Pogrom
Der oder das Pogrom (russisch погром ‚Verwüstung, Zertrümmerung‘) steht für Hetze und gewalttätige Angriffe gegen Leben und Besitz einer religiösen, nationalen oder ethnischen Minderheit mit Duldung oder Unterstützung der Staatsgewalt.[1] International entwickelte sich der Begriff ab 1881 aus den antijüdischen Angriffen im zaristischen Russland.[2]
Der Begriff „Pogrom“ hat sich inzwischen von seiner russischen Herkunft gelöst. Verwendet wird er in der Umgangssprache und in historischen Einordnungen; er ist in die wissenschaftliche Fachsprache übergegangen. Der Begriff wird auch rückwirkend verwendet, z. B. für mittelalterliche Geschehnisse.
Etymologie – Herkunft des Begriffs
Der Begriff Pogrom stammt vom russischen погром Pogrom [pɐˈgrom].
Die russisch-deutschen Wörterbücher von 1798 bis 1911 übersetzen 1. „Погро́мъ, a, m. die Verwüstung, Verheerung“[4][5][6], „Zertrümmerung;“[6] „2. das Ungewitter“[5][6], „Donnerwetter, die Hechelei“.[6] Die zugehörigen Verben lauteten „Погромѝшь, милъ, мѝю, v. a. in kleine Stücke zerbrechen, zerschlagen; verheeren, verwüsten.“[4] und „[Погро]-млять v. a. 1, verheeren, verwüsten (durch den Krieg); 2. auf’s Haupt schlagen (den Feind); zerstreuen; 3. zerschlagen, zertrümmern“.[5]
Die internationale Verbreitung und Bedeutung des Begriffs Pogrom entwickelte sich aus den antijüdischen Übergriffen der Jahre 1881 bis 1883 in Russland.[2]
Der Begriff Pogrom wurde in Deutschland ab etwa 1900 verwendet,[7] die Konversationslexika führen den Begriff seit Anfang des 20. Jahrhunderts (Meyers 1908[8]), bereits in der Bedeutung der „Verwüstung“ bezogen auf den Überfall eines Teils der Bevölkerung auf einen anderen, speziell mit dem Bezug zu den Judenhetzen in Russland (Brockhaus 1911).[9] 1982 lautete der Eintrag des russischen Wörterbuchs der Berliner Akademie der Wissenschaften ausschließlich: „погро́м 2 Pogrom, Hetze und blutige Ausschreitungen gegen eine andere Nationalität, besonders gegen Juden“.[10]
Begriff „Pogrom“
Das Pogrom wird wissenschaftlich definiert als einseitige, nicht-staatliche, von der Mehrheitsbevölkerung ausgehende Form kollektiver Gewalt, die sich gegen eine weitgehend wehrlose ethnische Gruppe richtet, wenn die Mehrheit keine Abhilfe des Staates gegen eine gefühlte Bedrohung durch die Minderheit erwartet. Pogrome erfolgen auf lokaler Ebene und mit geringem Organisationsgrad.[11]
Der Begriff Pogrom entstand aus den antijüdischen Ausschreitungen im zaristischen Russland – wenn auch diese Ausschreitungen selbst weder neu noch auf Russland beschränkt waren.[2] Der Begriff entwickelte sich in der Sowjetunion weiter und war nicht mehr auf antijüdische Gewalt beschränkt, sondern wurde auch auf politische Unruhen, ab 1989 auf interethnische Gewalt angewandt.[2] Im Westen hingegen blieb die antijüdische Bedeutung erhalten, bei Betonung der staatlichen Planung oder zumindest Billigung.[2]
Abgrenzung „riot“ und „Massaker“
Zur Abgrenzung des Begriffs Pogrom, wenn auch nicht in jedem Falle eindeutig und präzise möglich:
- „riots“ stehen sowohl für die kollektive Gewalt einer sich benachteiligt fühlenden ethnischen Gruppe gegen die Mehrheit oder den Staat, wie auch für gewaltsame Übergriffe der Mehrheit gegen eine ethnische Minderheit. Eine Unterform der „riots“ sind die „communal riots“, bei denen eine ethnische Gruppe auf lokaler Ebene eine andere und deren Besitz angreift.[12]
- Pogrome wiederum sind als Untergruppe eine spezifische Form dieser „communal riots“. Ihre Besonderheit ist, dass der Staat aktiv oder durch Unterlassen die Hetze und Gewalt ermöglicht; zudem sind die Angegriffenen eher in der Minderheit.[12]
