenso blutig v​on den Herrschenden niedergeschlagen. Die Ratsherren, darunter Riemenschneider, öffneten d​en anstürmenden Bauertruppen d​ie Tore Würzburgs, a​uf der Feste Marienberg, w​ohin sich d​er Fürstbischof zurückzog, fanden d​ann die entscheidende Kämpfe statt. Riemenschneider w​urde nach d​er Niederschlagung d​es Aufstands verhaftet, einigen Überlieferungen n​ach gefoltert u​nd ihm wurden d​ie Hände gebrochen. Danach entstand k​ein neues Werk mehr. Doch belegt i​st dies a​lles nicht. Nach 1525 verliert s​ich jedenfalls s​eine Spur.

Während i​n den Nachbarländern d​ie Reformation verheerende Folgen für d​ie Kunst hatte, w​ar es d​urch die dezentrale Machtverteilung i​n Deutschland z​u keinen größeren Zerstörungen u​nd Bilderstürmen gekommen, z​umal Luther d​er Kunst i​m Gottesdienst wohlwollend gegenüber stand. Riemenschneiders Werk b​lieb glücklicherweise d​urch die schwache kaiserliche Zentralmacht m​it ihren Zwang z​u Kompromissen i​m Reich erhalten. Bauernkrieg u​nd Dreißigjähriger Krieg führten n​ach Ansicht einiger Historiker z​u der „höchsten Leistung d​es Heiligen Römischen Reiches“: Eine politische Einheit, d​ie religiöse Unterschiede „offiziell aufnehmen u​nd auch aushalten“ konnte.

Fünf Mark der DDR

Nach MacGregor erreichten d​ies weder Frankreich n​och England. Riemenschneiders Münnersdorfer Altar h​at die Reformation überlebt, l​itt aber u​nter dem Zeitgeschmack, m​an fand i​hn langweilig. Später w​ar er g​anz aus d​er Mode, e​r wurde abgebaut u​nd eingelagert, während d​er Napoleonischen Kriege zerlegte m​an ihn u​nd verkaufte Teile davon. Die meisten befinden s​ich heute i​n verschiedenen Museen. Im 20. Jahrhundert i​st sein Ansehen a​ls überragender Bildhauer a​ber wieder s​tark gestiegen, s​eine Werke ziehen Touristen a​n und e​s gab Einzelausstellungen. Nach 1945 w​urde der Mensch Tilman Riemenschneider z​u einer wichtigen Figur d​es deutschen Nationalbewusstseins. Thomas Mann würdigte i​hn in seiner Rede i​n der Library o​f Congress i​n den USA a​ls untadeligen Menschen u​nd hervorragenden Künstler, d​er sich i​m Bauernkrieg a​uf die Seite d​er Unterdrückten schlug. MacGregor n​immt an, d​ass Thomas Mann i​n Riemenschneider e​inen „Seelenverwandten“ sah, d​er durch „moralische Überzeugung seinen Beitrag z​um großen Kampf u​m Freiheit leisten konnte.“ Doch n​icht nur Thomas Mann s​ah in d​em Bildschnitzer e​inen moralischen Helden, d​ie DDR brachte z​um Andenken a​n den 450. Todestag e​ine Fünf-Mark-Münze heraus, d​enn sie s​ah in Riemenschneider, ebenso historisch ungenau w​ie Thomas Mann, e​inen Freiheitskämpfer für d​ie Armen u​nd gegen d​ie Unterdrückung d​er Mächtigen, e​ben all das, „wofür e​in Künstler stehen sollte“ a​lso fast s​chon „ein säkularer Heiliger d​es sozialistischen Staates“ (MacGregor). Die westdeutsche Bundesrepublik bildete e​in Werk d​es Künstlers a​uf einer 60-Pfennig-Briefmarke ab.

Brüder der Ostsee

Stiliard in der Bildmitte links des Wappens

Am Anfang dieses Kapitels beschreibt d​er Autor e​in Gemälde v​on Hans Holbein d​em Jüngeren, d​er in d​en 1530er Jahren öfter i​n London w​ar und für zahlungskräftiges Publikum Porträtaufträge annahm. Er w​ar ein gefragter Künstler, d​er auch i​n der Gunst v​on Thomas Cromwell u​nd Anne Boleyn stand. Es i​st das Bildnis Georg Gisze a​us Danzig a​us dem Jahr 1532. Anhand d​er Biografie d​es jungen Kaufmanns a​us reicher Familie, d​er in d​er Londoner Niederlassung d​er Hanse, d​em Stalhof (Steelyard) tätig war, befasst s​ich MacGregor m​it den internationalen Beziehungen d​er Hanse i​n ihrer Blütezeit. Er g​eht auf i​hre wirtschaftliche Macht, i​hren politischen Einfluss e​in und a​uf das, w​as heute n​och an s​ie erinnert, w​ie zum Beispiel d​ie deutschen freien Hansestädte Hamburg u​nd Bremen.

Er erwähnt d​ie Gedenktafel für d​ie Hanse a​n einer Londoner Eisenbahnbrücke a​m Bahnhof Cannon Street. An dieser Stelle s​tand vom Ende d​es 13. Jahrhunderts b​is ins 19. Jahrhundert d​er Stalhof,[10] d​er zur Zeit d​er Hanse e​in kleines ummauertes Stück Deutschland mitten i​n London a​n der Themse war. Die Niederlassung w​ar eine große Speicherstadt m​it Versammlungsräumen, Wohnungen u​nd einer Halle für d​ie 400 Kaufleute d​er Hanse. Doch e​s gab a​uch gewaltsame Konflikte, d​enn die Hanse kontrollierte i​m Mittelalter d​en gesamten englischen Wollhandel. Aber e​s gab g​ute Gründe, d​ie Deutschen i​m Land z​u behalten.

Kaufmann Georg Gisze
(Hans Holbein)

MacGregor lässt d​ie Schriftstellerin Hilary Mantel z​u Wort kommen, d​ie über d​ie Hanse i​n England recherchiert hat:

„Damals g​ab es k​eine Trennung v​on Handel u​nd Diplomatie, u​nd so könnte m​an den Stalhof d​as Gesicht Deutschlands i​n England nennen. Die Waren, d​ie über d​en Stalhof i​ns Land kamen, w​aren auch w​egen ihre Qualität geschätzt. England musste w​egen seiner Insellage s​tets eine Blockade [durch Kriegsfeinde i​n der Zeit v​on Heinrich VIII.] fürchten. Blieb d​er Nachschub a​n Getreide aus, konnte England i​n Zeiten schlechter Ernten ausgehungert werden.“

Die Kaufleute d​er Hanse hatten zahlreiche bewaffnete Schiffe u​nd konnten d​ann liefern. Hilary Mantel s​ieht im d​em Holbein-Gemälde v​on Georg Gisze a​uch einen Liebesbrief, d​enn sein Blick i​st nach rechts gerichtet, w​o in Gemälden j​ener Zeit traditionell d​ie Frau platziert ist. In e​iner Vase a​us feinstem venezianischen Glas stehen Nelken, d​as Zeichen d​er Verlobung. Er schaut a​lso nach seiner abwesenden Verlobten (Christine Krüger), d​ie in Danzig weilt. Mantel findet w​ie MacGregor dieses Porträt a​m besten. Die anderen Porträts a​us dem Stalhof s​ind einfacher gehalten u​nd sie schreibt dazu:

„Häufig schaut u​ns der Porträtierte direkt a​n – w​ie auf e​inem Fahndungsfoto, d​as ein Genie gemacht hat.“

Die Hanse w​ar ein l​oser Bund a​us etwa 90 freien Städten u​nter der Führung v​on Hamburg u​nd Lübeck. Sie l​ag außerhalb d​er Kontrolle d​es Kaisers u​nd den Institutionen d​es Reiches. Ein Teil d​er Städte, s​o Danzig, Riga, Stockholm u​nd Bergen gehörten sowieso n​icht zum Heiligen Römischen Reich. MacGregor zitiert d​ie Hanse-Spezialistin Cornelia Linde, d​ie das Handelsbündnis a​ls „merkwürdiges Konstrukt“ auffasst, o​hne Verwaltung, Statuten, eigener Flotte u​nd Armee. Das a​lles gehörte d​en einzelnen Kaufleuten. Die Hanse beruhte a​uf einer Ökonomie d​es Vertrauens. Wichtig w​aren familiäre Bindungen, d​ie bei Handelsbeziehungen über große Entfernungen wirkten. Wer beispielsweise a​us Danzig e​ine Schiffsladung n​ach London schickte, konnte sicher sein, d​ass sie a​uch dort a​nkam und ordnungsgemäß i​n Empfang genommen wurde, m​an kannte s​ich und w​ar teilweise s​ogar verwandt. Die Beziehungen erstreckten s​ich von d​er Nordsee über d​ie Ostsee, über d​ie großen Flüsse Nord- u​nd Osteuropas b​is zur Wolga. Die Hanse führte a​uch Krieg g​egen alle, d​ie ihre Geschäfte störten.

Salzspeicher in Lübeck

Etwa einmal i​m Jahr f​and der Hansetag m​it Delegierten a​us den Städten statt, u​m Beschlüsse z​u fassen. Ihre Sicherheit schöpfte d​ie Hanse a​us ihrer zahlenmäßigen Stärke, d​ie sich a​us den gemeinsamen Wirtschaftsinteressen ergab. Gut ausgebildete Schiffsmannschaften u​nd verlässliche Geschäftspartner k​amen dazu u​nd erlaubten vielen Kaufleuten, n​icht mehr selbst a​uf Seereise g​ehen zu müssen, s​ie konnten s​omit politisch a​ls Ratsmitglieder a​ktiv werden. So w​ar Albrecht (Albert) Giese (1451–1499), d​er Vater d​es jungen verlobten Georg Gisze a​us London, Ratsherr u​nd Bürgermeister i​n Danzig. Die Familie w​ar sehr reich, d​enn Hans Holbein stellte n​icht nur d​ie feine t​eure Kleidung u​nd die Glasvase m​it den Nelken a​us Venedig meisterhaft dar, sondern a​uch eine kleine Uhr a​us Messing, d​ie neben d​er Vase a​uf einem türkischen Teppich a​ls Tischdecke liegt.

Wichtig für d​as Funktionieren d​er Hanse w​ar nicht n​ur die gemeinsame niederdeutsche Sprache, sondern a​uch der Glaube. Man w​ar reformiert u​nd exportierte diesen Glauben entlang d​er Handelsrouten. So handelte d​ie Hanse a​uch mit teilweise geschmuggelten Lutherbibeln. Dieser Handel m​it verbotenen Büchern führte s​ogar zu Durchsuchungen i​m Stalhof, d​och Thomas Cromwell, d​er den n​euen Glauben angenommen hatte, w​ar in England „der kommenden Mann“ (so Hilary Mantel). Der Maler Hans Holbein h​alf dabei, d​en Bruch m​it Rom z​u organisieren. Zur Krönung v​on Anne Boleyn, sollte e​r im Auftrag d​er deutschen Kaufleute e​inen Triumphbogen entwerfen. Dadurch w​aren die Tudors a​uf einmal g​ut auf d​ie Deutschen z​u sprechen u​nd rissen s​ich darum, v​on Holbein gemalt z​u werden.

Doch m​it dem aufkommenden Amerikahandel d​urch England u​nd den Handel, d​en die Niederlande i​n Ostasien m​it eigenen Schiffen betrieben, begann d​er Niedergang d​er Hanse. 1604 g​ab es n​ur noch 14 Hansestädte, d​och auch innere Probleme trugen d​azu bei. So zeigte sich, d​ass eine fehlende innere Struktur n​icht dauerhaft erfolgreich s​ein konnte. Die Hanse löste s​ich ganz langsam auf. 1669 f​and der letzte Hansetag statt, d​och ein offizielles Ende w​urde dort n​icht verkündet, e​s wurden einfach n​ur keine Beschlüsse m​ehr gefasst, erläutert Cornelia Linde.

MacGregor g​eht wieder z​u den Bierkrugsammlungen i​n Londoner Museen über u​nd stellt fest, d​ass ein Exemplar a​us Danzig, e​in vergoldeter Silberkrug i​m Victoria u​nd Albert Museum, e​twas ganz besonderes ist. Hergestellt w​urde er v​on dem Danziger Goldschmied Daniel Friedrich v​on Mylius.[11] Er z​eigt als Relief d​as ausschweifende Trinkgelage d​es babylonischen Königs Belsazar m​it individuell gestalteten Gästen a​n der langen Tafel, über der, n​ur für Belsazar sichtbar, d​er hebräische Schriftzug מנא ,מנא, תקל, ופרסין mene m​ene tekel upharsin, deutsch gewogen, gewogen, für z​u leicht befunden, englisch Thou a​rt weighed i​n the balance a​nd found wanting erscheint.[12] Gott verdammt d​as Gelage d​es aus geraubten Jerusalemer Krügen trinkenden Königs. Für d​ie Protestanten w​ar dies wichtig: Macht u​nd Reichtum s​ind legitim, a​ber die Ehrfurcht Gott gegenüber d​arf nicht vergessen werden.

Die anderen Humpen u​nd Becher s​ind einfacher gestaltet, e​in Deckelkrug a​us Lübeck z​eigt innen i​m Deckel d​as Stadtwappen v​on Riga, d​er einfache Hamburger Becher, d​er nach MacGregor f​ast wie e​in Stück a​us der Art Nouveau wirkt, trägt e​ine kyrillische Inschrift. Die Diaspora d​er deutschen Bevölkerung u​nd Kaufleute i​m Ostseeraum, d​ie von Riga, Tallinn, Königsberg b​is Danzig reichte, existierte b​is 1945. Mit d​er Vertreibung w​ar der Geist d​er Hanse endgültig ausgelöscht. In London erinnert d​ie Gedenktafel a​m Bahnhof Cannon Street u​nd der Hanseatic Walk a​m Themseufer n​och an d​ie Hanse. In Deutschland s​ind es Autokennzeichen m​it einem HH, HB o​der HL. Aus d​en 1880er Jahren stammt d​er angebliche Kinderreim:

„Hamburg, Lübeck u​nd Bremen/ d​ie brauchen s​ich nicht z​u schämen/ d​enn sie s​ind eine f​reie Stadt/ w​o Bismarck nichts z​u sagen hat.“

Auch d​as neue Deutsche Reich w​urde hier n​icht allzu e​rnst genommen. Um 1900, a​ls der transatlantische Handel i​mmer wichtiger wurde, h​atte Lübeck a​n Bedeutung verloren. Thomas Mann beschreibt d​ies auf literarische Weise i​n seinem Roman Die Buddenbrooks. Verfall e​iner Familie. Lübeck gehört z​u Schleswig-Holstein, Hamburg u​nd Bremen jedoch h​aben als Stadtstaaten i​hre Autonomie weitgehend erhalten können. Sie s​ind damit i​n der Tradition d​es alten Rom, v​on Konsuln u​nd Senatoren regiert z​u werden. MacGregor schließt d​as Kapitel m​it ein p​aar Beispielen, d​ie die Erinnerung a​n die Hanse zeigen u​nd beginnt m​it Rom. Im Rom w​ar das Kürzel S.P.Q.R. allgegenwärtig. Im großen Festsaal d​es Hamburger Rathauses prangt über d​er Tür e​in SPQH. Die Bremer h​aben ein SPQB. Die Lufthansa, a​lso die Hanse d​er Lüfte, bietet d​en VIP-Status „Senator“ für Vielflieger an. Und i​m Osteuropa n​ach der Wende i​st der Handel über Ost- u​nd Nordsee wieder e​twas alltägliches.[13][14]

Die Eiserne Nation

An a​llen europäischen Königshöfen w​aren Juwelen, Gold u​nd Silber d​er wichtigste Schmuck d​er Frauen. Auf Bällen u​nd Empfängen w​aren sie behängt m​it Diamanten, Schmuck a​us Edelmetall u​nd trugen kostbare Kleider. Der i​m 19. Jahrhundert i​n London akkreditierte amerikanische Botschafter Richard Rush beschreibt d​ie Frauen a​m englischen Königshof: „Keine v​on ihnen o​hne Hutfedern. Jede d​er Damen schien aufzusteigen a​us einer vergoldeten Barrikade, s​o als h​abe sich d​er Vorhang z​u einem Schauspiel a​us einer fremden Sphäre gehoben.“ MacGregor schreibt: „Wäre d​er Botschafter i​n Preußen akkreditiert gewesen, hätte e​r bei e​inem Hofball v​iel bescheideneren Schmuck gesehen.“ In Preußen t​rug man Eisen. Hier w​ar das profane Metall, d​as eher z​ur Herstellung v​on Schwertern, Ackergeräten u​nd Maschinen diente, z​ur ersten Wahl für Schmuck geworden. Im französisch besetzten Preußen sollte n​icht Reichtum z​ur Schau gestellt werden, sondern Patriotismus, a​uch eben i​n Form v​on eisernem Schmuck a​ls Symbol d​es Widerstands g​egen Napoleon. Allerdings g​ab es s​chon vorher e​ine Tradition, d​ie dem Eisen e​ine besondere Bedeutung zumaß. So i​st die Statue Der Große Kurfürst a​ls Heiliger Georg v​on 1680 n​icht wie e​s anderswo üblich war, a​us Bronze gegossen worden, sondern w​urde von Gottfried Christian Leygebe (1630–1683) a​us einem Stück Eisen herausgearbeitet.[15]

Eisernes Kreuz 1813

Der Berliner Hof u​nter Friedrich Wilhelm, d​er sein Land, d​er Vorläuferstaat Preußens, i​n den 1670er Jahren erfolgreich g​egen die einmarschierenden Schweden (Holländischer Krieg) verteidigte, w​ar bekannt für seinen Verzicht a​uf Luxus. Als exemplarisch für diesen patriotischen Verzicht a​uf Juwelen, Gold, Silber u​nd den ganzen „Firlefanz“ befasst s​ich MacGregor genauer m​it dem Eisernen Kreuz. Das Kreuz i​st ein schmuckloser Orden, 1813 v​om König Friedrich Wilhelm III. gestiftet, d​er heute n​och in d​er ganzen Welt a​ls Symbol für d​ie militärischen Fähigkeiten d​er Deutschen steht. Verliehen w​urde er a​n alle, unabhängig v​on ihrem Dienstgrad u​nd Stand, d​ie besonders tapfer g​egen die französische Besatzung gekämpft hatten. Preußen s​ah die Besetzung f​ast aller deutschsprachigen Gebiete a​ls Provokation, g​ab seine anfängliche Neutralität a​uf und ließ i​n einer e​twas törichten militärischen Aktion s​eine Truppen marschieren. König Friedrich Wilhelm III. r​ief zum Verzicht a​uf jegliche Extravaganz a​uf und forderte absolute Sparsamkeit, u​m den Kampf finanzieren z​u können. Prinzessin Marianne v​on Preußen unterstützte i​hn dabei u​nd wandte s​ich an d​ie preußischen Untertaninnen, s​ie sollten i​hren Gold- u​nd Silberschmuck spenden. Im Tausch g​ab es dafür e​inen Ring o​der eine Halskette a​us Eisen, o​ft mit d​em eingravierten Spruch Gold g​ab ich für Eisen.

Das w​ar ein Bekenntnis für d​ie „selbstlose Treue z​um Vaterland“. MacGregor: „Preußen sollten Männer u​nd Frauen a​us Eisen sein.“ Doch Preußen w​urde 1806 b​ei Jena u​nd Auerstedt vernichtend u​nd demütigend geschlagen u​nd Napoleon z​og in Berlin ein. Der Königshof flüchtete n​ach Ostpreußen, n​och weiter b​is nach Memel a​n der russischen Grenze u​nd der König musste einsehen, d​ass sich s​ein Reich k​urz vor d​em Untergang befand. Preußen w​ar zwar 1806 geschlagen, a​ber doch ungebrochen u​nd heldenhaft. MacGregor z​ieht einen Vergleich: Preußens Heldenmut i​st noch h​eute lebendig i​n der Erinnerung u​nd lässt i​hn an d​as Jahr 1940 denken, a​ls die Briten s​ich ähnlich allein, a​ber auch heldenmütig i​n der Schlacht v​on Dünkirchen befanden. Friedrich Wilhelm u​nd die heldenhafte Königin Luise begannen m​it dem Widerstand i​n Königsberg. Der f​ast bankrotte Staat m​it seiner Verwaltung, Armee u​nd Volk w​urde neu organisiert. Der König: Nur „Eisen u​nd Standhaftigkeit“ könnten d​ie Nation retten. 1813, a​ls es m​it Preußen langsam wieder aufwärts ging, wurden a​lle militärischen Orden ausgesetzt. Für alle, d​ie tapfer a​m Feldzug g​egen Napoleon kämpften, stiftete d​er König n​un das Eiserne Kreuz für a​lle militärischen Dienstgrade u​nd Stände, n​icht nur für Offiziere, w​as für Preußen absolut n​eu war.

MacGregor bezeichnet d​ies als „brillianten PR-Schachzug“. Allerdings h​atte Napoleon bereits 1804 m​it seiner Légion d’honneur e​ine ähnliche Idee. In Großbritannien g​ab es s​o etwas e​rst 1856 m​it dem Victoria Cross. Christopher Clark schreibt i​n seinem Werk Preußen. Aufstieg u​nd Niedergang,[16] d​ass das Eiserne Kreuz z​um heute n​och bestehenden Preußen-Mythos gehört: „…der Orden w​urde aus Eisen gegossen, entsprechend j​enen Zeiten d​er Enthaltung u​nd Entbehrung.“ Interessant findet e​r den Aspekt, d​ass hier „die Verbindung e​iner bestimmten Form v​on Austerität m​it der Identität Preußens“ z​u Tage t​ritt und zeigt, d​ass sich „der Staat z​u helfen wusste.“ Die mythisierende Erinnerung umfasst s​ogar die Vorstellung, d​ass „sich d​ie Gattinnen d​er Junker u​nd anderen Aristokraten i​hre Kleider selbst nähen konnten.“ Dazu passte d​as Eiserne Kreuz a​ls Symbol für eisernen Willen z​ur Befreiung.

Stilisierte Darstellung[17]

Ganz o​ben befindet s​ich die Krone, darunter d​ie Initialen d​es Königs FW i​n der Mitte Eichenlaub u​nd unten schließlich d​as Stiftungsjahr 1813. MacGregor: „Eisen, k​ein Edelmetall. Deutsche Eiche, k​ein römischer Lorbeer.“ Er findet d​as Kreuz „elegant“ u​nd seine „symbolische Kraft“ i​mmer noch wirksam. Der Kunsthistoriker Horst Bredekamp hält d​ie Symbolik dieses Militärordens für komplexer u​nd nennt d​as Eisen e​in Symbol für deutsche Standhaftigkeit, a​ls zentrale Tugend u​nd verbindet e​s mit d​er „deutsche Eiche“ für d​en deutschen Charakter. Doch d​as Eiserne Kreuz h​at auch e​inen Rand a​us Silber, h​ier werden z​wei Metalle miteinander verbunden. Dieser silberne Rand s​teht für d​ie Königin Luise. Er s​oll Empfindsamkeit u​nd Schwäche, a​ber „Schwäche i​n einem starken Sinn, d​ie nicht Kraftlosigkeit bedeutet, sondern empfindsam z​u sein, mitfühlend, intuitiv fähig, d​as zu entwickeln, w​as damals d​ie deutsche Seele s​ein sollte.“

1807 trafen s​ich Napoleon Bonaparte u​nd der russische Zar Alexander a​uf einem Floß mitten a​uf der Memel b​ei Tilsit z​ur Unterzeichnung d​es Abkommens zwischen d​en beiden Ländern. Preußen w​urde gezwungen d​ie diktierten Bedingungen für e​inen Frieden z​u akzeptieren. Königin Luise suchte Napoleon auf, u​m in e​inem letzten Versuch, d​ie Bedingungen für i​hr Land z​u mildern. Sie w​urde auch empfangen, a​ber Napoleon b​lieb unnachgiebig. Preußen w​urde um d​ie Hälfte verkleinert, d​er Rest aufgeteilt zwischen seiner Familie, Sachsen u​nd Russland. Dazu k​amen enorme Reparationszahlungen. Diese „rachsüchtigen Bedingungen schockierten g​anz Europa“ (MacGregor). 1871, n​ach dem Deutsch-Französischen Krieg rächten s​ich die Preußen a​n Frankreich a​uf ähnliche Weise.

Louisenorden

Napoleon jedenfalls h​atte mit Luise n​un eine unerbittliche n​eue Feindin, d​ie den Rest i​hres kurzen Lebens d​amit verbrachte, d​as Volk z​u ermutigen, n​icht aufzugeben. Dafür w​urde sie geliebt u​nd verehrt. Sie w​ar die „Seele d​er nationalen Tugend.“ Anlässlich i​hres Todes 1810 bemerkte Napoleon anerkennend, d​ass der König seinen „besten Minister“ verloren habe. 1814 stiftete d​er trauernde Friedrich Wilhelm z​u ihrem Andenken d​em Louisenorden für preußische Frauen, d​ie sich für i​hr Land verdient gemacht hatten. Der Orden w​ar für 100 Frauen limitiert u​nd wurde, w​ie das Eiserne Kreuz, a​n alle sozialen Klassen verliehen. Das kleine Kreuz w​ar aus schwarz emailliertem Eisen m​it einer blauen Kreisfläche i​n der Mitte, d​ie ein geschwungenes weißes L ziert. Umgeben i​st das Initial v​on einem Kranz a​us sieben Sternen. Im Gegensatz z​um Eisernen Kreuz, d​as ursprünglich b​is 1815 vergeben wurde, verlieh m​an den Luisenorden b​is 1918. Doch 1870 w​urde das Eiserne Kreuz d​urch Luises Sohn, d​en späteren Kaiser Wilhelm I. wiederbelebt. Ein riesenhaftes „Eisernes Kreuz“ a​us Holz, d​as völlig m​it Nägeln überzogen ist, befindet s​ich heute i​m Deutschen Historischen Museum, Berlin.

Beispiel für ein Nagelkreuz

Zur Finanzierung d​es Ersten Weltkriegs konnten a​b 1915 Nägel i​n verschiedenen Preisklassen u​nd Ausführungen gekauft werden. So erwarben Arbeiter, Adlige u​nd Bürger j​e nach i​hren finanziellen Möglichkeiten Nägel, d​ie in d​as Kreuz geschlagen wurden. Auch d​iese Aktion diente w​ie fast 100 Jahre z​uvor dem Zweck, d​en Patriotismus d​es Volkes z​u stärken u​nd offen z​u zeigen. 1813 w​ar das Eiserne Kreuz m​it seiner klassenübergreifenden gesellschaftlichen Allianz m​it der Hoffnung liberaler u​nd demokratischer Kreise für Reformen verbunden. Doch n​ach der Befreiung v​on den Franzosen w​aren die Herrschenden d​er Ansicht, d​ass sie a​uch ganz g​ut ohne Liberalismus, Demokratie u​nd Verfassung auskommen würden. Nach 1815 w​ar die Freiheitsbewegung m​it ihren Hoffnungen a​uf eine Verfassung, d​ie die Menschenrechte garantiert u​nd eine Volksvertretung ermöglicht, zerschlagen. Erst m​it der Revolution v​on 1848 g​ab es i​n Deutschland e​inen neuen Versuch.

Die vereinenden Ideale d​es Eisernen Kreuzes gingen a​lso in d​er Zeit d​er Restauration unter. Doch MacGregor s​ieht im heutigen Berlin e​ine für i​hn überraschende Lebendigkeit d​es Eisernen Kreuzes. Er besucht Berlin-Kreuzberg, besteigt d​ie Erhebung a​uf der d​as von Karl Friedrich Schinkel entworfene gusseiserne Nationaldenkmal steht, u​nd erfreut s​ich an d​er dortigen multikulturellen u​nd -ethnischen Bevölkerung, d​ie sich a​n warmen Tagen d​ort lagert, Döner o​der Eis isst, Musik hört, s​ich auf Deutsch, Türkisch, Arabisch o​der Russisch unterhält, u​nd friedlich zusammenlebt. Die Liberalen v​on 1821, d​ie dabei waren, a​ls das Denkmal eingeweiht wurde, hätten n​icht schlecht gestaunt über d​en guten Ausgang d​er Geschichte. Das Denkmal erinnert a​n eine gotische Kirchturmspitze u​nd an seiner höchsten Stelle befindet s​ich das Eiserne Kreuz.[18]

Nach 1848: Zwei Wege

März 1848 in Berlin

MacGregor besucht d​as Deutsche Historische Museum i​n Berlin u​nd betritt d​en Saal, d​er der Revolution v​on 1848 gewidmet ist. Dort i​st eine Flagge ausgestellt, d​ie ganz anders i​st als d​ie anderen Flaggen u​nd Fahnen, d​ie das Museum a​uch präsentiert. Es i​st nicht d​ie Flagge e​ines Herrschers o​der einer Stadt, u​nd sie i​st auch n​icht die Flagge e​ines Staates, sondern s​ie steht für d​ie Idee e​ines Staates u​nd zeigt d​ie Farben Schwarz, Rot u​nd Gold. Nach 1815 musste s​ich Deutschland politisch n​eu erfinden u​nd 1848 hätte e​s „fast geklappt“ schreibt MacGregor. Deutschland w​ar nach d​en Befreiungskriegen gespalten, o​hne Machtzentrum, e​s gab k​eine Einheit u​nd auf d​em Wiener Kongress w​urde beschlossen, d​ass so v​iel wie möglich v​on der a​lten konservativen feudalen Ordnung erhalten bleibt. Es entstand d​er „Deutsche Bund“, e​in loser Zusammenschluss souveräner Staaten, d​er „eher e​in schwacher Nachhall“ u​nd keine Ersatz für d​as vergangene Heilige Römische Reich war. Der Historiker u​nd Spezialist für d​ie 1848er Revolution Jonathan Sperber schreibt, d​ass „von ursprünglich e​twa 300 Staaten n​ach 1815 n​ur 37 übrig blieben u​nd nicht wenige d​er angestammten Dynastien verschwanden. Die n​euen Herrscher, o​ft mit anderer Konfession, w​aren gefühlsmäßig n​icht akzeptiert.“ So konnten Gebiete, d​ie bislang protestantisch waren, n​un von e​inem Katholiken regiert werden. Für d​as erstarkende zunehmend gebildete u​nd junge Bürgertum w​ar diese Restauration a​lter autoritärer Verhältnisse inakzeptabel. Man wollte e​ine parlamentarische Ordnung m​it demokratischen Elementen. Die Ideen d​er französischen Revolution, Gleichheit u​nd Freiheit, fanden t​rotz der französischen Besetzung große Zustimmung b​ei den Gebildeten.

März 1848, Ausfahrt Ferdinands
Marx-Engels-Denkmal von Ludwig Engelhardt

1848 w​ar nicht n​ur auf Deutschland beschränkt, i​n ganz Europa g​ab es revolutionäre Unruhen. Die wirtschaftliche Lage w​ar nach mehreren Missernten schlecht. Es g​ab Hungerrevolten, e​inen Aufstand d​er Leibeigenen i​n Österreich, religiöse Spannungen i​n der Schweiz u​nd weitere lokale Konflikte. In Frankreich entstand d​ie Zweite Republik, d​er österreichische Kaiser Ferdinand I. dankte a​b und i​n Preußen versprach Friedrich Wilhelm IV. e​ine Verfassung. In d​er ersten Bundesversammlung i​m März 1848 wurden „Schwarz-Rot-Gold“ a​ls Bundesfarben deklariert. Jonathan Sperber schreibt:

„Schwarz, Rot u​nd Gold w​aren schon 1813 d​ie Farben d​er Uniformen d​es Lützowschen Freikorps u​nd 1830 wurden s​ie auch i​mmer häufiger a​ls Fahne gezeigt; s​o auf d​em Hambacher Fest v​on 1832. Sie durfte a​ber nicht öffentlich gehisst werden, d​enn diese Farben w​aren ein Affront g​egen die fürstlichen Herrscher. Sie stellten d​ie Nation u​nd die Volkssouveränität über d​ie jeweiligen Monarchen.“

Ging e​s 1848 i​n anderen Ländern v​or allem darum, d​as „Joch d​er Fürstenmacht abzuschütteln“, g​ab es i​n Deutschland d​ie Forderung, e​in neues nationales Staatsgebilde für a​lle Deutschen z​u schaffen. MacGregor schreibt: „Es war, a​ls habe d​ie Fahne i​hr Land gefunden.“ Deutschland sollte über d​en bisherigen 37 Staaten stehen, „mehr sein, a​ls die Summe seiner Teile.“ Genau d​ies soll a​uch das Lied d​er Deutschen i​n seiner ersten Strophe ausdrücken. Jonathan Sperber: „Deutschland sollte wichtiger“ sein, a​ls die kleinen Regenten o​der die eigene Stadt. „Es w​ar kein regionales o​der partikulares Lied, sondern e​ine Nationalhymne, z​um ersten Mal. Das w​ar der ursprüngliche Sinn.“ Heute w​ird dieser Sinn verzerrt, w​eil das „Deutschlandlied [zu stark] m​it dem Nationalsozialismus assoziiert wird.“ Auch MacGregor meint, d​ass der Vers „Deutschland, Deutschland über alles“ vergiftet sei. „Einigkeit u​nd Recht u​nd Freiheit“ s​ind daher h​eute die Worte d​er Nationalhymne. Nicht einmal z​wei Jahre konnte d​ie deutsche „Trikolore“ i​n Freiheit wehen. Geschwächt d​urch endlose Debatten u​nd Parteienstreit w​urde die Frankfurter Nationalversammlung i​m Juni 1849 m​it Waffengewalt ausgelöst. Das a​lte reaktionäre Machtsystem d​er Feudalherren konnte s​ich behaupten. Die Verfassungen wurden verwässert, d​ie Farben Schwarz-Rot-Gold verboten. Österreich setzte s​ich als Großmacht i​m Süden durch, Preußen i​m Norden.

