Jedem das Seine
Jedem das Seine, lateinisch suum cuique, ist seit antiken philosophischen Theorien der Moral und Politik ein für die Fassung von Begriffen des Rechts und der Gerechtigkeit, insbesondere der Verteilungsgerechtigkeit, vielfach ins Spiel gebrachtes Prinzip (siehe auch Verteilungsprinzip). Es besagt, dass jedem Bürger eines Gemeinwesens das zugeteilt wird (bzw. werden soll), was ihm gebührt, etwa durch gerechte Güterverteilung. Je nach politischer Theorie oder praktischem Bezug werden verschiedene Präzisierungen vorgeschlagen. Der Status eines solchen Prinzips wird unterschiedlich bewertet.
Die Redewendung gilt heute in Deutschland als problematisch, da sie während des Zweiten Weltkrieges von den Nationalsozialisten zynisch als Motto am Eingangstor des Konzentrationslagers Buchenwald verwendet wurde.
Geschichte
Antike
Suum cuique geht als Grundsatz auf das antike Griechenland zurück. In der Politeia stellte Platon fest, dass Gerechtigkeit besteht, „wenn man das Seine tut und nicht vielerlei Dinge treibt“ (τὸ τὰ αὑτοῦ πράττειν καὶ μὴ πολυπραγμονεῖν δικαιοσύνη ἐστί, to ta hautou prattein kai me polypragmonein dikaiosyne esti, IV 433a). Jeder soll das Seine tun, und zwar in Art und Umfang so, wie es seinem Wesen, seinen Möglichkeiten und den individuellen Umständen entspricht (Idiopragieformel). Ergänzend erklärte Platon, dass auch jeder das Seine bekommen und dass niemandem das Seine genommen werden soll (433e).
Über diese Verteilungsgerechtigkeit, die dem Lohn und damit auch dem Besitz zugrunde liegt, äußert sich Aristoteles ausführlich in Buch 5 der Nikomachischen Ethik.[1] Wie er ausführt, handelt es sich dabei um proportionale Verhältnisse,[2] in denen jeweils vier Begriffe zueinander in Beziehung gesetzt sind. Damit jeder das ihm Zustehende erhält, muss sich Person A zu Person B verhalten wie C (das der Person A Zugeteilte) zu D (das der Person B Zugeteilte). „Die Verbindung des A mit dem C und die des B mit dem D ist die Verteilungsgerechtigkeit.“ Ungerechtigkeit und Unrecht sind nach dieser Definition also ein Zuviel oder ein Zuwenig für den Einzelnen. Dabei ist sich Aristoteles des Problems bewusst, das darin besteht, welches Kriterium für die Feststellung dieser Proportion zwischen A und B gelten soll: „Dass die Gerechtigkeit im Zuteilen gemäß einer Wertigkeit[3] geschehen muss, wird allgemein anerkannt; aber als diese Wertigkeit bezeichnen nicht alle das Nämliche, sondern die Demokraten die Freiheit, die Oligarchen den Reichtum, andere die Hochwohlgeborenheit, wieder andere die Tüchtigkeit.“
In dem politischen und juristischen Sinne „Jedem das Seine zuteilen“ wird die Formel unter anderem bei Cicero, De legibus 1, 6 19, verwendet, der dort an die Ableitung des griechischen Substantivs νόμος (nómos, Gesetz) von dem Wort νέμειν (némein, zuteilen) erinnert: „Eamque rem (gemeint: legem) illi Graeco putant nomine a suum cuique tribuendo appellatam“ – „Und diese Sache (das Gesetz) sei, wie jene glauben, mit ihrer griechischen Bezeichnung nach dem ‚jedem das Seine Zuteilen‘ benannt“.
Auch in Cicero, De officiis I,15, findet sich der Ausdruck: „[…] in hominum societate tuenda tribuendoque suum cuique et rerum contractarum fide“ („[…] in der Aufrechterhaltung der Gesellschaft der Menschen, darin, einem jedem das Seine zukommen zu lassen sowie in der Verlässlichkeit vertraglicher Abmachungen“).
