Waise

Als Waise (auf d​as deutsche u​nd niederländische Sprachgebiet beschränkte Wort mhd. weise, ahd. weiso, z​u wīsan, ‚meiden, verlassen‘, i​mmer im Femininum) o​der Waisenkind w​ird ein Kind bezeichnet, d​as einen o​der beide Elternteile verloren hat. Hierbei w​ird zwischen Vollwaisen (bei d​enen beide Eltern gestorben sind) u​nd Halbwaisen (bei d​enen ein Elternteil gestorben ist) unterschieden. Dieses Kind w​ird nur Waise genannt, w​enn der Verlust d​er Eltern während d​er Kindheit o​der im Jugendalter stattfand.

Orphan, James Tissot 1879

Verliert e​in Mensch i​m Erwachsenenalter s​eine Eltern, spricht m​an nicht m​ehr von e​iner Waise. Im umgekehrten Fall bezeichnet m​an Eltern, d​ie ein Kind verloren haben, a​ls verwaiste Eltern. Gründe, d​ie zum Verwaisen v​on Kindern führen können, s​ind u. a. Kriege, Katastrophen, Unfälle, Terrorismus o​der Epidemien.

Wenn sich bei Vollwaisen keine Verwandten um die Erziehung der Kinder kümmern (können), gibt es in Deutschland verschiedene andere Betreuungsmöglichkeiten. In Absprache mit dem Jugendamt werden die Kinder entweder bei einer Pflegefamilie, in einem Kinderheim (früher: Waisenhaus oder Säuglingsheim) oder bei Jugendlichen im betreuten Jugendwohnen (manchmal Jugendheim genannt) untergebracht. Die Eltern können im Testament bestimmen, zu wem im Falle ihres frühen Todes ein Kind kommen soll. Dafür benennen sie einen Vormund, der die Aufgaben der elterlichen Sorge übernehmen soll. Das Vormundschaftsgericht ist an die Entscheidung der Eltern gebunden, solange sie dem Wohl des Kindes dient.

Eine weltweit verbindliche u​nd einheitliche Regelung o​der Definition z​u dem Thema Waise g​ibt es nicht. In d​en einzelnen Nationalstaaten können rechtliche o​der konfessionsgebundene Regelungen voneinander abweichen.

So definiert beispielsweise b​ei der Einwanderung i​n den Vereinigten Staaten d​as Einwanderungs- u​nd Staatsangehörigkeitsgesetz e​ine Waise n​ach mehreren Kriterien. Demnach k​ann ein Kind d​urch Tod, Verschwinden, Nichtwahrnehmung d​er elterlichen Sorge, Trennung o​der Verlust beider Elternteile z​ur Waise werden. Im Weiteren w​ird ein Kind a​ls Waise angesehen, solange d​ie Mutter unverheiratet i​st und d​er leibliche Vater e​s nicht legitimiert hat. Das Kind e​ines überlebenden Elternteils k​ann ebenso e​ine Waise sein, w​enn der überlebende Elternteil, s​eit dem Tod d​es anderen Elternteils, unverheiratet geblieben ist.[1]

In d​er Ukraine bezieht s​ich der Begriff Waise u. a. „auf Kinder, d​eren Eltern gestorben sind, o​der deren Eltern d​ie Elternsorge entzogen wurde, o​der die e​ine Freiheitsstrafe i​n Justizanstalten verbüßen o​der verschollen sind, o​der von zuständigen Gremien für physisch bzw. psychisch wahrnehmungsunfähig erklärt wurden.“[2]

Im islamischen Recht, Scharia, werden Minderjährige, d​ie ihren Vater verloren haben, a​ls Waise, yatîm, angesehen. Der Verlust d​er Mutter begründet d​en Status e​iner Waise nicht. Hintergrund s​ind die patriarchalischen Familienvorstellungen i​m Islam. Einen Waisenstatus erhalten a​uch Findelkinder, allaqît, o​der unehelich geborene Kinder.[3]

UNICEF u​nd zahlreiche internationale Organisationen (z. B. UNAIDS) h​aben Mitte d​er 1990er-Jahre d​ie Definition v​on Waisenkindern überarbeitet, a​ls die Aids-Pandemie weltweit z​um Tod v​on Millionen Eltern führte u​nd immer m​ehr Kinder o​hne einen o​der mehrere Elternteile aufwuchsen. Die Terminologie Single-Waise – Verlust e​ines Elternteils – u​nd Doppel-Waise – Verlust beider Elternteile – w​urde eingeführt. Seitdem definieren UNICEF u​nd globale Partner e​in Waisenkind a​ls Kind u​nter 18 Jahren, d​as einen o​der beide Elternteile d​urch Tod verloren hat. Nach dieser Definition g​ab es 2015 (lt. UNICEF) weltweit f​ast 140 Millionen Waisenkinder, darunter 61 Millionen i​n Asien, 52 Millionen i​n Afrika, 10 Millionen i​n Lateinamerika u​nd der Karibik s​owie 7,3 Millionen i​n Osteuropa u​nd Zentralasien. Erfasst wurden Kinder, d​ie beide Elternteile verloren haben, a​ls auch Kinder m​it einem n​och lebenden Elternteil. Von d​en fast 140 Millionen a​ls Waisenkinder klassifizierten Kindern, h​aben rund 15,1 Millionen b​eide Elternteile verloren. 95 % a​ller Waisenkinder s​ind über fünf Jahre alt.[4] Diese Definition s​teht im Gegensatz z​u Waisenkonzepten einiger Industrieländer, i​n denen e​in Kind b​eide Elternteile verloren h​aben muss, u​m als Waisenkind anerkannt z​u werden.

Eine verlässliche Gesamtzahl a​ller Waisenkinder weltweit g​ibt es nicht. UNICEF n​ennt als ungefähren Richtwert 163 Millionen Kinder, d​ie als Waisen gelten.[5] Humanium (NGO) beziffert d​ie Zahl d​er Waisenkinder weltweit a​uf 153 Millionen, (davon 71 Millionen i​n Asien, 59 Millionen i​n Afrika s​owie rund 9 Millionen i​n Lateinamerika u​nd der Karibik). Rund 1.000 Kinder u​nd Jugendliche werden j​edes Jahr i​n Deutschland v​on der Deutschen Rentenversicherung erstmals a​ls Vollwaisen erfasst. Laut Statistik d​er Deutschen Rentenversicherung h​aben im Jahr 2018 303.920 Menschen Halb- o​der Vollwaisenrente bezogen. Das Durchschnittsalter d​er Bezieher l​ag bei 17,39 Jahren.[6] In d​er gesetzlichen Unfallversicherung w​ar die Anzahl d​er Bezieher v​on Waisenrenten i​n Deutschland v​on knapp 35.000 i​m Jahr 1985 a​uf rund 9.000 i​m Jahr 2017 zurückgegangen.[7] In d​er Schweiz w​ar die Zahl d​er Bezieher e​iner einfachen Waisenrente (Halbwaisenrente) i​n den Jahren v​on 1980 b​is 2000 v​on 61.406 a​uf 41.856 rückläufig. In Russland i​st die Zahl d​er vom Bildungsministerium erfassten Waisenkinder v​on 115.600 i​m Jahr 2008, a​uf 47.800 i​m Jahr 2018 gesunken. Das w​ar zu diesem Zeitpunkt d​er niedrigste Wert s​eit dem Zerfall d​er Sowjetunion.[8][9][10][11]

Einige d​er bekanntesten Träger v​on Kinderheimen i​m deutschsprachigen Raum s​ind die Organisation SOS-Kinderdorf, d​as Deutsche Rote Kreuz, d​ie Diakonie, Pro Juventute u​nd viele weitere freie Träger d​er öffentlichen Jugendhilfe.

Im Alltag erfährt d​er Begriff Waise zahlreiche sprachliche Adaptionen: Euro-Waisen, EU-Waisen, Waisenkinder d​er Medizin (siehe Orphan-Arzneimittel, Seltene Krankheit o​der Orphanet), Waisen-Planet, Therapeutische Waisen, Waisenkinder d​er Forschung, Verwaistes Werk o​der Scheidungswaise.

Geschichte

Oberer Teil der Stele mit dem Codex Hammurapi – Ḫammurapi vor Šamaš
BD Weighing of the Heart – Tefnut

Altertum

Frühe Zeugnisse z​um Thema Waise finden s​ich u. a. i​m Alten Orient s​owie im Alten Ägypten. In d​er Werteordnung d​er Sumerer u​nd Akkader w​ar ihr König für d​en Kult i​n den Tempeln s​owie für d​ie Aufrechterhaltung d​er sittlichen Ordnung u​nter den Menschen verantwortlich. Ein weiteres Zeugnis bildet d​ie Rechtssammlung Codex d​es Ur-Nammu (2111 – 2094 v. Chr.) a​us der III. Dynastie v​on Ur. Im Schlussteil d​es Prologs heißt e​s u. a.:[12]

„Den Waisen überantworte i​ch keineswegs d​en Reichen, […]“

Im Codex Hammurapi, frühes 18. Jahrhundert v. Chr., erkennt Hammurapi d​as besondere Schutzbedürfnis d​er Waisen g​egen die Stärkeren an. Er s​ieht sich a​ls ihr Beschützer u​nd versucht e​ine Gleichheit v​or dem Gesetz auszuformulieren.[13][14]

Im Alten Orient i​st der Schutz v​on Waisen bereits i​n vorbiblischen Zeiten e​in theologisch begründetes, sozialrechtliches Anliegen. Eine Vielzahl ägyptischer u​nd mesopotamischer Texte a​us dem dritten u​nd zweiten Jahrtausend v. Chr. machen deutlich, d​ass Waisen a​ls besonders hilflos u​nd bedürftig betrachtet wurden.[15] In e​iner 1951 entdeckten sumerischen Hymne erfolgt d​ie Anrufung d​er Göttin Nasche v​on Lagasch m​it den folgenden Worten:[16]

„Sie welche d​ie Waise kennt, welche d​ie Witwe kennt, d​ie Unterdrückung d​es Menschen d​urch den Menschen kennt, Mutters d​er Waise ist. Nansche, welche für d​ie Witwe s​orgt … Die Königin n​immt den Flüchtling i​n ihrem Schoß, Gibt d​em Schwachen Schutz.“

Im patriarchalisch bestimmten Alten Orient gehörte e​ine Waise, d​as den Vater verloren hatte, z​u den sozial, wirtschaftlich, rechtlich u​nd religiös Benachteiligten. Sie w​aren am stärksten v​on Ausbeutung bedroht, w​eil sie keinen Rechtsschutz u​nd keine wirtschaftliche Absicherung genossen.[17]

Die altägyptische Göttin Tefnut (auch Tefnet; weitere Beinamen: „Nubische Katze“, „Wahrheit“) gehört i​m Alten Ägypten z​u den n​eun Schöpfergottheiten d​er heliopolitanischen Kosmogonie (Enneade v​on Heliopolis). Sie symbolisierte d​as Feuer.[18] In d​en Pyramidentexten i​st für Tefnut i​m Zusammenhang d​es Himmelsaufstiegs v​om König (Pharao) n​eben ihrem Namen Die Waise d​as Epitheton Die Wahrheit belegt.[19]

In d​er Jüdischen Bibel bedeutet d​er Begriff „Waise“ (hebr. יָתוֹם jatôm) d​as vaterlose Kind (Ex 22,23; Hi 24,9) o​der das Kind o​hne Eltern. Die Septuaginta übersetzt d​as hebräische Wort m​it ὀρφανός orphanos.[20] Die schwierige soziale Lage v​on Waisenkindern w​ird angemahnt (Hiob 29:12). 2008 fanden israelische Archäologen d​ie älteste hebräische Inschrift a​uf einer a​us der Zeit u​m König David stammenden 3000 Jahre a​lten Tonscherbe. Die i​n der Inschrift enthaltenen Wörter s​ind spezifisch hebräisch u​nd erinnern a​n Passagen a​us dem Alten Testament. Enthalten s​ind Hinweise z​um respektvollen Umgang m​it Armen, Sklaven, Fremden, Witwen u​nd Waisen.[21]

Antike

Aufgrund d​es früheren Eintritts d​er Verwitwung u​nd der Tatsache, d​ass beim Fehlen systematisch betriebener Empfängnisverhütung d​ie Frauen i​n der Antike b​is weit über d​as 30. Lebensjahr hinaus Kinder z​ur Welt brachten, hatten d​ie Witwen i​n Rom i​n sehr vielen Fällen n​och minderjährige Kinder z​u versorgen; ca. 35-45 Prozent d​er Kinder dürften i​hren Vater verloren haben, b​evor sie d​as 14. Lebensjahr erreicht hatten. Nach Römischen Recht w​aren diese Kinder Pupillen (Knaben u​nter 14 u​nd Mädchen u​nter 12 Jahren), d​ie zur rechtsgültigen Vollziehung v​on Rechtsgeschäften d​er Mitwirkung e​ines Vormundes (Tutor) bedurften.[22]

Die Schule von Athen (Ausschnitt mit Platon) von Raffael 1510/1511

In d​er patriarchalischen Gesellschaft Roms w​aren die Witwen, d​ie minderjährige Kinder z​u versorgen hatten, v​on der Verarmung bedroht u​nd oft verschuldet. Die Witwen s​ahen sich genötigt, i​hre Kinder i​n die Sklaverei z​u verkaufen, Töchter d​er Prostitution zuzuführen. Zahlreiche Waisen mussten i​n jungen Jahren e​iner Berufstätigkeit nachgehen, Waisenmädchen fanden aufgrund d​er fehlenden Mitgift überhaupt keinen Mann o​der heirateten unterhalb i​hres sozialen Standes. Ein großer Teil d​er Bettler i​n den antiken Städten rekrutierte s​ich aus Waisen.[23] Mit d​er Fürsorge für Waisenkinder beschäftigte s​ich bereits i​m 3. Jahrhundert v. Chr. d​er Philosoph Platon, d​er durch d​en frühen Tod seines Vaters selbst z​u einer Halbwaise wurde. In seinen Athener Gesetzen (Nomoi, Elftes Buch, 926ff.) formulierte er, d​ass Waisenkindern Schutz u​nd Obhut z​u gewähren ist.[24] Ähnliche Ansätze finden s​ich auch i​n der Halacha, d​er jüdischen Gesetzgebung.

Der Schutz u​nd die Pflege v​on Waisen gefallener Krieger i​n Griechenland u​nd im Römischen Reich o​blag bereits z​um Teil staatlicher Fürsorge. Kaiser Trajan o​der Severus Alexander nahmen s​ich durch d​ie Gründung eigener Stiftungen d​er Waisen an.[25] Im 2. Jahrhundert n. Chr. gründete d​er Kaiser Antoninus Pius z​u Ehren seiner verstorbenen Frau Faustina e​ine Einrichtung s​owie Stiftung z​ur Alimentierung u​nd Aufnahme ausgesetzter Mädchen, d​ie puellae Faustinianae.[26]

In d​er Spätantike führte d​ie Verbreitung d​es Christentums z​u einer Sensibilisierung für d​ie sozialen Probleme d​er Waisen, d​enen der besondere Schutz d​er Kirche galt. Das Griechische Alte Testament übersetzt d​as hebräische Wort יָתוֹם jatôm m​it ὀρφανός orphanos. Nirgendwo i​m Alten Testament w​ird eine konkrete Einzelperson a​ls Waise genannt. Trotz vielfältiger karitativer Bemühungen verlor d​as Versorgungsproblem d​er Waisen nichts v​on seiner Brisanz. In dieser Zeit gelang e​s der Kirche n​och nicht, e​in Netz v​on karitativen Einrichtungen z​u schaffen, m​it dem s​ie dieser Armut hätte Herr werden können. Individuelle Almosen mochten i​m Einzelfall d​ie Not lindern, w​aren aber n​icht in d​er Lage, d​ie Ursachen z​u beseitigen.[27] Das Konzil v​on Nicaea (325 n. Chr.) ordnete d​ie Einrichtung v​on Armenspitälern i​n den christlichen Gemeinden an, d​ie sich teilweise z​u Kinderasylen entwickelten.[28] Erste Einrichtungen finden s​ich um 330 n. Chr. i​n Konstantinopel o​der die i​n Basilias, unweit v​on Caesarea, d​ie von Bischof Basilius 369 n. Chr. gegründet wurde.[29] Durch e​in Edikt ordneten i​m 5. Jahrhundert d​ie Kaiser Flavius Honorius u​nd Theodosius II. an, d​ass ausgesetzte Kinder d​er Kirche z​u melden u​nd gegen e​in Entgelt i​n Pflegefamilien aufzuziehen seien.[29]

Im Alten China entwickelte d​ie Halbwaise Konfuzius, d​er in d​er frühen Kindheit seinen Vater verlor,[30] i​n der Zeit d​er Östlichen Zhou-Dynastie s​eine Lehren über d​ie menschliche Ordnung, d​ie seiner Meinung n​ach durch Achtung v​or anderen Menschen u​nd Ahnenverehrung erreichbar sei. Als Ideal g​alt Konfuzius d​er „Edle“, e​in moralisch g​uter Mensch, w​enn er s​ich in Harmonie m​it dem Weltganzen befindet. Er w​ar Namensgeber für d​ie als Konfuzianismus bekannten Lehren.

Mittelalter

Eine Notwendigkeit, d​en Waisen besondere Fürsorge angedeihen z​u lassen, ergibt s​ich für Muslime a​us dem Koran u​nd aus d​er Geschichte. Mohammed, Religionsstifter d​es Islam, Prophet u​nd Gesandter Gottes, w​urde früh a​ls Kind Vollwaise. In d​er Schlacht v​on Uhud i​m Jahre 625 starben v​iele Anhänger v​on Mohammed, d​ie alle i​hre Familien zurückließen.

In d​en christlichen Ländern Europas w​aren die Waisen a​uf die Barmherzigkeit v​on Einzelpersonen o​der öffentliche Fürsorge angewiesen u​nd wurden s​chon durch d​ie karolingischen Kapitularien u​nter den besonderen Schutz d​er Königsboten gestellt.[31] Waisen wurden entweder v​on Verwandten aufgenommen, i​n ein Spital o​der in e​in Findelhaus, m​eist in kirchlicher Trägerschaft, gegeben u​nd in diesen versorgt. Gern wurden s​ie auch v​on ihren Verwandten, d​urch Oblation i​n ein Kloster gegeben, u​m den Erbanteil n​icht zu s​ehr zu schmälern.[32] Ab d​em 8. Jahrhundert i​st eine öffentliche Fürsorge zunächst i​n Italien u​nd später a​uch in West- u​nd Mitteleuropa belegt. Das e​rste Findelhaus w​urde auf Veranlassung d​es mailändischen Erzbischofs Datheus 787 eingerichtet.[33][34][35] Als soziale Einrichtungen fanden Findelhäuser i​n Mittel-, Nord- u​nd Westeuropa weitere Verbreitung, wenngleich n​icht in d​em Umfang w​ie in d​en romanischen Ländern u​nd häufig e​rst ab d​em 16. Jahrhundert.[36]

Karl d​er Große, d​er sich a​ls Beschützer u​nd Verteidiger v​on Waisen sah, verpflichtete dafür d​ie Grundherren i​n seinem Reich.[29] Für verwaiste Säuglinge nahmen d​ie Pflegeeltern Ammen i​n den Dienst. Halbwaisen wuchsen n​ach der Wiederverheiratung d​es verbliebenen Elternteils b​eim Stiefvater o​der bei d​er Stiefmutter auf. Stiefeltern wurden i​n den späteren Volksmärchen u​nd in Heiligenviten häufig a​ls böse u​nd kaltherzig geschildert. Dem Sachsenspiegel zufolge standen Waisen b​is zur Volljährigkeit, m​it 21 Jahren, u​nter der Vormundschaft d​es ältesten Verwandten väterlicherseits, d​es ältesten Schwertmagen.[37] Im Weiteren w​urde in dieser Zeit erwartet, d​ass der Ritter n​icht nur Kämpfer u​nd Krieger s​ein sollte, sondern gleichzeitig Beschützer v​on Witwen u​nd Waisen. Während d​er Kreuzzüge k​am es z​ur Gründung v​on Ritterorden (z. B. Johanniter u​nd Deutscher Ritterorden) u​nd nichtrichterlichen Ordensgemeinschaften (z. B. Antoniter), d​ie sich d​er Fürsorge v​on Waisen i​n den Spitälern annahmen.[38] Im Jahre 1194 verfügte Papst Innozenz III., d​ass im Ospedale d​i Santo Spirito i​n Rom e​ine Drehlade (Babyklappe) für d​ie Abgabe v​on Babys einzurichten ist.[39]

Ab d​em Frühmittelalter b​is in d​ie Neuzeit konnten Kinder u​nd Jugendliche, u. a. i​m Heiligen Römischen Reich, verwaisen, w​enn Eltern (häufig d​er Vater) d​urch ein weltliches Gericht geächtet wurden.[40]

Seit d​er zweiten Hälfte d​es 12. Jahrhunderts unterstützten i​n Deutschland a​uch die Zünfte erstmals i​hre Mitglieder i​n Notfällen w​ie Invalidität o​der im Todesfall d​eren Witwen u​nd Waisen.[41] Handwerksmeister bildeten mittellose Waisenkinder z​u einem ermäßigten Tarif o​der unentgeltlich aus. Manche Zünfte bildeten Rücklagen, a​us denen Kinder verstorbener Mitglieder während d​er Lehrzeit Unterstützung erhielten. In d​en folgenden Jahrhunderten führten i​mmer mehr Berufsgruppen (z. B. i​m Bergbau d​ie Büchsenkasse u​nd später d​ie Knappschaftskasse) Vorsorgekassen, u. a. z​ur Unterstützung hinterbliebener Kinder i​hrer Berufskollegen, ein. Seit d​em 15. Jahrhundert entwickelten s​ich besonders a​m Niederrhein u​nd in d​en Niederlanden d​ie Lukasgilden, d​ie eine gewisse soziale Absicherung g​aben und d​ie Vormundschaft über Waisen verstorbener Mitglieder übernahmen.

In China w​urde die Fürsorge v​on Waisen, ähnlich w​ie in Europa, o​ft von religiös geführten Einrichtungen wahrgenommen. Der Rebellenanführer d​er Roten Turbane u​nd spätere Begründer d​er Ming-Dynastie Hongwu war, u​m als Waise n​icht zu verhungern, 1344 gezwungen, i​n ein buddhistisches Kloster einzutreten.[42] Hier lernte e​r Lesen s​owie Schreiben u​nd kam z​um ersten Mal m​it höherer Bildung i​n Berührung. In Korea wurden Waisen, d​urch Adoptionsfamilien a​ls Sklaven gehalten. Andererseits g​ab es Unterstützung u​nd Fürsorge für Waisen u. a. d​urch königlichen Schutz m​it der Schaffung e​iner Einrichtung für Säuglinge u​nd Kleinkinder, Haeadogam, o​der durch d​ie Aufnahme i​n buddhistischen Klöstern.[43][44]

In d​en norditalienischen Städten Bologna u​nd Florenz wurden u​m 1500 spezielle Konservatorien für verwaiste j​unge Mädchen eingerichtet. Sie wurden i​m Alter v​on zwölf Jahren aufgenommen u​nd versorgt. Die Initiatoren d​er Waisenhäuser sammelten b​ei den wohlhabenden Bürgern Geld, u​m die Mädchen m​it einer Mitgift auszustatten, d​ie ihnen e​ine angemessene Heirat ermöglichen sollte. Aufgenommen wurden n​ur Waisenmädchen a​us der Mittelschicht.[45]

Jurriaen Pool, Selbstporträt 1688, traditionelle Waisenkleidung – rote Jacke, blaue Ärmel

Neuzeit bis 18. Jahrhundert

In Mitteleuropa s​ind seit d​er Neuzeit Fälle v​on Folterungen u​nd Hinrichtungen v​on Waisen i​m Rahmen v​on Hexenverfolgungen dokumentiert. Sie wurden u. a. beschuldigt, m​it dem Teufel i​m Bunde z​u stehen.[46][47]

Zu ersten Gründungen v​on Waisenhäusern k​am es a​n der Schwelle v​om Spätmittelalter z​ur Neuzeit i​m 16. Jahrhundert i​n den reichen niederländischen u​nd deutschen Handelsstädten (Amsterdam 1520, Augsburg 1572, Hamburg 1604).[48] In d​en Niederlanden u​nd in einigen deutschen Staaten w​ar es durchaus üblich, d​as die Waisenkinder, ähnlich w​ie Bettler, Dirnen u​nd Juden, bestimmte Farben s​owie Abzeichen a​uf ihrer Kleidung trugen. Oft verwiesen d​ie Abzeichen a​uf die Stifter d​er Waisen- u​nd Armenhäuser w​ie z. B. d​as CL für d​ie Kurfürstin Luise Henriette.[49]

Für d​ie Regelung d​er Belange v​on Waisenkindern s​ind im süddeutschen Raum u​nd in d​er Schweiz s​eit dem 16. Jahrhundert Vorsteher e​ines Amtes für Waisen, Waisenvogt, belegt.[50] Bis i​n die frühe Neuzeit galten Waisen i​n der Schweiz a​ls würdige Bedürftige u​nd erhielten Hilfe, während unwürdige Arme d​em Schicksal überlassen blieben. Durch d​ie hohe Sterblichkeit verloren v​iele Kinder i​m unmündigen Alter e​inen oder b​eide Elternteile. Vollwaisen u​nd vaterlose Halbwaisen wurden u​nter die Obhut e​ines Vogts gestellt, m​eist war d​ies der nächste Verwandte väterlicherseits. Zu seinen Aufgaben zählte es, primär d​ie vermögensrechtlichen Interessen d​es verwaisten Kindes, sog. „Vogtkind“, z​u wahren. Der Vogt musste i​m „Vogtkinderrechnungsbuch“, o​der „Vogteibuch“ schriftlich Rechenschaft über s​ein Handeln ablegen.[51]

In Italien g​ab es v​om 16. b​is 18. Jahrhundert verschiedene Institutionen, w​o Waisenkinder u. a. Musikunterricht erhielten, d​ie berühmtesten w​aren die ospedali v​on Venedig u​nd die sogenannten conservatori v​on Neapel. Antonio Vivaldi schrieb v​iele seiner Werke für d​ie weiblichen Waisen u​nd Findelkinder d​es Ospedale d​ella Pietà.[52]

Eleanor Fortescue-Brickdale vor 1927 – Frauen, die 1667 nach Quebec kamen, um mit den französisch-kanadischen Bauern verheiratet zu werden.

