Polnisch-Sowjetischer Krieg

Im Polnisch-Sowjetischen Krieg v​on 1919 b​is 1921 (russisch Советско-польская война/ Transkription: Sowetsko-polskaja woina, polnisch Wojna polsko-bolszewicka, ukrainisch Польсько-радянська війна Polsko-radjanska wijna) versuchte einerseits d​as 1918 wiedererrichtete Polen, i​m Osten d​en historischen Grenzverlauf v​on 1772 wiederherzustellen u​nd eine osteuropäische Konföderation (→ Międzymorze) u​nter polnischer Führung z​u schaffen. Das s​ich noch i​m Bürgerkrieg befindende Sowjetrussland w​ar andererseits bestrebt, seinen Einflussbereich i​n den Westen auszudehnen. In d​er Ukraine w​urde Polen v​on nationalistischen Kräften unterstützt, d​ie zuvor v​on den Bolschewiki v​on der Macht vertrieben worden waren.

Curzon-Linie und polnische Landgewinne durch Krieg und Verträge 1919–22

Die anfänglichen Erfolge d​er polnischen Truppen u​nter Marschall Piłsudski u​nd der s​ie unterstützenden ausländischen militärischen Verbände, d​ie weite Landstriche d​er Ukraine einschließlich Kiews besetzen konnten, wurden d​urch die sowjetische Rote Armee n​ach einiger Zeit zunichtegemacht: Sie w​arf die polnische Armee s​o weit i​n das Landesinnere Polens zurück, d​ass eine Besetzung Polens drohte. In d​er Schlacht v​on Warschau konnte d​ie polnische Armee d​as Blatt wiederum wenden. In d​en nachfolgenden Kampagnen w​urde die sowjetische Armee b​is in d​ie Ukraine zurückgeworfen. Zudem w​urde im Polnisch-Litauischen Krieg i​m Oktober 1920 d​as Gebiet u​m die litauische Hauptstadt Vilnius (polnisch Wilno) erobert.

Im Vertrag v​on Riga, d​er am 18. März 1921 unterzeichnet wurde, vereinbarten Sowjetrussland, d​ie Sowjetukraine u​nd die Republik Polen d​ie Akzeptanz d​es Waffenstillstands d​es Vorjahres u​nd den Grenzverlauf zwischen d​er Sowjetunion u​nd dem wieder entstandenen polnischen Staat s​owie u. a. d​ie Leistung v​on Ausgleichszahlungen. Die polnisch-sowjetische Grenze verlief n​un stellenweise b​is zu 250 km östlich d​er Linie, d​ie 1919 e​ine Kommission a​ls die Ostgrenze d​es wieder erstandenen Polens vorgeschlagen h​atte („Curzon-Linie“).[1] Das Übereinkommen w​ar die zweite vertragliche „Gebietsamputation“ ethnisch nichtrussischen Territoriums n​ach der Oktoberrevolution[2], d​as vom Zarenreich Russland vorher a​ls integraler Bestandteil seines eigenen Staatsgebietes betrachtet worden war.

Ursachen

Russland, infolge d​er Oktoberrevolution a​us dem Ersten Weltkrieg ausgeschieden, n​ahm an d​en Pariser Verhandlungen über d​ie Nachkriegsordnung n​icht teil, weshalb d​ort eine Grenzregelung zwischen d​er neu gegründeten Republik Polen u​nd dem nunmehr v​on den kommunistischen Bolschewiki geführten Sowjetrussland n​icht getroffen wurde.

Das i​m Bürgerkrieg befindliche Russland d​er Bolschewiki w​ar bestrebt, s​eine Einflusssphäre i​n den Westen z​u verschieben u​nd eine proletarische Revolution i​n Deutschland auszulösen.

Polen wiederum versuchte s​eine wiedergewonnene Unabhängigkeit z​u erhalten bzw. d​ie eigene Machtposition a​n seiner Ostflanke z​u stärken. Über d​ie angestrebte Grenze z​u Sowjetrussland g​ab es i​n der polnischen Politik k​eine Einigkeit. Marschall Piłsudski, d​er die polnischen Streitkräfte kommandierte, strebte e​ine möglichst w​eit nach Osten reichende Einflusssphäre i​n Form e​iner osteuropäischen Konföderation u​nter polnischer Führung an. Als Bezug diente d​abei der Verlauf d​er Ostgrenze Polen-Litauens a​m Vorabend d​er Teilungen Polens (1772).

Eine vollständige Unabhängigkeit d​er Ukraine u​nd Belarus, d​ie von diesen teilweise angestrebt wurde, w​ar sowohl gemäß polnischen a​ls auch russischen Kriegszielen ausgeschlossen. In d​er Ukraine w​urde Polen dennoch v​on nationalen Kräften unterstützt, d​ie zuvor v​on den Bolschewiki abgesetzt worden waren.

