Der Schwebende
Der Schwebende, auch Schwebender Engel[1] oder Güstrower Ehrenmal, ist eine von Ernst Barlach im Jahr 1927 geschaffene bronzene Skulptur, deren Erstguss verloren ist und von der heute drei Bronze-Nachgüsse und ein Gipsabguss existieren.
Geschichte
Erstguss
Ernst Barlach schuf die Skulptur für den Güstrower Dom zur 700-Jahr-Feier des Bauwerks, gefördert vom damaligen Domprediger Johannes Schwartzkopff. Die Skulptur sollte als Mahnmal für die im Ersten Weltkrieg Gefallenen dienen.
Das Original wurde am 23. August 1937 als sogenannte „Entartete Kunst“ aus dem Güstrower Dom entfernt,[2] nach Schwerin gebracht und 1941 im Rahmen der Metallspende des deutschen Volkes eingeschmolzen.[3]
Zweitguss in Köln
Im Januar 1939 gab Bernhard A. Böhmer bei der Berliner Bildgießerei Hermann Noack einen Bronze-Nachguss in Auftrag. Dieser Sicherungsguss erfolgte nach dem damals noch erhaltenen originalen Werkmodell für den Erstguss. Während des Krieges wurde dieser Guss von Hugo Körtzinger in seinem Atelier in Schnega/Wendland versteckt. Er befindet sich seit dem 15. Mai 1952 in der Kölner Antoniterkirche.
Indem der Kölner Zweitguss über einer Steinplatte befestigt wurde, auf der die Jahreszahlen beider Weltkriege eingraviert waren, wurde seine Bedeutung erweitert und vom direkten Verweis nur auf den Ersten Weltkrieg befreit. Dies wurde noch verstärkt, als die Jahreszahlen des Zweiten Weltkriegs (1939–1945) durch die Jahreszahlen der nationalsozialistischen Herrschaft in Deutschland (1933–1945) ersetzt wurden, so dass der Schwebende immer mehr zum umfassenden Friedensmal umgedeutet wurde.
Drittguss in Güstrow
Da das Werkmodel 1943 oder 1944 bei einem Bombenangriff in Berlin zerstört wurde, diente der Zweitguss noch vor seinem Transport nach Köln als Vorlage für eine neue Gussform. Diese ermöglichte 1952, wiederum bei Noack, einen Bronze-Drittguss des Barlachschen Engels, der am 4. Juni 1952 nach Güstrow kam und nach zahlreichen Probehängungen am 8. März 1953 im westlichen Joch des Südschiffes im Güstrower Dom aufgehängt wurde. 1985 wurde er an den ursprünglich vorgesehenen Platz im östlichen Joch des Nordschiffes mit Blickrichtung nach Westen umgehängt. Der Drittguss, dessen Anfertigung vom Kirchenkreis Köln finanziert worden war, kam als eine Leihgabe des Barlach-Nachlassgremiums in den Dom. 1994 ging das Eigentum auf die Ernst-Barlach-Stiftung über, die bis heute sein Eigentümer ist.
Der Güstrower Schwebende wurde 1970 in Moskau und Leningrad sowie 1981 in der Ost-Berliner (Alten) Nationalgalerie ausgestellt.[4] Zur Ausstellung „Germany. Memories of a Nation“ / „Deutschland – Erinnerungen einer Nation“ war das Kunstwerk vom 16. Oktober 2014 bis zum 25. Januar 2015 im Londoner British Museum zu sehen. Der Schwebende als eine der beeindruckendsten Skulpturen des 20. Jahrhunderts war einer der Höhepunkte der Schau.[5]
Nachguss in Schleswig
Die 1952 angefertigte Gussform kam in den Besitz von Hans Barlach. Davon wurde 1987 ein Bronze-Nachguss angefertigt, der im Schleswig-Holsteinischen Landesmuseum für Kunst und Kulturgeschichte auf Schloss Gottorf in Schleswig hängt.[6]
Gipsabguss
Gleichzeitig mit dem Drittguss fertigte Noack 1952 einen bronzierten Gipsabguss an, der in den Besitz der Ernst Barlach Gesellschaft Hamburg kam und normalerweise im Ernst-Barlach-Museum Wedel ausgestellt ist.