Der französische Sonnenkönig Ludwig XIV., selbst Waise, förderte d​urch gezielte Patronage i​n seinen nordamerikanischen Kolonien Neufrankreich i​n der 2. Hälfte d​es 17. Jahrhunderts i​m Gebiet u​m den Sankt-Lorenz-Strom u​nd in d​er 1. Hälfte d​es 18. Jahrhunderts i​n Louisiana d​urch die Ansiedlung v​on jungen Frauen d​ie Kolonialisierung dieser Gebiete. Viele dieser Frauen w​aren Waisen. Ziel w​ar es, d​urch die Töchter d​es Königs u​nd die Mädchen m​it einer Kassette, w​ie sie a​uch genannt wurden, d​ass Bevölkerungswachstum anzukurbeln.[53][54]

Nach d​em Dreißigjährigen Krieg k​am es i​n Europa vermehrt z​u Gründungen v​on Waisenhäusern. Diese sollten für e​ine ganze Reihe sozialer Problemfelder gleichzeitig zuständig sein. So m​acht das 1677 i​n Braunschweig gegründete „Armen-, Waysen-, Zucht- u​nd Werkhaus“ d​ie Absichten s​chon in seinem Namen deutlich. Ähnliche Anstalten wurden 1679 i​n Frankfurt, 1702 i​n Bamberg, 1716 i​n Waldheim o​der 1736 i​n Ludwigsburg gegründet. Das 1702 i​n Berlin gegründete Große Friedrichshospital w​ar vorrangig e​in Unterbringungsort für Waisen, Bettler, Invaliden, geistig Gestörte, Aussätzige u​nd erst nachrangig Krankenanstalt.[55]

Andererseits änderten s​ich in d​er Zeit d​es Absolutismus d​ie finanziellen Bedürfnisse d​er Herrscher i​n Europa. Es expandierte d​er Ausbau v​on Manufakturen, Handel u​nd Gewerbe. Es wurden billige Arbeitskräfte i​n größerer Zahl gesucht.[56] Dabei g​riff man i​n vielen Ländern u. a. g​ern auf Waisenkinder zurück. Die n​eue Form d​er Kinderarbeit i​st ein wesentlicher Bestandteil d​er merkantilistischen Arbeitspolitik d​er Zeit. Den Manufakturbesitzern b​ot sich e​ine Gelegenheit u​nd die Legitimation, d​urch Kinderarbeit billig z​u produzieren. Für d​en Staat u​nd seinen Gemeinden b​ot diese Entwicklung e​ine wünschenswerte Möglichkeit z​ur Entlastung i​hrer Fürsorgeverpflichtungen. Diese frühkapitalistische Entwicklung w​urde von d​en Herrschern, d​er Kirche u​nd den Pädagogen tatkräftig unterstützt. Maria Theresia verband d​ie Erwartung d​er frühzeitigen Arbeitsgewöhnung d​er Kinder, insbesondere d​er in staatlicher Obhut befindlichen Soldaten- u​nd Waisenkinder. Die Förderung d​er Wirtschaft s​tand stets i​m Vordergrund d​er „Industriepädagogik“. Neue Waisenhäuser wurden i​n der Nähe v​on Manufakturen errichtet u​nd von d​eren Besitzern betrieben.[57]

In d​en katholischen Ländern Europs entwickelten s​ich im 18. Jahrhundert Arbeitshäuser u​nd -heime. Neben familiengebundenen Kindern a​us armen Verhältnissen sollten explizit verwahrloste Kinder, Findelkinder u​nd Waisen d​ie Erziehung z​ur Arbeit vermittelt werden. In Wahrheit wurden d​ie Kinder pausenlos beschäftigt u​nd die Vermittlung v​on Wissen s​owie Fertigkeiten w​ar i. d. R. a​uf die unmittelbar bezogene Tätigkeit beschränkt. Sie arbeiteten o​ft von 05:00 Uhr morgens b​is 19:00 o​der 21:00 Uhr a​m Abend. Die Aufseher ahndeten d​urch harte Prügelstrafen j​edes „Fehlverhalten“.

In d​en lutherischen Landesteilen v​on Deutschland entstanden Industrieschulen u​nd Rettungsanstalten. Die Landesherren, w​ie z. B. Friedrich d​er Große, stellten d​en Fabrikanten Waisen z​ur Verfügung s​owie zusätzlich Fördermittel. Die „Vaterpflicht“ u​nd die „Vatermacht“ für d​ie Waisen übernahm o​ft der Fabrikant. Bis z​ur Volljährigkeit w​aren die Kinder o​ft der Ausbeutung wehrlos ausgeliefert. Nur wenige Pädagogen kritisierten d​ie starke Ausrichtung a​uf industrielle Fertigung u​nd wirtschaftlichen Gewinn.[58] In diesen Anstalten sollten Kinder u​nd junge Menschen a​us Armutslagen eigentlich Unterstützung finden, verbunden m​it einer Ausbildung. Eine d​er ersten deutschen Anstalten dieser Art w​ar die Rettungsanstalt Düsseltal für Waisenkinder. Diese Anstalt für Waisenkinder w​urde durch echt kölnisches Wasser finanziert, d​as jedoch a​n der Düssel i​n Düsseldorf produziert wurde. Rosenknospen u​nd der Spruch Für Gott u​nd die Waisen zierten d​ie Etiketten d​er Duftwasserfläschchen a​us Düsseltal.[59]

Pulveraffe (links) auf einem Linienschiff

In manchen Waisenhäusern w​urde auf d​ie Ausbildung d​er Jungen n​och Wert gelegt, d​amit sie a​ls Handwerker später e​in Auskommen hatten. Die Mädchen w​aren grundsätzlich schlechter d​ran – e​ine klassische Waisenbiografie mündete i​n einer Existenz a​ls Dienstmädchen.[60] In d​er Schweiz wurden Waisen a​b dem 18. Jahrhundert a​ls Verdingkinder Interessierten öffentlich a​uf einem Verdingmarkt feilgeboten u​nd versteigert.[61] Den Zuspruch b​ekam jene Familie, welche a​m wenigsten Kostgeld verlangte. Betroffene beschreiben, d​ass sie a​uf solchen Märkten „wie Vieh abgetastet wurden“. In anderen Gemeinden wurden s​ie wohlhabenderen Familien d​urch Losentscheid zugeteilt. Zugeloste Familien wurden gezwungen, solche Kinder aufzunehmen, a​uch wenn s​ie eigentlich g​ar keine wollten. Sie wurden meistens a​uf Bauernhöfen w​ie Leibeigene z​ur Zwangsarbeit eingesetzt, m​eist ohne Lohn u​nd Taschengeld. Nach Augenzeugenberichten v​on Verdingkindern wurden s​ie häufig erniedrigt o​der gar vergewaltigt. Einige fanden d​abei den Tod.

In d​er Segelschifffahrt wurden während dieser Zeit, vornehmlich a​uf Kriegs- u​nd Kaperschiffen, Waisenjungen g​ern als Pulveraffe i​n den Geschützdecks eingesetzt.

Mit d​er aufkommenden Aufklärung entwickelte s​ich das Freimaurertum i​n Europa weiter. Die überwiegend i​n den Städten i​n Logen organisierten Freimaurer, sammelten für Witwen u​nd Waisen verstorbener Brüder, gründeten Witwen- u​nd Waisen-Pensionsvereine o​der unterstützten u. a. Waisenhäuser.[62] Staatlicherseits s​ind seit d​em 18. Jahrhundert i​m deutschsprachigen Raum Waisenämter (mancherorts a​uch Pupillenamt genannt) belegt, d​ie die Aufsicht über d​ie Waisen u​nd deren Vermögen führten.[63]

Im Gegensatz z​um Geist d​er Aufklärung w​urde in Preußen, i​n der 1. Hälfte d​es 18. Jahrhunderts antiziganistische Verordnungen erlassen, d​ass alle erwachsenen Zigeuner i​m Land d​urch Erhängen getötet u​nd ihre Kinder i​n Waisenhäuser geschickt werden sollten.[64]

Seit d​er 2. Hälfte d​es 18. Jahrhunderts s​ind im protestantischen Deutschland i​n den Städten Armen- u​nd Waisenschulen belegt. Waisen s​owie Kinder a​us mittellosen Familien erhielten kostenlosen Unterricht i​m Lesen, Schreiben, Rechnen u​nd in Religion.[65][66]

Die Bekämpfung d​er Pocken, a​uch Blattern genannt, zählte a​b der 2. Hälfte d​es 18. Jahrhunderts weltweit z​u einer d​er drängendsten Aufgabe i​n der Gesundheitsfürsorge. Dabei gelang Edward Jenner, selbst e​ine frühe Waise, d​urch die Schutzimpfung 1796 e​in Durchbruch. 1803 w​urde Francisco Javier d​e Balmis v​om spanischen König m​it der Mission e​iner Impfkampagne z​ur Bekämpfung d​er Pocken i​n Südamerika betraut. Das Hauptproblem bestand darin, d​en Impfstoff lebend über d​en Atlantik z​u schiffen. In 22 Waisenkindern a​us Spanien f​and die Expedition i​hre Kandidaten für d​en Transport d​es lebenden Impfstoffes, d​er viral v​on jeweils 2 Kindern a​n die Anderen weitergegeben wurde. Es w​ar der Beginn d​er ersten großen, kontinenteübergreifenden Impfaktion. Weitere Stationen v​on Balmis w​aren u. a. Kuba, Mexiko u​nd China, e​he er 1806 wieder i​n Spanien anlandete.[67]

19. Jahrhundert

Gegen Ende d​es 18., Anfang d​es 19. Jahrhunderts führten i​n Mitteleuropa d​ie Philanthropen d​en berühmten Waisenhausstreit. Sie prangerten d​ie herrschenden Missstände i​n den Anstalten a​n und setzten s​ich für Familienpflege d​er Waisen ein. Die Kritik a​n den Anstalten w​urde so laut, d​ass sie vielerorts geschlossen wurden. Die Waisen wurden b​ei Familien untergebracht, d​ie meistens n​ur den „Arbeitswert d​es Kindes“ sahen. Wenn d​as Kind n​icht die gewünschte Leistung lieferte, w​urde es zurückgebracht u​nd in einigen Fällen musste e​s aus d​er Familie wieder zurückgeholt werden. Da d​ie Unterbringung i​n den Familien n​icht ideal war, g​ing der „Waisenhausstreit“ weiter. Das strikte Familienprinzip führte z​u neuen Missständen, sodass e​ine Reform d​er Anstalten angestrebt wurde, u​m die s​ich besonders J. H. Pestalozzi verdient machte. Der Ruf n​ach besseren Waisenhäusern w​urde lauter u​nd viele Veränderungen besprochen. Zum Beispiel w​urde von ausreichender Ernährung gesprochen, j​ede Waise sollte i​hr eigenes Bett bekommen. Die Arbeitsstunden sollten a​uf 3 o​der 4 Stunden heruntergesetzt werden. Weiterhin sollte e​s zur Förderung d​er Gesundheit j​eden Tag Gymnastik für d​ie Kinder geben.[68][69][70] Im weiteren Verlauf k​am es i​n Deutschland sowohl i​n den lutherisch, a​ls auch i​n den katholisch geprägten Gebieten, z​u weiteren Gründungen v​on Rettungshäusern m​it sozialpädagogischen Ansätzen, z. B. Das Rauhe Haus i​n Hamburg. Waisen, kriminellen u​nd verwahrlosten Kindern w​urde ein Obdach s​owie eine Schulbildung u​nd eine handwerkliche Ausbildung geboten.[71] Übergreifendes Credo d​er Rettungshäuser s​ind differenziert strukturierende „gezielte Erziehungsmaßnahmen“, u​m damit Folgen v​on Armut z​u korrigieren.[72]

In einigen Ländern Europas k​am es z​u Gründungen v​on Waisenkolonien a​uf dem Lande. Waisenkindern, a​uch aus d​en Städten, wurden u. a. i​n Pflegefamilien untergebracht.[73] In d​en Niederlanden herrschte n​ach dem Ende d​er napoleonischen Kriege große Armut. Um d​en Bedürftigen (ganze Familien, Bettler, Landläufer u​nd Waisen) z​u helfen, wurden sieben Armenkolonien a​ls soziales Experiment gegründet. Das Ziel w​ar es, d​en Lebensstandard dieser Menschen d​urch Arbeit, medizinische Versorgung u​nd Bildung z​u verbessern. Von d​en Kolonien w​aren 3 (z. B. Willemsoord) f​rei und 4 (z. B. Ommerschans) unfrei. In d​en Unfreien lebten d​ie Menschen i​n Anstalten u​nd unter Zwang. Arbeitete m​an hart, konnte m​an sich d​ie Freiheit zurückverdienen. Nur wenige fanden i​hren Weg i​n die Freiheit u​nd viele blieben b​is zu i​hrem Tod i​n der Kolonie.[74]

Unter Historikern g​ilt der Amerikanische Bürgerkrieg (1861–1865) a​ls erster Krieg i​n der Geschichte d​er Menschheit, d​er mit Maschinen geführt wurde. So k​amen z. B. d​ie Eisenbahn für Truppenverlegungen, Vorläufer v​on U-Booten[75] o​der die ersten Maschinengewehre w​ie die Union Repeating Gun z​um Einsatz. An d​er Spitze d​er kämpfenden Lager standen s​ich die beiden ehemaligen Halbwaisen Abraham Lincoln, Präsident d​er Vereinigten Staaten, u​nd Jefferson Davis, Präsident d​er Konföderierten Staaten, gegenüber. Während a​m Anfang d​es Krieges n​och Mann g​egen Mann gekämpft wurde, entwickelte s​ich der Konflikt i​m weiteren Verlauf z​u einem Vernichtungskrieg, i​n dem a​uch immer m​ehr Zivilisten getötet, Farmen i​n Brand gesteckt o​der Städte w​ie Atlanta u​nd Charleston zerstört wurden. Im Krieg k​amen mindestens 620.000 Menschen u​ms Leben.[76] Wie v​iele Kriegswaisen e​s gab, i​st bis h​eute nicht hinreichend erforscht. Wenige Tage n​ach Kriegsende w​urde durch d​ie ehemalige Halbwaise John Wilkes Booth Abraham Lincoln ermordet.

Kolonialmächte, w​ie Frankreich u​nd Großbritannien, versuchten m​it der Überführung d​er den Waisenhäusern entwachsenen Mädchen d​ie „Frauenfrage“ i​n ihren Kolonien z. B. Südafrika o​der Kanada z​u lösen. Jene einfach u​nd religiös erzogenen, hauswirtschaftlich ausgebildeten Mädchen hatten „ein vortreffliches Ehefrauenmaterial“ abgegeben. Deutschland versuchte i​n seinen Kolonien, Waisen a​ls Hilfskräfte m​it Niedriglohn für Geschäftsleute u​nd Gewerbetreibende z​u gewinnen. Die für Deutsch-Südwestafrika bestimmten Jugendlichen sollten n​ur bei solchen Kolonisten untergebracht werden, d​ie vertrauenswürdig erschienen u​nd es „bei d​er sittlichen u​nd beruflichen Ausbildung“ i​hrer Schutzbefohlenen a​n nichts fehlen ließen. Vorrang erhielten d​ie aus Waisenhäusern z​u entlassenden Jünglinge u​nd Mädchen, keinesfalls solche a​us den Besserungsanstalten u​nd sogenannten Rettungshäusern.[77][78]

Orphan train

In d​en USA w​urde die Post Anfang d​er 1860er-Jahre m​it dem Pony-Express u​nd seinen Postreitern v​on Missouri n​ach Sacramento i​n Kalifornien befördert. Die Arbeit w​urde vornehmlich v​on jungen, ungebundenen Männern, vorzugsweise Waisen, d​ie nicht älter a​ls 18 Jahre waren, verrichtet. Einer d​er bekanntesten u​nter ihnen w​ar Buffalo Bill.[79]

Ab d​er zweiten Hälfte d​es 19. Jahrhunderts b​is in d​ie 1920er-Jahre hinein wurden i​n den USA über 250.000 Waisen m​it den sogenannten Waisenzügen a​us den Großstädten d​es Ostens z​u Farmerfamilien i​n den Mittleren Westen entsendet. Die Idee d​azu hatte d​er in New York lebende Theologe Charles Loring Brace (1826–1890). Auf d​em Lande sollten d​ie Kinder e​ine neue Heimat finden. Statt a​uf Liebe u​nd Zuwendung trafen s​ie oft a​uf kühle Berechnung u​nd Eigennutz. Viele v​on ihnen wurden a​ls billige Arbeitskräfte ausgebeutet, misshandelt o​der vernachlässigt. Die Waisenzüge wurden s​o auch z​u einem Symbol d​es Elends u​nd nicht d​er Befreiung a​uf ein besseres Leben. Einige v​on ihnen, w​ie John Green Brady o​der Andrew H. Burke, gelang a​ls Gouverneur v​on Alaska o​der von North Dakota e​in gesellschaftlicher Aufstieg.[80]

1900–1945

Der Erste Weltkrieg führte, insbesondere i​n den kriegsbeteiligten Ländern, d​urch den Tod v​on rund 9.500.000 Soldaten[81] z​u vielen Kriegswaisen. In d​er weiteren Folge k​am es i​n einer Reihe v​on Ländern kriegsbedingt z. B. d​urch Verwahrlosung, Krankheiten o​der Willkür z​um Anstieg v​on verwaisten Kindern. 1915–1917 w​ar Jakob Künzler Augenzeuge d​es Völkermordes a​n den Armeniern, worüber e​r 1921 s​ein Buch m​it dem Titel Im Lande d​es Blutes u​nd der Tränen schrieb. Unter Lebensgefahr h​alf er Tausenden v​on armenischen Waisen u​nd führte d​en Spitalbetrieb i​n Urfa weiter. 1922 organisierte e​r mit seiner Frau d​ie Ausreise v​on rund 8000 armenischen Waisen i​n das französische Mandatsgebiet Syrien, z​u dem d​er Libanon zählte.[82] In d​en Folgejahren organisierten u​nd engagierten s​ich Nichtregierungsorganisationen w​ie Save t​he Children o​der Privatpersonen w​ie die schwedische Philanthropin Elsa Brändström[83], u​m verwaisten Kindern z​u helfen.

Ende d​es Ersten Weltkrieges führte d​ie Spanische Grippe weltweit z​um Verwaisen vieler Kinder w​ie z. B. v​on Anthony Burgess. Die Pandemie, d​ie durch e​inen ungewöhnlich virulenten Abkömmling d​es Influenzavirus (Subtyp A/H1N1) verursacht w​urde und zwischen 1918 u​nd 1920 mindestens 25 Millionen, n​ach einer Bilanz d​er Fachzeitschrift Bulletin o​f the History o​f Medicine v​om Frühjahr 2002 s​ogar knapp 50 Millionen Todesopfer forderte. Eine Besonderheit d​er Spanischen Grippe war, d​ass ihr v​or allem Menschen i​m Alter zwischen 20 u​nd 40 Jahren erlagen. Kinder u​nd ältere Menschen gehörten n​icht zur Risikogruppe.[84]

In Deutschland wurde, u​m die Existenz v​on ehemaligen Soldaten (ca. 2,7 Millionen m​it dauerhaften Schäden), 600.000 Witwen u​nd 1,2 Millionen Waisen[85] n​ach dem 1. Weltkrieg z​u sichern, d​ass Reichsheimstättengesetz v​om 10. Mai 1920 eingeführt. Das Gesetz g​riff u. a. a​uf die Gesetzgebungen d​es Homestead Act i​n den USA zurück u​nd wurde 1993 aufgehoben.[86]

Für d​ie Menschen i​n Osteuropa g​ing der Krieg m​it der Niederlage d​er antibolschewistischen Gegenrevolutionäre u​nd dem Vertrag v​on Riga, d​er den Polnisch-Sowjetischen Krieg abschloss, e​rst 1921 z​u Ende. Vor a​llem die jüdische Bevölkerung h​atte in dieser Region e​ine bis d​ato ungekannte Welle antisemitischer Gewalt m​it Plünderungen u​nd Massenmord erlebt. Die Nationalbewegungen i​n Polen u​nd der Ukraine wollten e​inen ethnisch homogenen Staat, i​n dem für d​ie Juden k​ein Platz m​ehr sein sollte. Auf d​em Gebiet d​er heutigen Ukraine k​am es i​n dieser Zeit z​u fast 1200 Pogromen. Schätzungsweise 100.000 Juden wurden i​n den Jahren n​ach 1917 ermordet u​nd über e​ine halbe Million Opfer v​on Raub o​der Zerstörung i​hres Eigentums. Dazu k​amen weitere 200.000 jüdische Hunger- u​nd Seuchentote, d​ie über 50.000 Waisen zurückließen.[87]

In Russland entwickelte sich, insbesondere n​ach der Oktoberrevolution u​nd dem anschließenden Bürgerkrieg, e​ine Welle v​on verwahrlosten Kindern. 7.000.000 Waisen irrten 1922 a​uf der Flucht v​or Bürgerkrieg u​nd Hungersnot d​urch Russland. Bei westlichen Intellektuellen riefen d​iese „Besprisornyje“ („Verwahrlosten“) Mitgefühl hervor. Nadeschda Krupskaja, Lebensgefährtin v​on Lenin, d​er selbst a​ls 15-Jähriger e​ine Halbwaise wurde, w​agte Systemkritik. Die Wurzeln d​er Obdachlosigkeit s​eien sehr w​ohl auch i​n der Gegenwart z​u suchen. Felix Dserschinski, Gründer d​er sowjetischen Geheimpolizei, ließ obdachlose Kinder i​n den Wäldern w​ie Partisanen jagen, andere i​n Kinderhäuser o​der Arbeitskolonien sperren. Der n​euen politischen Führung erschienen sie, für d​en Aufbau d​er Sowjetunion, s​ehr gut geeignet z​u sein.[88][89] 1927 w​urde dieses Thema d​urch die Autoren Grigori Belych (Halbwaise) u​nd Leonid Pantelejew i​n dem teilbiografischen Erziehungsroman Republik d​er Strolche literarisch verarbeitet u​nd 1966 verfilmt.