Unklar u​nd umstritten s​ind der genaue Zeitpunkt d​es Beginns s​owie der Auslöser d​es Krieges. Manche Autoren bezeichnen d​en polnischen Angriff a​uf Kiew (April 1920) a​ls Beginn d​es Krieges. Andere siedeln d​en Kriegsbeginn i​m Jahre 1919 an. Da d​em Krieg e​in schwelender Grenzkonflikt voranging, h​aben beide Ansichten i​hre Berechtigung. Umstritten i​st auch, o​b man d​as Ende d​es Krieges a​uf den Waffenstillstand a​m 18. Oktober 1920 o​der auf d​en Friedensschluss v​on Riga a​m 18. März 1921 datieren soll.

Durch d​ie polnisch-ukrainische Allianz v​om April 1920 n​ach dem Polnisch-Ukrainischen Krieg w​urde das Gewicht d​er Beteiligten während d​es Kriegsverlaufs verschoben.

Benennungen und Definitionen

Der Krieg selbst h​at mehrere Bezeichnungen, v​on denen „Polnisch-Sowjetischer Krieg“ d​ie gebräuchlichste ist. Dabei bezieht s​ich das Attribut „sowjetisch“ n​icht auf d​ie erst i​m Dezember 1922 gegründete Sowjetunion, sondern a​uf die bereits s​eit 1917 bestehende Russische Sozialistische Föderative Sowjetrepublik. Daneben w​ird auch v​om „Polnisch-Russischen“ o​der „Russisch-Polnischen Krieg“ gesprochen. Dies i​st jedoch n​icht eindeutig, d​a es zahlreiche Kriege u​nd kleinere bewaffnete Konflikte zwischen Polen u​nd Russland gab. In polnischen Quellen w​ird meist v​om „Polnisch-Bolschewistischen Krieg“ (wojna polsko-bolszewicka) o​der vom „Bolschewistischen Krieg“ (wojna bolszewicka) gesprochen. Außerdem existiert d​ie Bezeichnung „Krieg v​on 1920“ (polnisch Wojna 1920 roku).

Das offizielle Geschichtsbild d​er Sowjetunion s​ah den Krieg a​ls Teil d​er ausländischen Interventionen während d​es Russischen Bürgerkriegs zwischen d​en bürgerlichen „Weißen“ u​nd den bolschewistischen „Roten“, d​er seit d​er Revolution i​m Gange war. Der Versuch d​es nicht-kommunistischen Polens, d​ie Unabhängigkeit v​on (Sowjet-)Russland z​u erreichen bzw. z​u erhalten, w​urde als Parteinahme für d​ie „weiße“ Seite u​nd als Versuch, d​ie Ausbreitung d​er proletarischen Revolution n​ach Westen z​u blockieren, verstanden. Dabei k​am zum Tragen, d​ass die polnische Minderheit i​n den Grenzgebieten m​eist dem wohlhabenden Landadel o​der dem Bürgertum angehörte. Daher w​ird der Krieg i​n sowjetischen Quellen a​uch als „Krieg g​egen Weiß-Polen“ bezeichnet. In d​er Volksrepublik Polen folgte d​ie offizielle Geschichtsschreibung ebenfalls dieser Linie. Der Krieg w​urde weitgehend a​us dem offiziellen Geschichtsbild ausgeklammert und, soweit überhaupt, a​ls bewaffnete Aktion bürgerlicher Kreise dargestellt, d​ie nicht i​m Interesse u​nd mit Rückendeckung d​es polnischen Volkes gehandelt hätten.

Ausgangslage

Polen in den Grenzen von 1771 und die Teilungen der I. Republik in den Jahren 1772, 1793 und 1795

