Tränenpalast
Tränenpalast ist die umgangssprachliche Bezeichnung im Berliner Volksmund für die ehemalige Ausreisehalle der Grenzübergangsstelle Bahnhof Friedrichstraße in Ost-Berlin im historischen Stadtviertel Dorotheenstadt des Ortsteils Mitte. Von hier fuhren S- und U-Bahnen nach West-Berlin und die Fernbahn aus der DDR über West-Berlin in die Bundesrepublik.
Die Bezeichnung Tränenpalast leitet sich davon ab, dass die meisten DDR-Bürger im genannten Zeitraum keine Reisefreiheit nach West-Berlin hatten und ihre westlichen Besucher hier unter Tränen verabschieden mussten.
Im Tränenpalast befanden sich die Kontroll- und Abfertigungsschalter der Grenztruppen der DDR.
Geschichte
Das Gebäude plante der Architekt Horst Lüderitz gemeinsam mit dem Bauingenieur und Statiker Horst Paul Günter Matzko, der Projektleiter für den Bau der Grenzübergangsstelle an der Friedrichstrasse war.[1] Die Grenzübergangsstelle trennte den Bahnhofsbereich mit seinen Ein- und Ausreiseströmen etwa ein Jahr nach dem Mauerbau. Bauherr war die Deutsche Reichsbahn (DR; Entwurfs- und Vermessungsbüro, Gruppe Hochbau der DR). Architektonisch sollte mit einer freitragenden Stahl-Glas-Konstruktion und Keramikverkleidungen an die Standards zeitgenössischer internationaler Architektur angeknüpft sowie die tatsächliche Funktion verschleiert werden.[2] Der Zugang war nur für Fahrgäste der S-, U- oder Fernbahn gestattet; Fahrausweise konnten laut Informationstafel am Tränenpalast auf den Bahnsteigen erworben werden (in DM West). Ein Fahrkartenverkauf für Ziele in West-Berlin oder in die BRD (kursiv: Originaltext DDR) erfolgte jedoch auch an den Schaltern des Städtischen Nahverkehrs der Hauptstadt Berlin bzw. der DR (in DM Ost, ab 1964 MDN, ab 1971 M).
Grenzabfertigung
Nach Schließung der Grenze war der Übertritt nur Westdeutschen und Ausländern, nicht aber West-Berlinern gestattet. Es gab nach der Eröffnung noch keinen wesentlichen Andrang. Die Ost-Berliner (eine DDR-Staatsbürgerschaft war erst 1967 eingeführt worden, lange nach dem Mauerbau) konnten ihren Besuch zunächst noch in die Halle begleiten und sich dort, besonders bei schlechtem Wetter, verabschieden. Da man nie wusste, wann man sich wiedersehen würde und die Besuchsmöglichkeiten sehr einseitig waren, fielen diese Abschiede oft tränenreich aus. Daher wurde der Zutritt für Ost-Berliner bald unterbunden, aber im Volksmund hatte sich der Begriff „Tränenhalle“ etabliert. Das blieb so bis 1972, als nach dem Grundlagenvertrag auch der Besuchsverkehr für West-Berliner geregelt wurde und Besuche auf der anderen Seite keine Ausnahme mehr waren. Die Abschiede waren nicht mehr so tränenreich und der Name geriet fast in Vergessenheit. Erst mit den Ausreisewellen von „aus der Staatsbürgerschaft Entlassenen“ wurde es wieder ernst, denn in der Regel durften diese auch besuchsweise nicht mehr einreisen. Nun kam der alte Name wieder hoch, aber diesmal als „Tränenpalast“, analog Kulturpalast, Pionierpalast, Palast der Republik. Die Anzahl der Reisenden hatte sich merklich erhöht und die Abfertigung an der Übergangsstelle lief üblicherweise so ab:
Nachdem sich die aus der DDR ausreisenden Personen in eine Warteschlange vor dem Tränenpalast eingereiht hatten, wurden sie am Eingang des Gebäudes in der Regel von zwei Volkspolizisten per Augenschein bei Vorlage des Personalausweises bzw. des Reisepasses und des Visums „vorkontrolliert“. An dieser Türkontrolle wurden sogenannte Unberechtigte (z. B. Angehörige der Ausreisenden) abgewiesen. Es folgte ein Staubereich vor der eigentlichen Kontrollstelle.
Im Gebäude führte eine Treppe hinunter zur Zollkontrolle. Hier war im vorderen Teil der Halle jeweils links und rechts vom Hauptweg ein offener Abfertigungsschalter. Die Ausfuhr von DDR-Währung in den Westen war verboten, deshalb war gegebenenfalls übrig gebliebenes Geld (oft Beträge unter zehn Mark) noch vor der Zollkontrolle auf einem Sonderkonto bei einer Filiale der Staatsbank einzuzahlen (dieses Geld konnte bei erneuter Einreise wieder abgehoben werden). Weiterhin waren die Ausfuhrbestimmungen für Waren zu beachten, die mitgeführten Gegenstände (oft Bücher, die vom Zwangsumtausch gekauft wurden) mussten vorher in eine Zollausfuhrerklärung eingetragen werden. Hier wurden oft Reisetaschen und Koffer durchsucht.