Das Gips-Exemplar wurde schon öfter auf auswärtigen Ausstellungen gezeigt, so 2010 in Ratzeburg im Rahmen der ökumenischen Ausstellung "Barlach und Kollwitz – Grenzen der Existenz" mit einem historisch einmaligen Friedensgebet der Weltreligionen unter dem "Schwebenden" im Ratzeburger Dom, 2012 in Münster, zuvor schon in Teheran, Antwerpen, Rom und Istanbul,[7] 2010 in Göttingen[8] und 2013 in Hannover. 2017 war dieses Exemplar im Rahmen der Ausstellung Ernst Barlach und Käthe Kollwitz: Über die Grenzen der Existenz in der Schlosskirche Wittenberg zu sehen. Der Wittenberger Oberbürgermeister Torsten Zugehör[9] und der Wittenberger Ehrenbürger Friedrich Schorlemmer haben sich für den dauerhaften Verbleib der Skulptur in Wittenberg ausgesprochen.[10]
- 2013 in der Marktkirche Hannover
- 2017 in der Schlosskirche Wittenberg
Zitate
„Für mich hat während des Krieges die Zeit stillgestanden. Sie war in nichts anderes Irdisches einfügbar. Sie schwebte. Von diesem Gefühl wollte ich in dieser im Leeren schwebenden Schicksalsgestalt etwas wiedergeben.“
„In den Engel ist mir das Gesicht von Käthe Kollwitz hineingekommen, ohne dass ich es mir vorgenommen hatte. Hätte ich sowas gewollt, wäre es mir wahrscheinlich missglückt.“
Rezeption
Wolf Biermann nimmt im Barlach-Lied[13] Bezug auf Barlachs Der Schwebende.[14]
Literatur
- Ernst Barlach – Das Güstrower Ehrenmal. Hg. von Volker Probst. (Ausstellungskatalog). Seemann, Leipzig 1998, ISBN 3-363-00695-0.
- Barlachs Engel. Stimmen zum Kölner Schwebenden. Herausgegeben von Antje Löhr-Sieberg und Annette Scholl unter Mitarbeit von Anselm Weyer. Greven Verlag, Köln 2011, ISBN 978-3-77430481-9.
- Gunnar Decker: Ernst Barlach – Der Schwebende. Eine Biographie. Siedler, München 2019, ISBN 978-3-8275-0106-6.
Musik
- Der Engel, Orgelmusik für den „Schwebenden“ von Ernst Barlach. Johannes Quack an der Orgel der Antoniterkirche. 2005.
Weblinks
- Literatur über Der Schwebende in der Landesbibliographie MV
- „Der Schwebende“ – Bericht auf www.dradio.de vom 15. März 2009. Abgerufen am 13. August 2010.
- „Der Schwebende“ – Beschreibung auf www.dom-guestrow.de. Abgerufen am 10. Januar 2014.
- Barlach in der Antoniterkirche Köln – Beschreibung und geschichtliche Darstellung auf www.antonitercitykirche.de. Abgerufen am 20. Juli 2011.
- Ernst Barlachs „Der Schwebende“ in der Antoniterkirche Köln – YouTube-Video: Bebildertes Radiofeature vom DomRadio Köln und den AntoniterCityTours. Abgerufen am 21. Dezember 2012.
- Artikel zu Barlachs Güstrower Ehrenmal. Abgerufen am 21. Dezember 2012.
- Rosemarie Wilcken: In der Schwebe. Ein Barlach-Engel in der Kölner Antoniterkirche. Monumente Online, Dezember 2014. Abgerufen am 15. Dezember 2014.
Einzelnachweise
- „Schwebender Engel“ hat Barlach seine überlebensgroße Bronze genannt, die Gesichtszüge von Kollwitz zeigt. Göttinger Tageblatt, 16. September 2010, abgerufen am 10. Januar 2014.
- Da Der Schwebende nicht aus einem Museum oder einer öffentlichen Sammlung entfernt wurde, ist er nicht im von Rolf Hetsch 1941 angefertigten Inventar der im Zuge der Aktion Entartete Kunst entfernten Kunst enthalten, siehe 'Entartete Kunst', abgerufen am 18. August 2017
- Siehe zu den Umständen Studien zur Stadtgeschcihte der Barlachstadt Güstrow – 1941. Abgerufen am 11. Februar 2019.
- Siehe die Hinweise zur Provenienz im Dokument des British Museum, abgerufen am 14. Oktober 2014.
- www.dom-guestrow.de (Memento des Originals vom 14. Oktober 2014 im Internet Archive) Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht geprüft. Bitte prüfe Original- und Archivlink gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis.
- Siehe dazu Barlach-Skulptur: Ein Engel zuviel. In: Die Zeit vom 30. September 1988, abgerufen am 10. August 2017
- Barlachs Engel schwebt ein „Güstrower Mahnmal“ hängt bis November in der St.-Johannes-Kapelle. In: Westfälische Nachrichten vom 31. August 2012, abgerufen am 10. August 2017
- Barlach und Kollwitz in Göttinger Kirchen Barlachs „Schwebender Engel“ ist angekommen. In: Göttinger Tageblatt vom 16. September 2010, abgerufen am 10. August 2017
- Christliche Kunst Kollwitz-Barlach-Schau eröffnet. In: Mitteldeutsche Zeitung vom 16. Mai 2017, abgerufen am 10. August 2017.
- Grenzgänge zwischen dem Geist der Kunst und der Reformation: „Wir sind Bettler, das ist wahr“. In: Wittenberger Sonntag vom 13. Mai 2017, abgerufen am 10. August 2017.
- Ernst Barlach, Das Güstrower Ehrenmal. Hg. von Volker Probst. Güstrow 1998, S. 86.
- Ernst-Barlach-Stiftung Güstrower Ehrenmal. Abgerufen am 12. Oktober 2020.
- Barlach-Lied Biermanns
- Neues Deutschland: Biermann ist 80. November 2016