- „Massaker“ haben gegenüber Pogromen einen höheren Organisations- und Bewaffnungsgrad der oft staatlichen Angreifer, zudem die Absicht, alle Angehörigen der angegriffenen Gruppe zu ermorden. Bei Massakern spielen spontan handelnde lokale Angreifer, Zerstörungen und Plünderungen eine untergeordnete Rolle.[12]
- Staatliche organisierte Gewalttaten sind nicht immer klar von Pogromen abzugrenzen, wenn „Volkswut“ als Pogrom inszeniert wird, da sich in einem solchen Umfeld die Bevölkerung zu Pogromen ermutigt fühlt und daraus lokale Gewalttaten (zusätzlich) entstehen können.[11]
Geschichte
Entstehung und Festigung des Begriffs „Pogrom“
Zaristisches Russland
Nach den Hep-Hep-Krawallen 1819 in über 80 Städten und Ortschaften des Deutschen Bundes und über seine Grenzen hinaus (vor allem in Dänemark) folgte das Judenpogrom von Odessa im Jahr 1821 – der erste Vorfall, der als Pogrom bezeichnet wurde.[13]
Die Ermordung des Zaren Alexander II. von Russland durch die Untergrundorganisation Narodnaja Wolja im März 1881 wurde den Juden angelastet. Die nachfolgenden jahrelangen Judenverfolgungen wurden mit dem Begriff Pogrom bezeichnet, damit wurde der Begriff auch international bekannt.
Zwischen 1903 und 1906 kamen bei Pogromen in Russland schätzungsweise zweitausend russische Juden ums Leben. Besonders bekannt wurden die Pogrome von Kischinew in der heutigen moldawischen Hauptstadt Chișinău. Sie wurden wohl zumindest teilweise von der russischen Regierung bewusst geschürt. Aufgrund dieser Ereignisse wanderten zahlreiche Juden nach Palästina aus.
Nationalsozialistisches Deutschland
Im nationalsozialistischen Deutschland erfüllten systematische, auch von denunzierenden Bevölkerungskreisen unterstützte Übergriffe auf Regimegegner[14] im März 1933 den Begriff Pogrom. Einen Pogromcharakter nahmen die organisierten antisemitischen Aktionen an, in denen in vielen Städten SA-Banden am 1. April 1933 jüdische Geschäfte angriffen und Kaufwillige bedrohten. Die staatlich inszenierten Novemberpogrome 1938 wurden unter der nazistischen Terminologie als „Reichskristallnacht“ bekannt.
Aufzählung weiterer Pogrome
Für das europäische Mittelalter sind insbesondere die Pogrome von 1096 (Erster Kreuzzug), 1146 (Zweiter Kreuzzug) und um 1189 (Dritter Kreuzzug) zu nennen, bei denen die Kreuzzugspropaganda auf den mittelalterlichen Antijudaismus zurückgriff.
Im Jahre 1285 verbrannte man in München 180 Juden, weil man sie des Mordes an einem Christenkind verdächtigte.[16]
Mit dem Auftreten der Pest eskalierten die bereits vorhandenen antijüdischen Einstellungen; in den Jahren 1348 bis 1351 steigerten sie sich zu den sogenannten Pestpogromen. Ideologischer Bezugspunkt waren u. a. bestimmte Textstellen in den Schriften des Paulus, der Juden beschuldigte, „den Herrn Jesus getötet“ zu haben, wie sie es auch vorher schon mit den Propheten getan hätten; sie verfolgten nun die Christen „und gefallen Gott nicht und sind allen Menschen feind“ (1 Thess 2,15 ). Kirchliche Konzilien nahmen diese Aussagen teilweise dahingehend verschärfend auf, dass „die Juden“ am Tode Jesu schuld gewesen und insofern „Gottesmörder“ seien.
Beim Pogrom von Kielce wurden 1946 in der polnischen Stadt 39 Juden getötet.[17]
Der Pogrom von Istanbul im Jahre 1955 richtete sich gegen eine christliche, überwiegend griechischstämmige Minderheit in der türkischen Metropole; einige Historiker sehen einen Einfluss der damaligen Regierung und einen Zusammenhang mit dem Zypern-Konflikt. Pogrome in der Türkei richteten sich auch gegen die alevitische Bevölkerung, so das Pogrom von Kahramanmaraş vom 19. bis 26. Dezember 1978 oder das Pogrom von Çorum am 4. Juli 1980.