Nach der Zollkontrolle erfolgte die eigentliche Überprüfung der Reisedokumente. Hierfür befanden sich im hinteren Teil der Halle rund zehn nebeneinander angeordnete Abfertigungsschalter. Sie waren aus Vierkantstahlrohr gebaut und mit Sprelacart-Platten verkleidet. Neben jedem Durchgang befanden sich Leuchtfelder zum Einordnen der ausreisenden Personen nach „Bürger Berlin (West)“, „Bürger der BRD“, „Bürger DDR“ und „Bürger anderer Staaten“. Hier erfolgte die genaue Kontrolle der Pässe bzw. Personalausweise und der Visa. Nach der „Abfertigung“ wurde eine Tür per Summer kurz geöffnet und der dem westlichen Verkehr vorbehaltene Teil des Bahnhofs Friedrichstraße konnte betreten werden.
Hier bestanden Fahrmöglichkeiten in den Westteil Berlins mit der U-Bahn in Richtung Wedding, Tegel bzw. Kreuzberg, Tempelhof, Mariendorf sowie mit der S-Bahn nach Zoologischer Garten, Wannsee (westlich), Gesundbrunnen, Frohnau, Heiligensee (nördlich) und Anhalter Bahnhof, Schöneberg, Zehlendorf, Lichterfelde, Lichtenrade (südlich). Außerdem konnte der Fernbahnsteig erreicht werden. Die Fahrzeiten von U- und S-Bahn waren an die regulären Öffnungszeiten der Grenzübergangsstelle angepasst, die letzten Züge verkehrten gegen zwei Uhr nachts. Verspätete Ausreisende mussten im Bahnhof Friedrichstraße in besonderen Räumen bis zum ersten Zug am nächsten Morgen übernachten.
Die Einreise nach Ost-Berlin erfolgte über die Bahnhofsanlagen des Bahnhofs Friedrichstraße, nicht durch den Tränenpalast. Im Gegensatz zu anderen Grenzübergangsstellen war dieser Grenzübergang für alle Nationalitäten geöffnet, also nicht nur für West-Berliner, sondern auch für Bürger der Bundesrepublik und Ausländer (sowohl sozialistisches als auch nichtsozialistisches Ausland). Für Ausländer gab es alternativ nur den Übergang Checkpoint Charlie ebenfalls in der Friedrichstraße. Für diese „Bürger anderer Staaten“ war der Übergang durchgehend Tag und Nacht geöffnet; sie konnten also im Gegensatz zu „Bürgern aus Berlin West“ und „Bürgern der BRD“ nach der Ausreise – die bis spätestens 24 Uhr erfolgen musste – nach 0 Uhr unmittelbar wieder einreisen. Für alle anderen Bürger bestanden Einschränkungen; die Übergangsstelle war nicht durchgehend geöffnet. Für West-Berliner erfolgte ca. in den 1980er Jahren eine Verlängerung bis 2 Uhr früh. So war der Tränenpalast für viele „Bürger anderer Staaten“ eine ständige Transitstelle, die um Mitternacht passiert werden musste. Die Ausreise hatte am gleichen Grenzübergang wie bei der Einreise zu erfolgen. West-Berliner mussten die gewünschte Übergangsstelle bereits bei der Beantragung der Einreise in den Büros für Besuchs- und Reiseangelegenheiten angeben.
Da diese Grenzübergangsstelle mitten auf Ost-Berliner Territorium lag und nur mit U-, S- oder Fernbahn erreicht werden konnte, waren die Möglichkeiten für Kontrollen auf West-Berliner Seite stark eingeschränkt. Die nächstgelegenen S- und U-Bahn-Stationen auf West-Berliner Gebiet wurden stichprobenartig bestreift, insbesondere durch westliche Zollbeamte, die nach größeren Mengen von im Intershop zoll- und steuerfrei erworbenen Spirituosen und Zigaretten fahndeten. Für die DDR ergab sich hier die Möglichkeit, problemlos Ausländer in den Westen abzuschieben (z. B. Asylbewerber).
Zwischen 2:17 Uhr und ca. 4:30 Uhr gab es keinen S- und U-Bahn-Verkehr in Richtung Westen. Reisende, die die letzte Bahn verpasst hatten, mussten sich in Räumlichkeiten der Genex im Transitbereich aufhalten.
Nutzung nach der Wiedervereinigung
Ein ursprünglich bestehender Verbindungsgang zum Bahnhof Friedrichstraße wurde nach der Grenzöffnung 1990 entfernt. Nach der deutschen Wiedervereinigung wurde 1991 aus dem ehemaligen Tränenpalast ein gleichnamiger Club mit unterschiedlichen kulturellen Veranstaltungen (Diskothek, Kabarett und andere Live-Veranstaltungen).[3] Am 2. Oktober 1990 wurde der Tränenpalast unter Denkmalschutz gestellt. Aus Ungewissheit, was in Zukunft mit dem Gebäude passieren würde, leitete die DDR-Regierung diesen Schritt einen Tag vor der Wiedervereinigung noch ein.[4] Der Club musste im Juli 2006 geschlossen werden, da der Berliner Senat das Grundstück verkauft hat.[5] Für die Zukunft wurde eine kulturelle Nutzung vorgeschrieben.