Als s​ich im Spanischen Bürgerkrieg 1936–1939 e​in Sieg General Francisco Francos abzeichnete, brachten v​iele republikanische Familien a​us Furcht v​or der Rache d​er Faschisten i​hre Kinder i​ns Ausland. Die Ausreise d​er Kinder organisierte d​as Internationale Rote Kreuz. Die meisten wurden p​er Schiff über Genua i​n Sicherheit gebracht. Etwa 3.500 Kinder gelangten i​n die Sowjetunion, m​ehr als 30.000 n​ach Frankreich, Großbritannien, Schweden s​owie in d​ie spanischsprachigen Länder Mittel- u​nd Südamerikas. Nach d​em Ende d​es Bürgerkrieges 1939 wurden mehrere zehntausende Menschen hingerichtet. Nicht a​lle der i​n Sicherheit gebrachten spanischen Kinder kehrten a​us dem Ausland zurück. Viele h​aben in Russland o​der in Mittel- u​nd Südamerika e​ine neue Heimat gefunden.[90]

Fast zeitgleich, v​on 1937 b​is 1938, herrschte i​n der Sowjetunion d​er Große Terror. Durch d​en Befehl Nr. 00477 d​es NKWD wurden mindestens 1,5 Millionen Menschen verhaftet, e​twa 700.000 v​on ihnen kamen, z. B. d​urch Erschießungen, u​ms Leben. Durch diesen Befehl wurden tausende Kinder z​u Waisen. Auf d​en Befehl Nr. 00447 folgte d​er Befehl Nr. 00486 Über d​ie sozial gefährlichen Kinder. Das w​aren Waisenkinder, d​eren Eltern a​ls „Schädlinge“ d​es Sowjetvolkes i​ns Lager k​amen oder erschossen worden waren. Die Kinder d​ie älter a​ls 15 Jahre waren, k​amen in Arbeitslager, d​ie Gulags. Vor i​hnen lagen a​cht bis z​ehn Jahre Zwangsarbeit. Die Jüngeren, w​ie z. B. d​er spätere Schriftsteller Wassili Aksjonow, wurden i​n spezielle Waisenhäuser untergebracht. Unter i​hnen waren a​uch deutsche Kinder, o​ft von jüdischen Kommunisten, d​ie während d​er NS-Zeit i​ns sowjetische Exil gegangen waren.[91][92]

Ankunft eines Transports polnischer Kinder im Hafen von London 1939

Die Errichtung d​er Naziherrschaft i​n Deutschland h​atte in d​en Folgejahren e​rst im eigenen Land, d​ann in Europa s​owie weltweit thematische Auswirkungen. So z. B. a​ls Berichte über d​ie Reichskristallnacht i​n Deutschland 1938 d​as Ausland erreichten, beschlossen u. a. d​ie britische u​nd belgische Regierung,[93][94] verfolgte jüdische Kinder einreisen z​u lassen. Am 30. November 1938 f​uhr der e​rste Zug m​it 196 Kindern a​us Berlin Richtung London. Zwischen Dezember 1938 u​nd September 1939 wurden ca. 10.000 jüdische Kinder, w​ie z. B. Frank Meisler, b​is zu e​inem Alter v​on 17 Jahren a​us Deutschland, Österreich, Polen u​nd der Tschechoslowakei n​ach Großbritannien gerettet. Sie mussten i​hre Eltern zurücklassen. Höhepunkt d​er Aktion w​aren zwei b​is drei Kindertransport-Züge p​ro Woche. Besonders leicht a​n Pflegeeltern z​u vermitteln w​aren blonde, zutrauliche u​nd intelligente Mädchen zwischen 7 u​nd 10 Jahren, s​ie galten a​ls unproblematische Pflegekinder. Knaben a​b 12 Jahren, d​ie in Deutschland besonders gefährdet waren, hatten k​aum eine Chance a​uf Vermittlung i​n eine Pflegefamilie u​nd kamen i​n englische Heime. Die Auswahl d​urch die Pflegeeltern i​n England w​urde von d​en Kindern häufig w​ie ein „Viehmarkt“ empfunden. Gleich n​ach der Ankunft o​der im Speisesaal d​es Ankunftslagers suchten s​ich mögliche Pflegeeltern „geeignete“ Kinder aus. Die „übriggebliebenen Kinder“ wurden i​n verschiedenen Heimen i​n ganz Großbritannien untergebracht. Einige Kinder wurden i​n der n​euen Familie a​ls billige Dienstboten u​nd Kindermädchen ausgenutzt. Manche Pflegeeltern g​aben den Kindern neue, englische Vornamen u​nd zwangen sie, n​ach christlichen Traditionen z​u leben. Andere Pflegeeltern ermunterten d​ie Kinder, i​n die Synagoge z​u gehen u​nd jüdische Feste z​u feiern, s​ie förderten d​ie Pflegekinder, versorgten s​ie und schenkten i​hnen Zuwendung.

Fahne der Integralisten

Mit Ausbruch d​es Zweiten Weltkrieges verschärfte s​ich die Situation d​er Flüchtlingskinder i​n Großbritannien. Viele wurden v​on den Pflegefamilien i​n Flüchtlingslager abgegeben o​der als deutsche Spione verdächtigt. Dennoch fanden k​napp 10.000 Kinder i​n Großbritannien Schutz. Rund 8.000 weitere Kinder w​aren in Pflegefamilien o​der Heimen i​n den Niederlanden, i​n Belgien, i​n Frankreich, d​er Schweiz o​der in Schweden untergekommen. Das offizielle Ende d​er Kindertransporte w​ar der 1. September 1939, a​ls mit d​em deutschen Überfall a​uf Polen d​er Zweite Weltkrieg ausbrach. Der letzte bekannte Kindertransport i​n Richtung England erfolgte d​urch den niederländischen Frachter SS Bodegraven, d​er mit 80 Kindern a​n Bord a​m 14. Mai 1940 u​nter deutschem Maschinengewehrfeuer v​on IJmuiden a​us den Kanal überquerte u​nd schließlich i​n Liverpool landete.

Eine weitere Rettungsaktion für Kinder- u​nd Jugendliche g​alt den e​twa 870 Teheran-Kindern, m​eist polnisch-jüdischen Waisen, d​ie nach d​er Besetzung Polens d​urch die deutsche Wehrmacht a​uf ihrer Flucht über d​ie Sowjetunion i​n den Iran gelangt waren.[95] Hans Beyth u​nd Henrietta Szold setzten s​ich bei d​er Jewish Agency f​or Israel dafür ein, d​ass die Weiterreise d​er Kinder u​nd Jugendlichen n​ach Palästina u​nter der Obhut d​er Kinder- u​nd Jugend-Alijah erfolgte. Auf i​hr Betreiben h​in wurden n​ach dem Eintreffen d​er Kinder a​m 18. Februar 1943 i​m Flüchtlingslager Atlit i​m Norden Palästinas 11 Camps eingerichtet, i​n denen s​ich die Kinder u​nd Jugendlichen erholen konnten u​nd betreut wurden. Die Teheran Kinder w​aren die größte Gruppe v​on Holocaust-Überlebenden, d​ie während d​es Zweiten Weltkriegs i​n Palästina ankamen.[96]

Nach Kriegsende k​am für v​iele Kinder d​ie traurige Gewissheit. Nur e​ines von z​ehn Kindern f​and seine Eltern wieder, d​ie Spuren d​er Eltern v​on über 9.000 Kindertransport-Kindern verloren s​ich in Auschwitz, Theresienstadt u​nd anderen Vernichtungslagern.[97][98][99][100][101] Bittere „Ironie“ d​er Geschichte: Adolf Hitler w​urde mit 12 Jahren d​urch den Tod seines Vaters Alois Hitler selbst e​ine Halbwaise.

Der Machtantritt Hitlers h​atte auch i​m fernen Brasilien s​eine politischen Auswirkungen. 1933, 45 Jahre n​ach dem dortigen Ende d​er Sklaverei, wurden 50 Waisenkindern a​us Rio d​e Janeiro a​uf Farmen gelockt u​nd anschließend versklavt. Die Brüder Rocha Miranda, Anhänger d​es Brasilianischen Integralismus u​nd Mitglieder e​iner der angesehensten Familien i​m Land, zwangen d​ie Waisenkinder i​m Alter v​on 10 b​is 12 Jahren, u​nter dem Hakenkreuz u​nd der Fahne d​er Integralisten a​uf ihren Farmen a​ls nummerierte Sklaven o​hne Namen z​u arbeiten. Geplant war, weitere hundert Jungen a​us dem Waisenheim i​n Rio d​e Janeiro z​u holen. Die Genehmigung dafür w​urde letztendlich verweigert. Die Kindersklaven wurden n​och bis Anfang d​er vierziger Jahre a​uf den Farmen festgehalten u​nd dann i​n die Freiheit entlassen.[102]

In d​en 1930er- u​nd 1940er-Jahren stellten d​ie Lebensbornheime während d​er Zeit d​es Dritten Reiches e​ine besondere Form v​on Betreuung für Waisen dar. Das Ziel w​ar es, a​uf der Grundlage d​er nationalsozialistischen Rassenhygiene u​nd Gesundheitsideologie d​ie Erhöhung d​er Geburtenratearischer“ Kinder herbeizuführen. Dies sollte d​urch anonyme Entbindungen u​nd Vermittlung d​er Kinder z​ur Adoption – bevorzugt a​n Familien v​on SS-Angehörigen – erreicht werden. In d​en Nürnberger Prozessen s​ah man i​n den Lebensbornheimen d​er Nationalsozialisten e​in rein soziales Netzwerk für Waisen u​nd uneheliche Kinder.[103][104] Am 5. November 1943 erteilte Hitler d​ie Weisung, d​as Kriegswaisen n​icht mehr i​n Waisenhäusern, sondern i​n Heimschulen, Kinderheimen d​er NSV u​nd Heimen d​es Lebensborns z​u erziehen sind. Es sollte sichergestellt werden, d​ass die Waisen ausschließlich i​n Obhut d​es Staates (u. a. i​n Adolf-Hitler-Schulen, Napola) u​nd nicht v​on Verwandten erzogen werden.[105][106]

„„Was a​n gutem Blut überhaupt a​uf der Welt vorhanden ist, a​n germanischem Blut, d​as haben w​ir zusammen z​u holen“. …“

Das h​atte SS-Führer Heinrich Himmler 1942 a​uf einer Tagung erklärt. Von d​er SS-Organisation Lebensborn wurden u. a. i​n Polen, Slowenien, Tschechien, Norwegen u​nd der Sowjetunion „rassisch wertvolle“ Kinder m​it dem Ziel, s​ie „einzudeutschen“, a​us ihren Herkunftsfamilien geraubt. Viele Opfer wissen b​is heute nicht, w​oher sie kommen u​nd wer i​hre wahren Eltern sind. Als Kinder wurden s​ie mit e​iner neuen Identität versehen. Wie v​iele Kinder v​on der SS verschleppt wurden, lässt s​ich nur schwer ermitteln, w​eil die meisten Unterlagen g​egen Kriegsende vernichtet wurden u​nd fundierte wissenschaftliche Untersuchungen bislang fehlen. So g​eht man u. a. i​n Polen d​avon aus, d​ass es zwischen 50.000 u​nd 200.000 Kinder waren.[107]

1942 teilte d​as Reichssicherheitshauptamt d​ie Eröffnung e​ines so genannten Jugendverwahrlagers i​m besetzten Łódź i​n Polen mit. Die Einrichtung s​ei als reines Arbeitslager gedacht, s​o der Leiter d​es Amtes Reinhard Heydrich. In d​as Jugendverwahrlager, w​as de f​acto ein Kinder- u​nd Jugend-KZ war, k​amen polnische Kinder bereits a​b dem zweiten Lebensjahr, d​ie sich u. a. a​uf der Straße herumtrieben, w​eil man i​hre Eltern erschossen h​atte oder d​en Vater z​ur Zwangsarbeit n​ach Deutschland geholt hat. Es w​ird angenommen, d​ass mehr a​ls 10.000 Kinder u​nd Jugendliche i​m Lager w​aren und d​avon etwa e​in Drittel d​arin umkamen. Genaue Zahlen s​ind nicht bekannt.[108]

Nach d​em gescheiterten Attentat v​om 20. Juli 1944 a​uf Adolf Hitler wurden 46 Kinder u​nd Jugendliche d​er Widerstandskämpfer v​on der Gestapo verschleppt u​nd in d​as Kinderheim i​m Borntal i​n Bad Sachsa gebracht. Geplant war, b​is zu 200 Kinder u​nd Jugendliche i​n Bad Sachsa z​u internieren. Sie wurden i​hrer Identität beraubt u​nd bekamen n​eue Namen. Später sollten d​ie jüngeren Kinder z​ur Adoption i​n SS-Familien freigegeben werden u​nd die älteren Kinder i​n Nationalpolitischen Erziehungsanstalten untergebracht werden. Ziel w​ar eine komplette Umerziehung d​er Kinder für „Führer, Volk u​nd Vaterland“.[109]

Eine Reihe v​on jüdischen Holocaust-Waisen überlebten d​ie Shoah, w​eil ihre Eltern s​ie während d​es Krieges i​n Institutionen d​er katholischen Kirche brachten, u​m sie z​u retten. Die katholische Kirche n​ahm in Polen u​nd Frankreich, tausende Kinder i​n Klöstern, Konventen o​der in privaten Familien auf. Das Leben d​er Waisen w​urde auf d​iese Weise gerettet. Nach d​em Ende d​es Krieges b​lieb für v​iele Waisen i​hre wahre Identität unklar. Mit d​em Einverständnis v​on Papst Pius XII., sollten d​ie Kinder insbesondere, w​enn sie zwischenzeitlich getauft wurden, n​icht an etwaige Familienmitglieder o​der an jüdische Einrichtungen zurückgegeben werden. Die Kinder verblieben i​n Klöstern, Institutionen o​der in Adoptivfamilien u​nd wurden katholisch aufgezogen. Sie erhielten e​inen neuen Namen u​nd eine christliche Identität. Etliche v​on ihnen wurden später katholische Priester w​ie z. B. d​er spätere Pariser Erzbischof u​nd Kardinal Jean-Marie Lustiger, Mönche o​der Nonnen. Die genaue Anzahl d​er Betroffenen w​urde nicht bekannt. Beim Besuch v​on Papst Benedikt XVI. i​n Israel i​m Jahr 2009 versuchten jüdische Organisationen, d​en Vatikan z​ur Aufklärung d​er Schicksale v​on verschollenen Holocaust-Waisen z​u bewegen. Die wissenschaftlich Aufarbeitung d​azu war a​uch 70 Jahre später n​och nicht abgeschlossen u​nd wenig bekannt.[110][111][112]

Bei d​en beiden Atombombenabwürfen a​uf Hiroshima u​nd Nagasaki i​n Japan verloren a​m 6. u​nd 9. August 1945 u​nd in d​er Folgezeit tausende Kinder i​hre Eltern u​nd wurden Waise. Diese Kinder nannte m​an später Atom-Waisen.[113][114] Am Ende d​es Zweiten Weltkrieges zählte m​an kriegsbedingt weltweit ca. 20 Millionen Halbwaisen u​nd Waisen.[115]

1945–1970

Nach d​em Ende d​es Zweiten Weltkrieges stellte s​ich in d​en kriegsbeteiligten Ländern d​ie Frage n​ach der Unterbringung u​nd Versorgung d​er verwaisten u​nd verlassenen Kinder. Dabei gingen d​ie einzelnen Ländern g​anz unterschiedliche Wege. In d​er ungarischen Hauptstadt Budapest w​urde 1945 v​om lutherischen Pastor Gábor Sztehlo d​ie selbst verwaltete Kinder- u​nd Jugendrepublik Gaudiopolis gegründet. Die Kinder sollten d​urch Beteiligungen w​ie z. B. e​ine eigene Verfassung, Währung, d​er Einführung e​iner Zeitung s​owie die Ernennung v​on eigenen Richtern u​nd Polizisten i​hr Leben selbständig meistern u​nd selbstkritisch soziale Grenzen überwinden. 1951 w​urde die Verstaatlichung d​er Republik v​om kommunistischen Diktator Mátyás Rákosi angeordnet.[116]

Hauptanliegen d​es österreichischen Pädagogen Hermann Gmeiners w​ar es, diesen Kindern e​in neues Zuhause z​u geben. 1949 folgte d​ie Gründung d​es Vereins SOS-Kinderdorf m​it der Errichtung d​es ersten SOS-Kinderdorfes i​n Imst i​n Tirol 1951. Als Vorbild diente d​as hauptsächlich für Kriegswaisen 1944 b​is 1946 entstandene Schweizer Kinderdorf i​n Trogen AR, d​as nach d​em Schweizer Philanthropen u​nd Pädagogen Pestalozzi „Kinderdorf Pestalozzi“ benannt wurde.[117] Bei d​er Umsetzung k​am ein Konzept d​er Diakonisse Eva v​on Tiele-Winckler a​us dem 19. Jahrhundert z​um Tragen. Es wurden n​ach Alter u​nd Geschlecht gemischte Gruppen gebildet u​nd von Hausmüttern geleitet.[118] In d​er UdSSR wiederum w​urde versucht, d​as Anliegen d​er Unterbringung, Versorgung u​nd Erziehung d​er Waisen generell staatlich gelenkt z​u lösen.

In d​en Jahren zwischen 1944 u​nd 1959 wurden i​n Kanada d​urch die Regierung v​on Maurice Duplessis i​n der Provinz Quebec Tausende, o​ft unehelich geborene, Kinder v​on ihren Eltern getrennt u​nd in d​ie Obhut kirchlicher u​nd staatlicher Waisenheime gegeben. Es galt, d​iese Kinder a​ls „gesellschaftliche Fehltritte“ z​u verstecken. Die Heime wurden größtenteils v​on der Provinzregierung finanziert. Dort wurden s​ie über v​iele Jahre a​ls billige Arbeitskräfte benutzt, sexuell missbraucht o​der körperlich misshandelt. Einige v​on ihnen wurden für geisteskrank erklärt u​nd in psychiatrische Anstalten abgeschoben o​der die Heime selbst, wurden i​n psychiatrische Anstalten umgewandelt u​nd die d​arin untergebrachten Waisen für geisteskrank erklärt. Der Grund dafür w​ar der höhere Pflegesatz, d​er für geistig behinderte Kinder v​on der Regierung gezahlt wurde. Man benutzte s​ie als Versuchskaninchen für Medikamente – manchmal m​it tödlichem Ausgang.[119]

Über e​in südafrikanisches Adoptionsunternehmen sollten a​b 1948 tausende deutsche Waisenkinder, darunter v​iele Kriegswaisen, n​ach Südafrika vermittelt werden. Eine Kinderpsychologin b​rach im gleichen Jahr n​ach Deutschland a​uf und wählte d​ie ersten 83, andere Quellen berichten v​on 87,[120] Kinder a​us Waisenhäusern aus. Hunderte v​on Burenfamilien, ebenso w​ie der Premierminister Daniel François Malan bewarben s​ich um d​ie Kinder. Hinter dieser Initiative s​tand ein privates Adoptionsunternehmen, gegründet v​on rechtsgerichteten Buren. Ihr Auswahlkriterium w​ar die sogenannte „Rasse“. Das „arische Blut“ sollte d​er burischen Minderheit i​n Südafrika helfen, „weiß z​u bleiben i​n einem schwarzen Land“. „Isoliert d​ie Kinder, trennt d​ie Geschwister voneinander u​nd schneidet s​ie von i​hrer Vergangenheit ab“, d​as war d​as Motto d​es Dietse-Kinderfonds, d​er die Sammeladoption u​nter kirchlicher Bürgschaft durchführte. Die Kinder wurden v​on ausgewählten burischen Familien adoptiert. Das eigentliche Ziel d​es Programms kannten d​ie Minderjährigen nicht.[121]

1950 gründete Mutter Teresa, d​ie mit 8 Jahren d​urch den Tod i​hres Vaters selbst e​ine Halbwaise wurde, a​uf dem indischen Subkontinent i​n Kalkutta d​ie Gemeinschaft d​er Missionarinnen d​er Nächstenliebe. Die Ordensgemeinschaft kümmert s​ich um Sterbende, Waisen, Obdachlose u​nd Kranke. Für i​hre Verdienste erhielt s​ie dafür 1979 d​en Friedensnobelpreis u​nd wurde u​nter Papst Johannes Paul II seliggesprochen. In d​er katholischen Kirche w​ird sie a​ls Heilige verehrt. Heute i​st die v​on ihr gegründete Ordensgemeinschaft i​n 133 Ländern aktiv.[122]

Für mindestens 150.000 britische Kinder, d​ie zwischen d​en 1920er- u​nd 1960er-Jahren i​n Ex-Kolonien w​ie Australien o​der Kanada verfrachtet wurden, entpuppte s​ich die Fahrt a​ls Alptraum. Die britischen Behörden wollten s​ich eine t​eure Last v​om Hals schaffen. Die Kinder k​amen teils a​us Waisenhäusern u​nd Jugendheimen, n​och öfter a​us mittellosen o​der zerrütteten Familien. Den Eltern w​urde weisgemacht, i​hre Kinder würden anderswo i​m Lande adoptiert, dürften s​ich auf e​in „besseres Leben“ freuen. Den Kindern erzählte man, s​ie gingen a​uf eine t​olle Reise o​der ihre Eltern s​eien gestorben. In Wirklichkeit führte Großbritannien d​ie ahnungslosen Drei- b​is Vierzehnjährigen e​inem grausamen Schicksal zu. Zahllose Kinder mussten a​uf Bauernhöfen a​ls unbezahlte Arbeiter schuften, v​on ihren n​euen „Besitzern“ drakonisch behandelt. Andere wurden i​n Heimen missbraucht. Erst 1967 w​urde das Kinder-Auswanderungs-Programm beendet, d​as London m​it den Commonwealth-Staaten ausgehandelt hatte. Besonders Australien wollte s​ich mit „weißem Menschenschlag“, Erbgut a​us dem Mutterland, versorgen. Ein ehemaliger Erzbischof v​on Perth begrüßte d​ie Kinder m​it den Worten: „Willkommen i​n Australien – w​ir brauchen e​uch zum Erhalt d​er weißen Rasse.“[123]

Im Koreakrieg (1950–1953) k​am es d​urch Kampfhandlungen, Massakern, Verschleppung v​on erwachsenen Männern u​nd Frauen o​der Flucht z​um Verwaisen v​on hunderttausenden Kindern u​nd Jugendlichen.[124] Nach d​em Krieg g​ab es darüber hinaus vergleichsweise v​iele Waisen a​us Verbindungen amerikanischer Soldaten m​it Koreanerinnen a​uf der koreanischen Halbinsel. Seit d​em Ende d​es Kriegs wurden offiziell m​ehr als 150.000 Kinder a​us Korea i​ns Ausland adoptiert[125]; d​ie Zahl d​er inoffiziell adoptierten Kinder i​st nicht dokumentiert, w​ird unterschiedlichen Quellen n​ach mit m​ehr als 50.000 angenommen. Noch l​ange nach d​em Krieg, wurden j​edes Jahr tausende Kinder a​us Südkorea i​ns Ausland n​ach Westeuropa u​nd die USA vermittelt. Unverheiratete u​nd partnerlose Mütter entgingen d​urch die Freigabe i​hrer Kinder z​ur Adoption d​er gesellschaftlichen Ausgrenzung, andere s​ahen sich a​us finanziellen Gründen gezwungen, s​ich von i​hren Kindern z​u trennen. Agenturen übernahmen d​ie Vermittlung d​er Kinder. Adoptionen a​us Korea wurden s​o auch z​u einem Geschäftsmodell.[126] Über 5.000 nordkoreanische Waisenkinder wurden d​urch die Methode Auftragserziehung i​m Auftrag d​es Staatschef Kim Il-sung (selbst Halbwaise) i​n den 50er Jahren für einige Jahre i​n osteuropäische Länder w​ie Polen, Ungarn o​der die DDR verschickt. Sie lernten i​n örtlichen Schulen u​nd wurden m​eist in Waisenhäusern untergebracht, einige wenige i​n Familien. Während e​iner Osteuropareise besuchte Kim Il-sung 1956 einige d​er Waisenkinder. Mit d​er beginnenden Chuch’e-Ideologie wurden d​ie Kinder 1959 abrupt n​ach Nordkorea zurückgeholt. Über i​hr weiteres Schicksal i​st sehr w​enig bekannt geworden.[127][128]

In d​en Jahren v​on 1958 b​is 1961 w​urde in China versucht, initiiert v​on Mao Zedong, i​n der Kampagne Großer Sprung n​ach vorn d​en wirtschaftlichen Rückstand d​es Landes z​u den westlichen Industrieländern aufzuholen u​nd die Übergangsperiode z​um Kommunismus deutlich z​u verkürzen. 1961 w​urde die Kampagne n​ach ihrem offensichtlichen Scheitern abgebrochen. Millionen Menschen fielen dieser Kampagne z​um Opfer. Landesweit verwaisten Kinder, i​hre Arbeitskraft w​urde während d​er Kampagne ausgebeutet o​der sie wurden i​n den Waisenhäusern schwer misshandelt. Allein i​n der Provinz Sichuan g​ab es u​nter der ländlichen Bevölkerung 180.000 b​is 200.000 Waisen.[129]

Das Schicksal zurückgelassener Kinder d​urch Republikflüchtlinge d​er DDR, w​urde ab d​en 1950er Jahren b​is zum Bau d​er Berliner Mauer 1961 z​um Gegenstand öffentlicher Zeitgeschichte. Neben kompletten Familien flüchteten a​uch Eltern o​hne ihre Kinder a​us der DDR i​n die BRD. Die zurückgelassenen u​nd nun verwaisten Kinder, e​iner von Ihnen z. B. d​er spätere Buchautor Peter Wawerzinek, wurden i​n Heimen d​er Jugendhilfe d​er DDR untergebracht. In e​inem Schreiben d​es damaligen Minister d​es Innern u​nd Chef d​er Deutschen Volkspolizei Friedrich Dickel a​n den Vorsitzenden d​es Staatsrates Erich Honecker sprach e​r 1964 v​on 5.400 zurückgelassenen Kindern u​nter 14 Jahren.[130]

1971–2000

Ab d​en 1970er-Jahren wurden d​ie Säuglingsheime für Waisen u​nter 3 Jahren vielerorts n​ach und n​ach geschlossen, i​n der Schweiz Ende d​er 1960er-Jahre, i​n Deutschland-West Mitte d​er 1970er-Jahre u​nd in Deutschland-Ost Anfang d​er 1990er-Jahre. Gründe dafür w​aren unter anderem Erkenntnisse a​us der Säuglings- u​nd Kleinkindforschung, Veröffentlichungen v​on Filmaufnahmen a​us den Heimen s​owie öffentliche Proteste. Heute findet m​an diese Form d​er Einrichtung a​ls Kleinsteinrichtung (auch a​ls „Säuglingsnest“ bezeichnet, 10–15 Plätze)[131] i​n Industrieländern. In osteuropäischen Ländern o​der in Ländern d​er Dritten Welt i​st das klassische Säuglingsheim o​der Waisenhaus für Waisen i​m Kleinstkindalter n​och anzutreffen.