Zwischen dem 31. Oktober und 2. November 1984 wurden nach dem Attentat auf Indira Gandhi etwa 2800 Sikhs von wütenden Mobs umgebracht.[18]
Beispiele aus jüngerer Zeit: die Ausschreitungen in Rostock-Lichtenhagen[19] (1992), der Brandanschlag von Sivas in der Türkei 1993[20], Ausschreitungen im Kosovo 2004 vornehmlich gegenüber der kosovo-serbischen Minderheit, aber auch anderen Nicht-Kosovo-Albanern,[21] Ausschreitungen in Südafrika gegen afrikanische Ausländer (2008), in Kirgisistan gegen Usbeken (2010)[22] und in Osteuropa gegen Roma, davon mindestens fünf Pogrome von rechtsextremen Gruppen gegen Roma in unterschiedlichen Regionen der Ukraine.[23][24]
Siehe auch
- Liste aller Wikipedia-Artikel, deren Titel mit Pogrom beginnt
- Liste aller Wikipedia-Artikel, deren Titel Pogrom enthält
Literatur
Definition
- Werner Bergmann: Internationales Handbuch der Gewaltforschung. Hrsg.: Wilhelm Heitmeyer, John Hagan. Westdeutscher Verlag, Wiesbaden 2002, ISBN 978-3-531-13500-7, Pogrome, S. 441–460 (1583 S.).
- Werner Bergmann: Begriffe, Theorien, Ideologien. In: Wolfgang Benz (Hrsg.): Handbuch des Antisemitismus – Judenfeindschaft in Geschichte und Gegenwart. Band 3. De Gruyter, Berlin/New York 2010, ISBN 978-3-598-24074-4, Pogrom, S. 269–270 (388 S.).
- Alan E. Steinweis: Kristallnacht 1938: ein deutscher Pogrom (Originaltitel: Kristallnacht 1938 aus dem Englischen übersetzt von Karin Schuler), Reclam, Stuttgart 2011, ISBN 978-3-15-010774-4. (über Täter und Tatdynamik, System- und Einzelgewalt)
- Stefan Wiese: Pogrome im Zarenreich. Dynamiken kollektiver Gewalt. Hamburger Edition, Hamburg 2016, ISBN 978-3-86854-304-9.
Überblick Pogrome
- Katharina Eisch-Angus: Gedächtnis und Erfahrung. Vom Umgang mit der Erinnerung im ostdeutsch-tschechischen Grenzgebiet. In: Kurt Dröge: Alltagskulturen in Grenzräumen. Lang, Frankfurt am Main u. a. 2002, S. 293–329, ISBN 3-631-38957-4 (= Mitteleuropa – Osteuropa. Oldenburger Beiträge zur Kultur und Geschichte Ostmitteleuropas. Band 4).
- Uta Gerhardt, Thomas Karlauf (Hrsg.): Nie mehr zurück in dieses Land: Augenzeugen berichten über die Novemberpogrome 1938, List, Berlin 2011, ISBN 978-3-548-61012-2.
- Gunnar Heinsohn: Lexikon der Völkermorde. Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 1998, ISBN 3-499-22338-4 (= rororo 22338). (Definitionen zu Völkermord, Genozid, Ethnozid, Politizid und Demozid, lexikalischer Hauptteil zu Vorfällen und Personen)
Weblinks
Einzelnachweise
- pogrom. In: britannica.com. Encyclopædia Britannica, 13. Dezember 2018, archiviert vom Original am 28. Oktober 2021; abgerufen am 28. Oktober 2021 (englisch): „a mob attack, either approved or condoned by authorities, against the persons and property of a religious, racial, or national minority.“
- Werner Bergmann: Internationales Handbuch der Gewaltforschung. Hrsg.: Wilhelm Heitmeyer, John Hagan. Westdeutscher Verlag, Wiesbaden 2002, ISBN 978-3-531-13500-7, Pogrome, S. 441 (1583 S.).
- Laut Oxford English Dictionary
- Johann Heym: Deutsch-Russisches und Russisch-Deutsches Wörterbuch – Russisch und Deutscher Theil. Zweyter oder Russisch und Deutscher Theil. Hartknoch, Riga 1798, OCLC 633276437, S. Spalte 1307 (2308 Spalten).