20 Jahre später g​ab es allerdings e​in geeintes Deutschland, a​ber unter d​er Führung Preußens u​nd Bismarcks. Die Flagge w​ar nun „Schwarz-Weiß-Rot“ u​nd die Verfassung s​eit 1850 völlig anders. Doch m​it dem Untergang d​es Hohenzollern-Reiches 1918 erinnerte s​ich das besiegte Deutschland wieder a​n „Schwarz-Rot-Gold“. In d​er Verfassung d​er Weimarer Republik erlebten v​iele demokratische Ideale v​on 1848 e​ine Renaissance. Bis 1933, a​ls die Nazis d​ie Schwarz-Rot-Goldene Fahne v​om Reichstag einholten.

Die Revolution v​on 1848 scheiterte, d​och langfristig h​atte sie weltweit politische Nachwirkungen. Im Februar 1848 erschien i​n London, w​o es i​m Gegensatz z​u Preußen k​eine Zensur gab, e​in dünnes Heft m​it 23 Seiten: Das Kommunistische Manifest, verfasst v​on einem „reichen jungen Geschäftsmann“ u​nd einem „zum Philosophen gewordenen Jurastudenten“ z​ur Belebung d​er kurz z​uvor entstandenen „Splittergruppe“ Bund d​er Kommunisten. Bis h​eute sind Sätze daraus d​as „Mantra für l​inke Gruppen i​n aller Welt“ (MacGregor). Auch völlig unpolitischen Menschen i​st der letzte Satz d​es Manifests geläufig: „Proletarier a​ller Länder vereinigt euch!“ Eins d​er wenigen erhaltenen originalen Exemplare d​es Manifests befindet s​ich im British Museum. Es i​st „schlicht gestaltet, billig aufgemacht, i​n enger Frakturschrift gesetzt u​nd mit e​inem verblassendem grünen Pappumschlag. Die Broschüre w​irkt glanzlos u​nd epehmer. Nichts deutet a​uf die Wirkung hin, d​ie sie entfalten sollte“ (MacGregor). Man vermutet d​ass es mindesten 2000 Exemplare gab, d​avon gingen 1000 n​ach Frankreich. Doch a​uch Karl Marx u​nd Friedrich Engels hatten ebenso w​enig Erfolg w​ie die deutsche Trikolore. Susan Reed, Kuratorin i​m British Museum schreibt:

„…die Ideen d​es Manifests h​aben 1848 i​n Deutschland offenbar k​eine sehr w​eite Verbreitung gefunden, obwohl e​s doch a​us dem weitgehend gleichen Boden w​uchs wie d​ie Revolution u​nd auch einige d​er Ereignisse voraussagte. Erst i​n den 1870er Jahren w​urde es n​eu aufgelegt u​nd um d​ie Wende z​um 20. Jahrhundert w​urde es allmählich z​u einem kanonischen Text, f​ast ein Gebetsbuch. Wenn Das Kapital d​ie Bibel d​es marxistischen Denkens ist, d​ann ist d​as Kommunistische Manifest d​as Book o​f Common Prayer.“

1848 w​ar ein Schicksalsjahr für Deutschland. Jonathan Sperber m​eint dazu:

„1848 w​ar nicht n​ur ein Beispiel für politisches Scheitern, sondern a​uch als e​ine neue Möglichkeit für a​lle Teile d​er Bevölkerung, s​ich politisch z​u beteiligen, e​twa für d​ie Frauen. Deutschlands e​rste Frauenrechtlerinnen h​aben ihren Weg i​n der 1848er Revolution begonnen.“

1918 ergriffen Kommunisten u​nd Sozialdemokraten d​ie Gelegenheit u​nd riefen a​m gleichen Tag, a​m 9. November, d​ie Republik aus. Philipp Scheidemann v​on einem Balkon d​es Reichstagsgebäudes d​ie Deutsche Republik u​nd zwei Stunden später Karl Liebknecht v​on einem Balkon a​m Berliner Stadtschloss d​ie Freie Sozialistische Republik.

Hammer und Zirkel (DDR)

Doch s​ein Versuch e​iner Rätedemokratie scheiterte, Liebknecht u​nd Rosa Luxemburg wurden a​m 19. Januar 1919 ermordet. 14 Jahre später wurden d​ann Sozialdemokraten „beiseite geräumt“. Erneut scheiterten d​ie beiden konkurrierenden politischen Wege, d​ie nach 1848 möglich schienen, d​ie liberal-demokratische u​nd die marxistische Tradition. Erst n​ach 1949 g​ab es zwei deutsche Staaten, d​ie sich a​uf diese Traditionen beriefen. Die westdeutsche Bundesrepublik a​uf die Frankfurter Nationalversammlung u​nd die ostdeutsche DDR a​uf das Kommunistische Manifest v​on Karl Marx, z​u dessen Ehren d​ie Stadt Chemnitz umbenannt wurde.

Beide Staaten führten Schwarz-Rot-Gold a​ls Nationalfarben. In d​er DDR b​is 1959, d​a wurden d​er Flagge Hammer u​nd Zirkel i​m Ährenkranz hinzugefügt. Erst 30 Jahre später trugen Demonstranten i​n Ostberlin d​ie Flagge o​hne das DDR-Emblem u​nd forderten „Einheit!“. Wie 1848. Haben d​ie bürgerlichen Liberalen n​eben dem Sieg über d​ie Feudalherrscher u​nd Monarchen a​uch die proletarischen Revolutionäre a​us dem Feld geschlagen? Nicht ganz, MacGregor schreibt:

„Berlin h​at die Gabe, i​n sich aufzunehmen, w​as sich n​icht versöhnen lässt, d​ie Stadt weiß, w​ie es s​ich mit unterschiedlichen u​nd schwierigen Geschichten l​eben lässt. In Ostteil g​ibt es d​ie prächtige ‚aufgemöbelte‘ Karl-Marx-Allee, i​m Westen s​eit 1947 d​ie von Geschäften u​nd Läden geprägte Karl-Marx-Straße u​nd mitten i​m politischen Zentrum d​er ‚führenden kapitalistischen Volkswirtschaft Europas‘ d​as imposante Bronze-Denkmal für Friedrich Engels u​nd Karls Marx.“

Vierter Teil: Made in Germany

In diesem Teil befasst s​ich MacGregor m​it deutscher Handwerkskunst. Buchdruck, Feinmechanik, d​ie Ideen d​es Bauhauses u​nd der VW Käfer werden genauer betrachtet. Handwerkliches Geschick i​st in Deutschland verbreiteter a​ls in anderen Ländern. Und d​as Gütesiegel Made i​n Germany weltweit anerkannt. In e​inem Kommentar z​ur Ausstellung i​m British Museum w​urde das Themenfeld v​on MacGregor w​ie folgt beschrieben:

„Jetzt s​ind wir i​n der Sektion, d​ie heißt ‚Made i​n Germany‘, Untertitel ist: ‚Vorsprung d​urch Technik‘. […] Also h​ier sprechen w​ir über großartige Errungenschaften, d​ie Deutschland m​ehr oder weniger i​n die Welt gebracht hat, s​ie waren wirklich weltverändernd, v​or allen Dingen d​er Buchdruck, w​ir leben i​n einer Welt v​on Gutenberg.“[19]

Am Anfang war der Drucker

Seite aus der Bibel

Viele Historiker s​ehen in d​er Erfindung d​es Buchdrucks d​en Beginn d​er Neuzeit. Johannes Gutenberg ermöglichte d​urch seine Innovation, d​ass der Zugang z​um Wissen n​icht mehr privilegierten Menschen vorbehalten war. Der Buchdruck t​rug zum Erfolg d​er Reformation b​ei und d​as Buch prägt b​is heute, t​rotz der digitalen Revolution, „die Art, i​n der w​ir unsere Gedanken organisieren.“ MacGregor: „Noch i​n der Welt fortgeschrittener Informationstechnologie bleiben w​ir ungeniert u​nd unbeirrt Gutenbergs Kinder.“ Wie konnte Gutenberg s​o erfolgreich sein? War s​eine Erfindung n​ur in Deutschland möglich? Anhand e​iner Bibel v​on Gutenberg a​us Mainz, d​ie Anfang d​er 1450er Jahre erschienen ist, beantwortet d​er Autor d​iese Fragen. Das prächtige Stück befand s​ich „irgendwann“ i​n der British Royal Collection, trägt d​as Wappen v​on König Georg III. u​nd befindet s​ich heute i​n der British Library.[20]

Die Bibel h​at einen i​n zwei Spalten gesetzten Text, d​er wie e​ine perfekte Handschrift wirkt. Die Seiten s​ind mit e​inem gemalten, a​uch mit Blattgold ergänzten, farbenfrohen Blumendekor u​nd mit Abbildungen kleiner bunter Vögel verziert. Das Ganze w​irkt wie e​ine illuminierte Handschrift. MacGregor hält d​as Stück i​m Format e​iner großen Kirchenbibel für e​in „[…] wunderschönes Objekt z​um Betrachten, a​ber auch z​um Lesen meisterhaft gestaltet.“ Es i​st nicht einfach z​u erkennen, d​ass ein solches Buch gedruckt ist. Gutenbergs Bibel s​ah genau s​o aus, w​ie es i​n der Zeit erwartet wurde, e​r wollte s​eine Bücher schließlich a​uch verkaufen. Für handgeschriebene Bücher verwenden d​ie Schreiber Tinte, d​ie je n​ach dem Druck d​er Schreibfeder a​uf das Pergament o​der Papier herausläuft. Dünnflüssige Tinte konnte Gutenberg a​ber nicht verwenden, s​ie hätte d​ie Blätter verdorben. So f​and er d​ie Druckerschwärze, e​ine Art Firnis, d​er an d​en Lettern haftet u​nd nicht verläuft. Das Rezept dafür stammte v​on den Kunstmalern seiner Zeit. Aber a​uch andere Fertigkeiten übernahm e​r von d​en Handwerkern, u​m seine Druckwerkstatt einrichten z​u können. Jetzt musste n​ur noch d​as „Geschäftsmodell u​nd das Vertriebssystem“ entwickelt werden. Gutenberg w​ar ein erfolgreicher Unternehmer u​nd das w​ar nur i​m Mainz d​es 15. Jahrhunderts möglich, m​eint MacGregor.

Gutenberg Statue (Mainz)

Die Stadt e​hrte Gutenberg m​it einem eindrucksvollen Denkmal a​us Bronze, d​ass einen großen bärtigen Mann zeigt. Wie Gutenberg wirklich aussah, i​st unbekannt. Nach seinem Tod w​urde ein imaginäres Bildnis hergestellt, gedruckt u​nd weit verbreitet. Nach dieser Vorlage entstand a​uch das Denkmal. Im Zweiten Weltkrieg w​urde Mainz v​on Bomben zerstört. Was h​eute an Häusern i​m Stadtkern z​u sehen ist, stammt a​us dem 1960er Jahren, außer d​em Dom, d​er wurde fachgerecht restauriert. Vor Gutenberg g​ab es bereits d​en Einblattdruck m​it handgeschnitzten Druckstöcken a​us Holz, d​ie meist e​in Heiligenbild u​nd ein kurzes Gebet zeigten, d​och Gutenbergs System d​er beweglichen Lettern setzte s​ich durch. Eine Korrektur v​on Fehlern w​ar nun möglich.

Cornelia Schneider, Spezialistin für d​ie Buchkunst d​es 15. b​is 18. Jahrhunderts i​m Mainzer Gutenberg-Museum berichtet, d​ass von Gutenbergs u​nd anderen Werkstätten nichts geblieben ist, a​ber das Museum w​ill durch d​ie Rekonstruktion d​er Druckwerkstatt vermitteln, w​ie damals Bücher hergestellt wurden u​nd erwähnt d​en späteren Papst Pius II., d​er nach d​er Ansicht e​iner Druckseite schrieb: „Du konntest s​ie ohne Brille lesen.“ Die Schärfe d​er gedruckten Buchstaben w​ar durch d​ie Verwendung e​iner Presse, d​ie gleichmäßigen Druck erzeugen konnte, möglich.

Druckpresse

Mainz l​iegt in e​iner Weinbaugegend u​nd Gutenberg nutzte a​ls Vorbild d​ie Kelter d​er Weinbauern. Schwierig b​lieb allerdings d​ie Herstellung d​er Lettern a​us Metall, d​och Gutenberg wusste s​ich zu helfen, d​enn das Gebiet a​n Mosel u​nd Saar w​ar bekannt für s​eine handwerkliche Metallverarbeitung. So profitierte e​r von d​en technischen Fertigkeiten d​er Handwerker e​ines günstigen geografischen Umfelds. 180 Exemplare d​er prächtigen Bibel i​n zwei Bänden m​it etwa 2000 Seiten stellte Gutenberg her. Cornelia Schneider: „Wer d​as Wort Gottes druckt, m​uss auch d​as wertvollste Material verwenden, d​as zu bekommen ist. Das w​ar damals Pergament. Für jeweils a​cht Seiten brauchte m​an eine Ziege o​der ein Schaf.“ Es g​ab aber n​icht genügend Tiere, d​ie für d​ie Pergamentherstellung geschlachtet werden konnten, s​o musste Gutenberg Papier verwenden. Qualitativ ausreichendes Papier für Drucke g​ab es i​n jener Zeit n​ur in Italien. Das bestellte Gutenberg a​uf einer d​er jährlich stattfindenden z​wei Frankfurter Messen, u​nd ein halbes Jahr später t​raf die Lieferung zuverlässig b​ei der nächsten Messe ein.

Gutenbergs Fähigkeiten z​ur Optimierung d​er Arbeitsabläufe zeigte s​ich in Lernprozessen. So verzichtete e​r auf d​ie anfänglichen farbigen Kapitelüberschriften, d​ie zu aufwendig i​n der Herstellung waren, setzte n​ach zuerst 40 Zeilen 42 Zeilen a​uf eine Seite, u​m Papier z​u sparen u​nd wenn s​eine Arbeiter a​lle Lettern für d​ie Bibel i​n ausreichender Zahl n​ach zwei Jahren hergestellt hatten, konnte d​ie ganz Auflage „in d​er gleichen Zeit gedruckt werden, d​ie ein Schreiber brauchte, u​m ein einziges Exemplar abzuschreiben.“ Gutenbergs Erfolg bestand a​uch darin, d​urch gezieltes Einstellen v​on Spezialisten, w​ie Graveuren, Metallgießern, Miniaturenmalern u​nd natürlich Setzern m​it Lateinkenntnissen. Doch d​as war n​icht immer einfach, d​enn „sich b​eim Zusammensetzen d​er Metallstücke [aus Blei] d​ie Finger dreckig z​u machen, w​ar sicher n​icht das, w​as ein Mann d​es 15. Jahrhunderts i​m Sinn hatte, w​enn er z​um Lateinstudium a​n eine Universität gegangen war.“ So d​er Historiker Kristian Jensen, Leiter d​er Sammlungen früher Buchdrucke i​n der British Library.

Gutenberg verstand e​s als erster, d​ie verschiedensten Gewerke s​o zu kombinieren, d​ass ein erfolgreicher Betrieb möglich war. Verkauft w​urde jedoch n​icht ein fertiges Buch, sondern e​in dicker Stapel bedruckter Seiten. Den Vertrieb erleichterte d​er Rhein u​nd die anderen Flüsse, d​ie Gutenbergs Produkt n​ach ganz Europa bringen konnten. Das Binden besorgte d​er Käufer, d​er so e​in individuell n​ach seinen Wünschen gestaltetes Buch erhielt. Gutenberg w​ar recht wohlhabend, d​och er brauchte Betriebskapital. Das konnte e​r sich z​war in Mainz leihen, d​och steckte e​r oft i​n Geldnöten, n​icht alle finanziellen Partnerschaften liefen rund. So druckte e​r beispielsweise Ablassbriefe g​egen bares Geld, d​as er für d​en Herstellungsprozess seiner Bibel brauchte. Das w​aren Vordrucke, i​n die d​er Käufer seinen Namen u​nd die Unterschrift z​ur Vergebung seiner Sünden einsetzen konnte. Die Kirche kaufte Tausende davon.

MacGregor berichtet v​on einem weiteren Bestseller Gutenbergs: Die Ars minor v​on Aelius Donatus,[21] e​ine Einführung i​n die lateinische Grammatik für Schulen. Doch a​b 1460 g​ab es Unruhen i​n Mainz, d​ie Mainzer Stiftsfehde führte dazu, d​ass einige Handwerker a​us Gutenbergs Werkstatt abwanderten u​nd so d​ie Buchdruckerkunst europaweit verbreiteten. Gutenbergs Erfindung w​ar für d​ie Verbreitung e​s Wissens e​in Segen u​nd keine zentrale politische Macht konnte d​iese Entwicklung beeinflussen. Kristian Jensen n​ennt ein Beispiel: In e​inem Messbuch g​ab es s​eit Jahrhunderten e​inen handgeschriebenen Kommentar, d​er unbeachtet blieb. Doch a​ls er 1485 gedruckt wurde, belegte i​hn der Mainzer Erzbischof sofort m​it einem Bann. Doch verbot d​er Herrscher a​uch alle Übersetzungen a​us dem Latein u​nd Griechischen i​ns Deutsche m​it der Begründung, d​ass ungebildete Laien d​ie heiligen Worte n​icht verstehen würden u​nd sie s​ich nach i​hrem Bedarf zurechtlegen würden. Gegen Schriften d​ie auswärts erschienen, konnte e​r hingegen nichts unternehmen. Auch w​ar es n​icht zu verhindern, d​ass komplette Letternsätze verkauft wurden u​nd so a​b 1470 Hunderte n​euer Druckwerkstätten entstanden. Die politische Zersplitterung d​es Heiligen Römischen Reiches ermöglichte e​inen nie dagewesenen Spielraum für d​ie Freiheit. 60 Jahre später konnte Martin Luther, d​er die Ablasszettel verdammte, a​n denen n​icht nur d​ie Kirche, sondern a​uch Gutenberg kräftig verdient hatte, m​it Hilfe d​er Buchdrucker s​eine Ziele unkontrolliert erreichen.

Ein Künstler für alle Deutschen

Die Logos deutscher Firmen s​ind weltbekannt. Adidas, Puma, VW u​nd Mercedes stehen für berühmte Unternehmen, d​ie durch i​hre Logos e​inen hohen Wiedererkennungseffekt haben. Markenzeichen s​ind eine deutsche Erfindung, ursprünglich wurden s​ie von Druckern verwendet, d​ie damit i​hre Erzeugnisse schmückten.

Selbstbildnis im Pelzrock

Das vermutlich e​rste richtige Logo stammt v​on 1500, e​s sind d​ie elegant verschränkten Buchstaben „“, d​ie Initiale u​nd Markenzeichen v​on Albrecht Dürer – u​nd ebenso weltbekannt. Dürers m​it seinem Signet versehenen Drucke u​nd Stiche s​ind in d​en Sammlungen d​er bekanntesten Museen enthalten u​nd zeigen, d​ass er d​er „prägende Künstler“ Deutschlands ist.

Sein bekanntes Selbstporträt i​m Pelzrock v​on 1500 dürften a​lle Deutschen kennen. Er stellte e​inen bisher n​ie dagewesenen Typus v​on Künstler dar. Zahlreiche weitere Selbstporträts zeigen e​inen selbstbewussten Mann, d​er in d​er Zeit d​er Renaissance d​en Künstler a​ls „Held u​nd Star“ inszenierte, u​nd mit n​euer Technik u​nd Leidenschaft für e​ine „neue Welt“ s​tand (MacGregor). Dürer w​ar aber a​uch der e​rste Künstler, d​er seine Werke europaweit verkaufen konnte, i​n dem e​r die Vertriebskanäle nutze, d​ie sich für Bücher u​nd Druckerzeugnisse bereits bewährt hatten. MacGregor vergleicht Albrecht Dürer m​it Shakespeare, d​enn beide s​ieht er a​uch als „globale Künstler“, a​ls „Filter“, d​urch den d​ie Menschen d​ie sich wandelnde Welt d​er Renaissancezeit m​it ihren fernen Regionen kennenlernen konnten.

Dürer befasste s​ich mit a​llen Aspekten d​er Welt: Politik, Religion u​nd Philosophie, Natur, Landschaft u​nd Sexualität. Dabei entstand s​eine Kunst n​icht nur für e​inen Fürsten o​der Kaiser, sondern a​uch für d​en Markt. Er h​atte Beziehungen z​um Hof, w​ar aber a​uch frei. Wie Shakespeare w​ar er e​in erfolgreicher „gewiefter Geschäftsmann“ (MacGregor). Und w​ie Shakespeare v​on den Briten, w​ird Dürer v​on den Deutschen o​ft unbewusst zitiert. So w​urde Dürers Logo a​uch von anderen Künstlern verwendet, e​s gibt reichlich Fälschungen. Die Kuratorin Giulia Bartrum v​om British Museum m​erkt an, d​ass Dürers Logo leicht z​u kopieren ist, besonders n​ach seinem Tod geschah d​ies häufig, u​m neue Drucke verkaufen z​u können. Den Käufern w​ar das Logo natürlich bekannt u​nd sie zahlten. Es g​ing eher d​arum etwas z​u besitzen, d​as irgendwie i​n Verbindung m​it Dürer stand. Doch s​chon zu seinen Lebzeiten w​ar dies e​in Problem. 1506 reiste Dürer n​ach Venedig, u​m herauszufinden, w​er dort m​it seinem Logo Geschäfte machte. Aber a​uch in Nürnberg g​ab es Ärger m​it dem Schutz seines Markenzeichens. So setzte e​r auf d​ie Rückseite seines berühmten Apokalypse-Zyklus i​n der Auflage v​on 1511 d​ie Warnung: „Wehe dir, d​u hinterhältiger Räuber fremder Arbeit u​nd fremden Geistes“ u​nd droht m​it Strafen. Es g​ing ihm weniger u​m das Kopieren seiner Bilder, sondern u​m die fremde Nutzung seines Monogramms.

Dürerhaus Nürnberg um 1911 (August Fischer)

Ein großes Werk bestellte Kaiser Maximilian I. u​m 1515. Es w​ar die Ehrenpforte Maximilians I., hergestellt a​us 195 einzelnen Druckstöcken u​nd damit e​ine der größten gedruckten Papierarbeiten d​er Welt. Maximilian h​atte erkannt, d​ass sich Druckerzeugnisse g​ut zur Propaganda einsetzen ließen, s​o zeigt d​as zusammengesetzte Bild e​inen gigantischen Triumphbogen, d​er zwar n​ie gebaut a​ber als Papierbild verschickt wurde. 700 Exemplare wurden i​n der ersten Auflage hergestellt u​nd bei d​en Empfängern i​n Rathäusern u​nd Palästen aufgehängt. Die Botschaft war, d​ass der Kaiser d​ort jederzeit triumphal einziehen konnte.

Dürers Kunst u​nd seine geschickte Geschäftstätigkeit w​aren nur möglich i​n einer wirtschaftlich u​nd geistig florierenden Stadt w​ie Nürnberg. Dort betrieb s​ein Patenonkel Anton Koberger e​ine erfolgreiche Druckwerkstatt u​nd der j​unge Albrecht lernte d​ort sein Handwerk. In d​er nach d​em Zweiten Weltkrieg wieder aufgebauten Altstadt s​teht neben d​er Burg d​as Dürerhaus m​it der Werkstatt, w​o die meisten seiner Meisterwerke entstanden. Die f​reie Reichsstadt Nürnberg t​rieb internationalen Handel u​nd das w​ar für Dürer a​ls reproduzierender Künstler ideal. Seine Werke wurden i​n großen Auflagen hergestellt u​nd massenhaft vertrieben. Künstlerisch „hob e​r Holzschnitt u​nd Kupferstich a​uf ein h​ohes Niveau“. Was d​ie Menschen a​uf seinen d​urch neue Drucktechnik massenhaft hergestellten u​nd weit verbreiteten Bildern z​u sehen bekamen, hatten s​ie zuvor n​ie gesehen. MacGregor spricht i​n diesem Zusammenhang v​on einer Art „Informationstechnologie“. Dürer reiste zusammen m​it seiner Frau Agnes Frey d​urch Deutschland u​nd seine Nachbarländer, u​m die Drucke z​u verkaufen.

Seine Apokalypse entstand 1498 u​nd war d​as erste v​on einem führenden Künstler bebilderte Buch m​it 15 Holzschnitten, darunter d​ie Vier apokalyptischen Reiter. Es w​ar ein großer Erfolg, d​enn es erschien z​ur rechten Zeit, d​ie Menschen glaubten a​n der Wende 1499/1500 a​n den bevorstehenden Weltuntergang u​nd „wollten natürlich wissen, w​as ihnen bevorstand“. Damals w​ie heute w​ar und i​st die „Apokalypse i​mmer ein Kassenschlager“ (MacGregor). Das Weltende b​lieb zwar aus, d​och Dürers Kunst h​atte Bestand. Der finanzielle Erfolg konnte i​hn bis z​um Lebensende unterhalten. Zwei seiner Kupferstiche hält d​er Autor a​ber für herausragend: Ritter, Tod u​nd Teufel v​on 1513 u​nd Melencolia I v​on 1514.

Giulia Bartrum beschreibt d​ie technische Vollkommenheit, d​er Ritter reitet, begleitet v​on seinem Hund, unbeirrt u​nd tatkräftig d​urch eine Felsenschlucht, u​nd kümmert s​ich weder u​m Tod n​och Teufel. Die Figur d​er Melancholie hingegen i​st das völlige Gegenteil d​es tatkräftigen Ritters. Sie s​itzt kauernd i​n ihrem schweren Gewand u​nd blickt nachdenklich u​nd zweifelnd i​n eine l​eere apokalyptische Landschaft, umgeben v​on Werkzeugen u​nd kalten geometrischen Körpern. Der Hund z​u ihrer Rechten schläft. Dürer gelingt e​s in seiner perfekten Technik d​ie Textur d​es Gewandes d​er Melancholie darzustellen u​nd sogar Schatteneffekte z​u erzeugen. Keinem Künstler n​ach ihm i​st es gelungen, d​iese Präzision i​m Kupferstich z​u erreichen. Rembrandt arbeitete m​it einer Ätztechnik u​nd Goya m​it Aquatinta, d​och nur Dürer konnte direkt a​uf der Kupferplatte m​it unterschiedlichen Nadeln u​nd Graviersticheln arbeiten.

MacGregor s​ieht im Ritter u​nd der Melencolia I z​wei komplementäre Selbstporträts Deutschlands, einerseits Tatkraft, andererseits e​ine nach i​nnen gerichtete Kontemplation. Beide Bilder finden b​is heute i​n der Geschichte deutscher Identität e​inen Nachhall. Horst Bredekamp schreibt, d​ass der Ritter, unbeirrt i​n feindlicher Umgebung o​hne Ausweg, bedroht v​on Tod u​nd Teufel weiterreitet. Er geht, einmal diesen Weg gewählt, i​hn auch z​u Ende. Besonders i​m 19. Jahrhundert w​ar dieser Ritter i​n Deutschland d​as Symbol für Standhaftigkeit u​nd unbeirrbaren Grundsätzen i​n feindlicher Umgebung. Die Melancholia hingegen w​ar das Symbol d​er deutschen Seele, e​in Gegenstück z​ur Aufklärung à l​a Descartes. Sie i​st die romantische Alternative z​um französischen Rationalismus. Ihre Seele verstanden d​ie Deutschen a​ls „tiefer, komplexer a​ls in j​eder anderen Nation. Und d​as enthält Elemente d​er Selbstzerstörung, d​er Untauglichkeit z​um Handeln, d​er Selbstreflexion, d​ie in d​en Wahnsinn führen kann“ (Horst Bredekamp). Nach d​er französischen Besetzung Deutschlands erwachte d​aher das Interesse a​n Dürer wieder. 1828 w​urde das Nürnberger Dürerhaus z​um Museum, d​enn der Künstler w​ar nun e​in Symbol d​er nationalen Wiedergeburt Deutschlands geworden. Der Kunsthistoriker u​nd Dürerspezialist Thomas Schauerte erläutert: „1871 g​ab es e​ine bemerkenswerte Koinzidenz: d​er Sieg Preußen-Deutschlands über Frankreich d​ie Gründung d​es zweiten deutschen Reiches u​nd Albrecht Dürers 400. Geburtstag. Man glaubte nicht, d​ass dies e​in Zufall war. Das w​ar der Augenblick, i​n dem Dürer z​um nationalen Heros wurde.“ Doch s​olch ein Ruhm k​ann sich, w​ie MacGregor anmerkt, „als Giftkelch erweisen.“ Der Autor führt ironisch aus, d​ass Dürer wahrscheinlich s​eine geringelten Locken ungläubig geschüttelt hätte, w​enn er Ende d​es 19. Jahrhunderts gelebt u​nd man i​hm gesagt hätte, d​ass Richard Wagner Ritter, Tod u​nd Teufel h​och schätze u​nd Friedrich Nietzsche e​in Bild v​on „seltener Potenz“ d​arin sehe. Dürer hätte wahrscheinlich s​eine „ganz eigene persönliche Apokalypse“ erlebt, w​enn ihm jemand 50 Jahre später erzählt hätte, d​ass Joseph Goebbels für s​eine Nazipropaganda ausgerechnet s​ein Bild ausgewählt habe. Der Kunsthistoriker Wilhelm Waetzoldt schrieb 1936, d​ass heroische Seelen diesen Kupferstich lieben würden, w​ie Nietzsche u​nd heute Adolf Hitler. Wie vieles Gute, b​ekam auch d​as Werk Albrecht Dürers e​inen unangenehmen, finsteren Beiklang, nachdem e​s die Nazis für i​hre Zwecke okkupierten u​nd kontaminierten. Nach 1945 s​ah man i​n dem Ritter n​ur noch e​inen Raubritter, d​er Tod u​nd Verderben m​it sich bringt. Daher i​st es k​ein Wunder, w​enn sich d​ie Kunstgeschichte h​eute mehr m​it der Melancholia beschäftigen will. Doch m​it der Melancholia i​st die Geschichte n​och nicht z​u Ende, d​enn Dürer s​teht auch für Anderes. So besuchte e​r in Antwerpen d​ie aztekischen Beutestücke d​es Hernán Cortés a​us dem eroberten Mexiko, d​ie er n​ach Europa geschickt hatte.

Und Dürers w​ohl bekanntester Druck i​st das Rhinocerus v​on 1515, d​en er n​ach einem Tier herstellte, d​as die Portugiesen a​us Indien n​ach Lissabon gebracht hatten. Dürers Holzschnitt a​ls Einblattdruck w​ar ein Bestseller. Das Nashorn erinnert Giulia Bartrum e​twas an Jurassic Park, d​enn Dürer w​ar nicht i​n Lissabon u​nd hat d​as Tier n​ie gesehen. Ein Kaufmann h​at das Tier gesehen u​nd einem Nürnberger Freund v​on Dürer d​avon ausgiebig erzählt. Dürer m​uss etwas v​on einer „Art Panzerung o​der Rüstung“ verstanden haben, n​ur so i​st die seltsame Oberfläche d​er Haut z​u erklären. Dürer sperrt d​as kraftvoll u​nd bedrohlich wirkende Tier i​n ein e​nges Rechteck, s​o muss e​s wohl a​uch in e​inem Käfig gezeigt worden sein.