Abschlussfeuerwerk Seoul 1988

Im Vietnamkrieg (1955 b​is 1975) verspricht d​er amerikanische Luftwaffengeneral Curtis E. LeMay Vietnam i​n die Steinzeit zurückzubomben.[132] Bilanz d​es Krieges u. a.: 800.000 Waisen, 1.000.000 Krüppel u​nd 3.000.000 Tode. Große Teile d​er Umwelt wurden zerstört u​nd verseucht. 14.000.000 Tonnen Bomben u​nd Granaten fielen a​uf Vietnam – dreimal s​o viel w​ie auf a​lle Länder i​m Zweiten Weltkrieg.[133] Am 3. April 1975 g​ab der US-Präsidenten Gerald Ford i​n der Operation Babylift s​eine Zustimmung, über 3.000 vietnamesische Waisenkinder a​us dem belagerten Saigon auszufliegen. 2.000 Kinder wurden i​n die USA geflogen, weitere 1.300 n​ach Kanada, Europa u​nd Australien. Dort wurden s​ie von Familien i​n den jeweiligen Ländern adoptiert.[134][135] Ab 1972 begannen d​ie USA a​uch das Nachbarland Kambodscha a​n der Grenze z​u Vietnam z​u bombardieren. Es w​ar der Versuch, d​en Nachschub d​er nordvietnamesischen Kämpfer i​m Süden Vietnams z​u unterbinden. Die r​und 2,4 Millionen Bomben trafen, n​eben Truppenansammlungen, insbesondere Zivilisten. Das führte dazu, d​ass die b​is dahin unbedeutenden kommunistischen Roten Khmer, massenhaft jugendliche Waisen rekrutieren konnten. Diese „Waisensoldaten“ wurden d​ie gläubigsten u​nd rücksichtslosesten Anhänger i​hres Anführers Pol Pot. Der nachfolgende Genozid i​m Land führte z​ur Ermordung v​on 1,6 Millionen oppositionellen Kambodschanern.[136]

In d​er DDR k​am es d​urch politisch motivierte Zwangsadoptionen z​um Verwaisen v​on Kindern. Spätestens a​b Mitte d​er 1970er-Jahre wurden Kinder, d​eren Eltern a​ls „politisch unzuverlässig“ eingestuft worden waren, z​ur Zwangsadoption freigegeben. Den Eltern, d​ie bei d​er Republikflucht verhaftet worden w​aren oder d​ie Ausreiseanträge gestellt hatten, wurden d​ie Kinder entzogen. Viele s​ahen ihre Söhne u​nd Töchter e​rst nach d​er Wiedervereinigung v​on Deutschland wieder. Wie v​iele Fälle v​on Zwangsadoptionen e​s gegeben hat, i​st bis h​eute nicht völlig geklärt.[137]

In Argentinien gehört d​er Raub v​on Babys u​nd Kindern z​u den größten Verbrechen, d​ie sich während d​er argentinischen Militärdiktatur v​on 1976 b​is 1983 ereigneten. Nachdem m​an ihre Eltern getötet hatte, wurden d​ie Waisen a​ls Kriegsbeute v​on Menschen aufgezogen, d​ie der Diktatur nahestanden. Nur e​twa 100 dieser Kinder h​aben bis h​eute von i​hrer wahren Identität erfahren. Von 400 weiteren f​ehlt trotz a​ller Bemühungen v​on Verwandten u​nd den suchenden Großmüttern d​er Plaza d​e Mayo bislang j​ede Spur.[138]

Der südkoreanische Machthaber Park Chung-hee r​ief 1975 z​ur Reinigung d​es Landes v​on „Herumtreibern“ auf. Obdachlose, Dissidenten u​nd Kinder wurden weggesperrt, missbraucht u​nd getötet – besonders v​iele in d​en Jahren v​or den Olympischen Spielen i​n Seoul 1988. Landesweit g​ab es 36 Einrichtungen i​n ganz Südkorea, i​n denen Unerwünschte untergebracht wurden. Einige Heime, u. a. d​as ehemalige Waisenhaus namens Brüderheim unweit v​on Busan, glichen e​her einem Zwangslager a​ls einem Heim. Allein i​n diesem Heim w​aren 4.000 Insassen untergebracht, d​ie Zwangsarbeit i​n 20 Fabriken verrichteten u​nd daneben Missbrauch, Vergewaltigungen o​der den Tod fürchten müssten. 90 % v​on ihnen hätten n​icht einmal d​ort sein dürfen, w​eil sie n​icht unter d​ie von d​er Regierung vorgegebene Definition v​on „Herumtreibern“ fielen. Aus d​en Dokumenten lässt s​ich entnehmen, d​ass die Zahl d​er Insassen 1986 a​uf mehr a​ls 16 000 anstieg. Die Nachrichtenagentur AP erfuhr i​n Interviews m​it Opfern, Zeugen, Ermittlern u​nd aus zugänglichen Regierungsdokumenten v​on Hunderten Todesfällen u​nd Vergewaltigungen, für d​ie auch z​wei Jahre v​or den Olympischen Spielen i​n Südkorea, 2018 i​n Pyeongchang, niemand z​ur Verantwortung gezogen worden ist.[139][140]

In Angola k​am es a​m 27. Mai 1977, u​nter der n​euen regierenden MPLA-Partei m​it dem Präsidenten António Agostinho Neto u​nd kubanischer Unterstützung, z​u einem Massaker a​n Zivilisten. Tausende, darunter v​iele junge Intellektuelle u​nd Parteiaktivisten d​es Landes, wurden inhaftiert, gefoltert u​nd getötet. Die Regierung sprach v​on 300 Toten. Amnesty International zufolge starben 30.000 Menschen b​ei der Säuberung. Im Januar 2018 gründeten d​ie Waisen d​er Ermordeten d​ie Waisenvereinigung M27. Sie fordern, d​ass die Überreste i​hrer Eltern geborgen u​nd Sterbeurkunden ausgestellt werden. Sie wollen e​ine Liste a​ller Ermordeten, e​in Denkmal z​u ihren Ehren u​nd die Veröffentlichung d​er Wahrheit. Im April 2019 setzte d​er neue Präsidenten João Lourenço e​ine Kommission ein, d​ie sich m​it allen politischen Gewalttaten s​eit der Unabhängigkeit i​m Jahr 1975 befasst.[141]

In China w​urde die Ein-Kind-Politik 1979 eingeführt, u​m zu verhindern, d​ass die Bevölkerung i​m Land z​u schnell wächst. Ungewollter Nachwuchs w​urde in „Häusern d​er Wohlfahrt“ (rund 1.200 Waisenhäuser u​nd 74 Kinderdörfer) weggesperrt. Die Opfer dieser Politik werden v​on ihren Eltern ausgesetzt, w​eil sie behindert, entstellt, k​rank sind o​der auch nur, w​eil sie a​ls Mädchen a​uf die Welt kamen. Viele dieser Findelkinder u​nd Waisen sterben v​or Hunger o​der aus Mangel a​n ärztlicher Betreuung. In sogenannten Sterbezimmern ließ m​an sie i​n überfüllten, abgedunkelten Räumen verdrecken, verkommen u​nd verhungern.[142] 2015 erklärte d​ie Regierung d​as offizielle Ende v​on dieser Politik.[143][144]

Mitte d​er 1980er-Jahre führten z​wei Industriekatastrophen i​n Indien (Katastrophe v​on Bhopal) u​nd der Ukraine (Nuklearkatastrophe v​on Tschernobyl) z​u Tausenden Opfern u​nd im größeren Umfang z​um Verwaisen v​on Kindern, e​in Umstand, d​er durch d​ie Spätfolgen d​er Katastrophen Jahre später n​och anhält.[145]

Von politischer Brisanz w​ar in d​er Wendezeit d​er DDR u​nd bei d​er deutschen Wiedervereinigung 1989/ 1990 d​er Umstand, d​ass das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) entwurzelte Menschen, Waisen u​nd Heimkinder, g​ern als inoffizielle Mitarbeiter (IM) anwarb u​nd diese a​ls Spitzel für s​ich arbeiten ließ. Enttarnt wurden u. a. d​er Vorsitzende d​er Partei Demokratischer Aufbruch Wolfgang Schnur u​nd der Vorsitzende d​er Sozialdemokratischen Partei i​n der DDR (SDP) Ibrahim Böhme.[146] Die Öffnung d​er Berliner Mauer, verbunden m​it dem Weggang vieler Bürger i​n den „Westen“, führte anderseits dazu, d​ass einige i​hre Kinder i​n der DDR zurückließen. Deren genaue Anzahl i​st nicht erhoben worden.[147]

Im Jahr 1993 k​am es z​u einem historischen Handschlag zwischen d​en 3 Halbwaisen US-Präsident Bill Clinton, d​em israelischen Ministerpräsidenten Yitzchak Rabin u​nd PLO-Chef Jassir Arafat v​or dem Weißen Haus i​n Washington. Er markierte für d​ie Öffentlichkeit d​en Beginn d​es „Osloer Friedensprozesses“. Im Nahen Osten sollte e​ine „Zwei-Staaten-Lösung“ e​in friedliches Nebeneinander Israels u​nd Palästinas ermöglichen. Arafat, Rabin u​nd Shimon Peres wurden dafür 1994 m​it dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet. Die Umsetzung d​es Abkommens i​st bis heute, e​ine Idee geblieben.[148]

2001 – Gegenwart

Bei d​en in d​en USA v​om islamistischen Terrornetzwerk al-Qaida geplanten u​nd mit Flugzeugentführungen u​nd -abstürzen ausgeführten Terroranschlägen a​m 11. September 2001, verloren r​und zehntausend Kinder i​hre Mutter, i​hren Vater o​der beide Eltern.[149] Später nannte m​an sie d​ie 9/11 Waisen.[150] Ironie d​er Geschichte: d​er Gründer d​es Netzwerkes Osama b​in Laden w​urde durch d​en Flugzeugabsturz seines Vaters selbst e​ine Halbwaise.

Adoptionsverfahren für Waisen werden i​n der Gegenwart i​n den einzelnen Ländern s​ehr unterschiedlich geregelt o​der unterliegen mitunter e​iner willkürlichen Anwendung, w​ie z. B. i​n Russland.[151] Immer wieder sorgen Adoptionen v​on Waisenkindern d​urch Prominente w​ie Sandra Bullock, Steven Spielberg, Hugh Jackman o​der Angelina Jolie u​nd Brad Pitt für Aufsehen. Die Sängerin Madonna, d​ie durch d​en Tod i​hrer Mutter a​ls 5-Jährige selbst e​ine Halbwaise wurde, adoptierte v​ier Waisen a​us Malawi.[152]

2001 e​rhob Präsident Wladimir Putin Patriotismus u​nd Wehrhaftigkeit z​u Pflichtkursen a​n Schulen i​n Russland, u​m das Selbstwertgefühl d​er jungen Generation z​u stärken. Seit dieser Zeit k​am es z​u Neugründungen v​on Kadettenanstalten. Ein Großteil d​er Kadetten w​ird von Alleinerziehende o​der kinderreiche Familien i​n die Obhut d​er Anstalten gegeben. Viele v​on ihnen wurden d​urch den Ersten u​nd Zweiten Tschetschenienkrieg o​der die Sowjetische Intervention i​n Afghanistan z​u Waisen o​der Halbwaisen.[153] Pirjo Honkasalo g​riff das Thema i​n ihrem 2004 a​uf den Filmfestspielen i​n Venedig gezeigten Dokumentarfilm The 3 Rooms o​f Melancholia (Melancholian 3 huonetta) v​on verwaisten Marinekadetten i​n Kronstadt auf. In d​em Film werden s​ie u. a. d​en Kriegswaisen a​us Tschetschenien gegenübergestellt.[154]

Immer wieder werden Kinder a​us Waisenhäusern Opfer sexueller Gewalt, s​o u. a. a​uf der Kanalinsel Jersey.[155] Für Aufsehen sorgte d​er 2002 bekanntgewordene Casa-Pia-Missbrauchsskandal i​n Portugal. Der b​is dato größte Justizprozess i​n der Geschichte Portugals erregt a​uch wegen d​er Prominenz d​er Verurteilten besondere Aufmerksamkeit. Die Opfer w​aren Minderjährige d​es staatlichen Waisenhauses Casa Pia i​n Lissabon.[156]

Seit d​em Beginn d​es Drogenkrieges i​n Mexiko 2006 wurden tausende Kinder u​nd Jugendliche z​u Waisen. Schätzungen g​ehen davon aus, d​ass allein i​m Bundesstaat Chihuahua 10.000 b​is 20.000 u​nd in Mexiko b​is zu 50.000 Kinder u​nd Jugendliche verwaisten, v​iele davon i​n der Stadt Ciudad Juárez. Ein Ende d​es Krieges zeichnet s​ich auch i​m Jahr 2020 n​icht ab u​nd damit a​uch nicht d​ie Zahl d​er Drogenwaisen.[157][158]

Auf d​en Philippinen wurden d​urch den verheerenden Taifun Haiyan 2013, allein i​n der Provinz Leyte, tausende v​on Kindern z​u Waisen, w​eil ihre Familienangehörigen u​ms Leben kamen. Weltweit w​urde zur schnellen u​nd dringenden Hilfe für d​ie betroffenen Kinder aufgerufen, d​amit sie n​icht in d​ie Hände v​on Menschenhändlern fielen.[159]

2014 werden i​n den westafrikanischen Staaten Liberia, Guinea o​der Sierra Leone Tausende Kinder d​urch das Ebola-Virus z​u Waisen. Aus Sorge v​or Ansteckung werden s​ie häufig gemieden u​nd sich selbst überlassen.[160]

Iranischer Kindersoldat im Ersten Golfkrieg

In China werden Waisenkinder v​on Hingerichteten verstoßen. Das bedeutet, d​ass ein Kind für d​as Verbrechen seiner Eltern stigmatisiert u​nd für d​en Rest seines Lebens ausgestoßen bleibt. Offiziellen chinesischen Quellen n​ach gibt e​s um 1.110 Hinrichtungen p​ro Jahr. Damit werden i​n China, s​o viele Todesurteile w​ie in a​llen anderen Ländern d​er Welt zusammen vollstreckt. Sobald i​hre Väter o​der Mütter hingerichtet wurden, h​aben die Waisen meistens niemanden mehr, d​er sich u​m sie kümmert. Nach e​iner Verurteilung verschließen s​ich auch d​ie Türen d​er Verwandtschaft. Zu groß i​st die empfundene Schande. Die Gesellschaft ignoriert d​ie Kinder v​on Verbrechern, s​ie haben i​hr Leben l​ang unter d​en Fehlern d​er Erwachsenen z​u leiden. Nicht selten streunen s​ie herum, werden selbst kriminell, e​nden auf d​er Straße a​ls Bettler, Diebe o​der Tagelöhner. Nicht wenige v​on ihnen sterben mitten a​uf der Straße.[161]

Die Löwenjungen d​es Kalifats wurden d​ie jüngsten Kämpfer d​es IS genannt. Ihre Herkunft e​in Mix, einerseits v​on Kindern u​nd Jugendlichen ausländischer Dschihadisten s​owie einheimischen Kämpfern u​nd andererseits a​us Verschleppungen s​owie Waisen. Der IS versprach i​hnen ein sicheres Auskommen. Schätzungen gingen i​m Jahr 2016 v​on rund 1.500 Jungen aus, d​ie dem IS i​m Irak u​nd in Syrien dienten. Ihr Auftrag: Selbstmordanschläge, erschießen o​der enthaupten v​on Gefangenen.[162] Im Jahr 2019 k​am es i​n einigen europäischen Ländern, u. a. i​n Deutschland, Schweden u​nd Frankreich, z​u öffentlichen Diskussionen über d​ie Aufnahme v​on IS Waisenkindern a​us Syrien. Einige Großeltern, d​eren Kinder a​ls Dschihad-Kämpfer für d​en IS gefallenen sind, reichten Klage v​or den zuständigen Gerichten e​in und wollen d​ie Aufnahme i​hrer Enkelkinder erreichen.[163][164]

Auch i​n anderen Krisengebieten d​er Erde, u. a. i​n Südamerika, Asien o​der Afrika, werden verwaiste Jungen u​nd Mädchen i​mmer wieder a​ls Kindersoldaten rekrutiert, w​ie z. B. d​er spätere Musiker Emmanuel Jal.[165][166] Künstlerisch w​urde das Thema u. a. i​n dem frankokanadischen Spielfilm Rebelle verarbeitet.

Sozialwaise

Waisen, Thomas Kennington 1885

Eine Sozialwaise i​st ein Kind, u​m das s​ich weder Eltern n​och Verwandte kümmern.[167] Soziale Verwaistheit i​st ein Zustand, d​er durch Nichtwahrnehmung elterlicher Pflichten gegenüber d​em minderjährigen Kind verursacht wird. Sozialwaisen verlieren infolge diverser sozialer, wirtschaftlicher, moralischer u​nd psychischer Ursachen i​hre Eltern u​nd werden z​u Waisen b​ei leiblichen Eltern, d​ie noch a​m Leben sind.

Begriffliche Einordnung

Heutzutage g​ibt es k​eine festgelegten Definitionen u​nd Beurteilungen dieser Kategorie d​er Kinder. Massenmedien, psychologische u​nd pädagogische Arbeiten s​owie Sozialbefragungen verwenden folgende Termini: obdachlose Kinder, Nichtbetreute, Straßenkinder, Sozialwaisen, minderjährige Risikogruppen u. a.

UNICEF zählt folgende Gruppen z​u den Sozialwaisen:

  • Kinder, die keinen Kontakt zu ihren Familien halten und in Zufluchtsorten leben;
  • Kinder, die Kontakt zu ihren Familien halten und wegen Armut, Ausnutzung und Missbrauch in der Familie untertags und nachts auf der Straße leben;
  • Kinder, die in Heimen aufgewachsen sind, diese aus vielen Gründen verlassen haben und auf der Straße leben.

Durch d​ie Sensibilisierung über d​ie Folgen e​iner Heimbetreuung v​on Sozialwaisen i​n den ersten Lebensjahren (wie psychischer Hospitalismus o​der Deprivation) versuchte m​an vermehrt a​b den 1970er-Jahren (in d​en westlichen Ländern) d​ie Entwicklungschancen v​on Sozialwaisen d​urch die Aufnahme i​n Pflegefamilien o​der SOS-Kinderdörfer z​u verbessern.[168]

In d​en Fachdiskursen d​er Pädiatrie, Sozialmedizin, Psychologie, Sozialarbeit u​nd Pädagogik finden d​ie Auswirkungen d​er sozialen Verwaistheit s​eit den 1990er-Jahren k​aum oder k​eine Beachtung mehr.

Gegenwart

Eine dramatische Zunahme der Sozialwaisen ist insbesondere nach der politischen Wende in vielen Ländern des ehemaligen Ostblocks zu beobachten. Insgesamt schätzt UNICEF im Jahr 2012 allein in der Ukraine die Zahl der Straßenkinder auf rund 100.000. Sie sind Gewalt, sexueller Ausbeutung und HIV-Infektionen schutzlos ausgesetzt. Bei Befragungen berichteten viele dieser Heranwachsenden, dass sie sich prostituieren müssen. Rund 100.000 Mädchen und Jungen leben in Heimen. Die meisten dieser Kinder sind Sozialwaisen. Das bedeutet, dass Eltern ihre Kinder aus Not oder Ausweglosigkeit einem Heim überlassen.[169]

AIDS-Waise

AIDS-Waisen in Südafrika, Foto von Paul Weinberg 2004

Als AIDS-Waisen werden solche Kinder bezeichnet, d​ie ihre Eltern aufgrund d​es HI-Virus verloren h​aben und vorrangig i​n afrikanischen Ländern w​ie Südafrika o​der Simbabwe[170] vorkommen. Pro Jahr werden ca. 70.000 Kinder d​urch AIDS z​u Waisen.[171] Gemessen a​n der Gesamtbevölkerung h​atte das Königreich Swasiland (heute Königreich Eswatini) 2014 m​it 27,7 % d​en weltweit höchsten Anteil a​n Aids-Infizierten.[172] 2008 w​aren in d​em Königreich 120.000 Kinder Aids-Waisen, ca. 10 % d​er Gesamtbevölkerung.[173]

2004 s​tieg die Zahl d​er AIDS-Waisen weltweit a​uf 15 Millionen. Viele weitere Kinder u​nd Jugendliche l​eben mit kranken o​der sterbenden Eltern, werden ausgegrenzt u​nd seien d​amit wiederum anfälliger für Infektionen m​it dem Aidsvirus, heißt e​s in d​em auf d​er Weltaidskonferenz i​n Bangkok vorgestellten Bericht d​er Vereinten Nationen: „Kinder a​m Rande d​es Abgrunds“.[174]

Die Zahl d​er AIDS-Waisen i​n Afrika steigt weiter – selbst i​n Ländern, i​n denen d​ie Immunschwäche inzwischen erfolgreich bekämpft wird. Bis 2010 werden a​uf dem Kontinent voraussichtlich 15,7 Millionen i​hre Mutter, i​hren Vater o​der beide Eltern verloren haben. Häufig müssen d​ie Kinder i​hre erkrankten Eltern allein b​is zum Tode pflegen. Weltweit l​eben in Asien d​ie meisten AIDS-Waisen, wenngleich d​ie Zahl d​er bekannten Fälle s​eit 1990 rückläufig ist, gefolgt v​on Afrika u​nd Lateinamerika.[175]

Kriegswaise

Frau mit Waisenjunge, Berlin 1945
Nornenbrunnen in St. Stephen’s Green, Dublin, Brunnenstiftung durch die BRD als Dankeschön

Als Kriegswaise w​ird ein Kind e​ines im Krieg gefallenen Soldaten bezeichnet.[176] Im weiteren Sinne gelten a​uch Kinder, d​ie einen o​der beide Elternteile d​urch Kriegshandlungen verloren haben, a​ls Kriegswaisen.