In den Institutionen des Kaisers Justinian heißt es ganz zu Beginn, im ersten Teil des Corpus Iuris Civilis: iuris praecepta sunt haec: honeste vivere, alterum non laedere, suum cuique tribuere. – Die Gebote des Rechts sind diese: Ehrenhaft leben, den anderen nicht verletzen,[4] jedem das Seine gewähren (Inst. 1,1,3). Bei Ulpian im Corpus Iuris Civilis, Digesten 1, 1, 10, heißt es: Iustitia est constans et perpetua voluntas ius suum cuique tribuendi („Die Gerechtigkeit ist der beständige und dauerhafte Wille, jedem sein Recht zukommen zu lassen“). Dieser Satz wurde dann vom Verfasser der Institutionen, Tribonian, als Definition an den Anfang des Gesamtwerkes gestellt (Inst. 1,1,1).
Aufklärung
Hugo Grotius, ein Rechtsphilosoph und Vordenker der Aufklärung, verwandte den Begriff in seiner Eigentumstheorie.
Preußen
In der lateinischen Version ist die Redewendung die Ordensdevise des 1701 von Friedrich I. gestifteten Schwarzen Adlerordens (wohl in der Bedeutung „Jedem nach seinem Verdienst“).
Kirchenmusik
Johann Sebastian Bachs Kantate BWV 163 aus dem Jahr 1715 trägt den Titel Nur jedem das Seine. Der Text stammt von Salomon Franck und thematisiert (nach Mt 22,21 ) den Zwiespalt in den Loyalitäten des Menschen und gegenüber Gott.[5]
Lyrik
Als pädagogisches Leitwort zur Entwicklung der kindlichen Veranlagung und Interessen verwendete es die Schriftstellerin und Scherenschnitt-Künstlerin Johanna Beckmann 1906 für ihr gleichnamiges Buch Jedem das Seine: „Nicht allen das Eine / Behalt' dir das! / Jedem das Seine. Das macht Spaß.“[6] Ein scherzhaftes Gedicht von Eduard Mörike aus dem Jahr 1862 trägt ebenfalls den Titel Jedem das Seine.[7] Es wurde 1939 von Hugo Distler als Chormusikstück vertont.[8]
Zeit des Nationalsozialismus
1937 bauten die Nationalsozialisten das Konzentrationslager Buchenwald in der Nähe von Weimar. Der Spruch „Jedem das Seine“ (in der Bedeutung von „Jedem, was er verdient“) steht von innen lesbar über dem Haupttor und demütigte somit die Lagerinsassen.[9] Dies stellt eine Besonderheit gegenüber den anderen Konzentrationslagern dar, deren Torsprüche mit ihren nach außen gerichteten Schauseiten sich vornehmlich an die Bevölkerung außerhalb der Lager wandten, wie beispielsweise „Arbeit macht frei“ in Auschwitz, Dachau, Groß-Rosen, Sachsenhausen oder Theresienstadt.
Literatur der Nachkriegszeit
Noch über Jahrzehnte erregte das Motto „Jedem das Seine“ nicht allgemein Anstoß und fand in seiner klassischen Bedeutung weite Verbreitung in Literatur und Medien.
Der Film To each his own kam in Deutschland 1946 zwar unter dem Titel Mutterherz heraus, wurde in der Presse jedoch auch als Jedem das Seine bekannt. Ein Lyrikband von Karl Schnog wurde 1947 unter diesem Titel veröffentlicht, ebenso die deutsche Ausgabe von Louis Bromfields Unterhaltungsroman McLeod’s Folly (You Get What You Give).
1966 erschien der politische Roman A ciascuno il suo (Jedem das Seine) von Leonardo Sciascia, der 1967 von Elio Petri verfilmt wurde. Darin wird ein Intellektueller nach der Aufdeckung eines Mafia-Mordes ermordet, weil er sich um Dinge gekümmert hat, die ihn angeblich nichts angingen.