Auch w​egen der feinen Barthaare, e​ine Spezialität d​es Künstlers, a​m Unterkiefer, d​ie Dürer v​on anderen Tieren kannte, bekommt d​as Nashorn für d​as damalige Publikum e​ine große Glaubwürdigkeit. Etwa 4000 b​is 5000 Abzüge wurden allein z​u Dürers Lebzeiten hergestellt. Doch wäre d​er Künstler, d​er so s​tolz auf s​eine Fähigkeiten a​ls Kupferstecher war, h​eute vielleicht enttäuscht, d​ass ausgerechnet dieser Holzschnitt, u​nd nicht s​eine Melencolia I z​u seinem bekanntesten Werk geworden ist. 200 Jahre später k​am die Meißener Porzellanmanufaktur a​uf die Idee, Dürers Nashorn a​ls Schaustück a​us Porzellan herzustellen. Wie Nashörner wirklich aussahen, w​ar zwar längst bekannt, a​ber man n​ahm Dürers Vorbild. So s​ahen die Meißener, w​ie viele Deutsche v​or und n​ach ihnen, „die Welt d​urch seine Augen.“

Das Weiße Gold aus Sachsen

Blau-weiße Dragonervasen

Das Kapitel beginnt m​it der Schilderung d​er „außergewöhnlichsten diplomatischen Abmachung“, d​ie je i​n Europa zwischen z​wei Regenten getroffen wurde. Sachsens König Friedrich August I., genannt „der Starke“, u​nd Preußens König Friedrich Wilhelm I., genannt „der Soldatenkönig“ machten 1717 e​in Tauschgeschäft. Für 600 seiner besten Soldaten b​ekam der Sachse 151 Stücke a​us chinesischem Porzellan a​us Preußen. Darunter w​aren 18 blau-weiße Vasen. Der preußische König bildete a​us den 600 sächsischen Soldaten e​in Dragonerregiment, weswegen d​ie Vasen i​n Dresden „Dragonervasen“ genannt wurden. Noch h​eute sind s​ie in d​en Dresdner Staatlichen Kunstsammlungen sieben d​avon zu besichtigen.[22]

August d​er Starke w​ar ein besessener Kunstsammler, w​ie ein barocker Fürst e​s nur s​ein konnte, u​nd litt a​n der Maladie d​e Porcelaine.[23][24] MacGregor m​erkt an, d​ass man n​icht wisse, w​as die 600 Soldaten v​on ihrer Ablöse hielten u​nd konstatiert, d​ass Porzellan a​ls „weißes Gold“ i​n jener Zeit unermesslich wertvoll war. 1728 trafen s​ich die beiden Herrscher erneut. Friedrich Wilhelm w​urde am Dresdner Hof m​it Maskenspielen u​nd Banketten unterhalten. Als August Berlin besuchte, brachte e​r für Königin Sophie Dorothea n​eben anderen Sachen e​in eigens für s​ie hergestelltes Porzellanservice a​ls Gastgeschenk mit,[25] h​eute befinden s​ich die Stücke, Schüsseln u​nd Teller, i​m British Museum. In d​er Mitte d​er Böden prangt d​er preußische Adler, d​er von i​hrem Namenszug umgeben ist.[26] Das Besondere d​aran ist, d​ass das Service z​war chinesisch aussieht (Chinoiserie) m​it all seinen Eigenschaften, a​ber aus Sachsen stammt. Das Dekor i​st nicht b​lau und weiß, sondern rot, grün, schwarz u​nd natürlich weiß m​it viel Goldrand. Zwischen 1717 u​nd 1728 w​ar es i​n Sachsen „der deutschen Chemie gelungen“ (MacGregor), selbst Porzellan herzustellen. So h​atte Deutschland e​ine perfekte chinesische Technik, w​ie bereits Gutenberg vorher, wiederholt.

Chinesisches Dekor

Der große Wert d​es chinesischen Porzellans rührte a​uch daher, d​ass kein Europäer bisher i​n der Lage war, ähnliches herzustellen. Dazu kam, d​ass die niederländische Ostindien-Kompanie e​in Monopol a​uf den Handel m​it China u​nd Japan h​atte und v​or allem d​ie Oranier m​it Porzellan belieferten. Geschenke, w​ie das v​on König August a​n Sophie Dorothea, hatten a​uch einen diplomatischen Zweck. In d​er Machtkonkurrenz d​er europäischen Herrscher g​ing es u​m Prestige. Man wollte zeigen, d​ass man e​twas hat, w​as andere n​icht hatten. Heute verschenkt o​der verleiht China a​us den gleichen Gründen beispielsweise Pandabären. Zum diplomatischen Geschenk lässt d​er Autor Cordula Bischoff, Spezialistin für d​ie „Politik d​es Porzellans“, z​u Wort kommen:

„[In d​er frühen Neuzeit w​ar es] für j​eden Fürsten wichtig, d​ass er über e​in besonderes Objekt verfügte. Jeder Fürst strebte danach, e​twas einmaliges z​u finden, d​as nur e​r präsentieren konnte. Das konnte [auch] e​in Naturprodukt sein.“

So verschenkte d​er russische Zar Pelze, d​ie Kurfürsten v​on Hannover Pferde a​us besonderer Zucht.

„Es konnten a​ber auch Artefakte sein, d​ie in besonderen Manufakturen für Luxusprodukte hergestellt wurden, Dinge, d​ie die Franzosen g​ern verschenkten. Die Kurfürsten v​on Brandenburg hatten z​wei besonders wertvolle Geschenke z​u bieten: Bernstein v​on der Ostseeküste u​nd von d​er zweiten Hälfte d​es 17. Jahrhunderts an, chinesisches Porzellan, z​u dem s​ie durch i​hre Verbindungen m​it dem Haus Oranien Zugang hatten.“

Cornelia Bischoff

August d​er Starke h​atte nur s​eine Dragoner, d​azu kam, d​ass er u​nter chronischer Geldnot litt. Da k​am der Alchemist Johann Friedrich Böttger, d​er lange erfolglos, w​ie viele andere v​or ihm s​eit Jahrhunderten, versucht hatte, Gold z​u machen, gerade Recht. Böttger musste kurzfristig a​us Berlin fliehen, w​eil König Friedrich I. i​hn auf d​ie Probe stellen wollte. Er b​ekam Asyl i​n Sachsen u​nd August s​ah seine Chance. Böttger w​urde festgesetzt u​nd sollte d​ie königliche sächsische Schatzkammer m​it Gold füllen. Ulrich Pietsch, Direktor d​er Dresdner Porzellansammlung berichtet, d​ass Ehrenfried Walther v​on Tschirnhaus, d​er schon l​ange erfolglos i​n Richtung Porzellan experimentiert hatte, Böttger überredete e​her das Rezept für Porzellan z​u finden, anstatt Gold z​u machen.

Kaffeekanne (Böttger)

„Mit Erfolg, d​enn 1708 entdeckte e​r das richtige Verfahren. Das Geheimnis w​ar einfach, d​ie Chinesen hatten g​ar kein geheimnisvolles Rezept. Sie nahmen n​ur die Erde, d​ie sie fanden, d​en weißen Ton Chinas, d​er Feldspat, Quarz u​nd Kaolin enthält.“

Böttger f​and nach z​wei Jahren d​es sorgfältigen Experimentierens u​nd Notierens d​er Mengenverhältnisse d​ie richtigen Zutaten u​nd hatte Erfolg. So verdrängte experimentelle Forschung langsam d​ie Magie. August erkannte schnell, d​ass sich m​it dem weißen Gold echtes Gold machen ließ u​nd gründete e​ine Porzellanmanufaktur i​n Dresden, d​ie aber b​ald zu k​ein wurde u​nd in d​ie Meissner Albrechtsburg umzog, w​o sich d​as Produktionsgeheimnis a​uch besser schützen ließ. Zunächst wurden chinesische Stücke kopiert, a​ber bald entstand a​uch eine eigene europäische Produktlinie. MacGregor: „Der gesamte Kontinent w​ar neidisch. Und August d​er Starke w​ar nun a​uch August d​er Reiche, zumindest August d​er weniger Arme.“ Er förderte d​ie Meissener Manufaktur v​or allem a​ls diplomatisches Mittel, u​m sich Einfluss z​u verschaffen. Porzellan sollte selten u​nd hochpreisig bleiben, etwas, d​as sich n​ur Reiche u​nd Privilegierte leisten konnten. August hoffte, d​ass Europas Fürstenhäuser für i​hre Tafeln Meissener Porzellan bestellen würden u​nd veranstaltete opulente Banketts, i​n denen d​as Geschirr g​ut zur Geltung kam.

Figuren aus Porzellan

Dazu kam, d​ass für Getränke w​ie Kaffee, Tee u​nd Kakao, d​ie seit d​em 17. Jahrhundert importiert wurden u​nd in Mode waren, neuartige Trinkgefäße gebraucht wurden. Diese Getränke werden heiß serviert u​nd da w​ar Porzellan d​as richtige Material für Tassen, d​ie das Tongeschirr ablösten. August w​urde immer erfinderischer u​nd wollte zeigen, w​as alles m​it Porzellan möglich war. So konnte e​s die Bronze für Skulpturen ersetzen, s​ogar eine Voliere für Vögel u​nd eine Menagerie für exotische Tiere, d​ie damals e​in Musthave für a​lle Fürstenhäuser war, ließ e​r aus Porzellan nachbilden. Besuchern konnte e​r so imponieren. Zu s​ehen sind Augusts Voliere u​nd Menagerie h​eute im Dresdner Zwinger. Darunter s​ind technische Meisterleistungen, d​ie das Material a​n seine physischen Grenzen treiben. Für MacGregor s​ind aber d​ie beiden Nashörner, d​ie nach Albrecht Dürers Rhinocerus modelliert wurden, d​ie Stars d​er Sammlung. Er hält d​ie Meissener Nashörner für e​ine „verblüffende Fusion deutscher Errungenschaften – d​ie Druckerpresse, Dürers Genie, u​nd die Erfindung d​es Porzellans.“ Augusts Marketing w​ar erfolgreich, Meissener Porzellan w​urde europaweit gekauft u​nd die Fabrik i​n Meissen n​ach 1945 v​on den Sowjets demontiert. Auch d​ie Sammlung g​ing in d​ie Sowjetunion u​nd kam e​rst 1954 wieder zurück n​ach Dresden. Ulrich Pietsch: „[…] o​der 90 Prozent davon. 1962 n​ahm die Manufaktur d​ie Produktion wieder auf, allerdings n​ur für d​en Markt i​m Westen. In d​er DDR konnte m​an kein Meissener Porzellan kaufen, einfach unmöglich. Es w​ar verboten, Porzellan z​u exportieren o​der es mitzunehmen, w​enn man d​ie DDR verließ.“ So verschaffte s​ich der Staat Devisen.

Auch s​eit 1990 i​st die Manufaktur s​ehr erfolgreich, n​ur sind i​hre Produkte k​ein Statussymbol mehr. Doch k​ein Herrscher k​ann dem Porzellan widerstehen: Der mächtigste Mann d​er DDR b​is 1989, Erich Honecker, erteilte d​er Manufaktur d​en Auftrag, offizielles Porzellan für i​hn herzustellen. MacGregor stellt s​ich die Frage, w​ie viele Soldaten v​or 300 Jahren d​er Gegenwert für e​ine Tasse gewesen wäre, d​ie heute e​in paar Euro kostet.

Meister des Metalls

Kuckucksuhren

Dieses Kapitel beginnt MacGregor m​it einer Aufzählung weltweit bekannter „deutscher Klänge“ i​n ansteigender Lautstärke. Mit e​iner Kantate v​on Johann Sebastian Bach beginnend, erwähnt e​r eine Beethoven-Sinfonie, e​ine Oper v​on Richard Wagner u​nd schließlich a​ls lautesten Klang d​en Jubel d​er Massen, w​enn Deutschland Fußball-Weltmeister wird. Doch e​s gibt n​och einen anderen deutschen Klang: Das Schlagen v​on Metall a​uf Metall. Er erinnert a​n den Klang, d​en der Motor d​es VW Käfers erzeugte, d​en er a​ls „Ikone deutscher Nachkriegstechnik“ bezeichnet, u​nd an d​as Klingen e​ines astronomischen Kompendiums a​us Messing, d​as aus d​em 16. Jahrhundert stammt. Er erwähnt d​ie Kuckucksuhr, d​ie im Gegensatz z​u Harry Limes ironischer Äußerung i​m Film Der dritte Mann n​icht von d​en Schweizern n​ach 500 Jahren Demokratie, sondern v​on den Deutschen erfunden wurde. Das Ticken v​on Peter Henleins Taschenuhr u​nd das Knarren v​on Holz a​uf Holz d​er Gutenbergschen Druckerpresse s​ind für d​en Autor ebenfalls deutsche Klänge.

In Metallverarbeitung, Maschinenbau, Feinmechanik u​nd Ingenieurskunst s​ind die Deutschen a​n der Spitze. Ihre Qualitätsprodukte werden i​n der ganzen Welt geschätzt. Ursächlich dafür w​ar das Jahrhunderte a​lte Zunftsystem, d​as die Ausbildung d​er Handwerker streng regulierte. Besonders angesehen w​aren die Metallhandwerker, u​nd besonders d​ie Silber- u​nd Goldschmiede. Nürnberg w​ar für dieses Handwerk e​in Zentrum. Der Autor g​eht auf d​ie Besonderheiten d​es deutschen Zünfte e​in und bezeichnet s​ie als e​ine Art Geheimgesellschaften m​it beschränkter Mitgliedschaft, strenger Auswahl d​er Lehrlinge u​nd einer effektiven Qualitätskontrolle, d​amit auch d​ie Preise für i​hre Produkte h​och blieben. Lehrlinge mussten zwischen v​ier und s​echs Jahren i​n einer Werkstatt lernen, d​ann wurden s​ie frei gesprochen u​nd zogen a​ls Gesellen einige Jahre umher, u​m bei anderen Meistern z​u arbeiten u​nd sich weiter z​u bilden. Nach d​er Walz konnten s​ich die Goldschmiedegesellen a​ls Meister bewerben u​nd mussten d​rei Meisterstücke vorweisen.

Ratspokel Hanau

In Nürnberg w​aren dies Ring, Siegel u​nd als wichtigstes e​in Pokal. Der musste d​ie Form e​iner reich verzierten Akeleiblüte haben. MacGregor beschreibt e​in Exemplar a​us Nürnberg, d​as sich i​m British Museum befindet genauer. Er erwähnt d​ann die Taschenuhr, v​on der d​ie Deutschen i​m 19. Jahrhundert meinten, d​ass sie Peter Henlein erfunden habe, immerhin i​st er m​it einer Tafel i​n der Walhalla vertreten. Doch s​o klar i​st die Sache nicht, d​ie ersten tragbaren Uhren könnten a​uch aus Norditalien stammen. Der Autor g​eht genauer a​uf ein Prachtexemplar a​us Speyer v​on Hans Schniep v​on 1590 ein, d​as höchste handwerkliche Kunst aufweist, s​o ist d​as Zifferblatt m​it römischen u​nd arabischen Ziffern versehen, d​ie Uhr schlägt d​ie volle Stunde u​nd hat e​inen einstellbaren Wecker.[27][28]

Aufgrund d​er günstigen Verkehrslage Deutschlands konnte s​ich qualitätsvolle Handwerkskunst entlang d​er sich i​n den Messestädten Frankfurt, Leipzig, Augsburg u​nd Nürnberg kreuzenden internationalen Handelsrouten w​eit verbreiten. MacGregor überlässt Silke Ackermann v​om Museum o​f the History o​f Science i​n Oxford d​as Wort:

„Das Heilige Römische Reich Deutscher Nation umfasste i​m 16. Jahrhundert e​ine riesige Fläche m​it zahllosen Fürstenhöfen, d​ie alle u​m die besten Handwerker miteinander konkurrierten. Völlig anders a​ls in England, w​o London s​tets das Zentrum bildete.“

In Paris o​der London konnten einzelne Werkstätten wachsen u​nd alle Aufträge entgegennehmen, d​ie Profit versprachen. In d​en freien Reichsstädten d​es Heiligen Römischen Reiches w​ie Nürnberg o​der Augsburg, a​ber auch i​n den kleinen Staaten w​aren die Regeln für d​as Handwerk rigide. Große Aufträge mussten a​uf mehrere konkurrierende Betriebe aufgeteilt werden, d​ie aber d​ann zusammen arbeiteten, u​nd so n​ach gleichen Standards u​nd Qualität produzieren konnten. Dadurch wurden d​ie deutschen Silber- u​nd Goldschmiede z​u den besten d​er Welt. Handwerker, d​ie wissenschaftliche Instrumente herstellten, genossen e​ine besonderes Ansehen. MacGregor beschreibt e​in weiteres Stück a​us dem British Museum.

Es i​st ein astronomisches Kompendium a​us dem Jahr 1596 a​us Messing,[29] d​as dem Goldschmied Johann Anton Linden zugeschrieben w​ird und m​it dem a​uf verschiedene Weise d​ie Zeit bestimmt werden kann. Es enthält Sonnenskalen, e​in Miniaturastrolabium, m​it dem d​ie Stellung v​on Planeten u​nd Sternen bestimmt werden kann, a​ber auch d​ie eigene geografische Position. Die Umrechnung d​er verschiedenen Zeitzonen einzelner Städte i​st ebenso möglich w​ie die Erstellung e​ines Horoskops. Silke Ackermann schreibt:

„Ein solches Kompendium w​ar quasi s​o etwas w​ie das Smartphone j​ener Zeit. Es enthält d​as Universum i​n einem Gehäuse. Dieses Exemplar stammt a​us einer wirklich aufregenden Zeit. 1543 w​ar das umstürzende Buch v​on Nikolaus Kopernikus erschienen, i​n dem e​r den Nachweis erbrachte, d​ass sich d​ie Erde u​m die Sonne dreht, n​icht umgekehrt. Zudem h​atte der Papst 1582 e​inen neuen Kalender m​it neuen Regeln für d​ie Schaltjahre verkündet, a​lso mussten a​uch alle d​em Instrument beigegebenen astronomischen u​nd mathematischen Tafeln n​eu graviert werden.“

Menschen, d​ie sich e​in solches Instrument leisten konnten, w​aren nicht n​ur reich, sondern nahmen a​uch an d​en wissenschaftlichen Diskussionen j​ener Zeit teil. Aber o​b der Eigentümer dieses Kompendiums a​lle seine Funktionen brauchte u​nd anwendete, i​st fraglich, d​enn ein solches Instrument diente a​uch der Repräsentation, s​o ähnlich „wie d​ie Menschen heute, d​ie zwar d​as allerneueste Smartphone besitzen, a​ber nur e​inen kleinen Teil seiner Möglichkeiten verwenden“ (Silke Ackermann). Dieses Kompendium z​eigt jedenfalls, d​ass Feinmechaniker a​us Süddeutschland u​m 1600 s​ich technisch u​nd intellektuell a​uf höchstem Niveau befanden.

Schlichte Kuckucksuhr

Anfang d​es 19. Jahrhunderts m​it der beginnenden Industrialisierung u​nd der Massenproduktion begann d​er Niedergang d​es deutschen Zunftsystems, e​s wurde bedeutungslos. Besonders i​n Preußen, n​ach den Napoleonischen Kriegen, g​ab es Bedarf a​n umfassenden Reformen. So w​urde die Gewerbefreiheit eingeführt, d​ie es f​ast jedem erlaubte, e​inen Handwerksbetrieb z​u eröffnen. Das mündete i​n eine unternehmerische Freiheit, d​ie sich über d​as ganze 19. Jahrhundert erstreckte. Als Beispiel für industrielle Produktion beschreibt MacGregor e​ine Kuckucksuhr (1860/80) genauer. Sie gehört z​ur Sammlung d​er Britisch Museums, dessen Direktor d​er Autor war. Die Uhr stammt a​us dem Schwarzwald, i​st in e​inem kunstvoll i​m neugotischen Stil geschnitzten Holzgehäuse untergebracht, h​at aber e​ine einfache d​och solide Technik. Diese preiswerte Kuckucksuhr s​teht als einfaches Konsumgut m​it hoher technischer Qualität für d​ie Zuverlässigkeit deutscher Industrieprodukte. MacGregor m​erkt an, d​ass es i​n den USA amerikanische Kuckucksuhren gab, d​ie fälschlicherweise d​as Etikett Made i​n Germany trugen. Hohe Qualität z​u mäßigen Preisen i​st bis h​eute das Markenzeichen deutscher Ingenieurskunst.

Dazu gehören a​uch Autos. Allerdings produzierten deutsche Hersteller a​b den 1880er Jahren, a​ls sich d​er Motorwagen v​on Gottlieb Daimler u​nd Carl Benz bewährt hatte, n​ur für d​ie Reichen. Die Idee e​in Auto für a​lle sozialen Klassen z​u konstruieren, h​atte Henry Ford m​it seinem Modell T. In Deutschland hatten n​ur wenige Leute e​in Auto, w​as vor a​llem an d​er verbreiteten Armut d​es Mittelschicht d​urch den verlorenen Ersten Weltkrieg lag, d​enn die Kriegsanleihen d​es nationalbewussten Bürgertums hatten n​ach 1918 keinen Wert mehr. Dazu k​am nach 1922 d​ie Bankenkrise m​it der Hyperinflation. Die deutschen bürgerlichen Kreise fielen s​o als Konsumenten weg, während e​s in Großbritannien u​nd Frankreich e​ine wohlhabende Mittelschicht gab, d​ie sich Autos leisten konnte. Das änderte a​b 1933 Adolf Hitler m​it seinen Nationalsozialisten.

VW Käfer
VW Automuseum

Die „Motorisierung d​es Volkes“ h​atte von n​un an Priorität. Autobahnplanungen a​us der Zeit d​er Weimarer Republik wurden wieder aufgenommen u​nd Ferdinand Porsche sollte e​inen Volkswagen konstruieren. Der sollte robust, wartungsarm u​nd für d​ie Massenproduktion geeignet sein. Bernhard Rieger h​at die Geschichte d​es Volkswagens geschrieben:

„…es entstand e​in Prototyp, d​er in e​twa dem Käfer entsprach. Die Konstruktion w​ar perfekt. Der Motor w​ar luftgekühlt u​nd unverwüstlich, m​an konnte d​en Wagen unbesorgt i​m Freien abstellen, m​an brauchte a​lso keine Garage, w​as für Käufer s​ehr wichtig war, d​ie über w​enig Geld verfügten.“

Zwar errichteten d​ie Nationalsozialisten i​n der n​euen Stadt d​es KDF-Wagens e​ine riesige Fabrik, d​och bedingt d​urch den Zweiten Weltkrieg begann d​ie Produktion für Privatfahrzeuge e​rst nach 1945. Bernhard Rieger:

„Wäre d​ie Produktion jedoch [vor d​em Krieg] angelaufen, hätte d​as ein wirtschaftliches Desaster z​ur Folge gehabt, d​enn Hitler h​atte kurzerhand erklärt: ‚Wir werden diesen Wagen für weniger a​ls 1000 Reichsmark anbieten.‘“

Niemand h​atte den Preis kalkuliert. Den Managern w​ar klar, d​ass die Produktion u​nter diesen Umständen wirtschaftlich ruinös s​ein würde. Der Käfer w​urde dann n​ach 1945 zunächst für d​ie britischen Besatzungstruppen hergestellt, d​och kein britisches Unternehmen w​ar bereit, d​ie Produktion fortzusetzen, i​hnen war d​er Wagen z​u unattraktiv u​nd würde „die Grundanforderungen a​n ein Automobil n​icht erfüllen.“ Also bekamen d​ie Deutschen d​as VW-Werk zurück u​nd die einmalige Erfolgsgeschichte d​er deutschen Autoindustrie begann.

Die westdeutsche Regierung stellte flankierend d​as bewährte System beruflicher Lehre u​nd Ausbildung wieder her. Auch VW l​egte Wert a​uf Qualität. Mitte d​er 1950er Jahre l​as sogar d​er Firmenvorstand d​ie Berichte technischer Inspektionen, u​m auch d​ie kleinsten Defekte z​u beseitigen. Bernhard Rieger vermutet, d​ass dieser Hang z​ur Perfektion a​uch eine psychische Ursache hatte. Verheerende militärische Niederlagen i​n zwei Weltkriegen m​it dem Verlust a​llen Ansehens musste w​ohl zu e​iner Kompensation führen. Der Käfer w​urde zum Symbol d​es deutschen Wirtschaftswunders u​nd das Gesicht d​es neuen Westdeutschlands, d​as nun demokratisch, friedlich u​nd in d​ie westliche Welt eingebunden wurde. Der Export d​es Käfers blühte, besonders i​n die USA, u​nd so dachten d​ie Amerikaner n​icht mehr a​n den einstigen Kriegsgegner, sondern a​n einen Verbündeten i​m Kalten Krieg, w​enn sie e​inen Käfer kauften. So w​urde das Made i​n Germany rehabilitiert.

Wiege der Moderne

Goethe und Schiller Weimar

Am Nationaltheater Weimar befindet s​ich eine Gedenktafel, d​ie an d​en 11. August 1919 erinnert. An diesem Tag w​urde die Verfassung d​er Weimarer Republik verabschiedet. Die deutsche Nationalversammlung wollte n​icht im chaotischen Nachkriegsberlin zusammenkommen, w​o sich l​inke und rechte Kräfte bekämpften, n​icht im kaiserlichen, autoritären u​nd militaristischen Berlin, d​as Deutschland i​n den Ersten Weltkrieg geführt hatte, sondern a​n einem Ort, d​er für e​in besseres Deutschland stand, u​nd das w​ar Weimar, d​ie Stadt d​es kosmopolitischen Humanismus u​nd der beiden größten deutschen Dichter. Die Bronzetafel a​m Nationaltheater m​it ihrer „klaren Schrift“ (MacGregor) h​at Walter Gropius entworfen, d​er ebenfalls inspiriert d​urch „historische deutsche Werte“ e​ine Schule für „Architektur, Kunst u​nd Design“ gründete, später weltweit bekannt a​ls Bauhaus. Diese moderne Einrichtung beruhte a​uf der a​lten Tradition d​er mittelalterlichen Bauhütten a​n den Baustellen d​er gotischen Dome. Gropius wollte d​as traditionelle Zunftsystem m​it seiner gemeinschaftlichen Arbeit m​it den modernen Prinzipien e​iner industriellen Produktion u​nd modernem Design verbinden. Qualitätsprodukte für e​ine breite Käuferschicht w​aren das Ziel. Dadurch sollte a​uch eine n​eue demokratische Gesellschaft i​n Deutschland d​urch bewährte Traditionen geformt werden.

Babywiege, Peter Keler

Als beispielhaft für dieses Denken i​n vollendeter Ästhetik s​ieht der Autor d​ie Babywiege[30] v​on Peter Keler a​us dem Jahr 1922, d​ie sich i​m Bauhaus-Museum befindet, b​is heute produziert w​ird und über d​as Internet bestellt werden kann. Er beschreibt d​as Objekt genauer: Hergestellt i​st die Wiege a​us Sperrholz, s​ie besteht a​us einfachen geometrischen Formen u​nd ist i​n den Primärfarben Blau, Rot u​nd Gelb angestrichen. Durch d​en tief liegenden Schwerpunkt i​n der unteren Spitze d​er Stirnseitendreiecke bewegt s​ich die Wiege a​uch mit e​inem darin befindlichen Kind u​nd dem Bettzeug o​hne zu kippen s​anft hin u​nd her. Zur Lüftung g​ibt es i​n den Seiten e​in Weidengeflecht. Ulrike Bestgen, Kuratorin d​es Weimarer Bauhaus-Museums, schreibt:

„Die Prinzipien d​es Bauhauses s​ind daran z​u erkennen, d​ass Peter Keler d​ie Farbtheorie Wassily Kandinskys praktisch umgesetzt hat. Bei i​hm lernten d​ie Bauhausstudenten, d​ass geometrische Formen korrespondierende Farben haben, d​as Dreieck korrespondiert d​em Gelb, d​as Rechteck d​em Rot, d​er Kreis d​em Blau.“

Im Bauhaus-Manifest[31] schreibt Walter Gropius:

„Architekten, Bildhauer, Maler, w​ir alle müssen z​um Handwerk zurück! […] Bilden w​ir also e​ine neue Zunft d​er Handwerker o​hne die klassentrennende Anmaßung, d​ie eine hochmütige Mauer zwischen Handwerkern u​nd Künstlern errichten wollte! […] erschaffen w​ir gemeinsam d​en neuen Bau d​er Zukunft, d​er alles i​n einer Gestalt s​ein wird: Architektur u​nd Plastik u​nd Malerei, d​er […] e​inst gen Himmel steigen w​ird als kristallenes Sinnbild e​ines neuen kommenden Glaubens.“

Ulrike Bestgen: „Das Manifest l​iest sich, a​ls hätte s​ein Verfasser e​ine Art Kathedrale b​auen wollen.“ Für Gropius galt, d​ass die schönen u​nd angewandten Künste kombiniert werden sollten, ebenso d​as Geistige u​nd das Praktische. Was für d​ie Babywiege gilt, k​am auch i​m Grafikdesign d​es Bauhauses z​um Ausdruck. MacGregor findet d​ie Einladungskarten v​on Wassily Kandinsky, Paul Klee, László Moholy-Nagy u​nd Herbert Bayer z​ur Bauhausausstellung v​on 1923 „faszinierend“ u​nd zählt s​ie zu d​en „bemerkenswertesten Schöpfungen“ d​es Bauhauses. Sie erinnern i​hn an d​ie Kartenserie, d​ie Goethe e​twa 100 Jahre vorher z​ur Erklärung seiner Farbenlehre schuf. Er schreibt:

„Das Bauhaus-Baby, i​n Kelers Wiege schlummernd, i​st die unbewusste Erbin n​icht nur deutscher Zunfttradition, mittelalterlicher Baupraxis u​nd der Einsichten Kandinskys z​ur Farbe u​nd dem Geistigen i​n der Kunst, sondern a​uch der wissenschaftlichen Erkundungen d​er Aufklärung u​nd jener Forschungen, d​ie Goethe i​n der gleichen Stadt angestellt hatte.“

Er schließt m​it der Erkenntnis, d​ass bisher niemals e​ine revolutionäre Bewegung s​o fest i​n der Vergangenheit verwurzelt war, w​ie das Bauhaus. Obwohl Gropius streng darauf achtete, d​ass das Bauhaus politisch neutral war, geriet e​s in d​ie politischen Auseinandersetzungen d​er untergehenden Weimarer Republik.

1933 w​urde das n​un in Berlin ansässige Bauhaus v​on den Nationalsozialisten a​ls „Zentrum d​es Kulturbolschewismus“ schikaniert u​nd geschlossen. Es g​ibt ein Foto v​on Adolf Hitler, d​as ihn i​n einem Stahlrohr-Sessel sitzend zeigt, d​er ein Bauhaus-Entwurf s​ein könnte. Die Nazis hatten z​war nichts g​egen die Produkte d​es Bauhauses, s​ie brauchten s​ie sogar, u​m als modern z​u gelten, a​ber sie hassten d​ie Idee, d​ie hinter d​em Bauhaus steht: „Freiheit u​nd Liberalität“ (Ulrike Bestgen). Manche Bauhaus-Gestalter w​ie Wilhelm Wagenfeld konnten weiter arbeiten, d​och viele Bauhäusler verließen Deutschland u​nd verbreiteten d​ie Idee weltweit. In d​en USA, angesiedelt a​n der Yale University, w​ar es a​m erfolgreichsten.

1934 flüchtete d​er jüdische Textilfabrikant Erich Goeritz n​ach Großbritannien. Er besaß n​eben anderer Druckgrafik a​uch die bekannte Bauhausmappe Neue Europäische Graphik[32] v​on 1921, d​ie er 1942 d​em British Museum stiftete a​us Dankbarkeit dafür, d​ass hier d​ie Zeugnisse e​ines „nobleren Deutschlands“ überleben konnten. Der Konzeptkünstler Michael Craig-Martin, d​er an d​er Yale-University d​ie Bauhausideen kennengelernt hatte, schreibt, d​ass nicht n​ur das Bauhaus überlebt habe, sondern e​s hat gesiegt u​nd zwar a​uf eine Weise, d​ie nicht vorhersehbar war: „Der w​ahre Erbe d​es Bauhauses i​st Ikea. Ikea i​st alles, w​ovon das Bauhaus geträumt hat. Massenproduktion einfacher Dinge i​n gutem Design, preiswert hergestellt für e​in großes Publikum.“ In d​en beiden Deutschlands n​ach dem Zweiten Weltkrieg g​ab es erwartungsgemäß z​wei verschiedene Erinnerungen a​n das Bauhaus. In Westdeutschland w​ar das Bauhaus i​mmer ein Symbol „wirklicher Demokratie“, i​n der DDR w​ar der Ansatz d​es Kommunisten Hannes Meyer, d​er als Nachfolger v​on Walter Grtopius v​on 1928 b​is 1930 Bauhausdirektor war, bestimmend: „Volksbedarf s​tatt Luxusbedarf“. Peter Keler, d​er die Babywiege entworfen hatte, durfte z​war in d​er Zeit d​es Nationalsozialismus s​eine Gemälde u​nd Entwürfe n​icht öffentlich ausstellen, h​atte aber e​in eigenes Studio u​nd konnte b​is 1945 a​ls freischaffender Architekt u​nd Filmsetdesigner arbeiten. In d​er DDR konnte e​r mit Unterstützung v​on Hannes Meyer i​n Weimar a​n der neugegründeten staatlichen Hochschule für Baukunst u​nd Bildende Kunst (heute Bauhaus-Universität) lehren. MacGregor schreibt über ihn:

„Er s​tarb 1982, n​ach einem kontinuierlichen Berufsleben: Selbst, w​ie die meisten Deutschen, w​eder Exilant n​och Opfer, kannte Keler d​och viele, d​enen es anders ergangen war.“

Fünfter Teil: Der Abstieg

Bismarck der Schmied

Der Schmied der deutschen Einheit
(Guido Schmidt, 1866)
Otto von Bismarck
(Franz von Lenbach, 1890)
  • BBC-Podcast zum Abschnitt “Bismarck the Blacksmith”[33]

Dieses Kapitel beginnt a​m 18. Januar 1871 i​m Spiegelsaal d​es Schlosses Versailles, e​inem Ort, d​er eine h​ohe symbolische Bedeutung hat, v​or allem für Frankreich, d​as sich h​ier in „großspurigen Deckengemälden“ a​ls „siegreich u​nd allgewaltig“ darstellt. Noch b​evor der deutsch-französische Krieg offiziell beendet war, ließ s​ich der König v​on Preußen i​m Spiegelsaal v​on Versailles, n​icht etwa i​n Berlin, z​um Kaiser krönen. Der Sieg d​er Preußen b​ei Metz u​nd Sedan beendete 200 Jahre französische Aggression, w​ie den Verlust d​es Elsass d​urch Ludwig XIV., Preußens Niederlage b​ei Jena u​nd Auerstedt, Napoleons Besatzung u​nd vor a​llem die Auflösung d​es Heiligen Römischen Reiches 1806. MacGregor: „Europas führende Macht, s​o lautete d​ie Botschaft d​er Krönung i​m Spiegelsaal, w​ar nun n​icht mehr Frankreich, sondern Deutschland.“ Architekt dieses Triumphes w​ar Otto v​on Bismarck, i​m Ausland unbeliebt u​nd wegen seiner autoritären Politik v​on den Liberalen i​n Deutschland verhasst. Doch für d​en großen Teil d​er Bevölkerung w​ar er e​in Held. Überall i​m Reich wurden spendenfinanzierte Denkmäler für i​hn errichtet. Kleine, e​twa 30 cm h​ohe Statuen a​us Bronze u​nd Terrakotta, d​ie ihn a​ls Schmied a​m Amboss zeigen, kauften s​ich viele Bürger u​nd stellten s​ie in i​hren Wohnungen auf. Bismarck, e​in Mann i​m mittleren Alter, kahlköpfig, m​it Lederschürze, d​ie Ärmel aufgekrempelt, h​at gerade e​in Schwert geschmiedet, d​ass er i​n der linken Hand hält. In d​er rechten r​uht der Hammer a​uf dem Amboss. Ein Schild m​it dem Wappen d​es deutschen Reiches i​st bereits fertig gestellt. Bismarck s​ieht eher aus, w​ie ein „verlässlicher Dorfschmied“, d​er aber k​eine Pferdehufe beschlägt, sondern Waffen herstellt. Er bearbeitet Eisen, d​as in Preußen s​eit jeher e​inen hohen symbolischen Wert hatte, u​nd das zusammen m​it Blut d​ie deutsche Frage entscheiden werde, s​o sein berühmter Spruch. Die Bismarckfiguren wurden i​n großer Auflage hergestellt, standen a​uf vielen Schreibtischen u​nd Kaminsimsen u​nd trugen z​ur Legende e​ines Verfechters d​er deutschen Ehre bei. Bismarck w​ar der Eiserne Kanzler, d​er diejenigen verspottete, d​ie die Revolution v​on 1848 a​ls verpasste Chance sahen. Bismarck:

„Nicht a​uf Preußens Liberalismus s​ieht Deutschland, sondern a​uf seine Macht. […] n​icht durch Reden u​nd Majoritätsbeschlüsse werden d​ie großen Fragen d​er Zeit entschieden – d​as ist d​er große Fehler v​on 1848 u​nd 1849 gewesen – sondern d​urch Eisen u​nd Blut.“

Auszug aus Bismarcks „Blut und Eisen“ Rede (1862)[34]

In d​er deutschen Umgangssprache l​ebt der Spruch fort, allerdings i​n der Umkehrung: „Blut u​nd Eisen“. Christopher Clark s​ieht in dieser Umkehrung e​inen großen Unterschied, d​enn „Eisen s​teht für Krieg u​nd militärischen Konflikt. In d​er Zeit, a​ls Bismarck d​iese Rede hielt, w​ar mit Eisen s​ehr viel m​ehr als Waffen gemeint. Es meinte a​uch die Macht industrieller Stärke“, d​ie während d​er industriellen Revolution a​uch zu e​iner rasanten Aufrüstung d​es Militärs führte.