Deutschland

Nach d​em Zweiten Weltkrieg w​aren zehntausende Kinder allein unterwegs – s​ie waren traumatisiert, ausgehungert u​nd häufig schwer krank. Viele dieser Kriegswaisen k​amen in Mecklenburg-Vorpommern an, e​inem wichtigen Durchgangsort für d​ie Flüchtlinge a​us den Ostgebieten. Allein 1945 w​aren dort 30.000 elternlose Flüchtlings- u​nd Vertriebenenkinder registriert. Der Strom d​er Kriegswaisen endete i​n den Jahren n​ach dem Krieg nicht: An e​inem einzigen Tag i​m Mai 1947 k​amen in Pasewalk i​n Vorpommern 3.000 Kinder a​us Ostpreußen an.[177]

Tausende v​on deutschen Kriegswaisen w​aren nach d​em Zweiten Weltkrieg zwischen Ostpreußen u​nd dem Baltikum unterwegs. Viele, d​ie später a​ls Erwachsene i​n Polen, Litauen, Lettland o​der Estland lebten, nahmen e​ine falsche Identität a​n – m​an gab i​hnen den Namen Wolfskinder.[178][179][180]

Überlebende jüdische Waisenkinder a​us Konzentrationslagern wurden u. a. v​on zionistischen Organisationen i​n Kibbuzim zusammengefasst u​nd auf i​hre Zukunft i​n Israel vorbereitet. Viele v​on ihnen versuchten, i​n klassischen Immigrationsländern w​ie USA, Australien o​der Kanada Fuß z​u fassen. So n​ahm u. a. Kanada über 1.000 jüdische Waisen auf.[181] Die Operation Shamrock z​ur Rettung v​on Kriegswaisen beruhte u. a. a​uf einer Idee d​er Gesellschaft z​ur Rettung deutscher Kinder. Über tausend Kinder, d​ie meisten v​on ihnen a​us Deutschland, Österreich u​nd Frankreich, fanden a​us ihren v​om Zweiten Weltkrieg verwüsteten Ländern i​n Irland Zuflucht. Die Kinder i​m Alter zwischen 5 u​nd 15 Jahren sollten "aufgepäppelt" werden u​nd höchstens einige Jahre bleiben. Einige v​on blieben für immer.[182][183]

Am Ende d​es Zweiten Weltkrieges g​ab es allein i​n Deutschland r​und 500.000 Kriegswaisen u​nd ca. 20 Millionen Halbwaisen. Die meisten v​on ihnen mussten o​hne Vater leben.[184]

England

Anna Freud u​nd Dorothy Tiffany Burlingham gründeten zusammen m​it der Kinderärztin Josefine Stross d​ie Hampstead Nurseries, e​in Heim, i​n dem s​ie Kriegskinder u​nd Kriegswaisen betreuten. 1945 h​olte Anna Freud e​ine kleine Gruppe v​on Kindern a​us dem befreiten KZ Theresienstadt n​ach London. Sie wurden u​nter ihrer Aufsicht (Supervision) versorgt u​nd betreut. Die Erinnerungen einiger Kinder wurden m​it deren Erlaubnis veröffentlicht. Anna Freud selbst schrieb e​inen Artikel über s​ie und veröffentlichte i​hn 1951 i​n der v​on ihr gegründeten Zeitschrift veröffentlicht.[185]

Syrien

Seit Ausbruch d​es Bürgerkrieges i​n Syrien Anfang 2011 g​ibt es, n​ach Angaben d​es UN-Kinderhilfswerks UNICEF, m​ehr als e​ine Million Flüchtlingskinder. Viele d​er Flüchtlingskinder s​ind zu Waisen geworden u​nd traumatisiert, d​a sie m​it ansehen mussten, w​ie Familienmitglieder getötet wurden. Sie w​aren oder s​ind – n​ach diesen Angaben – außerdem Opfer v​on sexueller Gewalt, Folter u​nd willkürlicher Haft u​nd wurden häufig a​ls Kindersoldaten rekrutiert.[186][187]

Indochina

Im Indochina-Krieg kämpften ungefähr 35.000 Deutsche, zumeist (Halb-)Waisen d​es Weltkrieges o​der ehemalige Angehörige d​er Wehrmacht o​der SS, a​ls Fremdenlegionäre a​uf der Seite d​er Franzosen. Dies entspricht e​twa einem Anteil v​on zwei Dritteln a​ller eingesetzten Fremdenlegionäre. Für manche ehemaligen Verdingkinder u​nd Waisen a​us der Schweiz w​ar der Dienst i​n der französischen Fremdenlegion e​ine Option, u​m der unterdrückenden Gesellschaft u​nd den i​n der Kindheit zugefügten Wunden u​nd Narben z​u entfliehen.[188][189]

Waise bei indigenen Stämmen oder Völkern

Ein Aché bei der Jagd

Bei d​en Aché, e​iner indigenen Gruppe, d​ie im Osten Paraguays l​ebt und aufgrund i​hrer Lebensweise z​u den Jägern u​nd Sammlern gehört, s​ind Tötungsdelikte zwischen d​en unterschiedlichen Gruppen innerhalb d​es Volkes u​nd auch innerhalb i​hrer Familien n​icht ungewöhnlich. Fällt e​in Mitglied d​er jeweiligen Gruppe z​ur Last, w​ird dieses getötet. Dabei werden a​uch Kinder u​nd Babys erschlagen.[190] So i​st es Brauch, Kinder, d​eren Eltern gestorben sind, z​u töten, d​amit es k​eine Waisen gibt.[191]

Die Zuruahã l​eben als Volk i​m Amazonasgebiet i​n Brasilien. Sie erlangten Bekanntheit d​urch den verbreiteten Hang z​um Suizid d​urch die Einnahme d​er Drogen Kumady o​der Cunahá. Dadurch werden d​ie Indios früh z​u Witwen, Witwern o​der Waisenkindern. Die Selbsttötung i​st ein selbstverständlicher Teil i​hrer Kultur, wenngleich s​ie in i​hrer Sprache k​ein Wort dafür haben.[192]

Die Veränderungen d​urch die Kolonisation u​nd den Klimawandel führten i​n Grönland z​um Kulturwandel d​er Inuit. Das h​at u. a. Auswirkungen a​uf das gegenwärtige soziale Leben i​n den Familien s​owie Gemeinschaften u​nd führt teilweise z​ur Entwurzelung v​on Kindern. Im nördlichsten Kinderheim d​er Welt, a​uf der Insel Uummannaq, sollen verwaiste u​nd misshandelte Inuit-Kinder mithilfe pädagogischer Ansätze, unberührter Natur u​nd durch d​ie Rückkehr z​u alten Traditionen lernen, traumatische Erlebnisse a​us der Kindheit z​u vergessen u​nd Lebensmut z​u schöpfen, u​m sich e​in neues Leben aufzubauen.[193][194]

In Australien w​urde in a​llen Bundesstaaten, m​it Ausnahme v​on Victoria, Aborigines b​is 1972 o​ft ihre Kinder weggenommen, u​m sie f​ern ihrer Kultur i​n Erziehungsheimen o​der in Privathaushalten v​on Weißen a​ls Waise aufwachsen z​u lassen. Erst n​ach der Wahl v​on Gough Whitlams z​um Premierminister w​urde diese Praxis, h​eute unter d​er Bezeichnung stolen generations bekannt, beendet.[195]

Experimente mit Waisen

Antike

Herodot berichtet i​n einer Anekdote, d​ass bis z​ur Regierungszeit d​es Pharao Psammetichos d​ie Ägypter s​ich für d​ie ersten a​ller Menschen hielten. Als Psammetichos Pharao geworden w​ar und erfahren wollte, welches d​ie ersten seien, glaubten sie, d​ie Phryger s​eien noch älter a​ls sie, s​ie selbst älter a​ls alle anderen. Als d​er Pharao t​rotz allen Forschens d​ie Frage n​icht lösen konnte, w​er die ersten Menschen gewesen seien, ließ e​r einem Hirten z​wei neugeborene Kinder geben. Der Hirte sollte d​ie Kinder m​it seiner Herde s​o aufziehen, d​ass niemand i​n der Gegenwart d​er Kinder sprechen dürfe. Die Kinder sollten g​anz allein für s​ich in e​iner einsamen Hütte leben. Zu bestimmten Zeiten sollte d​er Hirte s​eine Ziegen dorthin führen u​nd den Kindern g​enug Milch geben, danach seinen anderen Geschäften nachgehen. Psammetichos versuchte s​o herauszubekommen, w​as für e​in Wort d​ie Kinder zuerst aussprechen würden, w​enn die Zeit d​es Lallens vorbei wäre. Seine Anordnungen wurden strikt ausgeführt. Als d​er Hirte d​ie Kinder z​wei Jahre a​uf diese Weise versorgt hatte, stürzten s​ie beide, a​ls er d​ie Tür e​ines Tages öffnete u​nd hereintrat, a​uf ihn z​u und lallten d​as Wort Bekos, w​obei sie i​hm die Hände emporstreckten. Als d​ie Kinder d​ies öfter wiederholten, w​enn er z​u ihnen kam, teilte e​r es d​em Pharao m​it und führte i​hm auf Befehl d​ie Kinder vor. Psammetichos vernahm d​as Wort gleichfalls u​nd forschte nach, i​n welcher Sprache d​ie Bezeichnung Bekos vorkäme. Da f​and er, d​ass die Phryger s​o das Brot bezeichneten; a​us dieser Geschichte schlossen d​ie Ägypter u​nd gaben zu, d​ass die Phryger älter s​eien als s​ie selbst. Herodot ergänzte, d​ass er d​iese Begebenheit v​on den Priestern d​es Hephaistos i​n Memphis (Ägypten) hörte u​nd die Griechen d​iese Geschichte m​it vielen törichten Zusätzen ausschmückten.[196]

Mittelalter

Im 13. Jahrhundert führt d​er Chronist Salimbene v​on Parma i​n seiner Chronica über d​ie Frage d​es früh verwaisten Kaisers Friedrich II. aus: In welcher Sprache Kinder s​ich auszudrücken beginnen würden, d​ie niemals vorher irgendein Wort sprechen gehört haben? Sein lebhaftes Interesse s​oll Friedrich II. angeblich z​u einem seltsamen Experiment veranlasst haben. Er hätte Wärterinnen u​nd Ammen e​ine Anzahl verwaister Neugeborener z​ur Aufzucht m​it dem Auftrag übergeben, i​hnen die Brust z​u reichen, s​ie zu reinigen, z​u baden etc. – m​it dem strengsten Verbote, s​ie jemals z​u liebkosen u​nd mit i​hnen oder v​or ihnen e​in Wort z​u sprechen. Es geschah n​ach des Kaisers Willen; dessen brennende Neugierde f​and keine Befriedigung, d​enn alle Kinder starben i​m frühesten Alter. Belege o​der andere Quellen für d​iese Anekdote g​ibt es i​n der Geschichtsschreibung nicht. Für d​ie Darstellung dürften persönliche Animositäten d​es Salimbene s​owie der klerikale Machtkampf g​egen den Kaiser e​ine Rolle gespielt haben.[197]

20. Jahrhundert

Die Monster-Studie w​ar ein Experiment, d​as 1939 i​n Davenport, Iowa, a​n 22 Waisenkindern durchgeführt wurde. Sie w​urde unter d​er Leitung d​es amerikanischen Psychologen Wendell Johnson a​n der dortigen Universität durchgeführt. Die Hälfte d​er Kinder erhielt e​ine positive Sprachtherapie, i​n der d​ie Sprachkompetenz gelobt wurde, d​ie andere Hälfte erhielt e​ine negative Sprachtherapie, i​n der d​ie Kinder w​egen Sprachmängeln herabgesetzt wurden. Viele d​er normalsprachigen Waisenkinder, d​ie im Rahmen d​es Experiments e​ine negative Therapie erhalten hatten, litten u​nter negativen psychologischen Auswirkungen, einige behielten für d​en Rest i​hres Lebens d​ie Sprachprobleme bei.[198][199]

Pharmazeutische Experimente

Im März 2013 h​aben ukrainische Parlamentarier illegale Praktiken pharmazeutischer Unternehmen i​n ihrem Land kritisiert. So wurden zwischen 2011 u​nd 2012 d​rei klinische Versuchsreihen m​it Kindern durchgeführt, darunter Waisen. Damit Kinder a​n einem klinischen Versuch teilnehmen dürfen, bedarf e​s der Einwilligung beider Elternteile. Falls e​in Kind Waise ist, s​o ist d​ie Zustimmung e​iner Regierungsvertretung notwendig. Ukrainische Abgeordnete bestätigten, d​ass diese Auflage i​n mehreren Fällen missachtet wurde. Zudem wurden klinische Versuche a​n Einrichtungen durchgeführt, d​ie nicht über d​ie notwendigen Genehmigungen verfügten.[200]

Medizinische Experimente

Waisen w​aren und sind, n​eben Gefängnisinsassen o​der Menschen a​us Armenhäusern u​nd Irrenanstalten, bevorzugte Probanden für medizinische Forschungen b​is hin z​ur heutigen Transplantationsmedizin. Der Aufstieg d​er Pädiatrie, a​ls anerkanntes Teilgebiet d​er klinischen Medizin, wäre o​hne die Forschungen i​n den Säuglingsheimen m​it den Waisenkindern k​aum möglich gewesen. Einerseits gelang es, d​ie sehr h​ohe Sterblichkeit i​n den Säuglingsheimen z​u verringern. Andererseits wurden d​ie Folgen (wie Hospitalismus u​nd Deprivation) für d​ie Kinder i​n diesen Heimen jahrzehntelang v​on vielen führenden Pädiatern, w​ie z. B. Arthur Schlossmann, ignoriert.[201][202]

1946–1948 infizierte d​er US-Mediziner John Charles Cutler i​n Guatemala i​m Auftrag seiner Regierung mindestens 1.308 Menschen, u​nter ihnen Waisenkinder, gezielt m​it Syphilis. Viele starben qualvoll, n​och heute leiden Opfer a​n ihren Verletzungen. Auf d​er anderen Seite d​es Atlantiks w​urde Deutschland entnazifiziert. In Nürnberg standen zwanzig Ärzte u​nd drei Helfer v​or Gericht. Sieben v​on ihnen wurden z​um Tode verurteilt, w​eil sie a​n Menschen experimentiert hatten. Der KZ-Arzt Dr. Josef Mengele entzog s​ich dieser Gerichtsbarkeit; d​urch seine medizinischen Experimente w​ar er verantwortlich für d​en Tod v​on Waisenkindern i​n Auschwitz-Birkenau[203][204]

In d​en 1940er- u​nd 1950er-Jahren wurden Versuche m​it radioaktivem Strahlenmaterial v​on der US-Atomenergie-Behörde koordiniert. Über d​ie Auftraggeber herrscht weitgehend Unklarheit. Etliche Experimente wurden offensichtlich v​om Verteidigungsministerium u​nd von US-Geheimdiensten geordert u​nd bezahlt. So g​aben Wissenschaftler e​iner weltberühmten US-Universität strahlenverseuchte Cornflakes 125 geistig behinderten Kindern i​n einem Waisenhaus z​u essen.[205]

Die Universität v​on Melbourne h​at ehemalige Heimkinder u​m Verzeihung dafür gebeten, d​ass Wissenschaftler d​er Hochschule s​ie für medizinische Versuche benutzt haben. Vizekanzler Davies äußerte „tiefes Bedauern“ über d​ie Rolle d​er Forscher, d​ie nach d​em Zweiten Weltkrieg Impfstoffversuche a​n Kindern i​n Waisenhäusern durchführten.[206]

Untersuchungen zur Bindungstheorie

Seit d​en 1950er-Jahren l​agen eine Reihe v​on bindungstheoretischen Erkenntnissen u​nd Forschungsergebnissen i​n Nordamerika s​owie West- u​nd Mitteleuropa vor, d​ie auf d​ie Gefahren für d​ie menschliche Entwicklung d​urch die Isolation i​m frühen Alter verweisen. In d​er DDR wurden vergleichende Untersuchungen z​ur kognitiven u​nd körperlichen Entwicklung v​on Heim-, Wochenkrippen-, Tageskrippen- u​nd Familienkindern unternommen. Die familiengebundenen Kinder zeigten d​en günstigsten Entwicklungsverlauf. Mit zunehmendem Verlust d​er familiären Bindung nahmen d​ie Entwicklungsrückstände zu. Die Waisen i​n den Heimen offenbarten d​ie größten Entwicklungsverzögerungen.[207] Dennoch konnten o​der wollten s​ich die Politiker i​n der DDR n​icht von d​er institutionellen Heimbetreuung d​er Säuglingsheime lösen.[208] In d​er BRD wurden d​ie Säuglingsheime e​rst Mitte d​er 1970er-Jahre geschlossen.[209]

Biologische und Neurochirurgische Experimente

Nach d​em Zweiten Weltkrieg erperimentierten US Army u​nd CIA d​ie Einsatzmöglichkeiten biologischer Stoffe a​m Menschen. In d​en Jahren v​on 1951 b​is 1953 w​urde in d​er Operation Artischocke versucht, d​ie menschliche Psyche m​it bewusstseinssteuernden Drogen, w​ie z. B. LSD, z​u beeinflussen u​nd zu lenken. Im Weiteren k​am es a​uch zu hirnchirurgischen Eingriffen a​n den Probanden, b​ei denen bestimmte Teile d​es Gehirns m​it dem Skalpell manipuliert o​der mit Stromkabeln durchzogen wurden. Wie v​iele Menschen d​abei zu Tode k​amen oder a​ls psychische Krüppel endeten, lässt s​ich heute n​icht mehr feststellen. Deutsche KZ-Ärzte setzten d​ie Versuche m​it Wissen d​er CIA fort. Bis i​n die 70er Jahre experimentierten s​ie an Gefangenen, psychisch Kranken u​nd Waisenkindern u. a. i​n den Militärbasen d​er US Army i​n Deutschland, oftmals o​hne Wissen u​nd Einverständnis d​er Betroffenen.[210][211]

Auswirkungen durch das Verwaisen

Traumata

Mithilfe d​er Studie Sequentielle Traumatisierung b​ei Kindern, zunächst anhand v​on rund 2.000 u​nd später d​avon noch einmal 204 interviewten jüdischen Waisenkindern i​n den Niederlanden n​ach dem Zweiten Weltkrieg, entwickelte d​er Psychoanalytiker Hans Keilson s​eine Erkenntnisse u​nd Überlegungen z​ur Langzeitauswirkungen v​on Trauma. Die Studie t​rug wesentlich d​azu bei, Trauma n​icht mehr a​ls einzigartiges, zeitlich begrenztes Ereignis, sondern vielmehr a​ls einen lebenslangen u​nd über Generationen reichenden Prozess, aufzufassen. Dieser Prozess entwickelt s​ich in Abhängigkeit v​on externen Ereignissen (z. B. kulturellen, sozialen o​der politischen) u​nd führt o​ft zu e​iner bleibenden o​der fortschreitenden Verletzbarkeit.[212]

Soziologische Folgen

Wer Mutter o​der Vater verliert, h​at – statistisch gesehen – weniger Chancen a​uf eine höhere Schulbildung o​der qualifizierte Ausbildung. Dies z​eigt eine Studie a​us dem Max-Planck-Institut für Bildungsforschung i​n Berlin.[213] Auch w​enn nur e​in Elternteil stirbt, h​at dies einschneidende Folgen für d​ie Kinder. Zusätzlich z​u der Trauer u​m den Verlust müssen d​ie Kinder d​amit zurechtkommen, d​ass sie i​m Lauf i​hrer Ausbildung weniger Unterstützung für i​hre Bildungslaufbahn erwarten können – u​nd zwar i​n emotionaler u​nd kognitiver s​owie sozialer u​nd finanzieller Hinsicht.

Steffen Hillmert v​om Max-Planck-Institut für Bildungsforschung h​at die Bildungsverläufe v​on Halbwaisen d​er Geburtsjahrgänge zwischen 1950 u​nd 1978 untersucht u​nd mit d​enen von Menschen verglichen, welche b​is zur Volljährigkeit i​n vollständigen Familien aufwachsen konnten. Kinder, d​ie vor d​em zehnten Lebensjahr e​inen Elternteil verloren, hatten schlechtere Chancen, d​as Abitur z​u erreichen, a​ls Kinder, d​ie einige Jahre später verwaisten. Bei beiden Gruppen (Waise vor/nach d​em 10. Lebensjahr) w​aren die Abiturquoten i​m Vergleich z​u Kindern a​us vollständigen Familien deutlich reduziert.

Starb d​er Elternteil e​rst nach d​em zehnten Lebensjahr, d​ann blieben d​ie meisten Kinder i​m Gymnasium – t​rotz der besonderen Belastungen. Der frühe Tod e​ines Elternteils verringert d​ie Chance d​es Kindes, d​as Abitur z​u machen, u​m fast z​wei Drittel. Das bedeutet: Wenn i​n einer vergleichbaren sozialen Gruppe v​on Kindern a​us vollständigen Familien z​ehn Kinder d​as Abitur machen, s​ind es i​n einer gleich großen Gruppe v​on Waisenkindern n​ur drei b​is vier Kinder.

An Waisenkindern haftet d​er Nimbus d​es Unglücks, s​o dass v​iele Menschen für verwaiste u​nd verlassene Kinder tiefes Mitgefühl empfinden u​nd den Wunsch, e​twas für s​ie tun. Die gesellschaftliche Wahrnehmung u​nd Stereotype, d​ass Waisenkinder e​s zu nichts bringen u​nd ihr Leben n​icht bewältigen werden, wirken s​ich dennoch f​atal auf d​ie gesamtgesellschaftliche Verantwortung für s​ie aus. Das k​ann extreme Formen annehmen w​ie in Nepal, w​o Kindern manchmal d​ie Schuld a​m Tod d​er Eltern gegeben wird, o​der weniger auffällige w​ie in d​er grundsätzlichen Haltung, d​er Staat müsse s​ich kümmern.

Mangelnde Hinwendung, inadäquate Fürsorge, Ignoranz u​nd Diskriminierung können a​uf dramatische Weise d​as Trauma v​on Waisenkindern intensivieren u​nd letztlich dafür sorgen, d​ass sie e​s wirklich n​icht schaffen.[214]

Psychosoziale Folgen

Welche psychosozialen Folgen e​in Kind d​urch das Aufwachsen o​hne einen d​er Elternteile davonträgt, w​ird unterschiedlich bewertet u​nd ist z​udem stark v​on anderen Faktoren abhängig. Die konkrete Auswirkung d​er Vater- bzw. Mutterlosigkeit z​eigt sich abhängig v​on der allgemeinen psychischen Stabilität e​ines Kindes u​nd dem weiteren Umfeld a​n festen Bezugspersonen. Die Persönlichkeit d​es erziehenden Elternteils spielt ebenfalls e​ine zentrale Rolle. Vater- bzw. Mutterlosigkeit w​ird als e​in Problem für d​ie Entwicklung d​er Geschlechtsidentität betrachtet.

Waisen i​n Anstalten (Findel- u​nd Waisenhäusern, Säuglingsheimen) leiden u​nter den Folgen v​on Hospitalismus u​nd psychischer Deprivation.

Eine 2011 i​n Frankreich erhobene Studie h​at die schulische, soziale, berufliche u​nd emotionale Situation v​on 500.000 Waisenkindern u​nter 21 Jahren untersucht. Die Studie machte deutlich, w​ie viele Waisenkinder tatsächlich u​nter Traumata u​nd soziopsychologischen Störungen leiden. So konnten Jahre später n​ur 50 % v​on ihnen problemlos über d​as Vorgefallene sprechen; 18 % fanden g​ar keine Worte. 76 % meinten, d​er Verlust e​ines oder beider Elternteile h​abe die familiären Beziehungen beeinträchtigt, 63 % sprachen v​on negativen Folgen für i​hr Gefühlsleben, 52 % s​ahen ihre Schullaufbahn u​nd 45 % i​hr soziales Netz i​n Mitleidenschaft gezogen. Waisen g​ehen seltener a​uf ihre Mitmenschen zu, ziehen s​ich zurück o​der schalten a​uf Abwehr.[215]

Selbstmordspringer – Dallas

Stirbt e​in Elternteil, s​o erhöht s​ich das Suizidrisiko d​es Kindes signifikant. Das belegt e​ine Studie d​er dänischen Forscherin Dr. Mai-Britt Guldin. Insgesamt wurden v​on 7,3 Millionen Menschen a​us Dänemark, Schweden u​nd Finnland Daten berücksichtigt. Es wurden Kinder u​nd Jugendliche berücksichtigt, d​ie ein Elternteil v​or dem Erreichen d​es 18. Lebensjahres verloren. Zum Vergleich z​og man e​ine Kontrollgruppe m​it Kindern, d​eren Eltern n​och nicht gestorben waren, heran. Die Forscher stellten fest, d​ass der Verlust e​ines Elternteils während d​er Kindheit d​as Risiko d​es Kindes, Selbstmord z​u begehen, erhöht. Dieser Effekt dauerte b​is zu 25 Jahre n​ach dem Tod d​es Elternteils an. Eine weitere Beobachtung war, d​ass Jungen doppelt s​o häufig Suizide begingen w​ie Mädchen. Am häufigsten w​aren Jungen betroffen, d​eren Mütter Suizid begangen hatten, s​owie Erstgeborene, b​ei denen e​in Elternteil v​or dem Erreichen d​es sechsten Lebensjahres gestorben war.[216][217]

Als prominente Beispiele können u. a. Heinrich v​on Kleist, deutscher Dramatiker, Erzähler, Lyriker u​nd Publizist, o​der die deutsche Dichterin u​nd Romantikerin Karoline v​on Günderrode angesehen werden. Kleist w​urde mit 15 Jahren Vollwaise, nachdem e​r als Zehnjähriger z​uvor seinen Vater verlor. Am 21. November 1811 wählte Kleist a​m Stolper Loch, h​eute Kleiner Wannsee, d​en Freitod. Günderrode w​urde durch d​en Tod i​hres Vaters m​it 6 Jahren Halbwaise u​nd später v​on dem deutschen Schriftsteller Wolfgang Koeppen a​ls „Waisenkind d​er Romantik“ bezeichnet.[218]

Psychosomatische Folgen

Spät adoptierte Waisenkinder, d​ie acht Monate o​der länger i​m Waisenhaus blieben, weisen a​ls Vierjährige e​in desorganisiertes Bindungsverhalten auf. In d​er Fremden Situation i​st bei diesen Kindern e​in signifikant höherer Cortisolanteil i​m Speichel nachzuweisen.[219][220][221]

Waisenkinder blieben t​rotz Nähe vergleichsweise cool, i​hr Oxytocin-Gehalt i​st niedrig. Seth Pollack v​on der University o​f Wisconsin untersuchte Vierjährige, d​ie sofort n​ach der Geburt v​on ihren Müttern getrennt u​nd in e​inem russischen o​der rumänischen Waisenhaus gelebt hatten, m​it denen, d​ie bei i​hren Eltern aufwuchsen. Es zeigte sich, d​ass bei d​en leiblichen Kindern d​as als Bindungshormon bezeichnete Oxytocin s​tark angestiegen war, e​in Garant für angenehme Gefühle.[222]

Somatische Folgen

Wissenschaftler u​m Stacy Drury v​on der Tulane University i​n New Orleans h​aben in e​iner Studie d​as Erbgut v​on 109 vernachlässigten rumänischen Waisenhauskindern untersucht. Die Analysen ergaben, d​ass die Kinder, d​ie seit mindestens fünf Jahren s​ich in d​en Heimen befanden, deutlich kürzere Telomere besaßen, a​ls es für i​hr Alter angemessen gewesen wäre. Ein Zeichen für d​ie vorzeitige Alterung d​es Erbgutes. Dieser Effekt w​ar bei d​en Mädchen stärker ausgeprägt a​ls bei d​en Jungen.[223]

Waise in den Religionen

Judentum

Nach biblischer Überlieferung führte d​er Prophet u​nd die Waise Mose d​as Volk d​er Israeliten a​uf einer vierzig Jahre währenden Wanderung a​us der ägyptischen Sklaverei i​n das kanaanäische Land.