In den 1970er Jahren wurde an bundesdeutschen Bühnen die Komödie Jedem das Seine gespielt, eine Adaption des Stücks Fringe Benefits von Peter Yeldham und Donald Churchill.
Heutige Verwendung
In Gerichtsgebäuden
Die lateinische Form suum cuique ist bis heute Bestandteil der an den Decken von Gerichtsgebäuden angebrachten Gerechtigkeitsformel.
Im Vatikan
Unicuique suum ist seit dem Gründungsjahr 1861 das erste der beiden Mottos der päpstlichen Zeitung L’Osservatore Romano.
In der Bundeswehr
Abgeleitet von der Devise des preußischen Schwarzen Adlerordens ist Suum cuique das Motto der Feldjägertruppe der deutschen Bundeswehr, es war auch im Verbandsabzeichen des Luftlandeunterstützungsbataillons 262 enthalten; das Bataillon wurde zum 31. März 2015 aufgelöst.
Auseinandersetzungen seit 1990
In den 1990er Jahren setzte ein kritischer Umgang ein, der unter anderem in der Auseinandersetzung um Trutz Hardos 1996 erschienenen Roman Jedem das Seine seinen Ursprung hatte. Hardo rechtfertigt in dem Roman den Holocaust, indem er ihn als Vollstreckung des „Karmagesetzes“ interpretiert, jedem Insassen von Buchenwald sei „in konzentrierter Weise das ihm aus karmischer Gesetzmäßigkeit zustehende Schicksal zugewiesen, um seine Verschuldung abzuarbeiten und dadurch frei zu werden.“ Das Amtsgericht Neuwied verurteilte Hardo am 4. Mai 1998 wegen „Volksverhetzung in Tateinheit mit Beleidigung und der Verunglimpfung des Andenkens Verstorbener“ zu einer Geldstrafe und untersagte die Weiterverbreitung des Buches. Damit wurde gerichtlich klargestellt, dass es in Deutschland verboten ist, sich „Jedem das Seine“ in der nationalsozialistischen Bedeutung der Buchenwalder Inschrift öffentlich zu eigen zu machen und so zu rechtfertigen.[10]
Die Debatte verschärfte sich Ende der 1990er, als die Verwendung des Mottos im deutschen Sprachraum als Slogan in vereinzelten Werbe- und politischen Kampagnen zu Protesten führte, worauf einige dieser Werbekampagnen zurückgezogen wurden.[11][12][13] Den Fall einer eingestellten Werbekampagne von Nokia nahm Henryk M. Broder 1999 in dem Buch „Jedem das Seine“ zum Anlass, augenscheinliche Absurditäten im Umgang der Deutschen mit den Juden zu beschreiben.[10]
Im März 2007 wurde am Stadttheater Klagenfurt eine von den Autoren Peter Turrini und Silke Hassler sogenannte „Volksoperette“ mit dem Titel Jedem das Seine uraufgeführt. In dem Stück geht es um einen Todesmarsch ungarischer Juden in den letzten Tagen des Zweiten Weltkriegs.[14][15] Es wurde 2009/2010 mit dem Titel Vielleicht in einem anderen Leben verfilmt.
Der auf der Berlinale 2009 aufgeführte Film Jedem das Seine von Stefan Schaller thematisiert die unterschiedliche Entwicklung zweier Roma-Brüder aus dem ehemaligen Jugoslawien.[16]
Der Forderung des Verzichts auf einen gedankenlosen Gebrauch des Ausdrucks aufgrund der Verwendung durch die Nationalsozialisten steht die Position gegenüber, dass „Jedem das Seine“ meist in einem achtbaren Sinne gebraucht worden sei, anders als beispielsweise „Arbeit macht frei“.