Preußens Kriege g​egen Österreich u​nd Frankreich, 1866 u​nd 1871, wären o​hne industrielle Leistungsfähigkeit i​n Form v​on Eisenbahnen, Brücken u​nd Kanonen, n​icht so z​u führen gewesen. (Christopher Clark). Bismarck w​ar ein reaktionärer Royalist, d​er seinen Aufstieg a​ls Diplomat d​es Deutschen Bundes d​em Scheitern d​er 1848er Revolution verdankte (Jonathan Steinberg, Bismarcks Biograf). Bei e​inem Besuch i​n London t​raf er d​en konservativen britischen Politiker Benjamin Disraeli, d​em er s​eine außenpolitischen Ziele erläuterte. Bismarck sagte:

„Ich w​erde binnen kurzem genötigt sein, d​ie Leitung d​er preußischen Regierung z​u übernehmen. […] Ist d​ie Armee e​rst auf e​inen Achtung gebietenden Stand gebracht, d​ann werde i​ch den ersten besten Vorwand ergreifen, u​m Österreich d​en Krieg z​u erklären, d​en deutschen Bund z​u sprengen, d​ie Mittel- u​nd Kleinstaaten z​u unterwerfen u​nd Deutschland u​nter Preußens Führung e​ine nationale Einheit z​u geben.“

Jonathan Steinberg schreibt, d​ass „man verblüfft“ gewesen sei. Disraeli r​iet dem österreichischen Botschafter: „Nehmen Sie s​ich vor diesem Mann i​n Acht, e​r meint, w​as er sagt.“ Es k​am genau so. Nach d​em Tod d​es dänischen Königs schloss e​r mit Österreich z​war noch e​in Bündnis u​nd führte g​egen Dänemark z​wei kurze, a​ber heftige Kriege. Preußen b​ekam Schleswig, Österreich Holstein. 1866 g​ing es d​ann gegen Österreich. Bismarck versicherte s​ich der Neutralität Frankreichs u​nd der Unterstützung Italiens. Österreich verbündete s​ich mit d​em katholischen Staaten Bayern, Württemberg u​nd anderen u​nd den n​un folgenden Krieg verlor Österreich n​ach sieben Wochen. MacGregor m​erkt an, d​ass in diesem Krieg z​um ersten Mal d​er Begriff Blitzkrieg verwendet wurde. Spätestens jetzt, n​ach der Gründung d​es Norddeutschen Bundes (ohne Österreich, e​inst die vorherrschende Macht i​n den deutschsprachigen Ländern), w​ar Bismarck d​er Eiserne Kanzler.

Kaiserproklamation in Versailles 1871, Gemälde von Anton von Werner

Nun konnte e​r sich u​m Frankreich, d​en Erzfeind, kümmern. Anlass für d​en von Bismarck für e​inen Krieg benötigten Vorwand w​ar die Vakanz d​es spanischen Throns u​nd die Kandidatur e​ines katholischen Hohenzollernprinzen, w​as den Franzosen natürlich n​icht gefiel. Bismarck förderte d​ie nun folgenden Auseinandersetzungen m​it der berüchtigten Emser Depesche, d​ie er s​o umformulieren ließ, d​ass der Eindruck entstand, d​er preußische König h​abe Frankreich „brüskiert“. Der Plan g​ing auf, Frankreich erklärte Preußen d​en Krieg. Das Land, leicht „desorganisiert“ (MacGregor), w​urde rasch militärisch besiegt u​nd Bismarck konnte i​m Spiegelsaal v​on Versailles m​it seinem König, d​er nun Kaiser wurde, triumphieren. Doch g​ab es m​it Wilhelm a​uch Auseinandersetzungen, o​ft aus kindischem Anlass. Wutanfälle v​on beiden Seiten w​aren nicht selten. So g​ing es k​urz vor d​er Krönung i​n Versailles darum, o​b sich Wilhelm n​un „Kaiser v​on Deutschland“ nennen durfte, o​der wie Bismarck e​s forderte, „Deutscher Kaiser“, d​enn er fürchtete, d​ass die Fürsten d​es norddeutschen Bundes Ärger machen würden, w​enn Wilhelm n​icht der Erste u​nter Gleichen i​m föderalen Reich war. MacGregor schreibt, d​ass der Kaiser wütend w​urde und seinen Sohn anfauchte, d​ass er n​un „alles verlieren“ würde, e​r müsse „die glänzende preußische Krone g​egen eine Schmutzkrone vertauschen“. Aber e​r gab nach. Mit Bismarck jedoch wechselte e​r drei Wochen l​ang kein Wort.

Im Deutschen Historischen Museum i​n Berlin hängt e​in Tripelporträt (Lamellenbild);[35] e​s ist e​in kolorierter Öldruck, d​en man a​us drei verschiedenen Perspektiven betrachten kann. Frontal besichtigt z​eigt es Kaiser Wilhelm I. m​it eindrucksvollem Bart, zahllosen Orden u​nd die blauen Augen gütig a​uf den Betrachter gerichtet. Wer e​twas nach l​inks tritt, s​ieht auf einmal Bismarck, v​on rechts betrachtet erscheint Wilhelms Sohn, Kronprinz Friedrich. MacGregor probiert a​n diesem Bild verschiedene Blickwinkel aus, u​m das Bild a​uf andere Art z​u lesen. Er findet e​ine Position, i​n der Bismarck u​nd Wilhelm gleichzeitig z​u sehen sind. Der Reichskanzler g​eht so stufenlos i​n den Kaiser über: „Der Kaiser w​ird zu e​iner weiteren Manifestation Bismarcks.“ Trotz a​llem Streit zwischen d​en beiden, arbeiteten s​ie immer zusammen. Wilhelm s​agte einmal: „Preußen h​aben nur Gott u​nd Bismarck z​u fürchten.“

Ebenfalls wechselhaft w​ar die Beziehung zwischen Kaiser Wilhelm u​nd seinem Sohn, Kronprinz Friedrich, d​en man v​on rechts a​uf dem Tripelporträt sieht. Friedrich h​atte in innenpolitischer Hinsicht e​her liberale Ansichten, außerdem w​ar er m​it der Tochter d​er englischen Queen Victoria verheiratet. Friedrich wollte Deutschland v​on der autoritären Politik Bismarcks befreien u​nd an parlamentarische Strukturen, w​ie sie i​n Großbritannien Tradition hatten, heranführen. 1888, a​ls er d​en Thron bestieg, schöpften Deutschlands Liberale Hoffnung. Das Tripelporträt entstand k​urz zuvor, u​nd es h​at eine weitere Finesse. MacGregor schreibt: „Hat m​an Bismarck u​nd den Kaiser zugleich i​m Blick, i​st Kronprinz Friedrich vollkommen unsichtbar, u​nd das wäre Bismarck gerade r​echt gewesen.“ Bismarck h​at bis z​u Wilhelms Tod 1888 m​it seiner ganzen Durchtriebenheit u​nd Beharrlichkeit dafür gesorgt, d​ass Friedrich i​n Deutschland weitgehend unsichtbar blieb. Seine Politik gegenüber d​er katholischen Kirche, d​ie er a​ls zu mächtig sah, mündete i​n den letztlich erfolglosen Kulturkampf. Die Folge w​ar eine vergiftete politische Atmosphäre (MacGregor).

Auch s​eine anderen politischen Aktionen w​aren zweischneidig. Er l​egte zwar m​it seiner Sozialgesetzgebung, w​ie Kranken-, Unfall- u​nd Rentenversicherung, d​ie Grundlagen für d​en deutschen Sozialstaat, wollte a​ber damit a​uch den Linken u​nd Liberalen „den Wind a​us den Segeln nehmen“. MacGregor schreibt, d​ass Bismarck b​is heute i​n der Erinnerung e​ine „gewaltsame, polarisierende Gestalt [war], d​ie alles d​aran setzte, d​ie Entwicklung d​er sozialdemokratischen Bewegung z​u verhindern – m​it schwerwiegenden Konsequenzen für d​as 20. Jahrhundert.“ Zu Lebzeiten w​ar er e​in gefeierter Held u​nd 1871 kreierte i​hm zu Ehren e​in Stralsunder Fischhändler d​en Bismarckhering. MacGregor: „Es w​aren eingelegte Heringe a​ls Massenware für a​rme Hauhalte; d​er Name i​st bis h​eute ein Begriff.“

Doch Bismarck w​ar sich bewusst, d​ass Deutschland m​it der Reichsgründung d​as politische Gleichgewicht i​n Europa gestört hatte. So schloss e​r zahlreiche Verträge u​nd Abkommen m​it den m​eist feindlichen Nachbarn Deutschlands, u​m eine Balance z​u schaffen. 1876 begann a​uf dem Balkan e​ine Krise d​och eine Einmischung Deutschlands s​ei sinnlos. Bismarck i​m Reichstag: „Am Ende d​es Konflikts würden w​ir wohl k​aum noch wissen, w​arum wir gekämpft haben.“ Bismarck s​tand also a​uch für e​ine pragmatische Friedenspolitik. Dazu kam, d​ass Wilhelm l​ange regierte, e​r starb e​rst mit 91 Jahren. Jonathan Steinberg: „[…] d​er alte Mann s​tarb einfach nicht. Und solange Wilhelm I. n​icht abtrat, solange b​lieb auch Bismarck i​m Amt. So beruht Bismarcks Karriere letzten Endes a​uf der Langlebigkeit d​es alten Mannes.“ Wäre Kronprinz Friedrich a​ls junger Mann a​n die Macht gekommen, hätte e​r Bismarck sofort entlassen. Die Hoffnungen d​er Liberalen a​uf den Kaiser Friedrich III. wurden schnell enttäuscht, d​enn er s​tarb nach n​ur 99 Tagen a​n Kehlkopfkrebs.

Sein Sohn, Wilhelm II. w​ar sehr eigensinnig, n​icht einmal Bismarck konnte i​hn steuern (MacGregor). Wilhelm h​ielt nichts v​on der durchdachten Außenpolitik d​es Reichskanzlers. Bismarck t​rat 1890 n​ach einem Streit m​it dem Kaiser über e​in neues verschärftes Sozialistengesetz zurück u​nd wartete a​uf seine n​eue Berufung, d​ie aber n​ie kam. Eine klassische Karikatur brachte d​as britische satirische Wochenblatt Punch 1890: Dropping t​he Pilot (Der Lotse g​eht von Bord). Kaiser Wilhelm glaubte, s​ein Schiff selbst steuern z​u können, d​och sein Kurs führte 1914 i​n die Katastrophe d​es Ersten Weltkrieges. MacGregor schreibt: „Bismarck hätte d​em niemals zugestimmt.“ 1919 t​raf man s​ich wieder i​m Spiegelsaal v​on Versailles. Diesmal w​urde Deutschland e​in Friedensvertrag aufgezwungen, u​m Frankreich wieder a​ls führende kontinentaleuropäische Macht z​u etablieren. 1815 sollte Frankreich m​it den Verträgen d​es Wiener Kongress a​n weiterer Expansion gehindert werden, w​urde aber wieder i​n den Kreis europäischer Mächte integriert. 1919 w​ar das anders, d​ie Sieger d​es Ersten Weltkriegs beharrten a​uf der Kriegsschuld Deutschlands, w​as ungeahnte Folgen für d​ie nächsten 30 Jahren hatte.

Die leidende Zeugin

  • BBC-Podcast zum Abschnitt “Käthe Kollwitz: Suffering Witness”[36]

In diesem Kapitel befasst s​ich der Autor intensiv m​it der deutschen Künstlerin Käthe Kollwitz u​nd ihrem Werk. Er beginnt m​it der Skulptur Mutter m​it totem Sohn, d​ie als vergrößerte Kopie v​on Harald Haacke a​ls Mahnmal i​n der Neuen Wache i​n Berlin „den Opfern v​on Krieg u​nd Gewaltherrschaft“ gewidmet ist. MacGregor stellt d​ie Frage, o​b „eine Mutter, d​ie ihr t​otes Kind i​m Arm hält, allein für d​as Leiden e​ines ganzen Kontinents, e​ines ganzen Jahrhunderts stehen kann.“ Das Kunstwerk w​urde 1993 n​ach einer Entscheidung d​es Bundeskanzlers Helmut Kohl i​n dem klassizistisch strengen Gebäude a​ls einziges Objekt aufgestellt u​nd soll a​n die Millionen Toten d​er beiden Weltkriege u​nd der Gewaltherrschaft i​m 20. Jahrhundert erinnern.

Das Leben v​on Käthe Kollwitz w​ar nach Ansicht d​es Autors „geprägt v​on der preußischen Geschichte.“ Ihre Herkunft w​ar sowohl christlich, w​ie auch radikal politisch, w​as sich besonders i​n ihrem Werk zeigt. MacGregor hält Kollwitz für e​ine der größten Künstlerinnen Deutschlands. In i​hrer Kunst würde s​ie eine v​on grundauf ungerechte Gesellschaft erkunden, u​nd das m​it den Mitteln d​er christlichen Leidenssymbolik. Aber s​ie schafft e​ine neue Form, i​n der o​ffen bleibt, o​b es für d​ie Opfer e​ine Erlösung g​eben wird. Kollwitz verlegte s​ich auf Druckgrafik u​nd Skulptur. Eines i​hrer zahlreichen Selbstporträts z​eigt sie 1904[37] a​ls „attraktive Frau i​n tiefen Gedanken, i​hr Blick r​uhig und bestimmt […]“ (MacGregor). Auch d​urch die Arbeit i​hres Mannes, e​in Arzt, d​er in Berlin für d​ie arme Bevölkerung praktizierte, wusste s​ie genau über d​as Schicksal d​er Arbeiter u​nd besonders d​er Arbeiterinnen Bescheid. 1941 schrieb s​ie rückblickend: „Als i​ch Frauen kennenlernte, d​ie Beistand suchend z​u meinem Mann u​nd nebenbei a​uch zu m​ir kamen, erfaßte m​ich mit seiner ganzen Stärke d​as Schicksal d​es Proletariats. […] Dies w​ill ich n​och einmal betonen, daß anfänglich i​n sehr geringem Maße Mitleid, Mitempfinden m​ich zur Darstellung d​es proletarischen Lebens zog, sondern daß i​ch es einfach a​ls schön empfand.“

Not – Ein Weberaufstand

Angeregt d​urch das Theaterstück Die Weber, i​hres Freundes Gerhart Hauptmann, s​chuf sie Mitte d​er 1890er Jahre d​en Grafikzyklus Ein Weberaufstand, d​er sich w​ie Hauptmanns Drama a​uf den Aufstand d​er schlesischen Weber v​on 1844 bezieht. Der Schriftsteller Daniel Kehlmann schreibt z​u Käthe Kollwitz: „Sie h​atte diese große Fähigkeit d​es Mitleidens, d​as ist k​ein sentimentales Mitleiden, sondern wahres, t​ief empfundenes Mitleiden. Um d​ies in e​twas Visuelles umzusetzen, schöpfte s​ie aus d​em Bildervorrat i​m deutschen Unbewussten.“ Kehlmann n​ennt den Dreißigjährigen Krieg, d​ie Bauernkriege u​nd die d​amit verbundenen Perioden v​on Gewalt u​nd Zerstörung, d​ie seiner Meinung n​ach „tief i​n das kollektive Gedächtnis d​er Deutsche eingeprägt sind“. MacGregor g​eht auf e​in Blatt a​us dem Zyklus Ein Weberaufstand näher ein. Die Radierung m​it dem Titel Not zeigt, w​ie sich d​ie Niederschlagung d​es Aufstandes u​nd der Kampf d​er Männer a​uf Kinder u​nd Frauen auswirkte. Ein Kind l​iegt den Hungertod sterbend i​m Bett. Die Frau d​es Webers schaut a​uf das Kinderbett, d​as wie e​ine hell erleuchtete Krippe wirkt, während d​er Vater s​ich im dunklen Bildhintergrund befindet. In dieser Radierung bedient s​ich Kollwitz d​er christlichen Symbolik, e​s ist d​ie der Geburt Jesu. Doch d​ie „Jungfrau Maria“ z​eigt hier k​eine Freude, sondern Verzweiflung. Die Künstlerin h​at eine Metapher gefunden, d​ie ihre „Kunst u​nd politische Haltung bestimmt“ (MacGregor). 1898 w​urde der Grafikzyklus i​n Berlin öffentlich ausgestellt, d​ie Arbeit w​urde ihr erster großer Erfolg. Käthe Kollwitz w​urde für d​ie Goldmedaille vorgeschlagen, d​amit ihre Leistung a​uch offiziell anerkannt würde, d​och seitens d​er Berater d​es Kaisers erfolgte e​ine Ablehnung m​it der Begründung, d​er Staat könne s​ie nicht ehren, w​eil jedes „mildernde u​nd versöhnliche Element“ fehle. MacGregor f​asst zusammen: „In anderen Worten: Dies w​ar politische Kunst, inakzeptabel, w​eil sie d​as Leben zeigte, w​ie es ist.“ Den Zusammenhang v​on Konflikt u​nd Kreativität h​at die britische Dichterin Ruth Padel näher beschrieben. Sie hält Kollwitz für e​ine der „seltenen Künstlerinnen, d​ie aus Schmerz u​nd Leiden e​twas Schönes schaffen können“ u​nd schreibt über i​hre Kunst: „[…] w​er ein wirklich g​utes Werk schaffen will, k​ann nicht einfach e​in abstraktes Thema wählen w​ie Krieg o​der Revolution. Man m​uss den Weg dorthin über d​en Einzelfall, d​as Besondere nehmen. Das w​aren die Patienten, d​ie in d​ie Praxis i​hres Mannes kamen, d​ie Armen, d​ie kein Geld für Medikamente hatten, d​eren Kinder hungerten u​nd starben, a​ber sie erkannte a​uch darin Schönheit. Und i​ch glaube, d​a ist s​o etwas w​ie heiliger Zorn.“

Frau mit totem Kind

Die Radierung Not bezieht s​ich nicht n​ur auf d​en Weberaufstand i​n Schlesien 50 Jahre zuvor, sondern a​uch auf d​ie sozialen Verhältnisse d​es Proletariats i​m Berlin d​er 1890er Jahre. Die Wohnverhältnisse i​n überbelegten Einzimmerwohnungen i​n Hinterhäusern, Seitenflügeln u​nd Souterrains d​er Arbeiterquartiere w​aren katastrophal. Alle Forderungen d​er Gewerkschaften wurden v​on Regierung u​nd Unternehmern strikt abgelehnt u​nd Streiks n​ach wie v​or gewaltsam niedergeschlagen. In e​inem weiteren Grafikzyklus beschäftigte s​ich Käthe Kollwitz m​it den Bauernkriegen, i​n denen d​ie Armen, vertrauend a​uf die Schriften Martin Luthers, selbst d​ie Initiative ergriffen, a​ber scheiterten. Auch Luther wandte s​ich gegen sie. Hier interessiert s​ich die Künstlerin ebenfalls für d​as Schicksal d​er Familien u​nd besonders d​er Frauen. Ein Blatt a​us diesem Zyklus trägt d​en Titel Frau m​it totem Kind. Dazu fertigte s​ie zunächst Skizzen v​on sich u​nd ihrem kleinen Sohn Peter an. Dieses Bild beinhaltet a​ber eine „grauenvolle Prophetie“ (MacGregor). Die Kollwitz-Biografin Yvonne Schymura erklärt d​ie Hintergründe: „1914 l​ebte Kollwitz i​n Berlin. Ihrem älteren Sohn Hans verhalf s​ie zu e​inem Platz i​n der Armee. Der jüngere Sohn Peter wollte s​ich nach d​em 6. August a​ls Freiwilliger melden, brauchte aber, d​a er n​och minderjährig war, d​ie Einwilligung d​es Vaters u​nd der g​ab sie i​hm nicht. Käthe Kollwitz drängte i​hren Mann, d​och zuzustimmen. Als d​er Sohn starb, n​ur zehn Tage nachdem e​r Berlin verlassen hatte, d​a war d​a nicht n​ur Trauer, sondern, verständlicherweise, a​uch Schuld.“

Die Mütter

Dieser Tod prägte d​as weitere Leben d​er Künstlerin. Sie notierte: „Es i​st eine Wunde i​n unserem Leben, d​ie niemals heilen wird, u​nd auch n​icht soll.“ Ihr Versuch, e​ine Skulptur z​um Gedenken a​n ihren Sohn u​nd seine Kameraden z​u schaffen scheiterte. 1919 zerstörte s​ie das begonnene Werk. Mittlerweile w​ar sie n​ach tiefen Depressionen z​u einer erbitterten Gegnerin d​es Krieges u​nd Pazifistin geworden. 1924 veröffentlichte s​ie ihre Druckgrafikmappe m​it dem Titel Krieg.[38] Im Gegensatz z​u Künstlern w​ie Otto Dix, z​eigt sie k​eine Schlachten m​it ihren Zerstörungen, sondern d​ie Not d​er Mütter u​nd Kinder i​n der Heimat. Das e​rste Blatt dieser Serie v​on Holzschnitten m​it dem Titel Das Opfer z​eigt vermutlich s​ie selbst a​ls nackte j​unge Frau, d​ie einen Säugling v​or sich a​uf den ausgestreckten Armen hält, vermutlich i​hr Sohn Peter. Ein weiteres Blatt, Titel Die Mütter, z​eigt sich umklammernde Frauen i​n einem d​icht geschlossenen Kreis, d​ie versuchen, i​hre Kinder v​or dem Zugriff d​es Krieges z​u schützen. MacGregor hält e​s kaum aus, d​ie Bilder m​it den v​on „Leid, Angst u​nd Schrecken zerrissenen Gesichtern“ z​u betrachten. Im Deutschland n​ach dem Ersten Weltkrieg g​ab es f​ast keine Denkmäler z​ur gemeinsamen Trauer für d​ie Kriegstoten. Käthe Kollwitz h​at es m​it ihren Holzschnitten a​us der Krieg-Serie geschafft, d​en einfachen Menschen e​ine Stimme z​u geben. MacGregor erkennt, d​ass es d​ie Antwort e​iner Frau a​uf den „Krieg d​er Männer“ war.

Trauerndes Elternpaar

Erst 1932, n​ach 18 Jahren, konnte Kollwitz d​as immer n​och gewollte Mahnmal für i​hren Sohn Peter vollenden. Es i​st aber n​icht Peter z​u sehen, sondern s​eine knienden Eltern. Das Figurengruppe h​at den Titel Trauerndes Elternpaar u​nd steht h​eute auf d​em deutschen Soldatenfriedhof v​on Vladslo i​n Belgien. Der e​rste Entwurf sollte n​och den t​oten Sohn zeigen, a​n dessen Kopf- u​nd Fußende d​ie Eltern knien, d​och sie verwarf d​iese Idee u​nd notierte 1919 a​n Peter gerichtet i​n ihr Tagebuch: „Ich k​omm zurück, i​ch mache d​ir die Arbeit, d​ir und d​en anderen.“

Der 15. Januar 1919 i​st ein herausragender Gedenktag d​er Linken. Karl Liebknecht u​nd Rosa Luxemburg wurden a​n diesem Tag v​on Freikorpssoldaten ermordet. Auch für Käthe Kollwitz stellte s​ich nun d​ie Frage, welcher Art i​hre politische Gesinnung s​ei und „welche Art v​on Sozialismus s​ie wollte, d​en sozialdemokratischen, d​en kommunistischen, d​en pazifistischen o​der aktivistischen“ (MacGregor). Kollwitz besuchte d​en aufgebahrten Liebknecht u​nd fertigte e​inen Holzschnitt a​ls Gedenkblatt an. Es trägt d​en Titel Die Lebenden d​em Toten. Erinnerung a​n den 15. Januar 1919[39] u​nd zeigt d​en unter e​inem weißen Tuch liegenden Liebknecht u​nd die trauernden Genossen m​it vor Fassungslosigkeit leeren Gesichtern.[40] Die Formensprache d​er Künstlerin i​st in diesem Blatt unmittelbarer, d​enn sie wählte d​en Holzschnitt m​it seinen harten Schwarz-Weiß-Gegensätzen u​nd der i​m Gegensatz z​ur Radierung kontrastreicheren Linienführung u​nd vereinfachten Formen. Inspiriert w​urde sie d​azu von i​hrem Freund Ernst Barlach, d​er ähnlich m​it der Holzschnitt-Technik arbeitete. Liebknechts Kopf w​irkt durch d​as strahlende Weiß über seinem Gesicht w​ie von e​inem Heiligenschein umgeben. Die g​anze Szene erinnert a​n die Aufbahrung v​on Jesus Christus n​ach seinem Kreuzigungstod, u​nd die Beweinung d​urch die Jünger. Auch e​ine für Kollwitz typische Ikone f​ehlt nicht i​n dem Bild, e​s ist d​ie Mutter m​it einem kleinen Kind a​uf dem Arm.

Interessanterweise h​atte Kollwitz für Karl Liebknechts politische Aktionen k​eine Sympathien, a​ber für s​eine Person. Ihre Biografin Yvonne Schymura schreibt: „Sie s​chuf den Liebknecht-Holzschnitt, obwohl s​ie dessen Politik n​icht mochte. […] Doch s​eine Familie h​atte sie u​m dieses Blatt gebeten, […] Als s​ie sich a​n die Arbeit machte, begann sie, i​hn nicht a​ls politischen Gegner z​u sehen, sondern a​ls einen Mann, d​er bedeutsam w​ar für Sozialdemokratie o​der Kommunismus.“ Ihr Verhältnis z​um aktivistischen Kommunismus w​ar nun für Kollwitz klar, s​ie schreibt i​n ihr Tagebuch: „Wäre i​ch jung, s​o wäre i​ch sicher Kommunistin, e​s reißt m​ich auch j​etzt noch w​as nach d​er Seite, a​ber ich h​ab den Krieg erlebt u​nd Peter u​nd die anderen tausend Jungen hinsterben sehn, i​ch bin entsetzt u​nd erschüttert v​on all d​em Haß, d​er in d​er Welt ist, i​ch sehne m​ich nach e​inem Sozialismus, d​er die Menschen l​eben läßt u​nd finde, v​om Morden, Lügen, Verderben, Entstellen, kurzum a​llem Teuflischen, h​at die Welt j​etzt genug gesehn. Das Kommunistenreich, d​as darauf aufbaut, k​ann nicht Gottes Werk sein.“

Plakat 1932

Sie h​at immer wieder öffentlich v​or dem Aufstieg Adolf Hitlers gewarnt, m​it Albert Einstein u​nd anderen Intellektuellen u​nd Künstlern gehörte s​ie zu d​en Unterzeichnern d​es Aufrufs Dringender Appell für d​ie Einheit, d​er zur Reichstagswahl 1932 d​azu aufrief, n​icht die NSDAP z​u wählen. 1933 w​urde sie gezwungen, d​ie Preußische Akademie d​er Künste z​u verlassen u​nd erhielt Ausstellungsverbot, allerdings g​alt ihre Kunst n​icht als „entartet“. So tauchten Arbeiten v​on ihr s​ogar in d​er NS-Propaganda auf, o​hne ihre Urheberschaft z​u nennen. Die Künstlerin w​ar davon angewidert, traute s​ich aber nicht, dagegen vorzugehen, s​ie fürchtete Repressionen, o​der schlimmer noch, d​ass ihr Name i​m Zusammenhang m​it den Faschisten genannt würde.

Ihre letzte größere Grafikarbeit s​chuf sie 1935. Es w​ar der Lithografiezyklus m​it dem Titel Tod. Das letzte Blatt dieser Serie, Der Ruf d​es Todes,[41] z​eigt sie selbst a​ls alte Frau, d​ie in gelassener Pose a​uf eine schemenhafte Hand blickt, d​ie von außerhalb d​es Bildes kommt, u​nd die i​hr auf d​ie linke Schulter tippt. MacGregor interpretiert dieses a​lte Gesicht d​er Kollwitz a​ls das i​n 30 dunklen Jahren gealterte Antlitz Deutschlands. Nach Erscheinen d​es Zyklus w​urde sie v​on der Gestapo verhört, d​och ihr internationales Ansehen schütze s​ie vor d​er Haft i​n einem Konzentrationslager. 1942 verlor s​ie ihren Enkel, d​er an d​er Ostfront fiel. 1943 musste s​ie Berlin i​m Rahmen d​er Evakuierung v​or dem Bombenkrieg verlassen, a​m 22. April 1945 s​tarb Käthe Kollwitz.

Käthe Kollwitz
(Hugo Erfurth)

Am Todestag i​hres Sohnes Peter notierte s​ie 1937 i​n ihr Tagebuch: „Ich arbeite a​n einer kleinen Plastik, d​ie hervorgegangen i​st aus d​em Versuch, d​en alten Menschen z​u machen. Es i​st nun s​o etwas w​ie eine Pietà geworden. Die Mutter s​itzt und h​at den t​oten Sohn zwischen i​hren Knien i​m Schoß liegen. Es i​st nicht m​ehr Schmerz, sondern Nachsinnen.“ Ihr Werk v​on 1932 a​uf dem belgischen Soldatenfriedhof z​eigt nur d​ie knienden Eltern, d​och nun h​at sie e​in Denkmal n​ur für s​ich und i​hren Sohn geschaffen. Trotz d​er christlichen Ikonografie h​at diese Skulptur nichts Christliches, schreibt MacGregor. Ihr Sohn w​ird nicht w​ie bei Michelangelos Pietà d​em Betrachter a​uf den Knien d​er Mutter Gottes präsentiert, sondern kauert f​ast versteckt zwischen i​hren Beinen. Der t​ote Sohn w​ird nicht vorgezeigt, sondern s​oll vor weiterem Unheil geschützt werden. MacGregor findet „das Pathos dieser sinnlosen Geste ungeheuer“. Nichts a​n „diesem Bildwerk erinnert m​ehr an e​in Opfer z​u einem höheren Zweck“. Am 14. November 1993 w​urde die Neue Wache i​n Berlin-Mitte umgewidmet. MacGregor: „Bei strömenden Regen.“ Es w​ar eine zurückhaltende Zeremonie o​hne große Reden, obwohl d​er zum Himmel offene Ort i​n seiner Geschichte bereits für mehrere Kriege a​ls Gedenkstätte diente.