Auf dem umliegenden Grundstück – begrenzt durch den Bahnhof Friedrichstraße, Reichstagufer und Friedrichstraße – entstand ein Bürokomplex, genannt „Spreedreieck“. Die Umstände des Grundstücksverkaufs an den Investor sollen durch einen parlamentarischen Untersuchungsausschuss des Berliner Abgeordnetenhauses geklärt werden.[6]
Nutzung seit September 2011
Im November 2008 wurde mit der „Fortschreibung der Gedenkstättenkonzeption des Bundes“ die Nutzung des Gebäudes als Erinnerungsort und Ausstellungsraum festgeschrieben. Nach Abschluss umfangreicher Umbau- und Sanierungsmaßnahmen bietet die Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland seit dem 15. September 2011 im denkmalgeschützten Tränenpalast die ständige Ausstellung „Alltag der deutschen Teilung“ an.[4][7] Der Eintritt ist frei. Mit biografischen Beispielen, Originalobjekten und Zeitzeugeninterviews veranschaulicht sie auf 550 Quadratmetern Ausstellungsfläche das Leben angesichts von Teilung und Grenze. Sie zeigt außerdem die wichtigsten Stationen im Vereinigungsprozess. Als Ausstellungsobjekte dienen beispielsweise originale und rekonstruierte Abfertigungskabinen, wie sie im Tränenpalast im Einsatz waren, sowie ein Modell im Maßstab 1:87, das die Aus- und Einreisebewegungen in der gesamten Anlage – bestehend aus Tränenpalast und Bahnhof Friedrichstraße – veranschaulicht. Die Ausstellung wurde von Bundeskanzlerin Angela Merkel am 14. September 2011 eröffnet. In den ersten beiden Wochen nach der Eröffnung wurde sie bereits von mehr als 30.000 Besuchern besucht.[8]
Ein Mietvertrag mit der Bonner Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland wurde im Januar 2010 über 20 Jahre abgeschlossen.[9][10]
Literatur
- Martin Kaule: Relikte der Staatssicherheit. Bauliche Hinterlassenschaften des MfS. Links, Berlin 2014, ISBN 978-3-86153-765-6.
- Hier flossen mehr Tränen als irgendwo sonst. In: Berliner Morgenpost, 14. September 2011.
- Philipp Springer: Bahnhof der Tränen. Die Grenzübergangsstelle Berlin-Friedrichstraße. Links, Berlin 2013, ISBN 978-3-86153-719-9.
- Dorothea Kraus, Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland: Tränenpalast. Ort der deutschen Teilung. Bonn, 2015, ISBN 978-3-937086-23-1.
Weblinks
- Tränenpalast. Alltag der deutschen Teilung. Tränenpalast-Website
- Offizielle Website des Tränenpalastes
- Trauer um den Tränenpalast. In: Stern, 2. August 2006
- Postkartenansicht von 1964
- Eintrag in der Berliner Landesdenkmalliste mit weiteren Informationen
- Die Ausstellung im Museumsmagazin 04/2015
- Zeitzeugenportal (Haus der Geschichte)
- Lothar Heinke: Ost-West-Übergang an der Friedrichstraße – Bahnhof der Tränen. In: Der Tagesspiegel, 27. August 2013
Einzelnachweise
- Vgl. Alfred Gottwaldt: Mit leichter Handschrift. Erinnerungen an Horst Lüderitz, Reichsbahn-Architekt des „Tränenpalasts“ am Bahnhof Berlin-Friedrichstraße. In: EisenbahnGeschichte 68 (2015), S. 19–23.
- Quelle: Denkmaldatenbank der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung Berlin
- Das Haus ist mein Schicksal – Vor zehn Jahren eröffnete Marcus Herold den Tränenpalast als Veranstaltungsort. In: Berliner Zeitung, 28. November 2001
- Geschichte des Tränenpalasts im Überblick, auf HdG-Website zum Tränenpalast.
- Vorhang fällt ins Ungewisse. Bei: Spiegel Online, 12. Juli 2006
- Opposition beantragt Untersuchung des Spreedreieckskandals. In: die tageszeitung, 17. April 2008
- Tränenpalast. Abgerufen am 17. Januar 2022 (deutsch).
- Ausstellung: Schon 30 000 Besucher bei Schau im Tränenpalast. In: Berliner Morgenpost, 4. Oktober 2011
- Haus der Geschichte wird im Berliner „Tränenpalast“ die deutsch-deutsche Teilung dokumentieren. In: General-Anzeiger, 15. November 2008
- Starkes Engagement in Berlin. In: General-Anzeiger, 26. Januar 2010