- Iwan Jakowlewitsch Pawlowski: Russko-německij slovarʹ. 2. Auflage. Kimmel, Riga 1879, OCLC 162803810, S. 763 (1340 S., Russisch-deutsches Wörterbuch).
- Iwan Jakowlewitsch Pawlowski: Русско-нѣмецкій словарь. Wörterbuch. 3. Auflage. Izdanīe Kimmelja, Carl Friedrich Fleischer, Riga, Leipzig 1911, OCLC 248954591, S. 1083 f. (1774 S., Russisch-deutsches Wörterbuch).
- Ernst Wasserzieher: Woher? Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. 2. Auflage. Dümmler, Berlin 1918, OCLC 7565289, S. 106 (158 S.): „Pogrom n um 1900 v. russ. pogróm Verwüstung.“
- Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 16. Leipzig 1908, S. 65.
- Brockhaus’ Kleines Konversations-Lexikon. 5. Auflage. Band 2. Brockhaus, Leipzig 1911, OCLC 162721730, S. 426 (1046 S.): „Pogróm (russ.; der), Verwüstung, Zertrümmerung, namentlich der Überfall eines Teils der Bevölkerung auf einen anderen Teil derselben, wie er besonders bei den Judenhetzen in Rußland vorgekommen ist.“
- Hans Holm Bielfeldt: Russko-nemeckij slovarʹ – Russisch-Deutsches Wörterbuch. 14. Auflage. Akademie der Wissenschaften, Berlin 1982, OCLC 603843130, S. 614 (1119 S.): „погро́м 2 Pogrom, Hetze und blutige Ausschreitungen gegen eine andere Nationalität, besonders gegen Juden“
- Werner Bergmann: Internationales Handbuch der Gewaltforschung. Hrsg.: Wilhelm Heitmeyer, John Hagan. Westdeutscher Verlag, Wiesbaden 2002, ISBN 978-3-531-13500-7, Pogrome, S. 444 (1583 S.).
- Werner Bergmann: Internationales Handbuch der Gewaltforschung. Hrsg.: Wilhelm Heitmeyer, John Hagan. Westdeutscher Verlag, Wiesbaden 2002, ISBN 978-3-531-13500-7, Pogrome, S. 442 f. (1583 S.).
- Pogrome. Enzyklopädie. USHMM, 21. Juni 2021, archiviert vom Original am 12. Januar 2022; abgerufen am 6. Februar 2022.
- Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutz von Volk und Staat.
- The pogrom of Bucharest 21–23 January 1941. In: Oxfordjournals. 21. Juli 2008. (englisch)
- Ernst Förster: München. Ein Handbuch für Fremde und Einheimische mit besonderer Berücksichtigung der Kunstschätze dieser Residenz-Stadt. Literarisch-artist. Anstalt, München 1843.
- Jerzy Topolski: Historia Polski. Dom Wydawniczy Rebis, Poznań 2008, S. 274. ISBN 978-83-7510-142-3.
- Justice Nanavati Commission of Inquiry (1984 Anti-Sikh Riots) Report (Memento vom 27. November 2014 im Internet Archive), siehe auch den englischen Wikipedia-Artikel 1984 anti-Sikh riots.
- Problematisiert wird der Pogrombegriff in Bezug auf Rostock-Lichtenhagen bei Thomas Prenzel: Rostock-Lichtenhagen im Kontext der Debatte um die Einschränkung des Grundrechts auf Asyl. In: Thomas Prenzel (Hrsg.): 20 Jahre Rostock-Lichtenhagen. Rostock 2012, S. 10, Anm. 2.
- Als 15.000 Islamisten Jagd auf Aleviten machten, Helga Hirsch, Die Welt
- Kosovo: Das Strafrechtssystem lässt die Opfer im Stich (Memento vom 13. Februar 2013 auf WebCite), Human Rights Watch, 30. Mai 2006.
- Vgl. GRA Stiftung gegen Rassismus und Antisemitismus, 2010; die Internetseite enthält die Aussage „Im heutigen Sprachgebrauch hat Pogrom eine erweiterte Bedeutung: Er bezeichnet jede Art von kollektivem Angriff auf eine ethnische oder religiöse Minderheit.“ Nach Maßgabe der Verwendung „Hexenpogrom“ ist dies immer noch eine Verengung.
- Ein Toter, mehrere Verletzte: Angriff auf Roma-Lager in der Ukraine. Abgerufen am 28. Juni 2018.
- Erneutes Pogrom an Roma in der Ukraine, Hagalil.com, 26. Juni 2018