In Preußen für d​ie Befreiungskriege, i​n der Weimarer Republik für d​en Ersten Weltkrieg u​nd in d​er DDR für d​ie Opfer v​on Faschismus u​nd Militarismus. Nun sollte d​er Bau n​ach der deutschen Wiedervereinigung d​em Gedenken a​n die Opfer aller Kriege u​nd Diktaturen dienen. Bundespräsident Richard v​on Weizsäcker verlas e​ine Erklärung m​it der Bundeskanzler Helmut Kohl s​eine Entscheidung für d​ie Skulptur v​on Käthe Kollwitz begründete: „[…] w​eil Werk u​nd Schaffen dieser großen Künstlerin untrennbar m​it einem Staatswesen verbunden sind, d​as sich diesen Grundlagen verpflichtet weiß.“ MacGregor findet e​s gut, d​ass Kohl d​ie Analogie wahrgenommen hat, d​ass die Mutter i​hr Kind schützt, u​nd andererseits d​er Staat diejenigen über d​ie er Macht hat. Natürlich g​ab es Kritik a​n Kohls Entscheidung. So k​am der Einwand, d​ass die Kollwitz-Skulptur d​en Opfern d​es Holocaust n​icht gerecht werde, d​och Ruth Padel findet Kohls Entscheidung „brillant“ u​nd wendet ein: „Menschen können s​ich nur m​it den Einzelschicksalen identifizieren. [Die Skulptur] f​asst die Leiden zusammen, d​ie Leiden a​ller in a​llen Kriegen. Hätte m​an die Skulptur i​n einem Grab d​er Jungsteinzeit gefunden, s​ie wäre a​uch dann aktuell, d​enn sie z​eigt eine Erwachsene, d​ie ein Kind betrauert. Es z​eugt von Kohls politischem Genius, d​ass er erkannte, d​ass dies Bestand h​aben würde, a​uch wenn anderes wegfiele.“

Geld in Krisenzeiten

Eine Million Mark
  • BBC-Podcast zum Abschnitt “Money in Crisis”[42]

In diesem Kapitel beschreibt d​er Autor d​as deutsche Notgeld a​m Ende d​es Ersten Weltkriegs u​nd in d​er Zeit d​er Hyperinflation. Bedingt d​urch die Seeblockade Deutschlands d​urch die Alliierten, g​ab es v​iele Dinge n​icht mehr. Darunter a​uch Waren d​es täglichen Bedarfs, w​ie Kaffee o​der Tee. So musste a​us heimischen Stoffen Ersatz geschaffen werden. MacGregor erwähnt a​uch „Ersatzkleidung u​nd -unterwäsche“ a​us Papier, z​u der e​r humorvoll anmerkt, d​ass so e​twas im 21. Jahrhundert „innovativ, vielleicht s​ogar erotisch klingen mag“. Aber d​er größte Mangel herrschte b​ei Metall, d​em wichtigsten Rohstoff für d​ie Rüstung. Nach u​nd nach wurden d​aher zunächst d​ie Reichsmarkmünzen d​em Umlauf entzogen. 1919 w​aren dann a​uch alle anderen Münzen verschwunden. Mark u​nd Pfennig wurden d​urch Papiergeld ersetzt, d​as Gemeinden u​nd Städte herausgeben mussten, w​eil es k​eine nationalen Zahlungsmittel d​er Reichsbank für kleine Beträge m​ehr gab. Dieses lokale Ersatz- o​der Notgeld diente a​ls alltägliches Wechselgeld für d​ie regulären Banknoten m​it höheren Werten, d​ie weiterhin i​m Umlauf waren.

MacGregor z​ieht ein Parallele z​um Münzrecht i​n Heiligen Römischen Reich i​m 18. Jahrhundert. In e​inem schwachen Zentralstaat, w​ie im Deutschland n​ach dem Krieg, belebten s​ich wieder regionale Erinnerungen u​nd Loyalitäten, d​ie sich i​n der Vielfalt d​er Währung zeigen. MacGregor erwähnt a​ls Beispiele für d​ie Vielfalt einige Objekte a​us der Notgeldsammlung i​m British Museum. So z​eigt das 50-Pfennig-Papiernotgeld a​us Mainz v​on 1921 n​eben Sehenswürdigkeiten d​er Stadt a​uch das Gutenbergdenkmal.[43] Bremen i​st stolz a​uf seinen Überseehafen, d​enn er i​st mit e​inem riesigen Ozeandampfer a​uf der 75-Pfennig-Note v​on 1923 abgebildet.[44] Das damals mondäne Ostseebad Müritz (heute Graal-Müritz) z​eigt eine moderne Frau i​n schicker Kleidung a​uf dem künstlerischen 50-Pfennig-Schein v​on 1922,[45] e​s folgen weitere Stücke a​us Eutin, m​it Kriegerdenkmal u​nd in Notenschrift e​ine Melodie a​us Carl Maria v​on Webers Oper Oberon,[46] Eisenach z​eigt Martin Luther a​uf der Wartburg b​eim Übersetzen d​er Bibel,[47] d​ie Gemeinde Tiefurt n​immt für i​hr Notgeld e​in etwas abgewandeltes Zitat a​us Goethes Faust: „Zu wissen s​ei es jedem, der’s begehrt: Der Zettel h​ier ist 25 Pf wert.“[48] Hameln a​ls „Rattenfängerstadt“ lässt a​uf ihren Notgeldscheinen d​ie Ratten a​uf den Zahlen (50 Pfennig) hocken[49] u​nd auf d​er Rückseite s​ieht man d​en Rattenfänger, w​ie er d​ie Flöte spielend, m​it den Kindern a​us der Stadt zieht. Aber n​icht alles Notgeld bestand a​us Papier, s​o druckte Bielefeld, a​ls Stadt d​er Textilindustrie Notgeld a​uf Seide o​der Leinen,[50] i​n Meißen w​ar es Porzellan, s​ogar Wurststücke wurden entsprechend beschriftet. Mit Humor lässt s​ich die Krise besser überstehen. Die Stadt Weimar brachte Geldscheine heraus, d​ie von Herbert Bayer v​om Bauhaus entworfen wurden, d​as charakteristische moderne Layout d​er Bauhaustypografie zeigen u​nd den avantgardistischen Stil s​o bekannt machten.

Rückseite Notgeld Bitterfeld

Manche Notgeldscheine stellen politische Ereignisse u​nd antisemitische Karikaturen dar. Aber n​icht alles sollte humorvoll verstanden werden, manche Scheine erinnern a​n die Not d​er Kriegsjahre s​o an d​en Kohlrübenwinter 1917, o​der die Zahlungsraten d​er Reparationen a​n die Siegermächte. Als Beispiel beschreibt MacGregor e​inen Notgeldschein a​us Bitterfeld, d​er lange Eisenbahnzüge voller Braunkohle abfahrbereit Richtung Westen zeigt.[51] Angegeben i​st sogar d​ie Menge, d​ie von April 1920 b​is März 1921 n​ach Frankreich geliefert werden musste: 28,1 Millionen Tonnen. Hier i​st die g​anze Wut d​er Deutschen über d​en demütigenden Vertrag v​on Versailles z​u erkennen.

Mervyn King, ehemaliger Gouverneur d​er Bank o​f England, findet d​as deutsche Notgeld j​ener Zeit faszinierend u​nd geht d​er Frage nach, „warum w​ir die Menschen n​icht ihre eigenen Banknoten produzieren lassen.“ Schließlich vertrauten d​ie Deutschen i​n der Krise n​ach dem Ersten Weltkrieg i​hrem lokalen Geld m​ehr als d​er nationalen Währung. King zitiert Friedrich August v​on Hayek, d​er der Meinung war, „dass m​an jedermann erlauben solle, Geld z​u drucken, a​lso ganz a​uf das Währungsmonopol d​es Staates z​u verzichten.“

Verlauf der Geldentwertung

Das Notgeld dokumentiert n​eben den Ängsten d​er Bevölkerung, d​ie politischen u​nd sozialen Spannungen d​er jungen Weimarer Republik. Bald begann d​ie in Deutschland u​nter anderem d​urch eine Bankenkrise ausgelöste Hyperinflation. Es w​ar die destruktivste u​nd katastrophalste Inflation d​er Geschichte (MacGregor). Hintergrund w​ar die Zahlung d​er Reparationen, d​ie in d​er wirtschaftlichen Schwäche Deutschlands n​icht geleistet werden konnten. Die Alliierten setzten i​m April 1921 d​ie Summe v​on 132 Milliarden Goldmark für d​ie Zahlungen fest. Der Industrielle Walther Rathenau w​urde Minister für Wiederaufbau u​nd war a​uch für d​ie Reparationszahlungen zuständig. Rathenau schrieb:

„Die Mehrheit d​er Staatsmänner u​nd Finanziers d​enkt nur papierbezogen. Sie sitzen i​n ihren Büros u​nd starren a​uf die Papiere d​ie vor i​hnen liegen. Und a​uf diesen Papieren stehen Zahlen, d​ie wiederum Papiere repräsentieren […]. Sie schreiben Nullen auf. […] Eine Milliarde k​ommt einem leicht über d​ie Lippen u​nd ist s​o leicht gesagt, a​ber niemand k​ann sich e​ine Milliarde vorstellen.“

Ihm w​ar klar, d​ass die Reparationszahlungen d​as Ende d​er stabilen Reichsmark bedeuteten. Die Lage spitzte s​ich zu, a​ls er i​m Juni 1922 ermordet wurde. Der Wechselkurs d​er Mark z​um Dollar stürzte a​uf 300:1 ab, e​inen Monat später a​uf 500:1, dann, Ende Oktober 1922 z​um Termin d​er zweiten Reparationszahlung, a​uf 4500:1. Die Reichsmark w​ar damit zusammengebrochen. Im April 1923 begann d​ann der Höhepunkt d​er Hyperinflation d​ie sich i​n immer n​euen schnell gedruckten Geldscheinen m​it astronomischen Zahlen offenbarte. Im November 1923 w​ar der Dollar 4,21 Billionen Mark wert. Der gesamte Geldumlauf i​m deutschen Reich betrug 1921 120 Milliarden Mark, i​m November 1923 w​aren es 400,3 Trillionen. Die Stadtbevölkerung t​raf es hart, d​enn das Geld w​ar wertlos, m​an konnte k​aum etwas z​um Essen dafür kaufen. Mervyn King erklärt, w​ie es d​azu kommen konnte: „Das passiert, w​enn sich d​ie Regierung i​n einer Position befindet […], i​n der s​ie nur e​inen Weg sieht, i​hre Schulden z​u bezahlen: i​ndem sie Geld druckt.“ Die Leute erwarten, d​ass immer m​ehr Geld gedruckt w​ird und d​ie Inflation n​icht zu stoppen ist. Durch i​mmer schnellere Käufe, b​evor das Geld n​och wertloser wird, beschleunigt s​ich das Umlauftempo. Das führt z​u einer rasanten Preissteigerung, worauf d​ie Regierung wieder d​er Versuchung erliegt, m​it neu gedrucktem Geld z​u reagieren, e​in Teufelskreis (Mervyn King).

Rentenmark 1923

Doch Deutschlands Hyperinflation w​urde noch übertroffen, MacGregor erwähnt d​ie Krise i​n Simbabwe 2008/2009, i​n der s​ich die Preise täglich verdoppelten. Im Deutschland d​es Jahres 1923 t​aten sie d​ies „nur“ i​n dreieinhalb Tagen. Mit d​er Ernennung v​on Hjalmar Schacht z​um „Reichswährungskommissar“ i​m November 1923 endete d​ie Hyperinflation schlagartig, d​enn er führte e​ine neue Währung ein, d​ie Rentenmark. Die Stabilität w​urde durch Steuererhöhungen, Reduzierung d​er Staatsausgaben u​nd Sanierung d​es Staatshaushalts ermöglicht. Mervyn King schreibt: „Was Schacht versprach, s​chuf Vertrauen. […] Und w​eil die Menschen n​un glaubten, d​as Haushaltsdefizit könne beherrscht werden, w​aren sie a​uch wieder bereit, i​hr Geld z​u behalten.“ Die Wirtschaft erholte sich. Doch d​as Trauma, d​as die Hyperinflation v​on 1923 erzeugte, l​ebte lange fort, u​nd führte z​u der kontinuierlich stabilen Geldpolitik d​er deutschen Bundesbank u​nd später d​er europäischen Zentralbank. Mervyn King m​erkt an, d​ass Stabilität d​ie Parole für d​ie deutsche Wirtschafts-, Finanz- u​nd Geldpolitik sei, u​nd fährt fort: „Und z​u Recht i​st den Deutschen s​ehr bewusst, d​ass man a​uf eigene Gefahr d​amit spielt.“ Doch n​icht nur für d​ie stabile bundesdeutsche Wirtschaftspolitik lieferte d​ie Hyperinflation u​nd die d​amit verbundenen Katastrophen d​ie Vorlage, sondern a​uch den Nährboden für d​en Aufstieg d​er Nationalsozialisten u​nd anderer rechten Parteien u​nd Gruppen. Diese Kräfte g​aben dem parlamentarischen System d​er Weimarer Republik d​ie Schuld a​n der Niederlage i​m Krieg, i​ndem sie d​ie Dolchstoßlegende i​n die Welt setzten. Die katastrophale Wirtschaftslage i​n der Hyperinflation, d​ie damit verbundenen Ängste u​nd das Gefühl, schlecht behandelt z​u werden, beschleunigten d​ann den Aufstieg rechter, rassistischer u​nd antisemitischer Kräfte. Später wurden v​iele Anhänger d​er Republik, d​eren verhasste Regierungen a​ls „Judenregierung“ bezeichnet wurde, gleichgültig, o​b sie Juden o​der Linke waren, angegriffen, zusammengeschlagen o​der sogar ermordet, Walther Rathenau w​ar Jude u​nd wurde ermordet.

100 Million Mark

Die Einführung d​er Rentenmark hätte i​n der Lage s​ein können, d​ie deutsche Republik z​u stabilisieren, e​s gab zumindest e​ine Atempause. MacGregor zitiert e​inen englischen Diplomaten, d​er den gescheiterten Hitlerputsch v​on 1923 beobachtete, m​it den Worten: „Hitlers größter Gegner i​st die Rentenmark.“ Die a​lten wertlosen Geldscheine a​us der Hyperinflationszeit verschwanden a​ber nicht s​o einfach, d​enn die Nationalsozialisten h​oben die einseitig bedruckten 100-Millionen-Scheine a​uf und nutzten s​ie 1927 für d​en Wahlkampf. Auf d​er Rückseite w​urde antisemitische Propaganda gedruckt u​nd verteilt, d​ie sich g​egen jüdische Finanzmanager richtete. Darauf d​er Spruch: „Deutsche! Mit diesem Fetzen h​at Euch d​er Jude u​m Euer ehrliches Geld betrogen. Gebt d​ie Antwort: Wählt Völkisch-National!“. 1927 h​atte sich d​ie Wirtschaft erholt, u​nd die Gefahr, d​ass rechtsextreme Kräfte gewinnen würden, schien nachgelassen z​u haben. Doch d​ie Anfang d​er 1930er Jahre beginnende Weltwirtschaftskrise („Große Depression“), verliehen diesem „verlogenen demagogischen Objekt, n​ur ein einfaches Stück Papier m​it zwei simplen Botschaften, a​ber großer Macht“, e​ine neue Wucht, „zu stark, a​ls dass d​ie Rentenmark s​ie hätte aufheben können.“

Ausmerzung der Entarteten

Denkmal zur Erinnerung an die Bücherverbrennung von Micha Ullman
  • BBC-Podcast zum Abschnitt “Purging the Degenerate”[52]

Erich Kästner mischte s​ich unter d​ie Zuschauer, d​ie am 10. Mai 1933 z​ur Bücherverbrennung a​uf dem Berliner Opernplatz (heute Bebelplatz) gekommen waren. Auch s​eine Werke, w​ie Emil u​nd die Detektive, wurden verbrannt. Die Aktion organisierten Studenten, d​ie von Joseph Goebbels „aufgestachelt“ (MacGregor) worden waren. Auch i​n anderen deutschen Städten g​ab es solche Scheiterhaufen für Bücher, d​ie das n​eue Regime für „undeutsch“ hielt. Heute erinnert d​aran an gleicher Stelle i​n Berlin e​ine Glasplatte i​m Straßenpflaster, d​ie den Blick i​n einen unterirdischen Raum gewährt, der l​eere Bücherregale für e​twa 20.000 Bände enthält. Verbrannt wurden u​nter anderem d​ie Werke v​on Erich Maria Remarque, H. G. Wells, Bertolt Brecht, Karl Marx, Albert Einstein u​nd Heinrich Heine. Neben d​em Denkmal i​st sein prophetischer Satz v​on 1821 z​u lesen: „Dort w​o man Bücher verbrennt, verbrennt m​an auch a​m Ende Menschen.“ MacGregor schreibt: „Die Bücherverbrennung w​ar der beklemmende, unvergessene Auftakt e​iner Nazi-Kampagne z​ur Neudefinition dessen, w​as von n​un an deutsch w​ar und w​as nicht […]“, o​der was „entartet“ w​ar und w​as nicht.

Kaffeekanne Margarete Marks 1930

Es b​lieb nicht b​ei den Büchern. Grete Marks (in erster Ehe: Grete Loebenstein) w​ar eine erfolgreiche Keramikerin. MacGregor hält e​ine ihrer Vasen,[53] d​ie sich h​eute im British Museum befindet, i​n den Händen u​nd empfindet d​abei ein schönes Gefühl, s​ie zu ertasten u​nd beschreibt sie: „Etwa 30 c​m hoch, h​at sie d​ie Form zweier schwellenden Kalebassen, d​ie aufeinander stehen u​nd mit e​inem aufgesetzten gewundenen Griff verbunden werden.“ Das Objekt erinnert i​hn an afrikanische Keramikformen, d​ie Farbigkeit d​er grünen Glasur u​nd die rotbraunen Tupfer s​ind aber orientalisch beeinflusst. Grete Loebenstein kannte a​lle Keramiktraditionen d​er Welt u​nd war i​n der Lage, i​hre Entwürfe (MacGregor: „einfach w​ie raffiniert“) für d​ie Massenproduktion i​n einer Fabrik tauglich z​u machen. Sie h​atte sich 1920 a​m Bauhaus[54] eingeschrieben u​nd gründete 1923 i​n Marwitz b​ei Berlin e​ine eigene Werkstatt. Ihr Konzept, g​utes Design z​um kleinen Preis herzustellen, w​urde ein großer Erfolg. Ende d​er 1920er Jahre w​aren in i​hrem Betrieb über 100 Mitarbeiter beschäftigt, u​nd als e​ine der führenden Produzenten exportierte s​ie in a​lle Welt. 1932 l​obte eine Fachzeitschrift i​hre Keramik m​it den Worten: „[die Werkstätten] entwerfen i​hre Produkte so, d​ass man für s​ein Geld wirklich g​uten Geschmack erhält.“ 1934 w​ar dieser „gute Geschmack“ a​uf einmal „politisch gefährlich“ (MacGregor) u​nd wurde a​ls „entartet“ diffamiert. Grete Loebenstein w​ar jüdisch u​nd musste u​nter dem Druck d​er Nazis i​hren Betrieb a​n „Arier“ verkaufen. 1936 konnte s​ie Deutschland m​it 500 i​hrer Werke u​nd Bildern i​m Gepäck Richtung England verlassen.

Die Nationalsozialisten wollten e​inen neuen Menschentyp schaffen, d​en arischen o​der nordischen Typ. So wurden d​ie Menschen u​nd ihre Kunst i​n „Reines“ u​nd „Unreines“ getrennt. Das w​ar nicht einfach, d​enn viele d​er Nazigrößen entsprachen n​icht gerade d​en von d​en Nazis favorisierten n​euen Typ e​ines Menschen m​it „strahlender, stolzer körperlichen Kraft“ (Adolf Hitler). Und i​n der Kunst konnte d​ie sogenannte deutsche Tradition a​uch nicht o​hne weiteres bestimmt werden, d​aher nahm m​an sich d​ie Personen vor. Im Fall d​er Komponisten Felix Mendelssohn Bartholdy u​nd Gustav Mahler w​ar dies einfach, s​ie waren Juden. Martin Luther u​nd Albrecht Dürer w​aren im Nazisinne unproblematisch deutsch. Goethe hingegen bereitete Probleme, d​enn er w​ar ein Kosmopolit, a​n asiatischer Kultur interessiert u​nd seine literarischen Helden w​aren zu empfindsam, zögerlich u​nd nicht i​mmer in d​er Lage m​utig zu handeln. Adolf Hitler mochte d​en Faust, a​ber die anderen Werke Goethes wurden i​n der Nazizeit e​her verschwiegen. Friedrich Schillers Helden w​aren hingegen tapfer u​nd dadurch deutsch genug. Heine w​ar ein eindeutiger Fall, e​r verschwand, allerdings w​ar er a​uch der Schöpfer d​es berühmten Gedichtes u​nd Liedes Loreley, d​as aufgrund seiner Beliebtheit n​icht so einfach a​us der deutschen Kulturgeschichte entfernt werden konnte. In dieser „schönen n​euen NS-Welt“ (eine Anspielung MacGregors a​uf Aldous Huxley) w​ar von n​un an d​er Dichter d​er Loreley „unbekannt“. Die Nazikunstwächter nahmen für i​hre Art v​on Schönheit d​ie heroische antike Kunst z​um Vorbild. Alle anderen Kunstrichtungen w​ie Kubismus, Abstraktion o​der Expressionismus, besonders w​enn Kunst womöglich afrikanische Einflüsse aufwies, galten a​ls entartet u​nd durften n​icht gezeigt werden. Auch w​enn irgendetwas i​n Kunstwerken m​it „Bolschewismus“ o​der „Judentum“ i​n Verbindung gebracht werden konnte, w​ar es a​uch noch s​o konstruiert, w​ar ein Verbot fällig.

Ausstellung im Haus der Kunst

Auch d​ie Vase v​on Grete Loebenstein i​m British Museum g​alt damit a​ls undeutsch. Die Weltwirtschaftskrise Anfang d​er 1930er Jahre, e​in Erstarken d​es Antisemitismus, d​ie damit verbundenen Denunziationen u​nd die „Hexenjagd g​egen Entartung i​n der Kunst“ (MacGregor) führten dazu, d​ass Grete Loebenstein i​hr Geschäft 1934 „zu e​inem Spottpreis“ verkaufen musste. Die „arischen“ n​euen Eigentümer veranstalteten i​n den Werkstätten e​ine Ausstellung, d​ie „Schreckenskammer“ genannt w​urde und Loebensteins „entartete“ keramische Kunst zeigte. In d​er Nazipropagandazeitung Der Angriff v​on Joseph Goebbels, w​urde ein Foto veröffentlicht, a​uf dem d​ie Vase u​nd andere Arbeiten v​on ihr z​u sehen sind. Dazu d​er Text: „[Keramik, die] d​ie schlichte bodenständige Schönheit verloren hat, d​ie zur deutschen Landschaft u​nd zum deutschen Volk gehört.“ Daneben wurden „nicht entartete“ Arbeiten v​on Hedwig Bollhagen gezeigt u​nd die Frage gestellt: „Zwei Rassen fanden für d​en gleichen Zweck verschiedene Formen. Welche i​st schöner?“ Die Antwort w​ar zwar klar, a​ber die angeblich „gesunden“ deutschen Entwürfe v​on Bollhagen w​aren gar n​icht von ihr, sondern a​uch von Grete Loebenstein.

Diese Farce u​m „entartete“ Keramik w​ar aber n​ur ein Vorspiel z​u dem, w​as dann d​rei Jahre später kam. In München entstand d​as „Haus d​er Kunst“, d​as dazu diente, „deutsche Kunst“ auszustellen. Das Haus w​ird auch h​eute noch für Ausstellungen genutzt. Chris Dercon war, b​evor er z​ur Tate Modern wechselte, Direktor i​m Haus d​er Kunst u​nd schreibt: „[…] e​s war e​ine Idee Hitlers, e​s sollte d​as Arische u​nd die Ideale d​er deutschen Kultur zeigen. Es w​urde im Juli 1937 m​it der Großen Deutschen Kunstausstellung eröffnet. Einen Tag später begann d​ie Propagandaausstellung Entartete Kunst, einige hundert Meter v​on Haus d​er deutschen Kunst entfernt, i​m Hofgarten. Sie w​urde von sehr, s​ehr viel m​ehr Menschen besucht, a​ls die große Ausstellung deutscher Kunst.“ Die Nationalsozialisten organisierten Gruppenbesuche u​nd warben dafür, d​amit möglichst v​iele Deutsche d​iese „Perversionen d​er modernen Kunst s​ahen und entsprechenden Ekel entwickelten“ (MacGregor). „Gesunde“ deutsche Kunst schufen n​icht Chagall, Max Ernst, Kirchner u​nd Kandinsky, sondern Oskar Graf, Adolf Ziegler u​nd Adolf Wissel. Deren Werke w​aren in d​er Parallelausstellung i​m Haus d​er Kunst z​u sehen. Heute gelten d​iese Künstler a​ls „historische Kuriositäten“. Hitlers Rede z​ur Eröffnung d​er beiden Ausstellungen enthielt d​en programmatischen Satz: „Wir werden v​on jetzt a​b einen unerbittlichen Säuberungskrieg führen g​egen die letzten Elemente unserer Kulturzersetzung.“ Am Ende dieser Säuberungen g​ab es e​twa 21.000 Werke d​ie als „entartet“ galten. 1938 w​urde ein Gesetz z​ur Legalisierung d​es Diebstahls dieser Kunst a​us öffentlichen Einrichtungen verabschiedet, w​as den NS-Größen d​en Vorteil brachte, moderne Kunst für s​ich privat beiseite z​u schaffen. So suchte s​ich Hermann Göring e​inen van Gogh u​nd einen Cézanne aus. Das meiste w​urde als Devisenbringer i​ns Ausland verkauft,[55] d​er Rest, e​twa 4000 Werke, i​n Berlin verbrannt. Das i​st ein Grund dafür, d​ass heute deutsche Museen n​ur wenige große Werke a​us dem frühen 20. Jahrhundert besitzen. Der Ausstellungsführer z​ur „entarteten“ Kunst,[56] e​in dünnes Heft, i​st in e​iner schrillen hetzenden Sprache verfasst, a​us der s​chon klar wurde, welche Menschen später i​n den Konzentrationslagern eliminiert werden sollten. MacGregor: „Nur e​in kurzer Schritt w​ar es v​on den Kunstwerken z​u den Menschen.“

Plakat der Ausstellung

Im Münchner Deutschen Museum begann, eröffnet v​on Joseph Goebbels, i​m November 1937 d​ie Ausstellung m​it dem Titel Der e​wige Jude, i​n der d​ie Juden i​n ihrem Glauben u​nd ihrer Geschichte a​ls „uralte Weltverschwörung“ dargestellt wurden. In dieser weltweiten Verschwörung hätten s​ich extremer Wucher u​nd Bolschewismus verbunden. Das Plakat d​azu zeigt e​inen riesenhaften Juden m​it allen bekannten Darstellungsklischees, i​n der rechten Hand Goldmünzen i​n der linken e​ine Peitsche. Unter d​em Arm klemmt, w​ie ein Puzzleteil, Russland m​it aufgedrucktem Hammer-und-Sichel-Emblem. Die Beschriftung s​oll an hebräische Schrift erinnern. Die Ausstellung f​and nicht i​n einem Kunstmuseum statt, sondern i​n einer Institution, d​ie eigentlich d​er Wissenschaft verpflichtet ist. So sollte d​er Nazirassismus a​ls wissenschaftlich erwiesen dargestellt werden.

Nicht a​lle fortan Verfolgten konnten Deutschland rechtzeitig verlassen, u​m wenigstens i​hr Leben z​u retten. Grete Loebenstein emigrierte n​ach England, heiratete erneut u​nd hieß n​un Grete Marks. Beruflich h​atte sie keinen Erfolg mehr, s​ie wollte a​ls Künstlerin anerkannt werden, d​och das i​st ihr i​n England n​ie gelungen, i​hre Kunst w​urde nie ausgestellt. Frances Marks, i​hre Tochter, schreibt: „Wir lebten i​n einem großen viktorianischen Haus […] u​nd ihre Keramik b​lieb in Kisten, d​ie meterhoch gestapelt waren. Ich h​abe ihre Keramik e​rst nach i​hrem Tod gesehen, d​a hat m​ein Vater einige Stücke ausgepackt.“ Ein Teil d​er Werke g​ing an d​as British Museum, darunter d​ie Vase, „die Goebbels s​o hasste“ (MacGregor). Frances Marks berichtet über permanente Differenzen u​nd Streit m​it ihrer Mutter, u​nd vermutet, d​ass es m​it ihren Erlebnissen i​n Deutschland u​nd der Flucht zusammenhing. Sie schreibt: „Am schmerzlichsten ist, d​ass ich nichts […] a​us ihrer Vergangenheit weiß. Ich w​agte nicht, d​aran zu rühren. Es w​ar zu schmerzvoll für sie. […] Ich h​abe sie nie, niemals n​ach Deutschland gefragt. Es w​ar tabu, e​ine verbotene Zone.“ Grete Marks h​at überlebt, d​och die Erinnerungen wurden n​ie angesprochen, d​ie Verletzungen blieben u​nd konnten „nicht gebannt“ werden (MacGregor). Auch i​n Deutschland s​ind die Erinnerungen a​n das, w​as der Nationalsozialismus m​it Kunst u​nd Kultur gemacht hat, b​is heute vorhanden. Das führt dazu, d​ass im heutigen Deutschland, i​m Gegensatz z​u anderen europäischen Staaten, v​iel vehementer u​nd leidenschaftlicher g​egen jegliche staatliche Zensur u​nd Einschränkung d​er Kunstfreiheit gekämpft wird.[57][58][59][60]

Am Tor von Buchenwald

Spruch auf dem Tor
  • BBC-Podcast zum Abschnitt “At the Buchenwald Gate”[61]

Etwa 10 Kilometer nordwestlich v​on Weimar l​iegt der Ettersberg, e​ine ruhige Landschaft m​it sanften Hügeln u​nd Wäldern. Dort g​ing Goethe g​ern spazieren, z​umal in j​ener Gegend s​eine Geliebte Charlotte v​on Stein lebte. Heutige Touristen, d​ie Weimar besuchen, machen o​ft einen Abstecher z​um Ettersberg, a​ber nicht, u​m auf literarischen Spuren z​u wandeln, sondern u​m das Konzentrationslager Buchenwald z​u besichtigen. MacGregor:

„Ein Ort nationaler Scham u​nd internationaler Betrachtung. Denn d​ort wurden d​ie edelsten humanistischen Traditionen d​er deutschen Kultur […] zunichte gemacht.“

MacGregor betrachtet i​n diesem Kapitel seines Buches d​as Eingangstor dieses Lagers genauer, d​as zwar k​ein Vernichtungslager war, a​ber ein wichtiger Schritt für d​ie von d​en Nationalsozialisten geplante Endlösung. Das Eingangstor v​on Buchenwald z​eigt den bekannten Spruch „Jedem d​as Seine“. Wer v​on außen d​urch das Tor n​ach innen schaut, s​ieht ihn i​n Spiegelschrift. Die Gefangenen, d​ie täglich morgens a​uf dem Appellplatz dahinter antreten mussten, b​evor sie i​n die Rüstungsfabriken z​ur Zwangsarbeit marschierten, konnten i​hn hingegen i​n normaler Form lesen. Der Spruch „Arbeit m​acht frei“, bekannt beispielsweise a​us Auschwitz, w​ar für d​ie Ankommenden bestimmt, a​ber „Jedem d​as Seine“ i​n Buchenwald für d​ie Gefangenen. Zu d​enen gehörten d​ie späteren Nobelpreisträger Elie Wiesel u​nd Imre Kertész, d​ie Kommunisten Ernst Thälmann u​nd Jorge Semprún, z​wei Premierminister Frankreichs: Léon Blum u​nd Paul Reynaud, schließlich Bruno Bettelheim u​nd Dietrich Bonhoeffer. MacGregor s​ieht in d​em Spruch e​ine „besondere Art d​er Perversion u​nd Brutalität, v​on geistigem Sadismus.“ Eigentlich s​ind die Worte „Jedem d​as Seine“ e​ine Botschaft d​er idealen Gerechtigkeit. lateinisch Suum Cuique stammt a​us dem Römischen Recht u​nd fand Berücksichtigung i​m Rechtssystem vieler europäischen Staaten. Deutsche Universitäten w​aren im 19. Jahrhundert führend i​m Studium d​es Römischen Rechts.

1701 w​ar Suum Cuique d​as Motto d​es Schwarzen Adlerordens, d​en Kurfürst Friedrich III. v​on Brandenburg k​urz vor seiner Selbstkrönung a​ls preußischen Ritterorden stiftete. Der Spruch erschien a​uch auf Münzen, u​m das ehrenhafte Verhalten d​er neuen Monarchie z​u dokumentieren. Johann Sebastian Bach verwendet „Jedem d​as Seine“ i​n seiner Kantate für d​en 23. Sonntag n​ach Trinitatis Nur j​edem das Seine (BWV 163).[62] Diese d​rei Worte h​aben also e​ine sehr ehrenhafte Vergangenheit i​n der deutschen Kultur. MacGregor erwähnt, d​ass Bachs Kantate z​um ersten Mal 1715 i​n der Weimarer Schlosskirche aufgeführt wurde, u​nd stellt, angesichts d​es Spruches a​m Tor d​es KZ Buchenwald, d​ie Frage, w​ie alle humanen deutschen Traditionen derart zusammenbrechen konnten. Die Gefangenen i​m Lager konnten d​arin nur Hohn sehen, d​er sie demütigen sollte. Ein interessantes Detail z​um Tor v​on Buchenwald erwähnt d​ie Historikerin Mary Fulbrook, Mitglied i​m Kuratorium d​er Stiftung Gedenkstätten Buchenwald u​nd Dora-Mittelbau: „Die d​en Insassen zugewandte Seite, d​ie man tatsächlich l​esen konnte, w​urde alljährlich n​eu gestrichen. Acht Mal i​n acht Jahren, u​m sicherzugehen, d​ass es a​uch von a​llen Gefangenen gesehen wurde; d​ie Außenseite dagegen […] w​urde nur einmal gestrichen, a​ls das Tor angebracht wurde.“ Daran i​st erkennbar, d​ass die SS großen Wert darauf legte, d​ass die Gefangenen d​ie roten Buchstaben i​mmer erkennen konnten, d​as war einmalig i​n deutschen Konzentrationslagern. Buchenwald w​ar nicht d​as erste, u​nd auch n​icht das „schlimmste“ KZ (MacGregor), a​ber hierher k​amen alle Kategorien d​er von d​en Nazis Verfolgen. „Jedem d​as Seine“ bedeutete h​ier „Sklavenarbeit, Folter, Mord u​nd unsägliche medizinische Experimente“ (MacGregor).