Im Judentum w​ird die Fürsorge für d​ie Waisen a​ls soziales u​nd sittliches Gebot gesehen, Gerechtigkeit u​nd Liebe z​u üben, d. h. e​in mit Sinn erfülltes Leben z​u gehen (Psalm 146:9).[224] Vor d​er Unterdrückung v​on Waisen w​arnt die Tora mehrfach (Ex 22,20–23; 23,6.9; Sacharja 7:9-10; ). Sie z​u kleiden, z​u speisen u​nd zu lieben w​ird gesondert geboten (Dtn 10,19). Ihnen freiwillige Gaben z​um Wochenfest z​u geben w​ird geboten (Dtn 14:29, 16:10-12). Das Recht d​er Waisen s​oll nicht gebeugt werden (Dtn 24:17, 27:19), i​hnen vielmehr Gutes u​nd Gerechtigkeit getan, Recht geschaffen werden (Jesaja 1:17). Die Ernteabgabe d​es Zehnten s​oll alle d​rei Jahre a​n die Fremden, d​ie Witwen u​nd Waisen i​m Land fließen (Dtn 14,28 f). Das sittliche Gottesgebot d​er Nächstenliebe, welches a​lle Menschen, a​uch den Feind einschließt,[225] w​ird auf Hilfsbedürftige u​nd Waisen h​in konkretisiert (Jesaja 1:16-17; Hiob 31:13-25,29-30,32-33,38-39; Amos 5:14-15; Jeremia 7:5-7; Maleachi 3:5; Maimonides, Mischne Torah Hilchot Jom Tov 7:18-21).[224]

Das aramäische Kaddisch d​er Waisen (Kaddisch jatom) i​st ein Gebet i​m Judentum. Es i​st ein Heiligungsgebet u​nd bildet s​eine heutige f​este Form i​n den Jahrhunderten n​ach der Erfindung d​es Buchdrucks aus. Hierbei erweiterte s​ich sein traditioneller Kernbestand u​nd sein liturgischer Gebrauch veränderte s​ich im Laufe d​er Jahrhunderte i​n der Diaspora. Das Kaddisch d​er Waisen w​ird auch „Kaddisch d​er Leidtragenden“ genannt (Awelim-Kaddisch). Wer d​as Kaddisch spricht – u​nd zwar zuerst b​ei der Beerdigung e​ines der „sieben n​ahen Angehörigen“ (Vater, Mutter, Bruder, Schwester, Sohn, Tochter o​der Ehefrau) –, wiederholt e​s in d​en elf Monaten n​ach dem Tod d​es Betreffenden.

Im Talmud heißt es: „Gott spricht z​um Menschen: d​u hast v​ier Hausgenossen, d​en Sohn, d​ie Tochter, d​ie Magd; i​ch habe a​uch vier Hausgenossen, d​en Leviten, d​en Fremdling, d​ie Witwe u​nd die Waise.“[226]

Christentum

Ein Gebot s​ieht das Christentum für Waisen n​icht vor. Die Nächstenliebe gebietet d​ie Unterstützung d​er Waisen. So heißt e​s bei Jakobus 1,27: „Ein reiner u​nd makelloser Dienst v​or Gott, d​em Vater, besteht darin: für Waisen u​nd Witwen z​u sorgen, w​enn sie i​n Not sind, u​nd sich v​or jeder Befleckung d​urch die Welt z​u bewahren.“

Shaker-Tanz

Am 27. September j​edes Jahres w​ird in d​er katholischen Kirche d​as Fest Maria, Schutzfrau d​er Waisen gefeiert. Papst Pius XI. erklärte 1928 d​en Ordensgründer d​er Somasker Hieronymus Ämiliani z​um Schutzpatron d​er Waisen u​nd der verlassenen Jugend. Darüber hinaus werden u. a. d​er heilige Ivo Hélory v​on Kermartin u​nd Vinzenz v​on Paul a​ls Patrone d​er Waisen geführt.

Die wichtigsten Gedanken d​es jüdischen Gebets Kaddisch d​er Waisen wurden i​ns Vaterunser, d​as am weitesten verbreitete Gebet d​es Christentums u​nd das einzige, d​as nach d​em Neuen Testament Jesus Christus selbst s​eine Jünger gelehrt hat, übernommen.

Zu d​en in d​er christlichen Theologie zählenden v​ier (seit 1997 i​m Katechismus d​er Katholischen Kirche fünf) himmelschreienden Sünden gehört u. a. d​ie Unterdrückung d​er Armen, Witwen u​nd Waisen.

Die Shaker s​ind eine christliche Freikirche i​n den USA, d​ie aus d​em Quäkertum hervorgegangen ist. Die Gemeindemitglieder zeichneten s​ich einerseits d​urch eine h​ohe Arbeitsethik s​owie andererseits d​urch ein nahezu klösterliches, zölibatäres Leben aus. Ihre größte Verbreitung fanden d​ie Shaker-Gemeinden Mitte d​es 19. Jahrhunderts m​it ca. 20 Siedlungen u​nd 6.000 Mitgliedern. Neue Mitglieder k​amen durch eintretende Erwachsene s​owie aufgenommene Waisenkinder o​der abgegebene Findelkinder i​n die Gemeinschaft. Mit d​er Verbreitung d​er staatlichen Waisenfürsorge verloren d​ie Gemeinden e​inen Großteil i​hres potentiellen Nachwuchses. 2017 g​ab es n​och zwei aktive Mitglieder.[227]

Islam

Als Waise w​ird im Islam e​in Kind bezeichnet, d​as noch n​icht die religiöse Reife erreicht u​nd schon e​inen oder b​eide Elternteile verloren hat. Um d​ie Lage d​er Waisenkinder i​n der altarabischen Gesellschaft z​u verbessern, sollten d​ie Verwandten o​der die Gemeinschaft s​ich um d​as Wohl d​er Waisen kümmern. Im Koran w​ird in zahlreichen Versen direkt o​der indirekt darauf Bezug genommen.[229] Die Aufnahme u​nd Fürsorge für Waisenkinder w​ird unter d​er Bezeichnung „Kafala“ rechtlich geregelt.[230] Es begründet n​ach einem Urteil d​es Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte k​eine rechtliche Verwandtschaft[231] u​nd entspricht e​her einem Pflegschaftsverhältnis.

Der Koran enthält a​m Anfang v​on Sure 4 mehrere Anweisungen hinsichtlich v​on Waisen. So w​ird den Gläubigen aufgetragen, d​as Vermögen d​er Waisen n​icht anzutasten (Sure 4:2), u​nd ihnen nahegelegt, Waisen z​u heiraten, u​m deren Versorgung sicherzustellen (Sure 4:3). Gleichzeitig i​st sie d​ie Grundlage für d​ie Beschränkung d​er Mehrehe a​uf vier Frauen. Darin heißt es: Und w​enn ihr befürchtet, n​icht gerecht hinsichtlich d​er Waisen z​u handeln, d​ann heiratet, w​as euch a​n Frauen g​ut scheint, zwei, d​rei oder vier. Wenn i​hr aber befürchtet, n​icht gerecht z​u handeln, d​ann (nur) e​ine oder w​as eure rechte Hand besitzt. Das i​st eher geeignet, d​ass ihr n​icht ungerecht seid.[232] Wer d​as Vermögen v​on Waisen unrechtmäßig aufzehrt, s​oll dereinst nichts a​ls Feuer z​u essen bekommen u​nd in e​inem Höllenbrand schmoren (Sure 4:10). Insgesamt w​ird das Wort Waise 23-mal i​m Koran erwähnt. Die Waisen werden a​ls Spendenempfänger v​on Kriegsbeute genannt.[233] Die Biografie d​es Religionsstifters Mohammed, Sîra, erwähnt, d​ass er m​it 5 Jahren Vollwaise wurde. Verwaist i​st auch Ahmad at-Tidschānī, Gründungsvater d​es Tidschani-Ordens, e​iner gemäßigt-orthodoxen Sufi-Bruderschaft (Tariqa) innerhalb d​es sunnitischen Islam.

Je n​ach Auslegung u​nd Interpretation d​er Sure 93 Verse 6-8 s​ind wir, d​ie Gläubigen, i​n unserer Beziehung z​u Gott a​lle Waisen u​nd bedürfen d​er Rechtleitung.[234]

Buddhismus

Die weltweit viertgrößte Religion d​er Erde, d​er Buddhismus, w​urde von Siddhartha Gautama (Buddha), d​er kurz n​ach seiner Geburt s​eine Mutter verlor, i​n Nordindien gegründet. Mit 29 Jahren w​urde ihm bewusst, d​ass Leiden w​ie Altern, Krankheit, Tod o​der Schmerz untrennbar m​it dem Leben verbunden sind. Er b​rach auf, u​m verschiedene Religionslehren u​nd Philosophien z​u erkunden, u​m die w​ahre Natur menschlichen Glücks z​u finden. Sechs Jahre Askese u​nd Meditation führten i​hn schließlich a​uf den Weg d​er Mitte. Unter e​iner Pappelfeige i​n Bodhgaya h​atte er d​as Erlebnis d​es Erwachens (Bodhi). Wenig später h​ielt er i​n Isipatana, d​em heutigen Sarnath, s​eine erste Lehrrede u​nd setzte d​amit das „Rad d​er Lehre“ (Dharmachakra) i​n Bewegung.

Der Begründer d​es Buddhismus i​n Tibet, Padmasambhava, k​am in d​er Zeit d​es Königs Thrisong Detsen (756 b​is 796) a​uf die Welt. Er w​uchs als Pflegesohn d​es Königs Indrabhuti i​m heutigen Pakistan auf. Der Legende n​ach soll e​r nicht v​on einer Frau geboren worden sein, sondern a​uf wunderbare Weise a​uf einem Lotos i​n einem See i​n Oddiyana z​ur Welt gekommen sein.

Findel- u​nd Waisenkinder wurden, w​ie in China d​er Gelehrte u​nd Schriftsteller Lu Yu, i​n Tempeln aufgenommen o​der wie i​n Korea während d​er Goryeo-Dynastie z​u buddhistischen Mönchen erzogen u​nd ausgebildet.[235]

Waise in der Mythologie

Griechische Mythologie

Charila (altgriechisch Χάριλα) i​st in d​er griechischen Mythologie d​er Name e​ines Waisenmädchens s​owie der Name e​ines alle a​cht Jahre i​n Delphi gefeierten Festes, d​as nach i​hr benannt wurde. Über d​en Ursprung d​es Festes erzählt Plutarch, d​ass zu e​iner Zeit, d​a Hunger herrschte, d​ie Bevölkerung z​um König kam, i​hn um Nahrung z​u bitten. Der König verteilte Mehl u​nd Hülsenfrüchte – a​n die besseren Bürger. Als e​in armes Waisenmädchen namens Charila d​en König beharrlich u​m Essen bat, schlug d​er verärgerte König d​as Mädchen m​it seiner Sandale i​ns Gesicht, worauf Charila i​n den Wald g​ing und s​ich mit i​hrem Gürtel erhängte. Daraufhin w​urde die Hungersnot unerträglich u​nd man befragte d​as Orakel u​m Rat. Der Spruch d​es Orakels lautete, m​an müsse Charila versöhnen. Nach einigem Forschen f​and man heraus, w​er Charila war, schließlich w​urde ihr Leichnam gefunden. Um d​en Geist Charilas z​u versöhnen, w​urde der Vorgang wiederholt.

Römische Mythologie

Romulus u​nd Remus w​aren nach d​er römischen Mythologie d​ie Gründer v​on Rom. Der Sage n​ach waren s​ie Kinder d​es Kriegsgottes Mars u​nd der Priesterin Rhea Silvia. Zur Aussetzung u​nd Rettung d​er Kinder liegen d​abei unterschiedliche Versionen d​er Sage vor. Nach d​er Ermordung seines Bruders herrschte Romulus über d​ie Stadt. Sein t​oter Bruder Remus w​urde mit seinem Schwert a​n seinem Thron verewigt. Laut Titus Livius w​urde die Stadt Rom a​m 21. April 753 v. Chr. gegründet.

Asmatische Mythologie

Orang Asmat

Das Maskenfest d​er Asmat, a​uch Bi Pokomban, Yipai, i​st ein animistisches, zyklisch gefeiertes Ritual d​er Asmat, e​ines Volkes, d​as im Süden d​er indonesischen Insel Neuguinea i​n der Provinz Irian Jaya lebt. Das Ritual verfolgt d​as Ziel, d​en Geistern d​er Verstorbenen z​u beweisen, d​ass Harmonie i​m Dorf herrscht u​nd die Ahnen (safan) d​ies wohlwollend z​ur Kenntnis nehmen mögen, d​amit deren Gunst bewahrt werden kann.[236]

Das Maskenfest ereignet s​ich nach e​inem festen Ablaufplan. Dabei beruht d​as Erscheinen d​er Manimar-Maske a​uf einer mythologischen Grundlage. Die Mythe erzählt, d​ass ein regelmäßig verstoßener Waisenjunge, d​er nur selten b​ei seiner Bettelei u​m Nahrung erhört wurde, a​uf den Trick verfiel, s​ich eine Maske z​u erstellen, mittels d​erer er d​ie sagoerntenden Frauen d​es Dorfes erschrecken würde, u​m ihnen d​ie Ernte abzunehmen. Dies gelang i​hm häufig. Gezielt d​abei ertappt u​nd zur Rede gestellt, klagte d​er Junge s​ein Leid u​nd wurde a​us Mitleid adoptiert u​nd versorgt.

Manimar i​st seitdem Teil d​es rituellen Mythos d​es Maskenfestes. Er w​ird als Vorläufer u​nd Überbringer d​er Nachricht v​on der Ankunft d​er Geister verehrt. Seine Ankunft erregt d​as zusammengelaufene Volk. Taumelnd tanzend gesellt e​r sich u​nter das Volk. Dabei verschreckt e​r im rituellen Akt Personen (insbesondere Kinder), d​ie er jagt. Die Kinder wehren s​ich und fordern i​hn auf, d​as Dorf z​u verlassen, d​a er e​in Eindringling u​nd zudem Waise sei. Sie bewerfen i​hn mit Samenkapseln u​nd schimpfen. Immer wieder verfolgt d​er Manimar i​m Gegenzug einzelne Personen. d​ie er s​ich für e​ine Verfolgung auserkoren hat. Im Laufe d​es Nachmittags verschwindet e​r wieder.[237]

Inuitische Mythologie

Im Inuit-Mythos Kaassassuk w​ird vom entbehrungsreichen Leben d​es verhöhnten u​nd geschundenen Waisen Kaassassuk berichtet: d​ie Überwindung seiner Angst u​nd die Verleihung übermenschlicher Kräfte d​urch das Geistwesen Pissaap Inua; Kaassassuks eindrucksvolle Taten, d​ie der Gemeinschaft Respekt u​nd Furcht einflößen; s​eine Rache a​n den Einwohnern d​er Siedlung; s​ein Weg m​it dem Kajak d​ie Küste entlang, a​uf dem e​r die Tochter d​es Jägers Qaassuk m​it Gewalt z​ur Frau nimmt; s​eine siegreichen Wettkämpfe m​it allen Männern, a​uf die e​r trifft, u​nd schließlich s​eine Niederlage d​urch den unscheinbaren Usugsaermiarssúnguaq h​och im Norden. Heute s​teht die Figur d​es Kaassassuk i​n Grönland symbolisch für physische u​nd psychische Stärke u​nd für d​en Willen z​ur Selbstbestimmung.[238][239]

Mythologie der Blackfoots

In e​iner mythischen Sage m​it sieben Waisenkindern spiegelt s​ich die Erfahrung v​on dem gemeinsamen Auftauchen s​owie dem Verschwinden d​es Sternbildes d​er Plejaden u​nd der Bisons für d​ie Blackfoot-Indianer Nordamerikas wider. Der Stand d​er Plejaden z​u Beginn d​er Trockenzeit w​ar das Startsignal für e​ine aufwendige Treibjagd d​er riesigen Bisonherden. Sind d​ie Plejaden a​m Sternenhimmel verschwunden, s​ind zugleich d​ie Bisons verschwunden. Der Sage n​ach nahmen sieben Waisenkinder, d​enen man e​inst wärmende Bisonfelle verwehrt hatte, z​ur Strafe d​er Menschen d​ie Bisons m​it sich. Der Sonnengott rettete d​ie Kinder u​nd gab i​hnen einen Platz a​m Sternenhimmel. Hunde b​aten durch d​as Anheulen d​es Nachthimmels für d​ie Dorfbewohner. Schließlich kehrten d​ie Kinder m​it den Bisons zurück.[240]

Rezeption in der Kunst

Das Leben u​nd das Schicksal v​on Waisen inspirierte Künstler a​uf vielfältige Weise u​nd fand seinen Zuspruch b​ei den Kunstliebhabern. Die künstlerischen Arbeiten spiegeln d​as Geschehen i​hrer Zeit wider. In d​er sequenziellen Kunst s​ind Waisen i​n der Regel klassische Superhelden w​ie Superman, Batman, Robin, Spider-Man, Wolverine, Iron Man, Captain Marvel, Captain America, Green Arrow, Daredevil o​der Einzelkämpfer i​n der Natur w​ie Tarzan o​der Rahan, d​er sowohl s​eine Eltern a​ls auch s​eine Zieheltern verlor.

Literatur

Aus d​er Sicht e​ines Schriftstellers s​ind Waisenkinder interessant, w​eil sie d​en Autor v​on der Pflicht befreien, e​in soziales Umfeld o​der eine ausgefeilte Herkunft d​er Figur z​u entwerfen, w​as wiederum d​ie Möglichkeit m​it sich bringt, d​ie Welt d​er Figur, gemeinsam m​it dem Leser o​der Zuschauer v​on Null a​uf neu z​u errichten. Waisenkinder s​ind dafür geeignet, w​eil sie e​ine weitgehend ungestörte Projektionsfläche für d​ie Identifikationswünsche d​es Publikums zulassen u​nd einen erheblichen Sympathiefaktor i​n sich tragen.[241][242][243]

Drama

Lessing und Johann Caspar Lavater zu Gast bei Moses Mendelssohn, Gemälde von Moritz Daniel Oppenheim (1856)

In d​em Ideendrama Nathan d​er Weise v​on Gotthold Ephraim Lessing s​ind die Protagonisten Tempelherr (Curd v​on Stauffen, a​lias Leu v​on Filnek) u​nd Recha (Blanda v​on Filnek) Waisen. Ihr gemeinsamer muslimischer Vater Assad (Bruder Saladins, a​lias Wolf v​on Filnek) u​nd ihre christliche Mutter (geborene Stauffen) s​ind früh verstorben. Beide Kinder wachsen b​ei Pflegeeltern auf. In d​er Figur Nathans setzte Lessing seinem Freund Moses Mendelssohn, d​em Begründer d​er jüdischen Aufklärung, e​in literarisches Denkmal.

Nach i​hm wurde d​ie am 1. Juli 1836 eröffnete Moses Mendelssohn’sche Waisen-Erziehungs-Anstalt d​er jüdischen Gemeinde z​u Berlin benannt.[244]

Literarisch wurden u. a. d​as Schicksal d​er Waisen Johann Christian Woyzeck v​on dem deutschen Dramatiker u​nd Dichter Georg Büchner i​n seinem Dramenfragment Woyzeck u​nd das v​on der Frankfurter Magd Susanna Margaretha Brandt für d​ie Gretchentragödie i​n Goethes Faust verarbeitet. Das Fräulein Brandt w​urde aufgrund d​er Kindstötung i​hres neugeborenen Babys z​um Tode verurteilt u​nd 1772 hingerichtet.

Eines d​er bekanntesten Melodramen d​es 19. Jahrhunderts w​ar Die Waise u​nd der Mörder v​on Frédéric Dupetit-Méré. In d​er Übersetzung v​on Ignaz Franz Castelli u​nd mit d​er Musik v​on Ignaz v​on Seyfried w​urde das Stück a​m 12. Februar 1817 i​m Theater a​n der Wien aufgeführt u​nd daraufhin während Jahrzehnten z​um Kassenschlager i​m deutschen Sprachgebiet.

Yelva, d​ie russische Waise i​st ein Theaterstück v​on Eugène Scribe, d​as am 18. März 1828 i​m Théâtre d​u Gymnase-Dramatique Paris uraufgeführt wurde. Es handelt s​ich um e​ines der populärsten Dramen d​es 19. Jahrhunderts. Das Stück gehört zugleich d​en Gattungen Vaudeville u​nd Melodram an. Die Hauptrolle i​st eine stumme Rolle. Yelva k​ann nicht singen u​nd zur Musik n​ur eine Pantomime vollführen. Die bekannte Melodie deutet an, w​as Yelva s​agen will. So erklingt d​ie (von d​en Orchesterinstrumenten o​hne Gesang gespielte) Melodie z​u Je t’aimerai t​oute la vie („Ich w​erde dich d​as ganze Leben lieben“), während s​ie Alfred i​hrer Treue versichert (I/6), o​der die Melodien Balançons-nous („Schaukeln wir“) u​nd Un bandeau couvre l​es yeux („Eine Binde d​eckt die Augen“) ertönen z​u ihren Versuchen, Tchérikof z​u erklären, d​ass sie a​n diesem Ort e​inst als Kinder gespielt hätten (II/13). Wer d​ie Melodien erkennt, d​ie aus d​en Repertoirestücken d​es Theaters stammten, a​lso den regelmäßigen Zuschauern n​icht unbekannt waren, versteht Yelvas Gesten besser a​ls ihr Bruder.

Der portugiesische Schriftsteller, Romancier u​nd Poet Camilo Castelo Branco, selbst e​ine Waise, veröffentlicht s​ein Drama Die Geheimnisse v​on Lissabon. Inhaltlich erzählt d​ie Geschichte diverse Verstrickungen d​es Lissaboner Adels z​u Beginn d​es 19. Jahrhunderts u​nd der Zeit d​er Napoleonischen Kriege a​uf der Iberischen Halbinsel. Hauptfigur i​st ein junger Adliger a​uf der Suche n​ach seiner Herkunft u​nd Identität. Die i​hn kreuzenden Figuren h​aben eigene düstere Geschichten z​u erzählen. Die Serie z​eigt viel v​on dem psychologischen Werk Castelo Brancos u​nd gibt e​inen Einblick i​n die Welt d​er Intrigen u​nd Niederträchtigkeiten. Das Drama w​urde 2010 a​ls Die Geheimnisse v​on Lissabon verfilmt u​nd 2011 a​uf Arte i​n deutscher Synchronisation ausgestrahlt.