In Gerichtsverfahren gegen einen Mann, der auch Mitglied der rechtsextremen Nationaldemokratischen Partei ist, urteilten im Dezember 2015 das Amtsgericht Oranienburg, im November 2016 das Landgericht in Neuruppin und im April 2017 das Oberlandesgericht Brandenburg, dass eine Tätowierung, die einen Auschwitz-Wachturm und das Buchenwald-Logo „Jedem das Seine“ darstellt, als Billigung des Massenmordes an Juden im Dritten Reich strafrechtlich zu ahnden ist, wenn sie in einem Schwimmbad öffentlich gezeigt wird. Im konkreten Fall wurde eine Freiheitsstrafe von acht Monaten verhängt.[17]
Siehe auch
Literatur
- Karin Doerr: 'To Each His Own' (Jedem das Seine): The (Mis-)Use of German Proverbs in Concentration Camps and Beyond. In Proverbium: Yearbook of International Proverb Scholarship. Vol. 17. University of Vermont: 2000 (71–90).
- Robert John Araujo: International Law Clients: The Wisdom of Natural Law. Fordham Urban Law Journal, Vol 28, Issue 6, 2000, S. 1751–1770.
Weblinks
- Frank Brunssen: „Jedem das Seine“ - zur Aufarbeitung des lexikalischen NS-Erbes, Bundeszentrale für politische Bildung, 15. Oktober 2010.
- Matthias Heyl: Hintergrundinformationen zu dem Wort »Jedem das Seine« (Forschungs- und Arbeitsstelle »Erziehung nach/über Auschwitz« in Hamburg) (PDF; 110 kB)
- Hermann Klenner: Jedem das Seine! Geschichte eines Schlagworts (Umfassende Geschichte des Ausdrucks)
- Govaert C. J. J. van den Bergh: Jedem das Seine in: Forum historiae iuris 8. März 2005. (englisch)
Einzelnachweise
- Aristoteles, Nikomachische Ethik 1131
- ἔστιν ἄρα τὸ δίκαιον ἀνάλογόν τι (Die Gerechtigkeit ist also etwas Proportionales)
- κατ' ἀξίαν τινά gemäß irgendeiner Wertigkeit/Würdigkeit
- gemeint: den Mitmenschen in seinen Rechten
- Julian Mincham: Chapter 25 BWV 163 Nur jedem das Seine. The Cantatas of Johan Sebastian Bach. A student and listeners guide.
- Johanna Beckmann: Jedem das Seine. Schwarzbilder und Sprüche. Verlag Martin Warneck, Berlin 1906.
- Eduard Mörike: Jedem das Seine in Gedichte von Eduard Mörike (4. Auflage), J. G. Cotta, Stuttgart 1867
- Hermann Grabner: Hugo Distler. Komponisten in Bayern Band 20, Hans Schneider, Tutzing 1990, S. 92
- KZ-Gedenkstätte Buchenwald: Jedem das Seine. In: Deutschlandradio Kultur vom 20. Mai 2014, abgerufen am 13. Januar 2015
- Frank Brunssen: „Jedem das Seine“ – zur Aufarbeitung des lexikalischen NS-Erbes. Aus Politik und Zeitgeschichte (APuZ 8/2010), Bundeszentrale für politische Bildung
- Nazi-Slogan: CDU stoppt Kampagne „Jedem das Seine“, Spiegel Online, 11. März 2009 (Kampagne der Schüler-Union in Nordrhein-Westfalen)
- Rebecca Sandbichler: Werbungs-Wortwahl: Direktflug in die Nazi-Falle, derStandard.at, 23. September 2009 (Austrian Airlines zieht Sujet zurück)
- Jörg Leopold: Werbung mit Nazi-Spruch: Yahoo greift daneben, Der Tagesspiegel, 16. Dezember 2009 (neue Yahoo-Startseite)
- „Jedem das Seine“: Premiere, ORF.at, 5. März 2007
- Turrini-Hassler-Stück großer Erfolg, ORF.at, 9. März 2007
- Berlinale Filmarchiv: Informationen zum Film Jedem das Seine (PDF; 71 kB)
- Stuart Winer: German court upholds politician’s sentence for Nazi ink. The Times of Israel, 20. April 2017, abgerufen am 28. April 2017