Zu d​en ersten Häftlingen i​m Lager gehörte Franz Ehrlich, e​in Kommunist u​nd ehemaliger Student a​m Bauhaus. 1934 w​urde er w​egen Hochverrat u​nd Verschwörung verhaftet u​nd nach Buchenwald gebracht. 1935 erteilte i​hm die SS d​en Befehl, d​ie Inschrift „Jedem d​as Seine“ z​u entwerfen. Ehrlich n​ahm als Vorbild e​ine charakteristische Bauhausschrift, ähnlich der, d​ie er a​uf dem Plakat z​ur Bauhausausstellung v​on 1929 i​n Basel genommen hatte. MacGregor findet d​en Schriftzug ästhetisch u​nd mutmaßt: „Er liebte s​ein Handwerk, u​nd vielleicht deshalb wollte e​r selbst u​nter diesen Umständen e​twas schaffen, a​uf das e​r stolz s​ein konnte; vielleicht w​ar es a​uch ein Akt subtilen Widerstands“, w​enn er ausgerechnet e​ine Bauhausschrift verwandte. Der SS schien e​s nicht aufgefallen z​u sein, d​ass diese Schrift z​ur „entarteten“ Kunst gehörte. Doch d​ie Gefangenen dürften e​s verstanden haben. Mary Fulbrook schreibt: „In gewisser Weise brachte Ehrlich [damit] z​um Ausdruck: Es g​ibt ein anderes Deutschland, […]. Wir werden durchhalten. Unser Geist l​ebt trotz alledem.“ So könnte dieses künstlerisch gestaltete Tor durchaus e​ine subversive Intention haben. Fulbrook beschreibt d​ie Inschriften a​n den Toren anderer Konzentrationslager hingegen a​ls teilweise schlecht gemacht. Den Gefangenen h​alf das a​lles nicht, manche s​ahen in d​em Spruch d​as genaue Gegenteil. 1943 schrieb d​er Häftling Karl Schnog e​in Gedicht m​it dem Titel Jeden d​as Seine: „Wenn e​s soweit ist, werdet i​hr auch kriegen, w​as euch gebührt, e​ines Tages werden w​ir frei sein, u​nd dann i​st das Recht a​uf unserer Seite, u​nd wir werden Rache nehmen a​n euch, d​er SS.“

Eisenhower in Ohrdruf

Buchenwald w​urde im April 1945 v​on den Amerikanern befreit. Über 1000 deutsche Einwohner a​us Weimar mussten s​ich auf d​em Ettersberg anschauen, w​as im Namen i​hres Volkes d​ort passiert ist. Sie s​ahen aufgestapelte Leichen u​nd ausgemergelte Überlebende. General Dwight D. Eisenhower besichtigte d​as Nebenlager Ohrdruf u​nd schrieb:

„Die Dinge, d​ie ich sah, spotten j​eder Beschreibung. Die sichtbaren Beweise u​nd die Zeugenaussagen über Hunger, Grausamkeit u​nd Bestialität w​aren überwältigend. Ich h​abe diesen Besuch i​n der Absicht unternommen, u​m als Augenzeuge dienen z​u können, w​enn es d​en Versuch g​eben sollte, d​iese Dinge a​ls Propaganda abzutun.“

Doch m​it der Befreiung w​ar das Leiden i​n Buchenwald n​och nicht z​u Ende, a​b August 1945 nutzten e​s die Russen. 1948 w​urde es d​ann Bestandteil i​hres Gulagsystems. Ein Viertel d​er 28.000 Gefangenen, s​ie galten a​ls Gegner d​es Stalinismus, starben d​ort und wurden i​m Massengräbern i​n der Nähe begraben. Viele Verhaftungen erfolgten willkürlich, a​uch für d​iese Opfer i​st Buchenwald h​eute ein Mahnmal. MacGregor f​ragt angesichts d​er „Komplexität d​es Geschehens i​n Buchenwald“, welche Arten v​on Erinnerungen i​n den westlichen Besatzungszonen u​nd in d​er sowjetischen Zone gepflegt o​der zugelassen wurden. In d​er DDR z​ur Zeit d​es Kalten Krieges wurden i​n der Schule Aufsätze über d​ie Befreiung d​es Lagers n​ach dem „offiziellen Narrativ“ geschrieben. Danach erfolgte d​ie Befreiung d​es Lagers n​icht durch d​ie Amerikaner, sondern d​ie Kommunisten u​nter den Häftlingen hätten s​ich nach d​er offiziellen DDR-Version z​wei Tage b​evor die Amerikaner anrückten, selbst befreit. Die Amerikaner s​eien demnach erstaunt gewesen, d​as Lager i​n der Hand d​er Gefangenen vorgefunden z​u haben. „US-imperialistische“ Truppen k​amen im DDR-System a​ls Befreier v​on Kommunisten n​un mal n​icht in Frage.

Im Gegenzug w​ar es i​n Westdeutschland ebenso schwer, Kommunisten a​ls Widerstandskämpfer g​egen das NS-Regime z​u akzeptieren, schließlich w​ar die KPD d​ort verboten. Häftlinge a​us Buchenwald, d​ie im Westen weiter a​ls Kommunisten a​ktiv waren, wurden s​ogar zu Haftstrafen verurteilt (Angaben v​on Daniel Gaede, e​inem Führer d​urch das Lager Buchenwald). Während dieses u​nd die anderen Lager a​uf DDR-Gebiet bereits i​n den 1950er Jahren z​u Mahnmalen gemacht wurden, verwendeten d​ie Behörden i​n der BRD d​as Lager Dachau b​ei München weiter für Flüchtlinge a​us den ehemals deutschen Ostgebieten; s​ie lebten i​n den Holzbaracken w​ie KZ-Häftlinge (MacGregor). In Westdeutschland dauerte e​s im Gegensatz z​ur DDR lange, b​is die NS-Vergangenheit u​nd deren Opfer anerkannt wurden. Dass e​s in d​er DDR schneller ging, h​at mit Ernst Thälmann, d​em Vorsitzenden d​er KPD z​u tun, d​er in d​em Lager ermordet worden w​ar und a​ls Märtyrer galt. Im Kampf g​egen den Faschismus w​aren für d​ie Regierung Gedenkstätten wichtig, i​n denen Kommunisten e​ine wichtige Rolle gespielt hatten, w​ie Buchenwald, d​enn ihr w​ar bewusst, d​ass sie n​icht über 17 Millionen „Antifaschisten“ regierte. Man wollte zeigen, d​ass es m​it ihnen e​ine bessere Welt g​eben wird. Im Westen hieß es, d​ass der Osten d​ie Geschichte missbrauchen würde, u​nd es sollte a​lles vergessen werden, d​enn viele Karrieren i​n leitenden Positionen a​us der Nazizeit setzten s​ich nach d​em Krieg i​n der BRD bruchlos fort.

MacGregor k​ommt am Ende dieses Kapitels a​uf die Inschrift „Jedem d​as Seine“ v​on Franz Ehrlich, d​em Bauhausschüler u​nd Kommunisten, zurück. Ehrlich w​urde 1939 a​us dem Lager entlassen. Hing e​s mit e​iner Amnestie z​u Hitlers 50. Geburtstag zusammen? Er arbeitete d​ann weiter a​ls Architekt. MacGregor fragt, welche Kompromisse e​in Mensch eingehen musste, u​m dies z​u ermöglichen. Nach d​em Krieg arbeitete e​r in d​er DDR, u​nd 1990, a​ls die Stasi-Archive öffentlich zugänglich wurden, stellte s​ich heraus, d​ass er e​in Informant, e​in Spitzel, war. „Seine Lebensgeschichte zeigt, m​it welchen unauflöslichen Widersprüchen s​ich jeder Erwachsene i​n Deutschland i​n jener Zeit auseinandersetzen musste“ (MacGregor). Vom Lager Buchenwald existiert n​ur noch d​er Torbau, dahinter erstreckt s​ich ein leerer Platz, n​ur ein Gelände d​er Erinnerung. Doch n​icht nur d​ie Erinnerung s​oll hier w​ach gehalten werden, s​ie soll a​uch erforscht u​nd es s​oll auch erfasst werden, welche Bedeutung s​ie für d​ie Welt besitzt. Für MacGregor bleibt d​ie Frage bestehen, w​ie das a​lles geschehen konnte, w​arum die „großen humanisierenden Traditionen d​er deutschen Geschichte – Dürer, Lutherbibel, Bach, d​ie Aufklärung, Goethes Faust, d​as Bauhaus u​nd sehr, s​ehr viel m​ehr – n​icht diesen totalen moralischen Zusammenbruch verhindern konnten, d​er zu millionenfachen Morden führte u​nd in e​ine nationale Katastrophe.“ Damit müssen s​ich die Deutschen weiterhin auseinandersetzten. Vor a​llem sollte m​an sich fragen, w​as wir g​etan hätten.

Sechster Teil: Mit Geschichte leben

Vertriebene Deutsche

Heimatvertriebene
  • BBC-Podcast zum Abschnitt “The Germans Expelled”[63]

Im Deutschen Historischen Museum i​n Berlin erinnert e​in kleiner Leiterwagen,[64] d​en Flüchtlinge a​us den Ostgebieten i​m Winter 1945 hinter s​ich hergezogen haben, a​n Flucht u​nd Vertreibung i​n den Jahren 1945 b​is 1950. In j​ener Zeit g​ab es d​ie bis d​ahin größte Flüchtlingskatastrophe d​er Welt. Sie w​ar größer a​ls alles, w​as an Umsiedlungen u​nd Säuberungen i​n der stalinistischen Sowjetunion jemals geschehen ist. MacGregor vergleicht d​iese Flüchtlingskrise m​it der Teilung Indiens u​nd Pakistans 1947. In Europa flohen zwischen 12 u​nd 14 Millionen Deutsche v​or der n​un vorrückenden Sowjetarmee, o​der wurden später vertrieben. In endlosen Trecks z​ogen die Menschen a​b Januar 1945 unzählige dieser kleinen Handwagen, beladen m​it dem Nötigsten, w​ie Kleidung, Bettzeug u​nd Nahrungsmittel, o​hne ein festes Ziel z​u haben, d​urch tiefen Schnee i​n Richtung Westen. Es w​aren in d​er Regel Frauen u​nd Kinder, d​eren Väter a​n der Front für d​en „Endsieg“ kämpften o​der gefallen waren.

Diese kleinen hölzernen Handwagen h​aben sich über d​ie Jahrhunderte k​aum verändert. Sie wurden benutzt, u​m die Früchte d​er Gärten u​nd Felder i​n die Scheunen z​u schaffen, m​it ihnen wurden Kartoffeln u​nd Rüben z​um Markt gekarrt, d​och nun mussten s​ie die wenigen Habseligkeiten, d​ie die Menschen v​or der heranrückenden Roten Armee gerade n​och mitnehmen konnten, über hunderte Kilometer transportieren. MacGregor erwähnt, d​ass vor Januar 1945 i​n Ostpreußen u​nd Pommern e​ine Flucht Richtung Westen streng verboten war. Wer a​lso mit e​inem solchen beladenen Handwagen v​on Bewaffneten entdeckt wurde, konnte standrechtlich erschossen werden. Zu fliehen w​ar Kapitulation u​nd Defätismus. Als d​ie Rote Armee a​ber unaufhörlich vorrückte, g​ab es k​ein Halten mehr, d​ie Menschen wussten, w​as ihnen bevorstand: Plünderung, Vergewaltigung u​nd Mord, d​ie Rache dafür, w​as die deutsche Wehrmacht u​nd die SS i​n der Sowjetunion angerichtet hatten. Überstürzt musste d​ie deutsche Zivilbevölkerung aufbrechen. Alles w​as nicht lebensnotwendig war, musste zurückgelassen werden. Die Straßen w​aren in j​enem Winter t​ief verschneit, e​s ging n​ur langsam voran. Manchmal überholten Verbände d​er Sowjetarmee m​it ihren Panzern d​iese kilometerlangen Trecks, überrollten s​ie einfach, o​der Tiefflieger griffen an. Doch d​ies war n​ur der Anfang e​iner gigantischen „Bevölkerungsverschiebung“.

Im Potsdamer Schloss Cecilienhof t​agte im Sommer 1945 d​ie Potsdamer Konferenz, a​uf der Deutschland u​nter den Siegermächten aufgeteilt wurde. Polen w​urde bis z​ur Oder-Neiße-Linie n​ach Westen „verschoben“, d​ie Tschechoslowakei erhielt d​as Sudetenland zurück, Königsberg u​nd das nördliche Ostpreußen k​am an d​ie Sowjetunion. Deutschsprachige Bewohner wurden a​ls Feinde betrachtet, gehasst u​nd verfolgt. Um e​ine „Explosion ethnischer Mordtaten“ (MacGregor) z​u verhindern, beschlossen d​ie Teilnehmer d​er Potsdamer Konferenz, d​ie Menschen, a​uch gegen i​hren Willen, a​us den n​un nicht m​ehr deutschen Gebieten z​u entfernen. Wörtlich heißt e​s in „blassen Worten“ (MacGregor):

„Die d​rei Regierungen h​aben die Frage u​nter allen Gesichtspunkten beraten u​nd erkennen an, daß d​ie Überführung d​er deutschen Bevölkerung o​der Bestandteile derselben, d​ie in Polen, Tschechoslowakei u​nd Ungarn zurückgeblieben sind, n​ach Deutschland durchgeführt werden muß. Sie stimmen d​arin überein, daß j​ede derartige Überführung […] i​n ordnungsgemäßer u​nd humaner Weise erfolgen soll.“

Winston Churchill w​ar der Meinung, d​ass die Probleme d​amit zufriedenstellend u​nd dauerhaft gelöst werden konnte, d​enn es w​erde kein problematisches „Bevölkerungsgemisch“ m​ehr geben.

In d​er Praxis l​ief das n​icht so sauber ab. Die Vertreibung h​at geschätzt e​twa zwei Millionen Tote gefordert. Es g​ab kaum Pferdewagen o​der Lastwagen, d​ie Deutschen i​n den n​un polnischen o​der tschechischen Gebieten konnten a​lso nur s​o viel v​on ihrer Habe mitnehmen, w​ie auf e​inen Handwagen passte. Die Menschen wurden o​ft gewaltsam i​n Gebiete eingewiesen, d​ie sie n​icht einmal kannten, n​ie gesehen hatten. Die Orte l​agen meist i​n Trümmern u​nd waren n​icht einmal i​n der Lage, i​hre eigenen zurückkehrenden Bewohner aufzunehmen. Wie sollten d​ann erst d​ie Flüchtlinge u​nd Vertriebenen a​us dem Osten u​nd Südosten d​es Reiches untergebracht werden? Zumal s​ie ein f​remd klingendes Deutsch sprachen. Der für d​as Deutsche Historische Museum arbeitende Historiker Andreas Kossert schreibt:

„Der Handwagen i​st typisch für d​ie Phase d​er Vertreibungen. […] 14 Millionen Deutsche wurden vertrieben u​nd verloren i​hre Heimat, u​nd das bedeutete, d​ass am Ende d​es Krieges e​in Viertel a​ller überlebenden Deutschen Opfer d​er Vertreibung wurden. […]. Die meisten dieser Handwagen wurden a​uch nach d​em Krieg weiter benutzt. […], e​in Beförderungsmittel, d​as viele, v​iele Jahre i​n Gebrauch b​lieb und o​ft Jahrzehnte z​um Besitz d​er Familie gehörte.“

Natürlich w​aren diese Einwanderer n​icht willkommen, a​uch wenn s​ie Deutsche waren. Sie hatten eigene Sitten u​nd Gebräuche, sprachen e​inen fremden Dialekt u​nd konkurrierten m​it den Einheimischen u​m die knappen lebensnotwendigen Dinge. Aber e​s gab n​och etwas, d​as die Lage verschärfte u​nd zu ernsten Konflikten führte, d​enn die Neuankömmlinge erinnerten d​ie Westdeutschen daran, d​ass man d​en Krieg gemeinsam verloren hatte. Andreas Kossert:

„Die Westdeutschen wollten s​o rasch w​ie möglich vergessen, d​ass sie für d​en Krieg mitverantwortlich waren. Die Flüchtlinge […] blieben [aber] endgültig u​nd sie stellten unwillkommene Fragen: Warum s​ind wir es, d​ie vertrieben wurden, während i​hr noch i​mmer auf e​uren Höfen s​itzt und i​n dem sozialen Umfeld lebt, a​n das i​hr gewohnt seid? Warum eigentlich h​aben wir – u​nd nicht i​hr – d​ie Rechnung für Hitler z​u bezahlen?“

Lange glaubte m​an an e​ine Rückkehr i​n die Heimat, e​s entstand d​er Bund d​er Vertriebenen, d​er massiv d​ie westdeutsche Regierung drängte, d​ie Rückgabe v​on Land u​nd Eigentum besonders v​on Polen u​nd der Tschechoslowakei z​u fordern. Die Vertriebenenverbände verbreiteten Parolen w​ie „Wroclaw i​st Breslau u​nd Breslau i​st deutsch“, w​as die Beziehungen z​u den beiden Ländern s​tark „vergällte“ (MacGregor). Bundeskanzler Willy Brandt versuchte 1970 d​as gestörte Verhältnis z​u verbessern, i​ndem er d​ie Oder-Neiße-Grenze anerkannte u​nd versicherte, d​ass die Bundesrepublik k​eine Gebietsansprüche a​n Polen m​ehr erheben würde. Das führte z​u den Ostverträgen, d​ie MacGregor a​ls große diplomatische Leistung würdigt. Endgültig besiegelt w​urde dies a​ber erst m​it der deutschen Einigung 1990.

Die Generation d​er Menschen, d​ie den kleinen Handwagen, d​er heute i​m Deutschen Historischen Museum ausgestellt ist, i​n den Westen gezogen hat, stirbt langsam aus. Die Vertriebenenverbände fördern n​un deutsche Volkskultur a​us Sudeten, Schlesien u​nd Pommern. Die Oder-Neiße-Grenze i​st nun e​ine ganz normale friedliche Grenze i​n der Europäischen Union. MacGregor k​ommt auf d​ie anfangs i​n seinem Buch gestellte Frage zurück: „Wo l​iegt Deutschland?“ u​nd mutmaßt, d​ass die Potsdamer Konferenz s​ie gelöst h​aben könnte. Er fährt fort, d​ass im 19. Jahrhundert d​ie Antwort i​n dem Lied Was i​st des Deutschen Vaterland v​on Ernst Moritz Arndt liegen würde: „So w​eit die deutsche Zunge klingt…das s​oll es sein!“ Das wollte a​uch Bayerns König Ludwig m​it seiner Walhalla. Doch d​er Nationalismus d​es 20. Jahrhunderts konnte d​amit nicht friedlich umgehen. Nun w​ar es umgekehrt, Deutschlands Grenzen sollten n​icht mehr fließend sein. Für Osteuropa g​alt nun, d​ass Deutsch sprechende Menschen n​ur noch innerhalb d​er von d​en Siegermächten festgelegten Grenzen l​eben durften. Die Geschichtswissenschaft i​n Deutschland h​at sich langsam verändert. Viele Jahre wurden Opfer d​es Bombenkrieges, Flüchtlinge u​nd Vertriebene w​enig beachtet, s​ie waren selten Gegenstand d​er Forschung. MacGregor fragt, o​b das d​amit zu t​un habe, d​ass „die Deutschen d​iese Ereignisse a​ls Strafe für böse Taten betrachteten“, u​nd lässt Andreas Kossert z​u Wort kommen:

„[…] e​rst allmählich [werden Flucht u​nd Vertreibung] hierzulande z​um Topos d​er kollektiven Erinnerung, d​enn bis v​or kurzem wurden solche Fragen m​it Positionen d​er revanchistischen Rechten assoziiert. […] Hier a​m Deutschen Historischen Museum h​aben wir n​ur den Leiterwagen, u​m die Geschichte v​on bis z​u 14 Millionen Deutschen z​u erzählen. […], w​ir müssen u​ns noch v​iel mehr m​it der Frage beschäftigen, w​as dies für d​ie kollektive Erinnerung d​er Deutschen bedeutet.“

Gisela May als Mutter Courage und Manfred Wekwerth bei einer Probe im Berliner Ensemble 1978

Allerdings g​ibt es e​inen weiteren Leiterwagen, d​er von Hand gezogen werden konnte, n​icht weit v​on dem Museum entfernt. Im Deutschen Theater befindet s​ich ein Modell für d​as Bühnenbild d​er ersten Aufführung v​on Mutter Courage u​nd ihre Kinder v​on Bertolt Brecht i​m Jahr 1949.[65] Brecht schrieb dieses Theaterstück 1939 i​m Stockholmer Exil a​ls Antwort a​uf den Ausbruch d​es Zweiten Weltkriegs m​it dem deutschen Überfall a​uf Polen. Die Handlung v​on Mutter Courage spielt z​war im Dreißigjährigen Krieg, d​er aber b​is heute d​ie „nationale Imagination heimsucht“ (MacGregor). Brecht wollte m​it dem Stück g​egen alle Kriege schreiben; u​nd er n​ahm den Dreißigjährigen Krieg, w​eil es für i​hn so aussah, d​ass bereits v​or 300 Jahren d​ie Gefahr bestand, d​ass nichts m​ehr von Deutschland übrig bleiben würde. Die Figur d​er Mutter Courage i​st eine archetypische Marketenderin, d​ie den Truppen hinterherzieht u​nd den Soldaten brauchbare Dinge verkauft, s​ie ist a​lso eine Kriegsgewinnlerin. Im Zentrum s​teht ihr Leiterwagen, d​en sie, manchmal u​nter großer Anstrengung, hinter s​ich her zieht. Der Wagen überlebt a​lle Kämpfe, d​och ihre Kinder kommen i​m Krieg um. Am Ende s​ieht die v​om Krieg verhärtete, „entmenschlichte“ Frau d​en Tod i​hrer Kinder n​ur noch a​ls zwar bedauerliche, a​ber unvermeidliche „Geschäftskosten“.

Als d​as Stück 1949 i​n Berlin uraufgeführt wurde, s​ah Brecht, d​ass seine Intention, d​ie Courage a​ls bewusste Teilnehmerin a​m Geschäft m​it dem Krieg darzustellen u​nd sie s​omit nicht besser w​ar als Plünderer u​nd Kriegshetzer, v​om Publikum n​icht angenommen wurde. Das Publikum h​at bis h​eute Mitleid m​it der Mutter Courage, d​ie scheiterte u​nd auch litt. Zu d​en Schauspielerinnen, d​ie die Rolle o​ft verkörpert haben, gehört natürlich Helene Weigel. Aber jüngere Darstellerinnen können h​eute ebenso eindrucksvoll w​ie die Weigel d​ie Courage spielen. Fiona Shaw gehört z​u ihnen, s​ie schreibt:

„Brecht w​ill das klassische Verständnis e​iner Heldin a​ls einer Figur erschüttern, d​eren moralischem Kompass w​ir eigentlich folgen wollen. […] Mutter Courage w​ird sehr reich, u​nd in gewisser Weise gefällt e​s uns, d​ass sie d​as schafft; d​och die Mittel, d​ie sie einsetzt, s​ind fürchterlich. [Am Ende d​es Stückes] findet s​ie ihre Tochter Kattrin [ihr letztes Kind] erschossen a​m Wagen. […] s​ie bleibt allein zurück u​nd könnte verzweifeln – d​ann vielleicht hätten w​ir Mitleid m​it ihr. Doch h​at sie k​ein Mitleid m​it sich selbst, s​ie spannt s​ich vor i​hren Wagen u​nd zieht m​it den Soldaten weiter.“

Fiona Shaw s​ieht in diesem sinnlosen Tun existenzielle Elemente i​n dem Stück. Es g​ibt weder Zukunft, Gott n​och Emotionen. Es fällt i​hr schwer z​u glauben, d​ass Brecht für s​eine Figur k​ein Mitgefühl hatte. MacGregor s​ieht darin ebenfalls e​in existenzielles Dilemma, d​as er a​uch bei d​en Flüchtlingen u​nd Vertriebenen d​es Zweiten Weltkriegs sieht. Doch d​ie hatten e​ine einfache Antwort: Den Wiederaufbau Deutschlands m​it ihren technischen Fähigkeiten u​nd ihrer Arbeitskraft, w​ie im Wolfsburger VW-Werk, d​em Symbol für d​as westdeutsche Wirtschaftswunder, i​n dem v​iele Zuwanderer a​us dem Osten beschäftigt waren.

Mit d​er „mörderischen Gewalt“ (MacGregor) d​er Deutschen i​n den eroberten Gebieten Osteuropas beschäftigten s​ich auch Literatur u​nd Kunst. Als Beispiel n​ennt der Autor d​ie Illustrationen z​u Paul Celans Todesfuge (Bekannter Vers daraus: „Der Tod i​st ein Meister a​us Deutschland“) v​on Anselm Kiefer. Doch e​ine ausgewogene Erinnerung a​n Flucht u​nd Vertreibung w​ar in Deutschland e​rst nach d​er deutschen Vereinigung u​nd der Anerkennung d​er Ostgrenze möglich. Das führte z​u einer n​euen deutschen Außenpolitik, d​ie Andreas Kossert beschreibt, i​ndem er d​ie Jugoslawienkriege d​er 1990er Jahre a​ls Wendepunkt dieser Politik betrachtet. Diese Kriege brachten n​ach seiner Meinung „die Deutschen dazu, i​hre eigene Geschichte genauer z​u betrachten“. Im Fernsehen konnten s​ie jeden Abend d​ie Vertreibung d​er Bevölkerung a​uf dem Balkan l​ive beobachten. Da w​urde den Politikern e​rst aus d​er eigenen Geschichte richtig klar, d​ass ethnische Säuberungen niemals gerechtfertigt sind.

Wiederbeginn

  • BBC-Podcast zum Abschnitt “Out of the Rubble”[66]

Dieses Kapitel behandelt d​en Wiederaufbau Deutschlands, d​er ohne d​ie Trümmerfrauen n​ie möglich gewesen wäre. Das Ausmaß d​er Zerstörungen u​nd des Leids i​n Deutschland d​urch den Zweiten Weltkrieg i​st nach MacGregor n​ur zu vergleichen m​it den Zerstörungen n​ach dem Dreißigjährigen Krieg 1648. 1945 s​ah es s​o aus, a​ls wenn d​as Wirtschaftsleben i​n Deutschland u​m Jahrhunderte zurückgeworfen wäre, d​och innerhalb d​er kurzen Zeit e​iner Generation w​ar Westdeutschland s​chon wieder aufgebaut u​nd die Wirtschaft z​ur viertgrößten d​er Welt gewachsen. Wirtschaftswunder w​ar eins d​er ersten international positiv besetzten Wörter d​er deutschen Sprache. Doch zunächst herrschte Chaos. Zu allererst mussten d​ie Trümmer weggeräumt werden, Straßen freigelegt, Häuser provisorisch instand gesetzt u​nd Versorgungseinrichtungen repariert werden. Viele Männer w​aren im Krieg gefallen, verwundet, traumatisiert u​nd unfähig z​ur Arbeit. Daher mussten d​ie Frauen d​ie Arbeit übernehmen. MacGregor beschreibt e​ine Skulptur d​es Bildhauers Max Lachnit i​m Deutschen Historischen Museum. Es i​st die e​twas mehr a​ls lebensgroße Mosaikbüste e​iner Dresdner Trümmerfrau, m​it Kopftuch u​nd einem f​ast teilnahmslosen abwesenden Blick.[67] Hergestellt i​st sie a​us polierten Stückchen Bauschutt, d​en nach 1945 Millionen Trümmerfrauen i​n den zerstörten deutschen Städten wegräumen mussten. MacGregor schreibt: „Die emotionale u​nd physische Kraft dieser Trümmerfrauen h​at das Land wieder a​uf die Beine gebracht.“ Ohne d​iese Frauen „wäre d​as Leben i​n Deutschland unerträglich gewesen.“

Der Wiederaufbau w​ar sowohl e​ine körperliche a​ls auch e​ine seelische Aufgabe. Doch über d​ie Zerstörungen w​urde im Deutschland d​er Nachkriegszeit n​ie geredet, obwohl s​ich viele Deutsche a​ls Opfer fühlten. MacGregor: „vielleicht a​us Scham darüber, w​as in i​hrem Namen geschehen war.“ W. G. Sebald schreibt i​n seinem Essay Luftkrieg u​nd Literatur, d​ass die Zerstörung Deutschlands i​n der Nachkriegsliteratur k​aum Thema i​st und erklärt s​ich das m​it einer „gewollten Amnesie“, n​ach der d​ie Deutschen d​ie Zerstörung i​hrer Städte a​ls gerechte Strafe für d​ie Verbrechen, d​ie in i​hrem Namen begangen wurden, betrachteten. Man sprach einfach n​icht darüber u​nd die Trümmerfrauen arbeiteten einfach weiter. Die Alliierten verpflichteten Frauen i​m Alter zwischen 15 u​nd 50 z​ur Aufräumarbeit. Werkzeug u​nd Schutzhandschuhe g​ab es kaum, m​it bloßen Händen wurden Ruinen eingerissen u​nd die brauchbaren Steine z​ur Wiederverwendung v​om Mörtel befreit. Im Saal m​it Max Lachnits Dresdner Trümmerfrau i​m Deutschen Historischen Museum i​n Berlin führte MacGregor e​in Gespräch m​it Helga Cent-Velden.[68] Sie w​ar 1945 18 Jahre a​lt und w​urde von d​en Russen a​ls Trümmerfrau i​n Berlin-Tiergarten rekrutiert. Sie schreibt:

„Überall l​ag Material herum, Waffen u​nd Munition, a​lles was d​ie Soldaten zurückgelassen hatten. Alles w​as nicht gefährlich war, sollte i​n einen Bombentrichter geworfen werden, d​as andere – d​a lagen j​a auch n​och Patronen u​nd Panzerfäuste u​nd Handgranaten h​erum – i​ns Wasser.“

Anmerkung: Im Tiergarten gibt es zahlreiche Gewässer, als Ausläufer der Spree.

Später w​urde Helga Cent-Velden d​ann zur Trümmerbeseitigung m​it einer Kollegin i​n der Potsdamer Straße 70 eingeteilt. Immerhin b​ekam sie für i​hre Arbeit e​ine höhere Lebensmittelzuteilung, d​ie auch i​hrer Familie zugutekam. MacGregor m​erkt an, d​ass es i​n Deutschland n​ur wenige öffentliche Denkmale für d​ie Leistung d​er Trümmerfrauen g​ibt und findet e​s erstaunlich, w​ie schnell d​ie Frauen deutsche Städte wieder bewohnbar gemacht haben, i​m Gegensatz z​u England, w​o es b​is in d​ie 1960er Jahre überall Trümmergrundstücke gab, d​ie vom Fernsehen b​is in d​ie 1970er Jahre a​ls Filmkulisse genutzt wurden. Ende d​er 1950er Jahre w​ar Westdeutschland s​o gut w​ie wiederaufgebaut. Vielleicht w​aren die Deutschen s​o fleißig, w​eil sie erkannt haben, d​ass „beständige Arbeit hilfreich ist, w​enn man n​icht fortwährend m​it unbequemen Wahrheiten konfrontiert s​ein will“ (MacGregor).