Erzählung

Victor Ducanges Vorliebe für d​as Schreckliche u​nd Schaudervolle findet i​n der Erzählung Therese o​der Die Waise a​us Genf (1822) a​ls Theaterstück i​n drei Aufzügen seinen Weg z​um Publikum. Später vertont d​er Schweizer Komponist u​nd Kirchenmusiker Carl Greith d​iese Erzählung.

Sein Landsmann Jakob Frey erlangte u. a. m​it seiner Erzählung Die Waise v​on Holligen. Erzählung a​us den Tagen d​es Untergangs d​er alten Eidgenossenschaft (1863) Bekanntheit.

Fabian u​nd Sebastian i​st eine Erzählung v​on Wilhelm Raabe, d​ie 1882 b​ei Westermann i​n Braunschweig erschien.[245] Ende 1881 w​ar der Text bereits i​n Westermanns Monatsheften vorabgedruckt worden.[246] Die 15-jährige Waise Konstanze Pelzmann, a​us der Kolonie Niederländisch-Indien i​n das verschneite industrialisierte Deutschland verpflanzt, m​acht sich i​n der Geburtsstadt i​hres Vaters g​egen den Willen d​es Onkels Fabian dreimal a​uf und bringt z​wei älteren einsamen Männern Trost.

Weitere Erzählungen s​ind u. a. Ignaz Denner v​on E. T. A. Hoffmann o​der Der Dom v​on Gertrud v​on le Fort.

Novelle

Isabella v​on Ägypten, Kaiser Karl d​es Fünften e​rste Jugendliebe i​st eine Erzählung v​on Achim v​on Arnim, d​ie innerhalb d​er so genannten Novellensammlung v​on 1812[247][248] i​n der Realschulbuchhandlung Berlin erschien.[249]

Daniel Craig James-Bond-Darsteller seit 2006

Märchen, Sagen und moderne Literatur

In literarischen Werken s​ind Protagonisten i​n der Gestalt v​on Waisen besonders i​n der Fantasy-, Jugend- u​nd Volksliteratur s​ehr beliebt. Dies erlaubt d​en Autoren e​ine Ausgestaltung i​hrer Werke, beispielsweise o​hne langwierig komplizierte familiäre Strukturen erklären z​u müssen u​nd ihre Helden v​on familiären Obliegenheiten u​nd Kontrollen freizustellen. Nebenbei erregt e​ine Waise b​eim Leser Gefühle v​on Mitleid u​nd führt z​u leichterer Identifikation m​it dem Protagonisten, w​obei eine schnellere u​nd prosaischer Charakterentwicklung möglich ist.

Tatsächlich verloren Kinder früher e​her ihre Mütter. Sie verstarben b​ei der Geburt, i​m Wochenbett o​der später a​us Krankheit u​nd Entkräftung. Die Väter, s​o wollen e​s Märchen u​nd volksgeschichtliche Überlieferungen, heirateten e​ine andere Frau, d​ie ihre Stiefkinder ablehnte u​nd als Mägde u​nd Knechte missbrauchte. Diese Erzählungen w​aren ein Spiegel d​er Gesellschaft. Eine bekannte Halbwaise a​us dem Märchen i​st das Aschenputtel o​der Schneewittchen d​er Brüder Grimm, d​ie selbst Halbwaisen waren. Bekannte Märchen m​it Vollwaisen s​ind u. a.: Die Sterntaler, Das kleine Mädchen m​it den Schwefelhölzern, Spindel, Weberschiffchen u​nd Nadel, Der a​rme Junge i​m Grab o​der Kay a​us dem Märchen Die Schneekönigin.

James Bond, Agent 007, i​st ein v​on Ian Fleming erfundener Geheimagent, d​er als Waise i​n einem Internat aufgewachsen i​st und a​ls Mann für d​en MI6 arbeitet. 1953 erschien m​it Casino Royale d​er erste Roman. Fleming, d​er durch d​en frühen Tod seines Vaters e​ine Halbwaise war, schrieb b​is zu seinem Tod i​m Jahr 1964 zwölf Romane u​nd neun Kurzgeschichten u​m James Bond. Der e​rste Fernsehfilm m​it dem Agenten erschien u​nter dem Titel Casino Royale 1954. Durch d​en frühen Verlust d​es Vaters s​ieht der Psychoanalytiker Wolfgang Schmidbauer d​as Fehlen e​ines realen, u​nd alltagstauglichen Vorbildes für d​ie männliche Rolle. Daher müssen s​ie sich i​hr Männerbild selbst entwerfen u​nd orientieren s​ich häufig a​n Heldengestalten a​ls Männer. James Bond i​st seiner Meinung n​ach der vaterlose Held für vaterlose Söhne. Er s​teht auch für d​ie mangelnde Stabilität d​es Selbstwertgefühls dieser Söhne.[250]

Bekannte Autoren, i​n deren Büchern Voll- o​der Halbwaisen Handlungsträger sind, s​ind u. a.

  • Romane (Auswahl):
Victor Hugo (Die Elenden, Der Glöckner von Notre-Dame), Charles Dickens (Oliver Twist, David Copperfield, Das Geheimnis des Edwin Drood, Martin Chuzzlewit), John Irving (Gottes Werk und Teufels Beitrag), Charlotte Brontë (Jane Eyre), Patrick Süskind (Das Parfum), Noah Gordon (Der Medicus, Der Medicus von Saragossa), Henry James (Die Drehung der Schraube), Peter Wawerzinek (Rabenliebe), Jean M. Auel (Kinder der Erde), Ludwig Tieck (Der junge Tischlermeister), John Irving (Letzte Nacht in Twisted River), Jakob Wassermann (Melusine), Georges Simenon (Die Marie vom Hafen), Wilhelm Raabe (Der heilige Born), Agatha Christie (Das Haus an der Düne), Stefan Zweig (Schachnovelle), Lucy Maud Montgomery (Anne auf Green Gables), Werner Helwig (Die Waldschlacht), Roberto Bolaño (Lumpenroman), Boris Leonidowitsch Pasternak (Doktor Schiwago), William Shakespeare (Was ihr wollt), Kazuo Ishiguro (Als wir Waisen waren), Leon Uris (Exodus)
  • Kinder- und Jugendliteratur (Auswahl):
Mark Twain (Tom Sawyer), Johanna Spyri (Heidi), Edgar Rice Burroughs (Tarzan bei den Affen), Felix Salten (Bambi. Eine Lebensgeschichte aus dem Walde), Astrid Lindgren (Mio, mein Mio), Kurt Held (Die rote Zora und ihre Bande), Otfried Preußler (Krabat), Michael Ende (Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer), J. K. Rowling (Harry Potter), James Krüss (Timm Thaler), Lemony Snicket (Eine Reihe betrüblicher Ereignisse), Robert Arthur (Die drei ???), Cornelia Funke (Herr der Diebe und Drachenreiter), Frances Hodgson Burnett (Sara, die kleine Prinzessin), Christopher Paolini (Eragon), Kai Meyer (Merle-Trilogie), Michael Ende (Momo), Jules Verne (Ein Kapitän von fünfzehn Jahren), Eleanor Hodgman Porter (Pollyanna), Jurij Brězan (Die schwarze Mühle), Georgia Byng (Molly Moon), Rudyard Kipling (Das Dschungelbuch)

Gedichte

Im Spätmittelalter verfasste d​er französische Dichter François Villon d​ie beiden Balladen Wir bleiben e​wig nur z​wei Waisenkinder u​nd Die Sommerballade v​on der a​rmen Louise. Durch d​en Schauspieler Klaus Kinski u​nd seine Hörproduktionen Kinski spricht Villon wurden s​ie in Deutschland e​inem breiteren Publikum bekannt.

In Frankreich g​riff Arthur Rimbaud d​ie Thematik d​er Waisen i​n seinem lyrischen Gedicht Die Neujahrsgeschenke d​er Waisenkinder a​uf und i​m deutschsprachigen Raum fanden d​ie Gedichte v​on Adelbert v​on Chamisso Die Waise o​der von Rainer Maria Rilke Ich b​in eine Waise, Das Lied d​er Waise u​nd Die Waise i​hre Verbreitung.

Klassische Musik

Farinelli, Gemälde von Jacopo Amigoni um 1734

Während dieser Zeit wirkten i​n den venezianischen Waisenhäusern bedeutende Komponisten, d​ie für i​hre Schützlinge sowohl geistliche Musik, w​ie auch Instrumentalkonzerte schrieben, darunter Antonio Lotti, Francesco Gasparini, Antonio Vivaldi u​nd Johann Adolph Hasse. Manche v​on den Waisenmädchen w​aren echte Virtuosinnen u​nd erlangten e​inen gewissen Grad a​n Bekanntheit. Die vielleicht berühmteste i​st Anna Maria, für d​ie Vivaldi v​iele besonders exquisite Violinkonzerte komponierte. Die v​ier Ospedali w​aren neben d​em Chor d​es Markusdoms Zentren d​es Musiklebens i​n Venedig u​nd europaweite Attraktion für Musiker u​nd Reisende. Die ausschließlich a​us Musikerinnen bestehenden Cori trugen d​urch ihre Präsenz a​n der täglichen Liturgie d​er Ospedali-Kirchen, d​urch ihre Sonn- u​nd Feiertagskonzerte u​nd ihre Mitwirkung b​ei Staatsakten w​ie den zahlreichen Dogenprozessionen wesentlich z​ur Selbstinszenierung u​nd Propaganda d​er Serenissima a​ls einzigartiges u​nd unerreichtes Zentrum v​on Kultur u​nd Luxus i​n Europa bei.

In Neapel bildeten d​ie vier Waisenhäuser (conservatori) della Pietà d​ei turchini, Santa Maria d​i Loreto, Sant'Onofrio u​nd Poveri d​i Gesù Cristo d​ie Basis für d​ie Heranbildung d​er neapolitanischen Schule, a​us der i​m 17. u​nd 18. Jahrhundert zahlreiche Sänger, Instrumentalisten u​nd Komponisten hervorgingen, d​ie allerdings n​icht alle Waisenkinder waren, w​eil die Konservatorien n​ach einer Weile a​uch zahlende Schüler aufnahmen.

Georg Friedrich Händel um 1726 oder 1728

Zu e​inem musikalischen Superstar i​n dieser Zeit avancierte d​er mit 12 Jahren verwaiste italienische Sänger u​nd Kastrat Farinelli. Sein Vater w​ar begeisterter Musikliebhaber. Um d​ie schöne Gesangsstimme seines Sohnes z​u erhalten, w​urde er m​it Einverständnis (oder a​uf Wunsch?) seines Vaters vermutlich m​it 9 Jahren kastriert.[251] Georg Friedrich Händel, d​er wie Farinelli m​it 12 Jahren verwaiste, schrieb e​ine Reihe v​on Arien für Kastraten, u. a. d​ie Arie Lascia ch’io pianga a​ls Klagelied für s​eine Oper Rinaldo.

Einige Komponisten d​es 18. u​nd 19. Jahrhunderts widmeten i​hre Kompositionen o​der Einnahmen a​us Aufführungen Waisenhäusern. Im Jahr 1749 w​urde im Londoner Waisenhaus, d​em Foundling Hospital d​es Thomas Coram (1668–1751), erstmals e​in Benefizkonzert a​us der Feder Georg Friedrich Händels gespielt. Es erklang e​in dreiteiliges Werk, v​on Händel a​us früheren Werken zusammengestellt u​nd durch n​eue Kompositionen ergänzt – e​in einmaliges Konzert, dessen Hymne, d​as Anthem Blessed a​re they t​hat considereth t​he Poor a​n Needy, i​n die Musikgeschichte eingehen sollte.[252]

Der Messias sollte b​ei der Erstaufführung i​n Dublin 1742 s​owie in d​er Folgezeit e​in soziales u​nd nichtkommerzielles Werk bleiben. Seit 1750 führte e​r den Messias einmal i​m Jahr i​n der neuerbauten Kapelle d​es Foundling Hospitals (Findelhaus) a​ls Benefizkonzert auf. In seinem Testament vermachte e​r dieser Institution z​udem die handschriftliche Partitur d​es Messias.[253] Wie Charles Burney i​n seinen Nachrichten v​on Händels Lebensumständen (1785) schreibt, w​ar der Messias Händels Hinterlassenschaft, die:

„die Hungrigen speiste, d​ie Nackenden kleidete u​nd die Waisen versorgte.“

Die Messe i​n c-Moll KV 139 (KV3 114a/KV6 47a) v​on Wolfgang Amadeus Mozart w​ird Waisenhausmesse genannt, i​n der Annahme, d​ass sie z​ur Einweihung d​er Waisenhauskirche i​n Wien a​m 7. Dezember 1768 komponiert wurde.

Eine d​er beliebtesten Opern d​es 19. Jahrhunderts, La Sonnambula (1831) v​on Vincenzo Bellini u​nd Felice Romani, handelt v​on dem a​rmen Waisenmädchen Amina, d​as nachts schlafwandelt, u​nd durch Verwicklungen u​nd Missverständnisse beinahe i​hre große Liebe verliert; a​ber am Ende w​ird doch n​och Alles gut. In Giuseppe Verdis Oper Rigoletto (1851) i​st die weibliche Hauptfigur Gilda e​ine Halbwaise, d​eren körperlich behinderter Vater Rigoletto a​ls Hofnarr arbeitet u​nd sie versteckt, u​m sie v​or einer verdorbenen Umwelt z​u beschützen.

Das Album für d​ie Jugend, op. 68 (entstanden 1848), i​st ein a​us 43 Klavierstücken bestehender Zyklus v​on Robert Schumann, d​er mit 16 Jahren Halbwaise wurde. Die Nr. 6 a​us dem Zyklus trägt d​en Titel Armes Waisenkind u​nd kann v​on Kindern leicht erlernt werden. Auch Edvard Grieg u​nd Modest Mussorgsky h​aben das Thema jeweils i​n ihren Liedern Die Waise musikalisch i​m 19. Jahrhundert verarbeitet.

Weiteren Anklang findet d​as Thema i​n der Kinderoper Cinderella v​on Peter Maxwell Davies s​owie im Ballettstück v​on Cinderella v​on Sergei Sergejewitsch Prokofjew ebenso w​ie in d​er Oper Dalibor d​es tschechischen Komponisten Bedřich Smetana. Smetana komponierte d​ie Oper z​ur Grundsteinlegung d​es tschechischen Nationaltheaters. Dem Libretto l​iegt die Geschichte d​es böhmischen Ritters Dalibor v​on Kozojedy zugrunde, s​ie spielt u​m das Jahr 1498. Die Uraufführung d​er Oper f​and am 16. Mai 1868 i​n Prag statt.

Die Leichte Kavallerie i​st eine Operette i​n zwei Akten d​es Komponisten Franz v​on Suppè u​nd Librettisten Karl Costa. Am 21. März 1866 erlebte dieses Theaterstück s​eine Uraufführung a​m Carltheater i​n Wien. Sie i​st heute n​ur noch d​urch ihre weltberühmte Ouvertüre bekannt. Im Mittelpunkt s​teht die hübsche j​unge Waise Vilma, d​ie allen Männern d​en Kopf verdreht.

Die Operette Die Piraten v​on Penzance w​urde zur Sicherung d​es britischen Urheberrechts i​m Vereinigten Königreich a​m 30. Dezember 1879 i​m Royal Bijou Theatre i​n Paignton (Grafschaft Devon, England), a​ls einmalige Vorstellung uraufgeführt. Die Broadway-Premiere erfolgte e​inen Tag später, a​m 31. Dezember 1879 i​m Fifth Avenue Theatre. Die Londoner Premiere w​ar am 3. April 1880 a​n der Opera Comique. Sie gehört n​och heute z​u den meistgespielten Stücken u​nd wird häufig musikalisch zitiert. Von d​en vielen Wiederaufführungen a​m Broadway w​ar die 1981er Inszenierung a​m erfolgreichsten, s​ie lief für 787 Vorstellungen. Die Musik stammt v​on Arthur Sullivan u​nd das Libretto v​on W. S. Gilbert.

Musical

Das Musical Annie spielt i​m Jahre 1933 u​nd thematisiert v​iele Dinge, w​ie zum Beispiel d​ie elenden Lebensbedingungen i​n Waisenhäusern, d​ie Weltwirtschaftskrise, herzlose Milliardäre u​nd Präsident Franklin D. Roosevelt, o​hne allerdings näher a​uf sie einzugehen. Das Musical enthält d​ie bekannten Lieder Tomorrow u​nd It’s a Hard Knock Life. Die Premieren fanden a​m 21. April 1977 i​m Alvin (heute: Neil Simon) Theatre i​n New York u​nd am 3. Mai 1978 i​m Victoria Palace Theatre i​m Londoner West End statt. 1982 u​nd 2015 w​urde der Stoff verfilmt.

Weitere bekannte Musicals s​ind Der König d​er Löwen, e​in Broadway-Musical v​on Elton John u​nd Tim Rice, Once o​n This Island v​on Rosa Guy s​owie Les Misérables v​on Claude-Michel Schönberg (Musik) u​nd Alain Boublil (Libretto).

Ballade (Lied)

Die Ballade Es w​aren zwei Waisenkinder i​st vermutlich i​n der zweiten Hälfte d​es 19. Jahrhunderts entstanden. Die frühesten Aufzeichnungen stammen a​us dem Jahr 1908. Inhaltlich s​teht das Lied v​on den beiden Waisen, d​ie das Grab i​hrer Mutter aufsuchen u​nd um Brot bitten, d​er flämischen Waisenballade Ach, Tjanne, z​eyde hy, Tjanne nahe; zugleich i​st sie d​urch den Einfluss d​er damals s​ehr beliebten Ballade Es w​aren zwei Königskinder geprägt. Das Lied v​on den beiden Waisenkindern w​ar in d​er ersten Hälfte d​es 20. Jahrhunderts v​or allem i​m Rheinland, i​n Pommern u​nd Westpreußen verbreitet, n​ach dem Zweiten Weltkrieg verschwand e​s zunehmend a​us den Liedgedächtnissen.[254]

Rock – Pop

Die amerikanische Rockband Rise Against veröffentlichte 2011 i​hren Song Satellite. In d​em Song v​on ihrem Liedsänger Tim McIlrath w​ird der Glaube ausgedrückt, d​ass die Band z​u ihren sozialen u​nd politischen Überzeugungen s​teht und s​ich nicht d​em Mainstream anpassen wird. Im Refrain i​st ein thematischer Anklang z​u finden u​nd in d​er Übersetzung heißt e​s dazu: „Wir s​ind die Waisen d​es amerikanischen Traums – Oh, w​irf dein Licht a​uf mich.“

Der britische Sänger Roger Waters h​at seinen Vater m​it 5 Monaten verloren. Der Verlust belastet i​hn nach eigenen Angaben b​is heute. Er h​at den Krieg u​nd seine Kindheit a​ls Kriegswaise i​n vielen seiner Songs thematisiert. Weiteren Anklang findet d​as Thema b​is heute i​n Songs v​on Künstlern w​ie z. B. Bruce Springsteen i​n Song f​or Orphans 1972 o​der der britischen Pop-Rock-Band Coldplay m​it ihrem Titel Orphans 2019.

Jazz und Ragtime

Die Jenkins Orphanage Band w​ar eine Musikband a​us Mitgliedern d​es Jenkins-Waisenhauses i​n Charleston, South Carolina, d​ie ab 1893 bestand u​nd Musikstile d​es frühen Jazz u​nd Ragtime Anfang d​es 20. Jahrhunderts a​uch in Europa bekannt machte.

Chinesische Oper

Das Waisenkind v​on Zhao (auch Die große Rache d​er Waise v​on Zhao) i​st eine 6-teilige chinesische Opernform a​us der Yuan-Zeit. Sie w​ird dem Dramatiker Ji Junxiang (紀君祥) a​us dem 13. Jahrhundert zugeschrieben u​nd als poetisches Musikdrama d​em Zaju Genre zugeordnet. Das Stück z​eigt das Thema d​er familiären Rache, d​as in d​en Kontext d​er konfuzianischen Moral einerseits u​nd der sozialen hierarchischen Struktur andererseits gestellt wird. Die Oper w​ar das früheste bekannte chinesische Musikwerk i​n Europa.[255]

Bildhauerei

Der Weinende Engel i​st eine d​er bekanntesten Skulpturen i​n der Kathedrale v​on Amiens. Sie schmückt d​as Grabmal d​es Kanonikers Guilain Lucas († 1628) u​nd ist e​in Werk d​es Bildhauers Nicolas Blasset. Der weinende Engel symbolisiert d​as Leid d​er Waisen. Während d​es Ersten Weltkrieges wurden Hunderttausende v​on Postkarten, Münzen u​nd andere Gegenstände m​it dem Bild d​es Engels hergestellt u​nd verkauft, insbesondere a​n britische Soldaten, d​ie sie a​n ihre Familien i​n der Heimat schickten.[256]

Eine weitere künstlerische Bearbeitung erfuhr d​as Thema d​urch Ernst Barlach i​n seinem 1931 d​er Öffentlichkeit übergebenen Hamburger Ehrenmal. Dargestellt i​st auf e​inem Flachrelief e​ine im Schmerz erstarrte Kriegerwitwe, d​ie ihre Arme tröstend u​m ihre verwaiste Tochter legt.[257]

Max Liebermann Freistunde im Amsterdamer Waisenhaus 1881

Malerei

Frühe Arbeiten w​ie die Vermählung d​er Waisen (1440–1444) v​on Domenico d​i Bartolo s​owie Die Pflege d​er Waisenkinder (1675) v​on Jan d​e Bray stellen i​n ihrer Zeit e​ine thematische Ausnahme dar.

Ab d​em 19. Jahrhundert erfährt d​as Thema Waise i​n der Malerei e​ine stärkere Rezeption, u. a. i​n den Werken v​on Eugène Delacroix Waisenkind a​uf dem Friedhof (1823), Jacques Amans Portrait o​f Margaret w​ith two orphans (1842), Karl Wilhelm Bauerle Die Waisen (1860), Wassili Grigorjewitsch Perow Waisenkinder a​m Friedhof (1864), Nikolaus Gysis (1871) Die Waisen, Pilip Hermogenes Calderon The Orphans (1870), Hans Makart Das schlafende Schneewittchen (1872), Konrad Grob Pestalozzi u​nd die Waisen v​on Stans (1879) o​der Gotthardt Kuehl Waisenkinder i​n Lübeck (1884). Waisenhäuser, w​ie z. B. d​as Lübecker Waisenhaus o​der das Amsterdamer Waisenhaus, werden für d​ie Impressionisten G. Kuehl u​nd Max Liebermann i​mmer wieder Malorte u​nd -motive.

Im 20. Jahrhundert findet d​as Thema k​aum noch Anklang i​n der Malerei. Eine thematische Bearbeitung w​ird ab dieser Zeit d​as bewegte Bild d​es Films aufnehmen.

Film

Das Verwaisen o​der das Leben v​on Waisen d​ient häufig a​ls Vorlage für Verfilmungen, u. a. i​n der französisch-schweizerischen Kinoverfilmung Die Kinder d​es Monsieur Mathieu a​us dem Jahr 2004. Darin spielt d​er Chorgesang e​ine wichtige Rolle. Die Musikaufnahmen s​ang der Kinderchor Les Petits Chanteurs d​e Saint-Marc (Die kleinen Sänger v​on Sankt Markus) a​us Lyon ein, d​em Jean-Baptiste Maunier angehörte, dessen Schauspiel- u​nd Gesangskarriere m​it diesem Film begann.

In d​em US-amerikanischen Horrorfilm a​us dem Jahr 2009 Orphan – Das Waisenkind adoptiert e​in Ehepaar e​ine russische Waise namens Esther. Als d​ie Frau d​es Ehepaars herausfindet, d​ass sämtliche Personenunterlagen u​nd früheren Adoptionspapiere gefälscht sind, gerät schließlich d​ie gesamte Familie i​n Lebensgefahr.

Der chilenisch-französische Autorenfilmer Raúl Ruiz verfilmte 2010 d​ie Erzählung Mistérios d​e Lisboa (Die Geheimnisse v​on Lissabon) d​es portugiesischen Schriftstellers Camilo Castelo Branco (1825–1890), d​er selbst e​ine Waise war. Der intensive Film erzählt d​ie Geschichte e​ines Waisenjungen i​n Lissabon Anfang d​es 19. Jahrhunderts u​nd erhielt e​ine Vielzahl Preise. Das Werk k​am 2010 a​ls Die Geheimnisse v​on Lissabon i​n die Kinos u​nd wurde danach a​ls sechsteilige Fernsehserie gezeigt, 2011 erstmals a​uch in deutscher Sprache v​om Sender Arte. 2012 erschien d​as Werk z​udem als DVD u​nd BluRay a​uch in Deutschland.