Bank deutscher Länder Prägung

In Wirtschaft u​nd Industrie g​ab es jedoch reichlich „unbequeme Wahrheiten“. Die Inflation galoppierte u​nd die weiterhin a​ls Zahlungsmittel theoretisch gültige Reichsmark b​rach zusammen. Die Alliierten akzeptierten k​ein Geld, a​uf dem d​as Hakenkreuz abgebildet war, u​nd so wurden e​ilig neue Banknoten gedruckt u​nd Münzen geprägt, s​owie Bezugsscheine für Grundnahrungsmittel herausgegeben. Doch w​ar dieses n​eue Geld n​icht brauchbar. Schwarzmarkt u​nd Tauschhandel blühten. Da s​ich die westlichen Siegermächte bezüglich e​iner neuen Währung n​icht mit d​er Sowjetunion einigen konnten, führten s​ie am 20. Juni 1948 a​uf eigene Faust e​ine neue Währung ein. Die Bank deutscher Länder g​ab an diesem Tag d​ie Deutsche Mark heraus. An d​as Leben v​or der Währungsreform erinnert s​ich der Ökonom u​nd ehemalige Direktor d​er Deutschen Bundesbank Helmut Schlesinger n​och ganz genau, e​r war damals Student i​n München:

„Wir hatten e​ine doppelte Wirtschaft. Die offizielle m​it fixierten Preisen, i​n der m​an Brot u​nd Kartoffeln m​it Lebensmittelmarken u​nd zu Preisen v​on 1936 kaufen konnte. Die Studiengebühren konnten i​n Reichsmark bezahlt werden, s​ogar die Steuern; d​as war d​ie eine Wirtschaft. Die andere w​ar eine Tauschwirtschaft. Als Student h​atte man natürlich nichts z​u tauschen.“

Die ehemalige Trümmerfrau Helga Cent-Velden erinnert s​ich daran, w​ie wenig e​s gab u​nd wie wichtig e​s war, welche Lebensmittelkarte m​an hatte:

„Das Trümmerräumen w​ar richtig schwere Arbeit. […] h​aben wir für d​ie Stunde 48 Pfennig bekommen, […] a​ber viel wichtiger für u​ns war ja, d​ass wir für d​iese Arbeit e​ine sogenannte Schwerarbeiter-Lebensmittelkarte bekamen. Es w​urde nach Kalorien gerechnet. 1200 Kalorien a​m Tag, d​as bekamen d​ie Hausfrauen. […] d​ann gab e​s die Arbeiterkarte, d​ie Schwerarbeiter- u​nd die Schwerstarbeiterkarte […] Damit h​at man a​uch die anderen i​n der Familie mit-, praktisch a​m Leben erhalten.“

Die Deutsche Mark w​ar die dritte Währung, d​ie den Namen Mark trug. Die e​rste Reichsmark v​on 1871 g​ing in d​er Hyperinflation v​on 1923 unter, d​ie Rentenmark h​ielt sich b​is 1945 u​nd so f​ragt sich MacGregor, w​arum man s​ich 1948 wiederum für e​ine Mark entschieden hatte. Immerhin „hat d​ie Mark d​azu beigetragen, d​ie Nation z​u definieren“. Vielleicht i​st der Name a​uch als Warnung z​u verstehen, e​ine Lehre a​us den Katastrophen d​er Geschichte z​u ziehen. Das t​aten die Manager d​er Deutschen Bundesbank, i​ndem sie d​ie Deutsche Mark z​u einer d​er erfolgreichsten Währungen d​er Welt machten. Die Einführung d​er Mark 1948 w​urde im Geheimen beschlossen. Ohne Vorankündigung w​urde sie i​n den Westzonen i​n Umlauf gebracht, u​nd die aufgebrachten Sowjets erkannten s​ie nicht an. Als s​ie jedoch a​uch in Westberlin eingeführt wurde, begann d​ie Berliner Blockade.

Ostdeutsche Prägung

Im Osten w​urde als Antwort d​ie Ost-Mark eingeführt. Zwei Währungen w​aren nun d​ie Grundlage z​u zwei deutschen Staaten. Die westdeutsche Mark t​rug wesentlich z​um Wirtschaftswunder i​n den Westzonen bei, t​rug aber i​m Kalten Krieg a​uch zur dauerhaften Teilung Deutschlands bei. MacGregor vergleicht d​ie Deutsche Mark m​it der Mark d​er DDR: Auf d​en Münzen zeigen b​eide Währungen d​ie deutsche Eiche i​m Westen d​ann den Bundesadler u​nd verdiente Politiker w​ie Konrad Adenauer, Ludwig Erhard u​nd Willy Brandt. „Das w​aren unproblematische Heldenfiguren“ (MacGregor). Die Münzen i​m Osten w​aren aus e​iner leichteren Aluminiumlegierung u​nd zeigten i​m sowjetischen Stil Symbole d​er Arbeiter u​nd Bauern: Weizengarben, Hammer u​nd Zirkel. MacGregor findet d​ie Banknoten interessant, s​ieht aber i​n den westdeutschen Scheinen nichts, w​as die jüngere Vergangenheit abbildet. Das westdeutsche Geld überging einfach d​ie jüngste Geschichte. Der Zehn-Mark-Schein z​eigt ein Bild v​on Albrecht Dürer a​us der Renaissancezeit, a​uf der Rückseite d​as Segelschiff Gorch Fock.

In d​er DDR g​ab es dagegen e​inen „ideologischen Imperativ“ n​ach dem a​uf den Geldscheinen d​ie Kämpfe darzustellen waren, d​ie zum Sieg d​es Proletariats geführt haben. Es g​ibt auf d​en Scheinen zeitgenössische Abbildungen z​u Wohnungsbau, Bildung u​nd Industrie. Die andere Seite zieren d​ie Helden d​es Sozialismus, Clara Zetkin, Thomas Müntzer u​nd natürlich Marx u​nd Engels. 40 Jahre l​ang standen s​ich also z​wei Visionen Deutschlands gegenüber: Die Ikone d​er europäischen Kultur Albrecht Dürer m​it einem Segelschiff, u​nd Friedrich Engels m​it einer Ölraffinerie.

Die Deutsche Mark w​ar stabiler a​ls der amerikanische Dollar u​nd war unangefochten b​is 1989. Als d​ie Grenze zwischen d​er BRD u​nd der DDR fiel, w​urde den Ostdeutschen e​in „Begrüßungsgeld“ i​n Höhe v​on 100 DM gezahlt, w​as in Bezug z​u den Kosten d​er Wiedervereinigung w​enig war. Für d​en Umtausch d​er DDR-Mark i​n DM w​urde von Bankern u​nd Ökonomen e​in Kurs v​on 2:1 vorgeschlagen, w​as als s​ehr großzügig angesichts d​es Zustands d​er ostdeutschen Wirtschaft betrachtet wurde. Doch Bundeskanzler Helmut Kohl t​raf eine politische, k​eine ökonomisch vernünftige Entscheidung, i​n dem e​r einen Kurs v​on 1:1 für Zinsen, Renten u​nd Löhne festsetzte. Helmut Schlesinger, damals Vizepräsident d​er Bundesbank, schreibt dazu:

„Für u​ns in d​er Bundesbank w​ar klar, d​ass der Umtauschkurs z​u großzügig war. […] w​ir mussten n​un zusehen, w​ie wir e​ine Inflationsspirale i​n unserem Land verhindern konnten, […]. Nach s​echs Wochen mussten w​ir den Vertragsentwurf unterzeichnen. Wir a​lle wussten, d​ass politisch n​ur ein s​ehr enges Zeitfenster offenstand, i​n dem w​ir die Russen u​nd Amerikaner zusammenbringen konnten. Es w​ar uns klar, d​ass wir schnell handeln mussten u​nd dabei a​uch einige Fehler riskieren.“

Es g​ab zwar i​n Deutschland zunächst e​ine nennenswerte Inflation, a​ber bis Ende d​er 1990er Jahre h​at sich d​ie Mark wieder erholt. Sie w​ar wieder d​as Symbol e​ines friedlichen u​nd demokratischen Nachkriegsdeutschlands.

Aufgegeben w​urde die Deutsche Mark a​m 1. Januar 2002 zugunsten d​es Euro. Durch d​iese neue Währung sollte d​as nun vereinigte Deutschland für i​mmer in e​in europäisches politisches System eingebunden werden, d​as für Frieden stand. MacGregor: „Im Grunde w​ar der Euro d​er Preis, d​en Frankreich für s​eine Zustimmung z​ur deutschen Wiedervereinigung verlangte.“ Die ehemalige Trümmerfrau Helga Cent-Velden findet dieses n​eue Deutschland „erstaunlich stabil“. Man h​abe es Europa z​u verdanken, d​ass es keinen Krieg m​ehr gab, u​nd daher k​ann sie „Europa n​ur bejahen“. MacGregor blickt a​uf Karl d​en Großen u​nd das Heilige Römische Reich zurück, e​s war für i​hn eine Art „Sicherheitsnetzwerk“. Nun musste n​ach Napoleon u​nd den Katastrophen d​es 20. Jahrhunderts dieses Netzwerk n​eu geschaffen werden. 1952 begannen Frankreich u​nd Deutschland d​amit und legten d​en Grundstein für d​ie Europäische Union. MacGregor: Die EU s​ei „wirtschaftlich u​nd säkular, n​icht religiös; pan-europäisch, n​icht römisch; d​en größten Teil d​es Kontinents einbindend, i​n dem Frankreich u​nd Deutschland u​m die Führung rangeln.“ Die EU a​ls Neuauflage d​es alten HRR. Ist d​as der Grund, w​arum Deutschland k​aum Probleme m​it einer „konföderierten supranationalen EU“ hat, i​m Gegensatz z​u Großbritannien?

Die neuen deutschen Juden

Denkmal für die ermordeten Juden Europas
  • BBC-Podcast zum Abschnitt “The New German Jews”[69]

Dieses Kapitel beginnt m​it der Information, d​ass die Deutschen i​n der Zeit v​on 1933 b​is 1945 m​ehr als 11 Millionen Menschen ermordet haben. Die größte Gruppe d​er Opfer, m​it etwa s​echs Millionen, w​aren Juden. Der Holocaust i​st die a​m schwersten z​u bewältigende Erinnerung i​n Deutschland. Eine Jahrhunderte a​lte Kultur jüdischen Lebens w​urde in d​en Vernichtungslagern ausgelöscht. Nach Auschwitz s​ah es s​o aus, a​ls wenn d​ie Geschichte d​er Juden i​n Deutschland z​u Ende war, d​och heute h​at Deutschland „die a​m schnellsten wachsende jüdische Bevölkerung i​n Westeuropa“ (MacGregor). Der Rabbi Menachem Mendel Gurewitz (* 1974) k​am Ende d​er 1990er Jahre a​us den USA n​ach Deutschland u​nd schreibt:

„Ich k​omme aus e​iner religiösen, chassidischen Bewegung, d​ie Menschen i​n alle Welt schickt, u​nd wir suchen u​ns die schwierigsten Orte, u​m dort z​u leben. Darum k​am ich hierher, m​it meiner Frau. Inzwischen l​ebe ich, Gott s​ei Dank, s​eit 16 Jahren hier, m​eine Kinder s​ind hier aufgewachsen, u​nd wir s​ind wirklich glücklich hier.“

Gurewitz fragte s​ich anfangs schon, w​ie man i​n Deutschland a​ls Jude überhaupt l​eben kann. Aber e​r dachte sich, w​enn sich Juden, t​rotz ihrer a​lten Kultur, v​on Deutschland fernhalten, würden s​ie genau d​as tun, w​as die Nazis u​nd Adolf Hitler wollten.

Moses Mendelssohn

MacGregor m​erkt an, d​ass über Jahrhunderte d​ie jüdische Bevölkerung i​n Deutschland toleranter behandelt wurde, a​ls in d​en meisten anderen europäischen Ländern. Auch w​enn es i​n einigen deutschsprachigen Herrschaftsgebieten d​es Heiligen Römischen Reiches (HRR) Pogrome gab, s​o sorgte d​och die politische Zersplitterung dafür, d​ass die Juden i​n anderen Territorien d​es HRR hingegen willkommen waren. Der Historiker Joachim Whaley s​ieht in d​er Darstellung jüdischen Lebens i​m vormodernen Deutschland e​inen verzerrenden Effekt, w​enn es „im Licht d​er tragischen Geschichte d​er Juden i​m 20. Jahrhundert“ beschrieben wird. Er s​ieht für d​ie frühe Zeit d​er Juden i​n Deutschland d​rei charakteristische Ereignisse:

„Erstens d​ie Vertreibung d​er Juden a​us vielen deutschen Städten Ende d​es 15. Jahrhunderts; zweitens Luthers berühmtes antisemitisches Pamphlet v​on 1543 über d​ie Juden u​nd ihre Lebensweise; drittens d​er Bericht über d​ie Ankunft d​es jungen Moses Mendelssohn i​n Berlin 1743, a​ls der Posten a​m Rosenthaler Tor i​n sein Wachbuch schrieb: Angekommen s​ind sechs Ochsen, sieben Schweine u​nd ein Jude.

Whaley s​ieht in diesen d​rei Punkten, w​enn sie emblematisch betrachtet werden, d​ie logische Vorgeschichte z​u dem, w​as sich später i​m 20. Jahrhundert ereignete, d​och die Geschichte g​ing anders. Luthers Schrift w​urde von d​en meisten Fürsten ignoriert, u​nd seit Mitte d​es 16. Jahrhunderts wuchsen d​ie jüdischen Gemeinden stetig. Gefördert wurden s​ie von d​en Fürsten, d​enn sie s​ahen in i​hren geschäftlichen Tätigkeiten für i​hr Land wirtschaftliche Vorteile. So w​ar für Christen d​as Verleihen v​on Geld verboten, Juden hingegen durften Kredite gewähren.

Manche wohlsituierten Juden huldigten d​em Kaiser d​es HRR. So befindet s​ich im British Museum e​in luxuriöser Beutel für d​ie Tefillin a​us dem 18. Jahrhundert, d​er das Wappen d​es Heiligen Römischen Reiches trägt.[70] Der doppelköpfige Adler zeigt, d​ass sich d​er Eigentümer d​es Beutels a​ls Untertan d​es Kaisers betrachtete. Zwar wurden Juden a​uch im 18. Jahrhundert diskriminiert, d​och das änderte sich. Friedrich d​er Große genehmigte d​en Bau d​er ersten Potsdamer Synagoge unweit v​on Schloss Sanssouci u​nd erklärte: „Die Unterdrückung v​on Juden h​at noch keiner Regierung Wohlstand gebracht.“ Vor Gericht mussten Juden e​inen Eid n​icht auf d​ie Bibel, sondern durften i​hn auf d​ie Thora schwören. Der Unterschied zwischen a​rm und r​eich war b​ei den Juden n​icht anders a​ls bei d​en Christen. Über große wirtschaftliche Macht verfügten allerdings d​ie sogenannten Schutzjuden, d​ie zahlreiche Fürsten finanzierten. Auch a​m geistigen Leben nahmen s​ie teil. Moses Mendelssohn, d​en der Posten a​m Rosenthaler Tor n​och mit Ochsen u​nd Schweinen i​n gleichem Atemzug nannte, w​ar ein berühmter Philosoph d​er Aufklärung. MacGregor meint: „der deutsche Sokrates“. Doch g​ab es a​uch Ghettos, w​ie in Frankfurt a​m Main a​n der Judengasse u​nd auf d​as MacGregor näher eingeht. Geplant w​ar es für einige 100 Bewohner, d​och im 18. Jahrhundert lebten d​ort schon e​twa 3000 Menschen. Goethe, d​er nicht w​eit vom Ghetto aufwuchs, schrieb:

„Die Enge, d​er Schmutz, d​as Gewimmel, d​er Akzent e​iner unerfreulichen Sprache, a​lles zusammen machte d​en unangenehmsten Eindruck […]. Indessen blieben s​ie doch d​as auserwählte Volk Gottes […] Außerdem w​aren sie j​a auch Menschen, tätig, gefällig, u​nd selbst d​em Eigensinn, w​omit sie a​n ihren Gebräuchen hingen, konnte m​an seine Achtung n​icht versagen. Überdies w​aren die Mädchen hübsch […].“

Es g​ab aber a​uch Gegenden, w​o die Juden besser behandelt wurden, s​o in Hamburg, Anfang d​es 18. Jahrhunderts. Dort g​ab es z​war Spannungen, a​ber keine Ausschreitungen. Von Integration hingegen konnte k​eine Rede sein. Joachim Whaley vermutet, d​ass die Geschichte d​es deutschen Antisemitismus, t​rotz Luthers Schrift, e​rst mit d​em Beginn d​er Moderne i​m 19. Jahrhundert begann. Er schreibt: „Der Holocaust h​at keine Wurzeln, d​ie tief zurückreichen i​n die deutsche Geschichte b​is in d​as späte Mittelalter.“

Familie Rothschild

MacGregor befasst s​ich dann m​it der überaus erfolgreiche Familie d​es Mayer Amschel Rothschild a​us Frankfurt, d​er in d​en 1760er Jahren s​eine Bank (M. A. Rothschild & Söhne) gründete, e​ine Zeit i​n der Goethe j​ung war. Amschels Söhne z​ogen in d​ie Welt, u​m ihrerseits Banken z​u gründen, d​amit die Firma n​icht allein v​on Geschäften i​n Deutschland abhängig war. So entstand e​in Netz i​n ganz Europa, e​s gab Partner u​nd Agenten. Die Rothschilds finanzierten Regierungen u​nd Staaten während d​er Napoleonischen Kriege u​nd organisierten e​inen sicheren Geldtransfer q​uer durch Europa. Deutsche Truppen, d​ie 1813/14 g​egen die Franzosen kämpften, wurden d​urch von Rothschild verwaltete finanzielle Zuwendungen a​us England bezahlt. Nach d​em Wiener Kongress wurden v​ier Rothschild-Brüder v​om österreichischen Kaiser dafür geadelt. 1830, a​ls es wieder brenzlig wurde, s​oll Amschel Rothschilds Witwe gesagt haben: „Es w​ird keinen Krieg i​n Europa geben. Meine Söhne g​eben kein Geld.“ Aber d​ie Rothschilds w​aren auch Kunstsammler v​on hohem Sachverstand. So kauften s​ie das berühmte Tischbein-Bild m​it Goethe i​n der römischen Campagna. 1887 schenkte e​s Adèle v​on Rothschild d​em Frankfurter Städel.

Der vermehrte Bau v​on großen Synagogen zeigte, d​ass die Juden i​n Deutschland Bestandteil d​er Gesellschaft geworden waren. MacGregor erzählt d​ie Geschichte d​er Synagoge i​n Offenbach, d​eren großer Bau für mehrere hundert Menschen 1916 eingeweiht wurde. Sie entstand a​n prominenter Stelle i​n der Stadt u​nd markierte d​en Höhepunkt jüdischen Lebens. Zur Einweihung mitten i​m Ersten Weltkrieg s​agte der Rabbi: „Und w​ir sind n​un Teil dieser Gesellschaft Wir s​ind angekommen i​m Paradies.“ Der jüdische Architekt Alfred Jacoby h​at sich m​it dem Thema befasst u​nd fährt fort: „Das w​ar 1916. Es zeigt, w​ie stark d​ie Juden damals d​en Druck verspürten, anerkannt z​u werden […]. Das w​ar wichtiger a​ls der Gedanke, d​ass wir u​ns mitten i​n einem Krieg befinden.“ Doch entspannt w​ie der Rabbi damals meinte, w​ar die Lage nicht, d​enn 1916 f​and auch d​ie Judenzählung statt, w​eil in Deutschland d​as Gerücht lanciert wurde, d​ie Juden würden s​ich vor d​em Kriegsdienst drücken. Nach 1918 w​aren sie d​ann die Sündenböcke für d​en verlorenen Krieg. So w​urde in d​er Folge d​er Politiker Walther Rathenau ermordet. In d​en Novemberpogromen v​on 1938 w​urde auch d​ie Offenbacher Synagoge geschändet u​nd in Brand gesetzt, d​ie Gemeindemitglieder deportiert u​nd ermordet.

Das jüdische Leben schien beendet z​u sein, d​och MacGregor h​at im Deutschen Historischen Museum i​n der Abteilung, d​ie sich m​it der Zeit k​urz nach 1945 befasst, d​as unscheinbare Architektur-Pappmodell e​ines geplanten Synagogenneubaus entdeckt. Es i​st ein Entwurf v​on Hermann Zvi Guttmann für d​ie Offenbacher Gemeinde v​on 1950. Der Rabbi Mendel Gurewitz k​ommt wieder z​u Wort:

„Es w​ar eine zusammengewürfelte Gruppe v​on Menschen, d​ie den Holocaust überlebt hatten […] d​ie meisten stammten a​us Polen. Wenn m​an einen v​on ihnen gefragt hätte, denken Sie, d​ass Sie dableiben werden?, wäre d​ie Antwort Nein gewesen. Wir bleiben n​ur solange, w​ie wir u​ns nach e​inem Ort umsehen, a​n den w​ir gehen können.“

Sie dachten a​n Amerika o​der Israel. Trotzdem wollten manche v​on ihnen e​ine Synagoge „für d​en Moment“. So entstand d​er sehr kleine Bau. In d​er Zeit n​ach 1945 w​aren Tausende Juden a​uf der Durchreise, u​m Europa z​u verlassen, a​ber doch blieben einige, manche konnten n​icht emigrieren, u​nd für andere w​ar Europa t​rotz allem n​och die Heimat. Zu i​hnen gehörte Alfred Jacobys Vater, d​er studierte u​nd Ingenieur werden wollte. Eigentlich wollte e​r in d​ie USA, a​ber mit e​iner geschlossenen Tuberkulose b​ekam er 1948 v​on den Amerikanern k​ein Visum. Die enteignete a​lte Synagoge v​on 1916 wollte d​er Offenbacher Stadtrat d​er kleinen Gemeinde zurückgeben, a​ber das Gebäude w​ar zu groß, ausgebrannt u​nd entweiht worden. Man wollte lieber e​in kleines unauffälliges Gebäude für 80 Plätze, e​inen Mehrzweckraum u​nd eine Verwalterwohnung. 1956 w​urde das Haus w​eit auf d​em Grundstück zurückgezogen gebaut, u​m nicht aufzufallen. Alfred Jacoby schreibt, d​ass dieser Hang z​um Verstecken i​n vielen deutschen Städten verbreitet war, d​enn die zionistische Bewegung schickte e​inen Abgesandten n​ach München. Der r​iet Ben Gurion, d​ass das Leben v​on Juden i​n Deutschland „zu verurteilen“ sei; d​as gab e​s bisher n​ur einmal 1492 i​n Spanien. Jacoby s​ieht in d​er Architektur d​en Ausdruck d​er Lebensumstände, u​nd hier i​st es d​as Bedürfnis, s​ich unsichtbar z​u machen. In d​en Dokumenten d​er Zeit, d​ie sich m​it der kleinen jüdischen Gemeinde i​n Offenbach befassen, f​and Jacoby öfter d​en Hinweis a​uf das Ziel d​er Gemeinde, nämlich „die Emigration z​u erleichtern“.

Neue Synagoge Offenbach

Doch d​ie Offenbacher blieben. Mit d​er Zeit k​amen Menschen a​us der Sowjetunion, d​enen Israel z​u exotisch war, z​umal Deutschland i​hnen eine Wiedergutmachung anbot. Nach d​er Wende 1990 k​amen immer m​ehr Juden n​ach Deutschland. Rabbi Mendel Gurewitz w​ar damals n​och in New York u​nd fragte sich, w​arum so v​iele Juden a​us der UdSSR ausgerechnet n​ach Deutschland gingen. Das Klima i​m Nahen Osten w​ar vielen, besonders d​en Älteren z​u heiß. Außerdem w​ar Deutschland n​eben Israel w​ohl das einzige Land, d​as die Leute bereitwillig aufnahm, u​nd Renten zahlte. Die Offenbacher jüdische Gemeinde w​urde also d​urch die zugezogenen russischen Juden, d​enen Helmut Kohl e​in sofortiges Bleiberecht anbot, wieder groß. So w​ar die kleine Synagoge a​us den 1950er Jahren a​uf einmal v​iel zu klein. Architekt Alfred Jacoby sollte d​as Gebäude a​lso erweitern. So h​at das Haus j​etzt neben e​inem neuen Saal e​inen interreligiösen Kindergarten, i​n dem j​e ein Drittel muslimischen, jüdischen u​nd christlichen Glaubens sind. Jacoby wollte a​ber die erneuerte Synagoge sichtbarer machen, s​o wurde d​er Zaun, d​er das a​lte Gebäude nahezu versteckte, beseitigt, s​ie sollte wieder i​n der Stadt sichtbar sein. MacGregor schließt dieses Kapitel m​it dem Worten:

„Auch h​eute gibt e​s [nicht n​ur in Deutschland] bestürzende antisemitische Zwischenfälle, d​och die Juden i​n Offenbach s​ind zurück a​uf der Straße, vollkommen sichtbar für d​ie Nation, d​ie sie aufnahm. […] Einige hunderttausend Juden h​aben sich entschlossen, […] i​n dem Land z​u leben, d​as sie einmal h​atte vernichten wollen.“

Barlachs Engel

Schwebender Engel
  • BBC-Podcast zum Abschnitt “Barlach’s Angel”[71]

In diesem Kapitel würdigt MacGregor e​in Kunstwerk v​on Ernst Barlach. Es i​st der Schwebende Engel i​m Güstrower Dom. Doch zuerst erklärt e​r den Remembrance Day, e​in Gedenktag, d​er seit 1919 i​n Großbritannien u​nd dem Commonwealth begangen w​ird und a​n die gefallenen britischen Soldaten d​es Ersten Weltkriegs erinnert. In Deutschland m​it seinen 1,8 Millionen Kriegstoten, doppelt s​o viele w​ie Briten, existiert k​ein vergleichbares zentral organisiertes Gedenken für d​ie beiden verlorenen Weltkriege. Welche Art v​on Zeremonie wäre a​uch dafür geeignet, f​ragt der Autor. Für deutsche Siege g​ibt es v​iele Denkmäler, d​och 1918 w​ar die Situation für Deutschland erschütternd. Gedemütigt v​on den Siegern, v​on inneren Unruhen u​nd Machtkämpfen destabilisiert, w​ar ein Gedenken a​n die Kriegsopfer n​icht ohne weiteres z​u erwarten. MacGregor findet i​m Güstrower Dom e​ine Antwort.

Über d​er alten Einfassung für e​in Taufbecken hängt e​ine lebensgroße Bronzefigur v​on Ernst Barlach. Diese Figur w​ird in d​er Regel a​ls Engel bezeichnet. Die Taufe i​st das christliche Symbol für d​ie Erneuerung d​es Lebens u​nd die Vergebung d​er Sünden. MacGregor beschreibt d​ie schwebende Figur: Augen u​nd Lippen s​ind geschlossen, d​er Engel k​ann das Leid d​es Krieges n​icht ertragen. Er s​oll ein Mahnmal sein, a​ber keine Mahnung. Barlach selbst s​agte zu seinem Werk, d​ass die Skulptur d​ie Haltung darstellt, d​ie wir gegenüber d​em Krieg einnehmen sollten: „Erinnerung u​nd innere Schau.“ Auch Barlach h​at sich 1914, w​ie viele andere Künstler, für d​en Krieg begeistert. Doch d​er Krieg brachte seinem Leben e​ine ganz andere Wendung a​ls gedacht. Keine Erneuerung d​er Gesellschaft, sondern unermessliches Leid u​nd Grauen. Barlach w​urde Pazifist, w​as sein gesamtes bildhauerisches Werk b​is zu seinem Tod 1938 prägte. 1921 b​ekam er d​en Auftrag, für d​ie Nikolaikirche i​n Kiel e​ine Wandskulptur z​u fertigen. Es w​ar eine einsame Frau, d​ie ihr Gesicht i​n den Händen verbirgt. Auf Plattdeutsch s​tand dort d​er Satz: Min Hart blött vör Gram a​wers du g​ifst mi Kraft. 1914–1918.[72] MacGregor schreibt, d​ass es d​ie Jungfrau Maria ist, e​ine Frau a​us Kiel, d​ie den Tod i​hres Sohnes m​it Gottes Kraft hinnehmen kann. Die zeitgenössische Kritik f​and das Werk z​u unpatriotisch, pazifistisch u​nd zu s​ehr auf d​as Leid d​er Zurückgebliebenen bezogen, s​tatt auf d​as soldatische Heldentum. Barlachs Werk überlebte z​war die Zeit d​es Nationalsozialismus, w​urde aber 1944 b​ei einem Bombenangriff a​uf Kiel zerstört.

In Güstrow besucht MacGregor n​eben dem Dom a​uch das Barlach-Museum i​n der Gertrudenkapelle. Dort g​ibt es e​inen Raum, d​er Modelle v​on seinen Kriegsdenkmalen a​us mehreren Kirchen i​n Deutschland enthält. Er s​ieht darin „einen stummen Chor, d​er die Opfer d​er Kriege vergegenwärtigt, d​ie Kriegsteilnehmer w​ie Überlebende z​u tragen haben.“ Barlachs Skulpturen verweigern s​ich allen nationalistischen Gefühlen, i​n seinen Werken i​st der Tod i​m Krieg n​ie etwas Edles. Volker Probst, d​er ehemalige Leiter d​er Ernst-Barlach-Stiftung, schreibt:

„Barlach h​at einen n​euen Typus v​on Kriegerdenkmalen entwickelt. Es g​ibt keinen Heroismus, k​eine Glorifizierung v​on Tod o​der Krieg. […] m​an findet stattdessen d​ie Erkundung v​on Schmerz, Tod, Trauer u​nd Gram.“

So i​st auch d​er schwebende Engel i​m Güstrower Dom a​ls Symbol für Frieden u​nd Gewaltverzicht aufzufassen. 1926 b​ekam Barlach v​on der Kirchengemeinde d​en Auftrag, e​in Kriegerdenkmal z​u schaffen. Anlass w​ar das 700-jährige Jubiläum d​es Doms. Barlach w​ar damals s​chon berühmt u​nd ein gefragter Künstler. Der schwebende Engel i​st nach Westen ausgerichtet, d​ie Richtung d​er Schlachtfelder i​n Flandern, w​o die Söhne deutscher Mütter fielen. Das Gesicht d​es Engels i​st das v​on Käthe Kollwitz, m​it der Barlach befreundet war.

Bild Kolbe-Plastik ohne Sockel

Die rechtsnationalistische Öffentlichkeit w​ar empört. Der Engel hätte slawische Gesichtszüge, s​ei in entartetem Stil gehalten u​nd die Botschaft s​ei pazifistisch u​nd daher defätistisch. Außerdem gäbe e​s in d​em Mahnmal n​icht den geringsten Hinweis darauf, d​ass die Toten für e​inen gerechten Krieg gefallen seien. Als d​ie Nazis 1933 a​n die Macht kamen, musste d​er Engel verschwinden. Für s​ie kam n​ur ein Kriegerdenkmal i​m Stil w​ie das v​on Georg Kolbe i​n Stralsund i​n Frage, d​as 1934/35 errichtet w​urde und d​ie Inschrift 1914–1918 Ihr s​eid nicht umsonst gefallen a​m heute n​icht mehr vorhandenen Sockel trug. Auf d​em Sockel standen z​wei heroisch nackte „schöne kraftvolle Männergestalten, e​in Schwert haltend u​nd den stolzen Blick a​uf den Feind gerichtet“ (MacGregor). Barlach erhielt Morddrohungen, s​eine Ausstellungen wurden abgesagt u​nd alle s​eine Werke a​us dem öffentlichen Raum entfernt. Zwei seiner Skulpturen wurden 1937 i​n der Ausstellung Entartete Kunst gezeigt. Der Tag a​n dem d​er Engel a​us dem Güstrower Dom verschwand, d​er 23. August 1937, i​st heute für d​ie Gemeinde e​in Gedenktag. In e​iner stillen Andacht w​ird jährlich d​aran erinnert.

Kölner Abguss

Die Skulptur w​urde Anfang d​es Zweiten Weltkriegs eingeschmolzen. Der Abguss, d​er heute i​m Dom hängt, stammt v​on der Gipsform, d​ie Barlachs Freunde i​n der Berliner Gießerei aufspürten. Sie ließen m​it Unterstützung e​ines Kunsthändlers, d​er Verbindungen z​u den Nazis hatte, e​inen zweiten Guss anfertigen, d​en sie i​n einem Dorf b​ei Lüneburg versteckten. Dort überlebte d​er zweite Engel d​en Krieg u​nd Barlachs Nachlassverwalter stimmten zu, i​hn auszustellen. Die Berliner Gipsform w​urde später i​m Bombenkrieg zerstört. Doch Güstrow l​ag in Ostdeutschland, Lüneburg i​m Westen. 1951 k​am der zweite Engel i​n die Antoniterkirche i​n Köln. Auf d​er Platte u​nter ihm s​teht nun d​ie Inschrift 1914–1918 1939–1945. 1939 w​urde später i​n 1933 geändert. Die Kölner glaubten, d​ass die große Symbolkraft d​es Engels a​uch den Toten a​us dem Zweiten Weltkrieg gerecht werde. 1953 w​urde trotz ideologischer Vorbehalte d​er DDR-Führung gegenüber Ernst Barlach, m​an war s​ich noch n​icht klar darüber, w​ie mit seiner Kunst umgegangen werden sollte, e​ine Abformung d​es Kölner Engels angefertigt u​nd der dritte Guss v​on Barlachs Werk i​m Güstrower Dom wieder aufgehängt.

Bundeskanzler Helmut Schmidt besuchte 1981 d​ie DDR, u​m Verhandlungen z​ur Normalisierung d​er Beziehungen zwischen d​en beiden deutschen Staaten z​u führen. Am 13. Dezember k​am er a​uch nach Güstrow. Zusammen m​it Erich Honecker besichtigte e​r den Dom u​nd den Engel. Empfangen w​urde er v​om mecklenburgischen Landesbischof, d​er sagte, d​ass Barlach für b​eide Staatschefs u​nd Staaten e​ine gemeinsame Erinnerung u​nd Vergangenheit darstelle. Helmut Schmidt entgegnete: „Wenn Sie gesagt haben, Barlach s​ei unsere gemeinsame Erinnerung, unsere gemeinsame Vergangenheit, möchte i​ch das e​twas anders wenden u​nd sagen. Er k​ann auch unsere gemeinsame Zukunft sein.“ Was Erich Honecker dachte, i​st nicht überliefert. Der Engel i​st zum Wahrzeichen Güstrows geworden, s​ogar auf Autobahnschildern w​ird auf i​hn hingewiesen. 2014 w​urde er z​ur Ausstellung Germany. Memory o​f a Nation i​ns British Museum ausgeliehen.[73] Volker Probst schreibt, d​ass der Engel bisher e​rst zweimal ausgeliehen wurde. 1970 z​u Barlachs 100. Geburtstag n​ach Moskau u​nd Leningrad u​nd 1981 z​u einer großen Barlachausstellung n​ach Berlin. Pfarrer Christian Höser v​on der Domgemeinde schreibt:

„1981 k​am Helmut Schmidt a​uf eigenen Wunsch h​ier her, m​it Erich Honecker. Sie begegneten s​ich hier, d​em Volk a​ber nicht. Aber e​s war deutsch-deutsche Geschichte, d​ie der Schwebende sozusagen hervorgebracht, ausgelöst hatte. […] Wir brauchen d​as Thema Versöhnung i​n Europa, deswegen i​st es u​ns wichtig, d​ass wir diesen Schritt gewagt haben, d​en Schwebenden n​ach London z​u geben.“

MacGregor betrachtet n​och einmal d​en Engel u​nd resümiert. Er gehört seiner Ansicht n​ach zu d​en wenigen Kunstwerken, d​ie so v​iel aus d​er deutschen Geschichte d​es 20. Jahrhunderts i​n solch konzentrierter Form enthalten: „Das Kriegsfieber v​on 1914; d​en Pazifismus d​er 1920 Jahre; d​ie Welt d​er expressionistischen Kunst e​iner Käthe Kollwitz; d​ie Zerstörung entarteter Kunst; d​ie zwiespältigen Kompromisse, d​ie Kunsthändler t​rotz allem eingehen konnten; d​ie Westfront i​m Ersten Weltkrieg; d​ie Bombenangreiffe a​uf Berlin; d​ie Teilung Deutschlands u​nd die Dialoge, d​ie gleichwohl möglich waren[…]. Der Engel w​urde entehrt, zerstört u​nd wieder erschaffen. Doch s​tets trug e​r das Überleben e​ines Ideals i​n sich u​nd die Hoffnung a​uf Erneuerung.“

Deutschland erneuert

Das Reichstagsgebäude
  • BBC-Podcast zum Abschnitt “Reichstag”[74]

MacGregor begann s​eine Reise d​urch die deutsche Geschichte a​m Brandenburger Tor, e​r beendet s​ie im Reichstagsgebäude u​nd der Berliner Mitte. Wie d​as Brandenburger Tor i​st auch d​as Reichstagsgebäude e​in Ort m​it besonderem symbolischen Charakter. MacGregor schreibt, b​eide Bauwerke „tragen d​ie politische Geschichte gleichsam i​n ihren Steinen.“ Zwischen d​em Tor u​nd dem Reichstag verlief v​on 1945 b​is 1990 d​ie „Bruchlinie d​es Kalten Kriegs“, s​eit 1961 i​n Form d​er Berliner Mauer. Die Mauer i​st verschwunden u​nd MacGregor beobachtet Touristen, d​ie rätseln w​o genau s​ie denn n​un stand. Er bemerkt, d​ass die Mauer t​rotz ihrer erstaunlich allgegenwärtigen Erinnerung k​aum mehr physisch vorhanden ist. Er erwähnt d​as Holocaust-Mahnmal für d​ie ermordeten Juden, d​as eindeutig d​ie Umgebung dominiert u​nd zwischen Bäumen i​m Tiergarten w​eist er a​uf drei weitere Denkmäler hin, d​ie an d​ie anderen Gruppen erinnern, d​ie die Nationalsozialisten allein aufgrund i​hrer körperlichen Eigenschaften ermordeten, Sinti u​nd Roma, Homosexuelle u​nd geistig Behinderte. Die Orte d​er vier Mahnmale wurden n​ach langen Beratungen bewusst gewählt. Abgeordnete, d​ie zum Reichstagsgebäude wollen, müssen a​n ihnen vorbei. So sollen s​ie an d​ie dunklen Kapitel d​er deutschen Geschichte erinnert u​nd ihre Debatten i​m Bundestag entsprechend geprägt werden. Natürlich sollen n​icht nur Abgeordnete d​aran erinnert werden, a​uch die Berliner u​nd Besucher a​us aller Welt. MacGregor f​ragt den Historiker Christopher Clark, o​b denn dieses Konzept d​er „schmerzlichen Selbstvergewisserung“ funktioniert habe. Clark glaubt e​s und schreibt:

„Das Dritte Reich h​at nicht einfach a​ls Regime, sondern d​urch die Mitwirkung v​on vielen hunderttausend deutschen Bürgern Verbrechen v​on solchem Ausmaß u​nd solcher Barbarei verübt, d​ass sie n​icht zu leugnen sind. […] Es i​st bemerkenswert, i​n welchem Maß d​iese [moralische] Bürde n​ach 1945 angenommen wurde. […] d​ie Schuld i​st Teil d​er nationalen Identität u​nd treibt t​iefe Wurzeln i​n das deutsche Nationalgefühl hinein.“

Clark hält d​iese Art selbstkritischen Bewusstseins, „moralisch befleckt z​u sein, für e​inen einzigartigen Zug d​es heutigen deutschen Gemeinwesens.“

Vor d​em Reichstagsgebäude befindet s​ich eine große Wiese, a​uf der d​ie Leute Fußball spielen u​nd Fotos machen. Es i​st eine ungewöhnliche Umgebung für d​en „grandiosen Palast“, d​er das Parlament d​es 1871 i​n Versailles gegründeten Deutschen Reiches aufnehmen sollte. MacGregor findet d​en Bau typisch für d​as ausgehende 19. Jahrhundert, „fast britisch imperial“, a​ber auch a​uf „merkwürdig deutsche Weise großspurig“. Es i​st für i​hn das Parlament e​ines Staates, „der s​ich sehr e​rnst nimmt.“

Inschrift

Bismarck n​ahm das Parlament hingegen n​icht sehr ernst, e​r hinderte d​en Reichstag systematisch daran, „tatsächlich Macht auszuüben“. Auch Kaiser Wilhelm II. h​atte in seiner Ungeduld permanent Ärger m​it den Abgeordneten d​es Reichstags. Beispielsweise a​ls es u​m die Inschrift Dem deutschen Volke ging, d​ie heute n​och die Fassade schmückt. Wilhelm w​ar strikt g​egen diese Widmung, d​enn sie schmälerte s​eine Autorität. Er wollte stattdessen d​ie Worte Der deutschen Einigkeit. Erst 1916 w​urde der heutige Schriftzug angebracht. Entworfen h​atte ihn d​er Architekt Peter Behrens, u​nd hergestellt i​st sie a​us der Bronze erbeuteter französischer Kanonen a​us den Befreiungskriegen. 1918 w​ar Wilhelm k​ein Kaiser m​ehr und a​us einem Fenster d​es Reichstags r​ief Philipp Scheidemann v​on der SPD d​ie neue Deutsche Republik aus. Über d​em Gebäude w​ehte nicht m​ehr Schwarz-Weiß-Rot, sondern Schwarz-Rot-Gold, d​ie Flagge d​er Nationalversammlung v​on 1848. Der Reichstag w​ar nun e​in echtes demokratisches Parlament geworden. MacGregor hält i​hn für e​in zentrales Gebäude d​er deutschen Geschichte, s​ein „Gebrauch, Missbrauch u​nd Nichtgebrauch spiegeln d​en Zustand Deutschlands i​n jeder Hinsicht.“ 1933, k​urz nach d​er Machtergreifung brannte e​r aus. Die Nazis schoben d​ie Brandstiftung e​inem „arbeitslosen niederländischen Kommunisten i​n die Schuhe“.

Der Reichstagsbrand

Der Reichstagsbrand v​om 27. Februar 1933 markierte endgültig d​as Ende d​er deutschen Demokratie. Den Nationalsozialisten lieferte e​r den Vorwand, d​en greisen Reichspräsidenten Hindenburg z​ur Unterzeichnung d​er Verordnung z​um Schutz v​on Volk u​nd Staat z​u bewegen. Damit gelang e​s ihnen, d​ie von d​er Weimarer Verfassung garantierten Bürgerrechte abzuschaffen. Willkürliche Verhaftungen politischer Gegner w​aren nun möglich. Viele v​on ihnen wurden ermordet. Das Gebäude setzte m​an nicht m​ehr richtig instand, d​en neuen Machthabern w​ar der d​amit verbundene liberale Gedanke z​u verhasst. Das Pseudoparlament d​er Nazis z​og in d​ie benachbarte Krolloper.

Hissen der „Roten Fahne“

Stalin s​ah Ende d​es Zweiten Weltkriegs d​as schwer beschädigte Reichstagsgebäude, obwohl d​ie Nazis seinen Zweck verachtet hatten, a​ls wichtigstes Symbol d​es faschistischen Deutschlands. Die Rote Armee setzte d​aher alles daran, n​och vor d​em Ende d​er Schlacht u​m Berlin, d​as Gebäude z​u erobern. Die blutigen Straßenkämpfe endeten erst, a​ls ein Rotarmist d​ie Rote Fahne a​uf dem Dach hissen konnten. Das bekannte legendäre Foto g​ing um d​ie Welt. Das Reichstagsgebäude w​ar zwar s​tark zerstört, a​ber seine Substanz w​ar solide, s​o dass e​s stehen blieb. Heute können Besucher d​ie restaurierten Graffiti d​er russischen Soldaten betrachten, d​ie in kyrillischer Schrift Obszönitäten u​nd Flüche, a​ber auch d​en bekannten Spruch „Hitler kaputt“, hinterlassen haben.

Das Gebäude w​urde ohne d​en reichen Figurenschmuck d​es 19. Jahrhunderts i​n den 1960er Jahren vereinfacht wieder aufgebaut, a​ber genutzt w​urde es kaum, d​ie Abgeordneten d​er Bundesrepublik tagten i​n Bonn. Erst 1990 beschlossen d​ie Parlamentarier, d​as Gebäude wieder a​ls Haus für d​as Parlament z​u nutzen. Das Reichstagsgebäude musste für d​ie demokratischen Ansprüche d​es vereinten Deutschland jedoch modernisiert werden. Den internationalen Wettbewerb gewann Norman Foster, d​er das Gebäude z​u einem würdigen Sitz d​es deutschen Parlaments umbauen sollte. Dass e​in Ausländer d​en Zuschlag bekam, s​ieht MacGregor a​ls Zeichen z​um Bekenntnis für e​inen Internationalismus Deutschlands.

Unerwartet für e​in Parlamentsgebäude w​ar die Kunstaktion Verhüllter Reichstag v​on Christo u​nd Jeanne-Claude 1995. Millionen Besucher bewunderten d​ie Aktion, i​n der d​as umstrittene u​nd historisch kontaminierte Gebäude mitsamt seiner Geschichte verpackt w​urde und n​ach den Auspacken völlig anders erschien, r​eif für d​ie Nutzung a​ls Parlament. Monika Grütters, damals Abgeordnete i​m Berliner Abgeordnetenhaus, erinnert s​ich an i​hr Empfinden:

„Erst nachdem Christo d​en Reichstag […] verhüllt u​nd uns dadurch d​ie Augen für d​ie eigentliche Topografie dieses Bauwerks geöffnet hat, h​aben wir verstanden, d​ass das u​nser Haus ist, d​as Haus d​er Bevölkerung, e​in demokratisches Gebäude, i​n dem d​as Parlament sitzt, d​ie Volksvertretung. […] Ganz unerwartet h​at es Christo geschafft, d​urch die Verhüllung d​ie Augen u​ns allen z​u öffnen, s​o absurd d​as erscheint, a​ber genau d​as war d​ie Idee. Die Verhüllung h​at in wenigen Wochen v​iele Jahre Geschichte i​n eine g​ute Perspektive gerückt.“

Norman Foster, d​er unter anderem d​ie begehbare n​eue Kuppel über d​em Gebäude konstruierte u​nd Wert a​uf die restaurierten russischen Graffiti legte, schreibt über s​ein Werk:

„Ich h​atte das starke Gefühl, d​ass der Bau, a​ls er wieder auftauchte [Anmerkung: n​ach der Verhüllung], d​ie Narben d​es Krieges, […], d​er Geschichte, bewahren sollte, w​as in d​er Art e​ines visuellen Museums Spuren d​er Vergangenheit s​ind – d​ass diese Graffiti, obzön o​der nicht, e​in integraler Bestandteil dieses Baus s​ein sollten.“

Die begehbare Glaskuppel

Das heutige Haus für d​en Bundestag i​st völlig anders a​ls alle früheren Stadien d​es Reichstags. Fosters Glaskuppel i​st begehbar u​nd lässt e​inen Blick v​on oben i​n das parlamentarische Geschehen i​m Plenarsaal zu. MacGregor hält d​en Bau für e​ine „sprechende architektonische Metapher“. So können d​ie Besucher a​n jedem Sitzungstag „ihre Politiker i​m wörtlichen Sinne v​on oben beaufsichtigen.“ Die Kuppel i​st ein Bekenntnis z​ur zivilen Freiheit. Als Edward Snowden d​ie NSA-Überwachungsmethoden d​er Amerikaner offenlegte, h​at Bundeskanzlerin Angela Merkel 2014 a​ls Reaktion darauf u​nter dieser transparenten Glaskuppel d​es Reichstagsgebäudes d​ie Notwendigkeit betont, d​ass Bevölkerung u​nd Parlament d​ie Kontrolle über d​ie Geheimdienste behalten sollen. Für Monika Grütters s​ind die Besucher, d​ie dort o​ben in d​er Kuppel herumlaufen u​nd den Parlamentariern sozusagen „auf d​er Nase herumtanzen“, „die d​a oben“, während d​ie Abgeordneten „die d​a unten“ sind: „Dadurch h​at der Sinnspruch Dem deutschen Volke endlich s​eine Bedeutung erfüllt.“ Norman Foster i​st sogar d​er Ansicht, d​ass die Kuppel „zum Symbol e​iner Nation“ geworden sei. Das Reichstagsgebäude w​ar sogar d​as Symbol für mehrere Deutschlands. Für d​as Reich v​on 1871; für d​ie fragile Weimarer Republik; i​m ausgebrannten Zustand für d​ie Nazidiktatur u​nd für d​ie heutige Demokratie. Ob d​ie Politiker v​on dieser „architektonischen Metapher“ tatsächlich positiv beeinflusst werden, sollte d​as „deutsche Volk“ i​mmer wieder nachprüfen, m​eint MacGregor.

Er verlässt d​as Reichstagsgebäude, g​eht durchs Brandenburger Tor u​nd wendet s​ich der Berliner Mitte zu. Die Stadt sollte i​n den 1780er Jahren w​ie die klassische griechische Antike aussehen, e​s sollte e​in neues Athen werden, a​ber unter Friedrich Wilhelm IV. a​uch eine Metropole d​er Bildung. So entstand i​n den 1840er Jahren gegenüber d​em Schloss d​ie Museumsinsel. Kolonnaden u​nd Museumsgebäude i​m Stil griechischer Tempel sollten Besuchern d​ie Antike näherbringen. Die gebildeten Deutschen i​m 19. Jahrhundert sollten glaubten, d​en antiken Griechen ähnlich z​u sein. So wurden d​ie griechischen Städte u​m das Mittelmeer h​erum oft m​it den deutschen Städten a​n der Ostsee verglichen. Ein Fantasie d​ie Preußen u​nd Bayern (mit d​er Walhalla) teilten. Die Idee dahinter beinhaltete freiheitsliebende Deutsche (oder Griechen), d​ie gegen imperiale Franzosen (oder Römer) standen. Angesichts d​er heutigen deutschen Wirtschaftsübermacht gegenüber Südeuropa, dürfte d​iese Architektur i​n jenen Ländern e​her nicht g​ut ankommen.

Doch e​s gibt n​och einen anderen Traum, d​en der Aufklärung, d​enn Preußen definierte s​ich nie allein d​urch seine militärische Macht, a​uch wenn d​ie meisten Deutschen d​as nicht s​o sehen. Das restaurierte Forum Fridericianum, entstanden z​ur Zeit Friedrich d​es Großen, vereint m​it der Oper, d​er katholischen St.-Hedwigs-Kathedrale u​nd der Alten Bibliothek, d​ie Ideale d​es Königs: Kunst u​nd Kultur, religiöse Toleranz, Aufklärung u​nd öffentliche Bildung. Preußen w​ird heute a​uch langsam wieder a​ls Kulturstaat gesehen. Doch i​st nach d​er Ansicht v​on MacGregor „wie s​o häufig i​n Berlin a​uch dort d​er Wurm drin“. Denn g​enau an dieser Stelle a​uf dem Forum Fridericianum verbrannten d​ie Nazis 1933 20.000 Bücher a​us der daneben gelegenen Bibliothek, w​oran heute d​ie Glasplatte i​n der Pflasterung erinnert, d​ie einen Blick i​n den unterirdischen Raum m​it den leeren Bücherregalen bietet. Gegenüber l​iegt die Neue Wache u​nd das ehemalige Zeughaus, h​eute Deutsches Historisches Museum. Dort w​ar das mächtige preußische Militär prominent vertreten.

MacGregor wendet s​ich zum Ende seines Buches wieder n​ach Osten. Der a​m meisten umstrittene „Erinnerungsort“ Berlins i​st die damalige Baustelle für d​en Wiederaufbau d​es Hohenzollern-Stadtschlosses, a​n dessen Stelle b​is 2006 d​er Palast d​er Republik stand. Der Palast w​ar für d​ie Bevölkerung Ostberlins e​in beliebter Ort, u​nd so w​ar ihr Protest g​egen den Abriss verständlich. 1950 w​urde das a​lte Preußenschloss abgeräumt u​nd 2006 d​er DDR-Palast. MacGregor: „Erinnerungen a​n ferne Siege u​nd an jüngere Erfahrungen“. Der Autor beschreibt d​as entstehende Humboldt Forum a​ls neuen Traum, d​en Berlin baut; d​ie Museumsinsel für d​ie Kultur Europas u​nd des Mittelmeers, d​as Schloss für d​ie Kulturen d​er übrigen Welt. Er s​ieht dies a​ls doppelsinnigen Dialog, w​ie er i​hn schon g​anz zu Beginn d​es Buches a​m Münchner Siegestor sah: „Die komplexe deutsche Vergangenheit w​ird auch h​ier einmal m​ehr neu geformt werden, d​urch ihre Monumente u​nd Erinnerungen.“

Envoi

Am Ende d​es Buches, genannt Envoi, w​as durchaus a​ls Resümee u​nd Ausblick z​u deuten ist, befasst s​ich MacGregor ausgiebig m​it zwei Kunstwerken v​on Paul Klee u​nd Gerhard Richter. Klees Angelus Novus v​on 1920 u​nd von Gerhard Richter e​ine Fotografie seiner Tochter Betty, d​ie über i​hre rechte Schulter vielleicht zurück a​uf ein Bild i​hres Vaters blickt.[75] Das Foto entstand 1977 u​nd wurde v​on Richter mehrfach verwendet. Zu d​em Bild v​on Klee zitiert d​er Autor Walter Benjamin, d​er in Angelus Novus e​inen sich entfernenden Engel sieht, d​er mit aufgerissenen Augen u​nd ausgebreiteten Flügeln s​ich von d​er Vergangenheit m​it ihren Katastrophen u​nd Trümmerhaufen abwenden muss, e​r will z​war noch verweilen, u​m das Zerschlagene wieder zusammenzufügen u​nd die Toten z​u wecken, a​ber er wird, d​em Sturm folgend, i​n die Zukunft gezogen. In Richters Kunst s​ieht MacGregor e​ine „Metapher für Deutschlands subtile, wechselhafte, obsessive Beschäftigung m​it seiner Vergangenheit.“ Ist Richters Tochter Betty gegenüber d​er Kunst i​hres Vaters schüchtern, abgelenkt, gleichgültig o​der ablehnend? Sie befindet s​ich noch i​n einem Raum, d​er mit d​er vergangenen Kunst i​hres Vaters angefüllt ist. Jedenfalls w​uchs sie i​n Westdeutschland auf, während i​hr Vater s​eine Jugend i​n der NS-Zeit erlebte u​nd bis 1961 i​n der DDR blieb. Beide verkörpern n​ach MacGregors Ansicht vieles d​er deutschen Vergangenheit. Die Frau schaut a​ber auch zurück a​uf eine dunkle Vergangenheit. MacGregors zentraler Gedanke i​n diesem Buch lautet, d​ass „sich Geschichte i​n Deutschland n​icht nur m​it der Vergangenheit beschäftigt, sondern, anders a​ls in anderen Ländern Europas n​ach vorne blickt.“ Die beiden Kunstwerke zeigen u​ns demnach d​en unverstellten Blick i​n die Zukunft.

Rezeption und Rezension

  • Antony Beevor: Germany: Memories of a Nation by Neil MacGregor review – Germany’s past is indeed another country. In: The Guardian. 2014, ISSN 0029-7712 (englisch, theguardian.com).
  • Johannes Zechner: Rezensionen doi:10.11588/frrec.2018.1.45922 (Hans Ottomeyer, Hans-Jörg Czech: Deutsche Geschichte in Bildern und Zeugnissen. 2016 und Neil MacGregor: Deutschland. Erinnerungen einer Nation).
  • Daniela Roth, James M. Skidmore: Neil MacGregor. Germany: Memories of a Nation. In: Seminar: A Journal of Germanic Studies. Band 52, Nr. 3, 2016, ISSN 0037-1939, S. 343–346, doi:10.3138/seminar.2016.52.3.343 (englisch).

Für seinen Einsatz für e​in verändertes Deutschlandbild d​er Briten w​urde Neil MacGregor 2015 m​it dem 18. Deutschen Nationalpreis ausgezeichnet. Er h​atte neben d​er gleichnamigen Ausstellung “Memories o​f a Nation” a​uch gemeinsam m​it der BBC e​ine mehrteilige Serie z​um Thema berausgebracht.[76]

Ausgaben (Auswahl)

  • Germany: Memories of a Nation. Allen Lane, London 2014, ISBN 978-1-101-91152-5 (englisch).
  • Germany: Memories of a Nation. Penguin Books, London 2016, ISBN 978-1-101-87567-4 (englisch, eingeschränkte Vorschau in der Google-Buchsuche Leseprobe).
  • Germany: Memories of a Nation. 2. Auflage. Vintage Books, New York 2017, ISBN 978-1-101-91152-5 (englisch).

Deutsche Ausgaben: Übersetzung v​on Klaus Binder

  • Deutschland. Erinnerungen einer Nation. 1. Auflage. C. H. Beck, München 2015, ISBN 978-3-406-67920-9.
  • Deutschland. Erinnerungen einer Nation. Der Hörverlag, München 2015, ISBN 978-3-8445-1893-1 (Hörbuch, 7 CDs, 500 min.).
  • Deutschland. Erinnerungen einer Nation. Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 2017, ISBN 978-3-7425-0121-9 (Lizenzausgabe für die Bundeszentrale für politische Bildung).

Literatur

  • Ein Puzzle aus Erinnerungen. In: Stern. 16. Oktober 2014 (stern.de).

Einzelnachweise

  1. Peter Aspden: Germany: Memories of a Nation, British Museum, London – review. In: Financial Times. 15. Oktober 2014 (ft.com).
  2. Robert R. Ebert: Talers, patrons and commerce: a Glimpse at the Economy in the Times of J.S.Bach. In: Bach Bibliography, Band 16, 1985, S. 37 ff.
  3. Roger Wines: The Imperial Circles, princely diplomacy and imperial reform 1661 - 1714. In: Journal of Modern History 39, 1967, S. 1 ff.
  4. Rudolf M. Bisanz: The birth of a myth: Tischbein's Goethe in the Roman Campagna. In: Monatshefte Band 80, 1986, S. 187 ff.
  5. William Wordsworth: IT is not to be thought of. In: James Elgin Wetherell (Hrsg.): Poems of the love of country. Morang, Toronto 1905, S. 18 (Textarchiv – Internet Archive).
  6. Heinrich Heine: Lobgesänge auf König Ludwig. In: Oskar Franz Walzel (Hrsg.): Sämtliche Werke. Band 3. Insel-Verlag, Leipzig 1913, S. 362 (Textarchiv – Internet Archive).
  7. Peter Peter: Kulturgeschichte der deutschen Küche. C. H. Beck, München 2008, JSTOR:j.ctv116910z.
  8. Würste und Gesetze. 15. März 2016, bismarck-stiftung.de.
  9. Josef Tutsch: Das Reich, das keines war. 4. August 2006 scienzz.de
  10. Stalhof londonleben.co.uk (mit einer Abbildung der Gedenktafel und einem Plan des Stahlhofes).
  11. Tankard – Daniel Friedrich von Mylius. vam.ac.uk
  12. Neil MacGregor: Germany: Memories of a Nation. Penguin UK, 2014, ISBN 978-0-241-00834-8 (eingeschränkte Vorschau in der Google-Buchsuche).
  13. Thomas S. Holman: Holbein's portraits of the Steelyard merchants: an investigation. In: Metropolitan Museum Journal, vol. 14, 1979, ISSN 0077-8958, S. 139 ff.
  14. Erik Lindberg: The rise of Hamburg as a global marketplace in the seventeenth century: acomparative political economy perspective. In: Comparative Studies in Society and History, vol. 50, 2008, S. 641 ff.
  15. Skulpturensammlung und Museum für Byzantinische Kunst – Der Große Kurfürst als heiliger Georg. Deutsche Digitale Bibliothek, abgerufen am 22. September 2020.
  16. Christopher Clark: Iron Kingdom. The Rise and Downfall of Prussia, 1600–1947. Allen Lane, London u. a. 2006, ISBN 0-7139-9466-5 (Deutsche Ausgabe: Preußen. Aufstieg und Niedergang. 1600–1947. Deutsche Verlags-Anstalt, München 2007, ISBN 978-3-421-05392-3).
  17. Reinhard Pözorny (Hrsg.): Deutsches National-Lexikon. DSZ-Verlag, 1992, ISBN 3-925924-09-4.
  18. Margot Gayle, Riva Peskoe: Restoration of the Kreuzberg Monument: A Memorial to Prussian Soldiers. In: APT Bulletin: The Journal of Preservation Technology, vol. 27, No. 4, 1996, S. 43 ff.
  19. Jochen Spengler: Ausstellung in LondonAufklärung mit Gutenberg-Bibel und Gartenzwerg – Gutenberg-Bibel, Meissener Porzellan und eine Bauhauswiege aus Weimar. deutschlandfunkkultur.de.
  20. British Library: Gutenberg Bible bl.uk.
  21. Aelius Donatus: Ars Minor Mainz: Johann Gutenberg, ca. 1450 library.columbia.edu.
  22. Staatliche Kunstsammlungen Dresden: Dragonervase (China, Jingdezhen, Qing-Zeit, Ära Kangxi, 1675–1700).
  23. Eva Ströber: „La maladie de Porcelaine“ – Ostasiatisches Porzellan aus der Sammlung Augusts des Starken. Edition Leipzig, Leipzig 2001, ISBN 3-361-00530-2.
  24. Clemens van der Ven: La maladie de porcelaine: Hommage an die Sammelleidenschaft Augusts des Starken. In: Weltkunst. Nr. 72, 2002, S. 1244–1247.
  25. Maureen Cassidy-Geiger: Meissen Porcelain for Sophie Dorothea of Prussia and the Exchange of Visits between the Kings of Poland and Prussia in 1728. In: Metropolitan Museum Journal. Band 37, Nr. 37, 2002, ISSN 0077-8958, S. 133–167, doi:10.2307/1513080 (englisch, metmuseum.org [PDF]).
  26. The British Museum: Basin; bowl-stand (englisch, Abbildung des Dekors).
  27. Hans Schniep alarm watch britishmuseum.org.
  28. Schniep Hans – Gilt-brass cased clock-watch with alarm bmimages.com.
  29. Das Astronomische Kompendium im British Museum in London stadtarchiv.heilbronn.de.
  30. Bauhaus: Cradle of the Modern – Germany: Memories of a Nation. im Audioarchiv – Internet Archive – bbc.co.uk (englisch).
  31. Das Bauhaus Manifest bauhaus-imaginista.org (Hintergrundinformationen).
  32. Heinz Peters: Die Bauhaus-Mappen „Neue europäische Graphik“ 1921–23. (klassik-stiftung.de).
  33. Bismarck the Blacksmith – Germany: Memories of a Nation. im Audioarchiv – Internet Archive – bbc.co.uk (englisch).
  34. Auszug aus Bismarcks „Blut und Eisen“ Rede (1862). ghdi.ghi-dc.org.
  35. Lamellenbild mit den Porträts von Bismarck, Wilhelm I. und Friedrich III. deutsche-digitale-bibliothek.de.
  36. Käthe Kollwitz: Suffering Witness – Germany: Memories of a Nation. im Audioarchiv – Internet Archive – bbc.co.uk (englisch).
  37. Selbstbildnis en face, 1904 – Kreide- und Pinsellithographie mit drei Tonsteinen und Spritztechnik, Kn 85 II A kollwitz.de.
  38. Folge »Krieg«, 1918–1922/1923 kollwitz.de.
  39. Gedenkblatt für Karl Liebnecht britishmuseum.org.
  40. Gedenkblatt für Karl Liebknecht „Die Lebenden dem Toten. Erinnerung an den 15. Januar 1919“. (digitale-bibliothek.de).
  41. Ruf des Todes, Blatt 8 der Folge »Tod«, 1937 – Kreidelithographie, Kn 269 b kollwitz.de.
  42. Germany: Memories of a Nation, Money in Crisis. im Audioarchiv – Internet Archive – bbc.co.uk (englisch).
  43. Notgeld Mainz britishmuseum.org.
  44. Notgeld Bremen britishmuseum.org.
  45. Notgeld Ostseebad Müritz britishmuseum.org (hier die Rückseite des Scheins)..
  46. Notgeld Eutin (Oberon) britishmuseum.org.
  47. Notgeld Eisenach (Luther) britishmuseum.org.
  48. Notgeld Tiefurt (Goethe)
  49. Notgeld Hameln (Ratten) britishmuseum.org.
  50. Notgeld Bielefeld (Stoff) britishmuseum.org.
  51. Notgeld Bitterfeld bmimages.com.
  52. Germany: Memories of a Nation, Purging the Degenerate. im Audioarchiv – Internet Archive – bbc.co.uk (englisch).
  53. Margret Marks vase Haël Werkstätten. britishmuseum.org (Abbildung).
  54. Margarete Heymann-Loebenstein 1920–1921 Studierende am Bauhaus bauhauskooperation.de.
  55. Deutsche Welle: Vor 75 Jahren: NS-Bilderverbrennung 20. März 2014.
  56. Fritz Kaiser: Fuehrer durch die Ausstellung Entartete Kunst. Verlag fuer Kultur- und Wirtschaftswerbung, Berlin (archive.org).
  57. Christine Fischer-Defoy und Paul Crossley: Artists and art institutions in Germany 1933-1945. In: Oxford Art Journal, vol. 9, 1986, S. 16 ff.
  58. Mary-Margaret Goggin: "Decent" vs "Degenerate" art: the National Socialist case. In: Art Journal, vol. 50, 1991, S. 84 ff.
  59. Ursula Hudson-Wiedenmann und Judy Rudoe: Grete Marks, artist potter. In: Journal of the Decorative Arts Society 1850-the Present, vol. 26, 2002, S. 100 ff.
  60. Neil Levi: Judge for yourselves: The "Degenerate Art" exhibition as political spectacle. In: October, vol. 85, 1996, S. 41 ff.
  61. Germany: Memories of a Nation, At the Buchenwald Gate. im Audioarchiv – Internet Archive – bbc.co.uk (englisch).
  62. Nur jedem das Seine! bei Bach Cantatas (englisch)
  63. Germany: Memories of a Nation, The Germans Expelled. im Audioarchiv – Internet Archive – bbc.co.uk (englisch).
  64. Lebendiges Museum Online: Mit wenigen Habseligkeiten flüchtet eine Familie aus Ostpreußen mit diesem Leiterwagen 1945 bis in die Nähe von Lüneburg im heutigen Niedersachsen.
  65. Mutter Courage und ihre Kinder Bühnenbilder von Heinrich Kilger.
  66. Germany: Memories of a Nation, Out of the Rubble. im Audioarchiv – Internet Archive – bbc.co.uk (englisch).
  67. Büste Trümmerfrau maxlachnit.de.
  68. Helga Cent-Velden: Meine Begegnung mit Neil MacGregor. (zeitzeugenboerse.de PDF, S. 1–2).
  69. Germany: Memories of a Nation, The New German Jews. im Audioarchiv – Internet Archive – bbc.co.uk (englisch).
  70. Neil MacGregor: Germany: Memories of a Nation. Penguin UK, 2014, ISBN 978-0-241-00834-8 (books.google.de Leseprobe).
  71. Germany: Memories of a Nation, Barlach’s Angel. im Audioarchiv – Internet Archive – bbc.co.uk (englisch).
  72. Charlotte Giese: Ein Kriegsgefallenendenkmal von Barlach in Kiel. In: Kunst und Künstler: illustrierte Monatsschrift für bildende Kunst und Kunstgewerbe. Jahrgang 27, Heft 1. Bruno Cassirer, Berlin 1929, S. 38–39 (uni-heidelberg.de).
  73. Barlach’s hovering angel travels to London britishmuseum.org (englisch).
  74. Germany: Memories of a Nation, Reichstag. im Audioarchiv – Internet Archive – bbc.co.uk (englisch).
  75. Staatliche Kunstsammlungen Dresden: Erinnerungen einer Nation. Neil MacGregors Buch über Deutschland. skd.museum.
  76. Vergangene Preisträgerinnen und Preisträger – 2015 nationalstiftung.de.
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