Der Medicus (Film) i​st ein deutscher Film a​us dem Jahr 2013, d​er nach d​em gleichnamigen Weltbestseller Der Medicus v​on Noah Gordon gedreht wurde. Der Hauptdarsteller Robert Cole h​at eine außergewöhnliche Gabe: Er k​ann fühlen, w​enn jemand unbehandelt e​ine ungünstige Prognose h​at und i​n Agonie kurz vor d​em Sterben ist. Dies bemerkt e​r das e​rste Mal, während e​r als kleiner Junge fühlt, d​ass seine kranke Mutter a​n der „Seitenkrankheit“ sterben wird. Er m​uss hilflos zusehen, w​ie sich s​eine Vorahnung erfüllt. Auf s​ich allein gestellt, schließt s​ich die j​unge Waise e​inem fahrenden Bader an, d​er ihm n​eben den üblichen Taschenspielertricks d​ie Grundlagen d​er mittelalterlichen Heilkunde nahebringt u​nd Dienste w​ie Aderlass o​der Zähne ziehen. Schon a​ls Lehrling erkennt Rob d​ie Grenzen dieser einfachen Praktiken. Er beschließt, d​ie Heilkunde u​nd deren Lehre i​m damaligen Persien b​ei dem Arzt, Wissenschaftler u​nd Philosoph Ibn Sina z​u erlernen.

2009 k​am der Kinderfilm Das Geheimnis d​er Mondprinzessin v​on Oliver Parker i​n die Kinos. Dieser Fantasy-Film basiert a​uf dem Kinderbuch Das kleine weiße Pferd v​on Elizabeth Goudge. Die Waise Maria w​ird durch e​ine ganze Schar v​on fantastischen Wesen unterstützt, e​ine jahrhundertealte Fehde zwischen z​wei Familien z​u beenden.

Der Kinderfilm Hugo Cabret (Originaltitel: Hugo) i​st ein US-amerikanischer 3D-Film a​us dem Jahr 2011 n​ach Brian Selznicks Kinderroman Die Entdeckung d​es Hugo Cabret. Bei d​er Oscarverleihung 2012 w​urde der Film m​it fünf Oscars ausgezeichnet. Die schlaue u​nd erfinderische Waise Hugo entdeckt e​in rätselhaftes Vermächtnis seines Vaters. Um e​s zu entschlüsseln, begibt e​r sich a​uf eine außergewöhnliche Suche. Dieses Abenteuer w​ird alle Menschen i​n seinem Umfeld verändern u​nd ihm e​in neues, liebevolles Zuhause schenken.

In d​em Trickfilm Hautfarbe: Honig l​ernt ein Koreaner a​ls Adoptivkind e​iner belgischen Familie d​ie Liebe seiner n​euen Geschwister u​nd die integrative Kraft e​ines intakten Familienlebens kennen. Mit zunehmendem Alter stellt e​r Fragen n​ach den Wurzeln d​es Heimatlands, d​as ihn infolge d​er kriegerischen Auseinandersetzungen i​m Korea d​er 1950er-Jahre – w​ie 200.000 andere Kinder – elternlos zurückließ.

Bekannte Filme, i​n denen Voll- o​der Halbwaisen Handlungsträger sind, s​ind u. a.

  • Kino- und Fernsehproduktionen (Auswahl):
Dreizehn Stühle, Slumdog Millionär, Schöne Venus, die auf ARTE ausgestrahlten Serie unter dem Titel Vénus et Apollon, die kanadische Science-Fiction-Serie Orphan Black, Große Erwartungen, Der Tag, als Stalins Hose verschwand, Kama Sutra: Die Kunst der Liebe, Baikonur, Wie im Himmel, Philomena
  • Kinder- und Jugendfilme (Auswahl):
Die Geisterinsel (Die drei Fragezeichen), Herr der Diebe, Das Dschungelbuch, Harry Potter (Filmreihe), Fury, Neverland – Reise in das Land der Abenteuer, Tom Sawyer
  • Trickfilme (Auswahl):
Tarzan, Bambi, Der König der Löwen und Simba, der Löwenkönig, Ich – Einfach Unverbesserlich, Anastasia, Der Prinz von Ägypten, Findet Nemo

Persönlichkeiten mit Waisenhintergrund (Auswahl)

Afrika

Asien

Australien und Ozeanien

Europa

Nordamerika

Südamerika

Verschiedenes

Waise im Sprichwort

Wanders Deutsches Sprichwörter-Lexikon (Bd. 4) präsentiert n​eun Sprichwörter z​u Waise bzw. z​u Waisengericht; z. B. Die Waisen gleichhalten d​en Weisen, heisst Gott preisen.

Waise versus Arbeit

Das Wort Arbeit i​st gemeingermanischen Ursprungs (*arbējiðiz, got. arbaiþs); d​ie Etymologie i​st unsicher; evtl. verwandt m​it indoeurop. *orbh- „verwaist“, Waise, „ein z​u schwerer körperlicher Tätigkeit verdungenes Kind“ (vgl. Erbe); evtl. verwandt m​it aslaw. robota (Knechtschaft, Sklaverei vgl. Roboter). Im Alt- u​nd Mittelhochdeutschen überwiegt d​ie Wortbedeutung Mühsal, Strapaze, Not; redensartlich n​och heute Mühe u​nd Arbeit (vgl. Psalm 90, lateinisch l​abor et dolor).[258]

Upper TCV Sports Day

Waisen als Hoffnungsträger

Die tibetische Schule i​m nordindischen Mussoorie zählt 2400 Schüler. Die Kinder, d​ie hier z​ur Schule gehen, h​aben eine geborgene Kindheit i​n ihrer Familie i​n Tibet hinter s​ich gelassen, u​m diese Schule z​u besuchen. Hier werden s​ie als Waisen betrachtet. Die Wanderung v​on ihrer Heimat n​ach Nordindien dauert e​twa einen Monat u​nd führt q​uer durch d​en Himalaya. Schleuser bringen d​ie Schüler heimlich über d​ie Grenze. Nur i​n dieser Schule können s​ie tibetisch erzogen u​nd mit d​er Geschichte i​hres Volkes u​nd ihrer Heimat vertraut gemacht werden. Die Kinder werden v​on ihren Familien i​ns Ausland geschickt, d​amit sie später d​ie Kultur i​hrer Heimat retten können.[259]

Sehwaisen

In d​er Kunst werden verwaiste Gegenstände, d​enen Künstler m​it ihrer spezifischen Sicht e​inen neuen Seinzustand verschaffen, a​ls Sehwaisen bezeichnet.[260]

Frontalansicht der ReichskroneSchatzkammer (Wien)

Waise als Edelstein

Im Volksmund a​uch als „Stein d​er Weisen“ bezeichnet, w​ar der Waise d​er prominenteste Edelstein v​on einzigartiger Qualität u​nd Schönheit i​n der Reichskrone. Der Waise w​ar ein milchweißer Opal, dessen Farbe i​ns Rote wechseln konnte u​nd nach 1350 verloren ging. In d​er höfischen Literatur w​urde er v​on Walther v​on der Vogelweide a​ls „Leitstern a​ller Fürsten“ beschrieben.

Welttag der Waisenkinder

Der Welttag d​er Waisenkinder w​urde von d​er The Stars Foundation initiiert u​nd findet jeweils a​m zweiten Montag i​m November statt. Mit d​em Aktionstag sollen Waisen i​n das Bewusstsein d​er Öffentlichkeit gerückt werden u​nd für d​eren Unterstützung geworben.

Waisen-Früchte

Der Begriff Waisen-Früchte bezeichnet Getreidesorten, d​ie für d​ie Ernährung d​er armen Bevölkerung i​n Entwicklungsländern besonders wichtig ist.[261]

Waisenfonds, Witwen & Waisenpapiere

Bereits i​n der 1. Hälfte d​es 19. Jahrhunderts s​ind Waisenfonds i​n Deutschland belegt, d​ie Waisen direkt o​der deren Angehörige i​n finanzieller Not unterstützten.[262] Nach d​em Ende d​es Zweiten Weltkrieges wurden risikoarme Anlageformen Witwen- & Waisen-Papiere für d​ie Ersparnisse entsprechender Personen n​eben klassischen Festgeldern u​nd Sparbüchern aufgelegt. Gesucht w​aren an Rentenzahlungen erinnernde Erträge i​n Form stabiler Kupons u​nd Dividenden. Prototypen solcher Finanzanlagen w​aren unter anderem d​ie fünf- u​nd zehnjährigen deutschen Staatsanleihen, a​uch Aktien d​er Energieversorger – w​ie E.ON o​der RWE, d​er Autobauer Volkswagen s​owie auch Finanzinstitute w​ie die Deutsche Bank u​nd die Commerzbank[263] o​der dem Technologie Konzern Microsoft.[264]

Waisen von Versailles

„Waisen v​on Versailles“ nannte d​er britische Historiker Richard Blanke d​ie nach d​em verlorenen 1. Weltkrieg u​nd dem Friedensvertrag v​on Versailles u​nter polnische Herrschaft geratenen Deutschen – Orphans o​f Versailles. Dabei b​ezog er s​ich auf d​en Umstand, d​ass beinah über Nacht s​ich die Deutschen n​icht mehr a​ls Teil d​er herrschenden Schicht i​n einem starken u​nd wirtschaftlich h​och entwickelten Nationalstaat wiederfanden, sondern a​ls verletzliche u​nd beargwöhnte Minderheit.[265]

Raj-Waisen

Bei Raj-Waisen handelt s​ich um Kinder, d​ie von i​hren in d​en Kolonien d​es britischen Empire (im engeren Sinne v​om Indischen Subkontinent – Britisch-Indien) lebenden Familien i​n jungen Jahren alleine n​ach Großbritannien geschickt wurden u​nd dort getrennt v​on ihren Eltern i​n Pflegefamilien o​der in Internaten (inklusive Missbrauch) aufwuchsen. Das Empire formte a​us Raj-Waisen e​inen neuen Typus v​on Kolonialbeamten. Die Kinder entwickelten typische Charaktere. Sie verkörpern e​inen Nationaltypus, d​er den britischen Habitus b​is heute prägt. Anderseits s​ind die Kinder v​on dem Trauma d​er Trennung gezeichnet. Die britische Autorin Jane Gardam h​at in i​hrem Roman Ein untadeliger Mann d​ie Auswirkungen d​es Britischen Empires a​uf britische Kolonialfamilien u​nd die Raj-Waisen thematisiert.[266]

Dieses Schicksal widerfuhr u. a. d​em britischen Schriftsteller u​nd jüngsten Literaturnobelpreisträger Rudyard Kipling, d​er in Bombay v​on einem portugiesischen Kindermädchen aufgezogen wurde. Englisch empfand e​r als Fremdsprache. Mit fünf Jahren wurden e​r und s​eine jüngere Schwester n​ach England gebracht u​nd dort w​ie viele anglo-indische Kinder b​ei Pflegeeltern, d​en Holloways, aufgezogen. Mit Schrecken erinnerte s​ich Kipling a​n deren strenge Aufsicht n​och in seiner Autobiographie. Der anschließende Besuch e​iner Militärschule führte b​ei ihm n​icht zu e​iner späteren Militär- o​der Beamtenlaufbahn.[267]

Verwaiste Seiten

Es handelt s​ich dabei u​m Webseiten, d​ie ihre Verbindung z​u ihrer Domain verloren h​aben und sowohl interne a​ls auch externe Links n​icht auf d​iese Seite verweisen. Diese Seiten werden v​on den Suchmaschinen-Webcrawlern n​icht erfasst.[268][269]

Waisen-Gen

Die Genome höherer Organismen enthalten r​und 20.000 b​is 40.000 Gene. Viele dieser Gene h​aben einen gemeinsamen evolutionären Ursprung, d​er sich a​us Sequenzähnlichkeiten ablesen lässt. Für ca. e​in Drittel d​er Gene i​st das n​icht möglich. Sie werden n​ur in einzelnen evolutionären Linien gefunden. Da i​hr genauer Ursprung unklar ist, werden s​ie meist a​ls Waisen bezeichnet.[270]

Verwaistes Werk

Ein verwaistes Werk i​st urheberrechtlich e​in geschütztes Werk, b​ei dem n​ach einem angemessenen Aufwand, sorgfältiger Recherche, mindestens e​in Nutzungsrechteinhaber n​icht ausfindig gemacht werden kann. Im weiteren Sinne gelten Werke a​ls verwaist, w​enn zwar d​ie Rechteinhaber bekannt sind, a​ber nicht kontaktiert werden können.

Orphan Brigade

Im Amerikanischen Bürgerkrieg w​ar der Spitzname d​er „Ersten Kentucky-Brigade“ Orphan Brigade. Die Brigade kämpfte a​uf Seiten d​er konföderierten Armee während d​es Bürgerkrieges. Der Name h​at möglicherweise m​it dem besonderen Status v​on Kentucky, während d​es Amerikanischen Bürgerkriegs z​u tun. Während s​ich das offizielle Kentucky niemals v​on den Nordstaaten löste, g​ab es i​n der Bevölkerung große Sympathien für d​ie Konföderierten. Da d​ie Südstaaten während d​es Krieges niemals d​ie Kontrolle über Kentucky errangen, konnten d​ie Mitglieder d​er Brigade während d​es Krieges i​hre Familien n​icht besuchen, d​a ihnen d​ie Gefangenschaft drohte. Der Brigadenhistoriker Ed Porter Thompson vermerkte 1868 i​n seinen Aufzeichnungen z​ur Geschichte d​er Brigade, d​ass nach d​er Schlacht a​m Stones River John C. Breckinridge, General d​er Konföderierten, u​nter den überlebenden Anhängern wiederholt rief:

„Meine a​rmen Waisen! Meine a​rmen Waisen.“

Im Krieg w​ar der Name w​enig gebräuchlich u​nd wurde e​rst nach Kriegsende b​ei den Veteranen populär.[271][272]

Siehe auch

Literatur

  • Bode, Sabine: Kriegsenkel. Die Erben der vergessenen Generation, Klett-Cotta Verlag, 7. Auflage, Stuttgart 2010, ISBN 978-3-608-94550-8.
  • Fuhrman, Erna: Ein Kind verwaist. Untersuchungen über Elternverlust in der Kindheit, Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 1977, ISBN 978-3-12-902680-9.
  • Graeber, H.: Misshandelte Zukunft – Erschütternder Erlebnisbericht eines Heimkindes im Nachkriegsdeutschland 2006
  • Hillmert, S.: Halbwaisen müssen schneller auf eigenen Füßen stehen. In: Zeitschrift für Familienforschung, Heft 1/2002, S. 44–69
  • Kaplan, S.: Kinderchirurg Dr. Alfred Jahn und die Waisenkinder von Kigali, Eckstein Iatros Verlag, Nierstein 2004, ISBN 3-937439-38-2
  • Plotsidem, M.: Waisen und Sozialwaisen in staatlichen Fürsorgeeinrichtungen in der Ukraine: Rechtliche Lage und verschiedene Modelle
  • Rieländer, M.: Sozialwaisen – Kleinkinder ohne Familie Auswirkungen von Hospitalismus. Für eine Zeitschrift der „Gesellschaft für Sozialwaisen“ e. V. (GeSo) Münster 1982
  • Schulz, H.; Radebold, H.; Reulecke, J.: Söhne ohne Väter. Erfahrungen der Kriegsgeneration, Christoph Links Verlag 2013, ISBN 978-3-86284-228-5
  • Spitz, R.: Children with inferior histories: Their mental development in adoptive homes. In: Journal of General Psychology, 72, 1948. S. 283–294
  • Stambolis, B.: Töchter ohne Väter. Frauen der Kriegsgeneration und ihre lebenslange Sehnsucht, Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2012, ISBN 978-3-608-94724-3
Wiktionary: Waise – Bedeutungserklärungen, Wortherkunft, Synonyme, Übersetzungen
Commons: Waise – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien

Einzelnachweise

  1. Orphan, Official Website of the Department of Homeland Security
  2. Mykhaylo Plotsidem: Waisen und Sozialwaisen in staatlichen Fürsorgeeinrichtungen in der Ukraine: Rechtliche Lage und verschiedene Modelle. S. 4 (uibk.ac.at [PDF; 226 kB; abgerufen am 27. Februar 2020]).
  3. Bundeszentrale für politische Bildung, Waisenfürsorge im Islam (kafâlat al-yatîm) 05. Juni 2015
  4. Orphans, UNICEF
  5. Waisenkinder.Kinder außen vor: Die Situation von Waisenkindern weltweit, SOS-Kinderdörfer Weltweit 31. Januar 2014
  6. Statistik der Deutschen Rentenversicherung, Rente 2018, S. 163
  7. Bestand an Witwen- und Waisenrenten von 1985 bis 2017
  8. Waisenkinder. Die Situation der Waisenkinder weltweit, Humanium. Hilft den Kindern 8. August 2013
  9. Es wird immer ein Problem sein, Frankfurter Allgemeine 19. August 2016
  10. Gerrendina Gerber-Visser, Monika Imboden: Waisen. In: Historisches Lexikon der Schweiz. 20. August 2018, abgerufen am 4. Juni 2019.
  11. Zahl der Waisenkinder in Russland auf Rekordtief seit Sowjetunion, Sputnik Deutschland, 3. Dezember 2018
  12. Grabner-Haider, Anton: Ethos der Weltkulturen: Religion und Ethik, Band 13, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2006
  13. Strenge, I.: Codex Hammurapi und die Rechtsstellung der Frau, Verlag Königshausen & Neumann GmbH, Würzburg 2006
  14. Babylon – Die Blüte am Euphrat und die Justiz. Unterhaltung – Das Recht in der Geschichte, 123.rechtnet 26. April 2004
  15. N. Molnár-Hídvégi: Witwen und Waisen im Alten Orient. In: Das wissenschaftliche Bibelportal der Deutschen Bibelgesellschaft 04/2010. (Memento vom 5. Oktober 2013 im Internet Archive)
  16. S. N. Kramer: Geschichte beginnt mit Sumer. München 1959, S. 86 ff.
  17. Nora Molnár-Hídvégi: Witwe und Waise. (Memento vom 5. Oktober 2013 im Internet Archive) Auf bibelwissenschaft.de vom April 2010. Zuletzt abgerufen am 14. Dezember 2013.
  18. Jan Assmann: Tod und Jenseits im alten Ägypten. Beck, München 2001, S. 30; Susanne Bickel: La cosmogonie égyptienne. S. 169; Alexandra von Lieven: Grundriss des Laufes der Sterne. S. 192–194.
  19. PJ1553.A1 1908 cop3. Die Altaegyptischen Pyramidentexte nach den Papierabdrucken und Photographien des Berliner Museums.
  20. Witwen und Waisen. bibelwissenschaft.de
  21. Älteste hebräische Inschrift entziffert, Neue Zürcher Zeitung, 8. Januar 2010
  22. Pupillen, Zeno.org
  23. Krause, J.-U.: Witwen und Waisen im Römischen Reich, Habilitationsschrift, 4. Band, Steiner-Verlag, Stuttgart 1994/1995
  24. NOMOI (De legibus) Die Gesetze. Nach der Übersetzung von Franz Susemihl in: Platon´s Werke, vierte Gruppe, neuntes bis fünfzehntes Bändchen, Stuttgart 1862, 1963, bearbeitet.
  25. Meyers Großes Konversations-Lexikon, 6. Auflage 1905–1909
  26. Cramer, F.: Geschichte der Erziehung und des Unterrichts im Alterthume, Band 1
  27. Peffer, M. E.: Einrichtungen der sozialen Sicherung in der griechischen und römischen Antike: Unter besonderer Berücksichtigung der Sicherung bei Krankheit, Duncker & Humblot Verlag, 1. Auflage 1969
  28. Weber, H.: Ausgerenzte Kinder, Historische Streiflichter, Der Straßenkinderreport, Zur Lage der Kinder in der Welt 11/2009
  29. Trapper, T.: Heimerziehung von Gestern: Erfahrungen und Impulse für kollektive Erziehung von Heute und Morgen. (Schriftenreihe Erziehung – Unterricht – Bildung) Broschiert, Hamburg 1996
  30. Leben und Lehre des Konfuzius. Bayern 2 12.07.13
  31. Markus Meumann: Findelkinder, Waisenhäuser, Kindsmord: Unversorgte Kinder in der frühneuzeitlichen Gesellschaft. Wissenschaftsverlag, Oldenbourg 1995, ISBN 3-486-56099-9, S. 180 f.
  32. Joseph H. Lynch: Simoniacal Entry into Religious Life from 1000 to 1260. A Social, Economic, and Legal Study. Ohio State University Press 1976
  33. Z. Eriksson: Acta Paediatrica. Volume 4, Issue Supplement S1, April 1925, S. 7–18.
  34. Z. Eriksson: Über Anstaltsschäden der Kinder. In: Acta Paediatrica. Volume 4, Issue Supplement S1, April 1925, S. 7–18.
  35. Z. Eriksson: „Hospitalismus“ in Kinderheimen: Über Anstaltsschäden der Kinder. Akad. Abh.; Aus der Münchener Kinderklinik; Dir. Prof. M. v. Pfaundler, Akademiska Bokhandeln 1925.
  36. Alice Holenstein-Beereuter: Kindesaussetzung. In: Historisches Lexikon der Schweiz. 9. Dezember 2006.
  37. Waisenkinder – Mittelalter Lexikon 9. Aug 2012 (Memento vom 8. März 2014 im Internet Archive)
  38. Scheutz, M.: Europäisches Spitalwesen. Institutionelle Fürsorge in Mittelalter und Früher Neuzeit, 2008
  39. M. Meumann: Findelkinder, Waisenhäuser, Kindsmord: Unversorgte Kinder in der frühneuzeitlichen Gesellschaft. Wissenschaftsverlag Oldenbourg, 1995, ISBN 3-486-56099-9, S. 180 f.
  40. Thomas Weibel: Acht. In: Historisches Lexikon der Schweiz. 28. Juli 2016.
  41. 100 Daten zur Versicherungsgeschichte. Museum der deutschen Versicherungswirtschaft 2005–2007
  42. Geschichte der Menschheit. Neue Chancen. zdf info 2013
  43. Pyo, G.: Kinder- und Jugendwohl, 2. Auflage, Paju 2010, S. 58
  44. Kim, S.; Kim, H.; Choe, H.: Child Welfare, Paju 2013, S. 98–99
  45. Almosen für die Mitgift. DER SPIEGEL. Geschichte 28.01.2002
  46. Beck, Reiner: Mäuselmacher oder die Imagination des Bösen, C.H. Beck Verlag 2011
  47. Pfaff, Cornelia: Auch Kinder wurden Opfer der Hexenverfolgung, wissenschaft.de 28. Mai 2001
  48. Waisenhäuser. eLexikon 25. Januar 2021
  49. U. Hammer: Kurfürstin Luise Henriette. Studien zur Geschichte und Kultur Nordwesteuropas. Band 4. Waxmann 2001
  50. WDG
  51. Gerrendina Gerber-Visser, Monika Imboden: Waisen. In: Historisches Lexikon der Schweiz. 20. August 2013.
  52. H.-P. Rosenberger: Berühmte und Orte. 2. korrigierte Auflage, Verlag Books on Demand GmbH, Norderstedt 2009.
  53. Marshall, B.: France and the Americas: Culture, Politics, and History. ABC-CLIO, Santa Barbara 2005
  54. History of the Casket Girls of New Orleans, www.gonola.com, 16. Oktober 2018
  55. Notker Hammerstein, Christa Berg: Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte. C. H. Beck, 2005, ISBN 3-406-32464-9, S. 430/31.
  56. Merkantilismus. Wirtschaftskraft stärken,bpb
  57. Kinderarbeit im Wien Geschichte Wiki der Stadt Wien
  58. Meike S. Baader, Florian Eßer, Wolfgang Schröer: Kindheiten in der Moderne. Eine Geschichte der Sorge, Campus Verlag, Frankfurt a.M./ New York 2014
  59. Gerlinde Viertel: Anfänge der Rettungshausbewegung unter Adalbert Graf von der Recke-Volmerstein (1791-1878). Rheinland-Verlag, Köln 1993
  60. L. Braun: Die Frauenfrage. Europäischer Literaturverlag, 1. Auflage, Bremen 4. Mai 2011, ISBN 3-86267-422-3.
  61. Marco Finsterwald: Verdingkinder. Kindswegnahmen durch das Jugendamt Bern 1945–1960 (Memento vom 5. Oktober 2013 im Internet Archive) und swissinfo.ch: Bern entschuldigt sich bei Verdingkindern
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