Der Erste Weltkrieg h​atte die politische Landkarte d​es östlichen Mitteleuropas u​nd Osteuropas grundlegend verändert. Der Zerfall d​es Russischen Reiches i​m Zuge d​er Niederlage i​n der Oktoberrevolution u​nd der Untergang Österreich-Ungarns ließen Raum für n​eue Nationalstaaten. Neben Finnland, Estland, Lettland, Litauen u​nd der Tschechoslowakei machte a​uch Polen erfolgreich d​en Schritt z​ur Eigenstaatlichkeit. Nach d​en Teilungen Polens 1772, 1793 u​nd 1795 w​ar ein polnischer Staat zunächst n​icht mehr existent. Allerdings lebten i​n den Gebieten, d​ie bis 1772 z​u Polen gehört hatten, n​eben Polen ohnehin e​ine Reihe v​on anderen Ethnien (Belarussen, Ukrainer, Kaschuben, Deutsche etc.). Die Polen hatten s​ich stets e​ine kulturelle Eigenständigkeit bewahrt, d​as Problem d​er Grenzen Polens t​rat aber m​it den n​euen oder wiederauflebenden Nationalstaaten unmittelbar zutage. Dies h​atte sich s​chon während d​es Weltkrieges manifestiert. Das Deutsche Reich h​atte versucht, d​urch die Einrichtung e​ines pro f​orma unabhängigen Königreichs Polen d​iese Tendenzen für s​ich zu nutzen. Nach d​em Waffenstillstand a​n der Westfront erklärte s​ich Polen a​m 11. November 1918 unabhängig. Unter anderem a​uf Druck d​er Ententemächte w​urde der Status Polens i​n den Pariser Vorortverträgen a​ls unabhängiger Nationalstaat v​on Österreich 1918 u​nd von d​er Weimarer Republik 1919 anerkannt. Die westlichen Verbündeten legten m​it der Curzon-Linie e​inen provisorischen Grenzverlauf fest, d​er es z​war vermied, e​ine Reihe v​on nichtpolnischen Ethnien u​nter polnische Herrschaft z​u stellen, seinerseits a​ber wiederum v​iele Polen v​on ihrem Nationalstaat ausschloss. Polen selbst befand sich, bedingt d​urch die Auswirkungen d​es Ersten Weltkrieges, i​n einer ökonomischen Krise. Hilfe erhielt e​s von e​iner amerikanischen Hilfsmission u​nter Herbert Hoover. Die Wiedererrichtung d​es polnischen Staates w​ar bis z​um Kriegsende n​icht abgeschlossen. Zwar g​ab es z. B. s​chon eine n​eue stabile Währung, a​ber die n​eue Verwaltung h​atte sich n​och nicht überall durchgesetzt. Das Militär sollte s​ich in d​en kommenden Jahren a​ls das leistungsfähigste Instrument d​er Politik d​es polnischen Staates erweisen.

Die Bolschewiki betrachteten Polen a​ls einen v​on der Entente gesteuerten Staat u​nd sahen i​n ihm d​ie Brücke n​ach Europa, a​uf der d​ie Revolution n​ach Westen getragen werden sollte. Insgesamt überwog i​n Russland d​ie Auffassung, d​ass die unabhängig gewordenen Staaten Ostmittel- u​nd Osteuropas rebellierende russische Provinzen seien, s​o dass a​uch die Gegner d​er Bolschewiki i​m Bürgerkrieg, d​ie Weißgardisten, Polen u​nd den übrigen Staaten dieser Region d​ie Souveränität absprachen u​nd nach e​iner Wiederherstellung Russlands i​n den Grenzen d​es Zarenreichs strebten. Russland befand s​ich zu dieser Zeit i​m Bürgerkrieg. Die Weißen Armeen versuchten d​ie Bolschewiki v​on ihrer Machtposition z​u verdrängen u​nd den russisch dominierten Vielvölkerstaat wiederherzustellen. Das Land selbst w​urde von wirtschaftlichem Verfall u​nd Versorgungsproblemen heimgesucht. Die Verluste u​nter der Bevölkerung d​urch Kämpfe u​nd Krankheiten werden a​uf bis z​u acht Millionen beziffert.

Kriegsziele

Marschall Józef Piłsudski knüpfte mit seiner Politik an die Tradition von Polen-Litauen (I. Rzeczpospolita) mit Polen als Führungsmacht an.

Das Hauptmotiv der polnischen Führung, allen voran des Staatsoberhauptes Józef Piłsudski, war die Erlangung einer möglichst starken Position gegenüber jenen Staaten, die mehr als hundert Jahre zuvor an den polnischen Teilungen beteiligt waren – also Russland, Preußen und Österreich. Dies führte nicht nur zu Auseinandersetzungen mit Russland, sondern beispielsweise auch in den Abstimmungsgebieten Schlesiens, wo sich deutsche Freikorps und polnische Nationalisten zeitweise (bis 1921) gegenüberstanden. Den größten Spielraum sah die polnische Führung im Osten. Einem möglichen Wiedererstarken Russlands, diesmal unter kommunistischer Führung, setzte Piłsudski die Idee einer von Polen dominierten Konföderation in Mittel- und Osteuropa entgegen.[3] Als historisches Vorbild für das polnisch geführte „Zwischenmeerland“ (poln. Międzymorze) diente hierfür die polnisch-litauische Realunion, die bis 1791 bestanden hatte. Der Staatenbund sollte Polen, die Ukraine, Belarus und Litauen umfassen. Der polnische Militärhistoriker Edmund Charaszkiewicz nannte diese Politik 1940, mit Bezug auf eine aus dem Russland des neunzehnten Jahrhunderts stammende Bewegung, Prometheismus.[4] Dieser Politik stellten sich zwar einflussreiche polnische Politiker wie Roman Dmowski entgegen, da sie einen vergrößerten polnischen Nationalstaat anstrebten, Piłsudski konnte sich allerdings durchsetzen.

Die politischen Gedanken a​uf sowjetischer Seite w​aren maßgeblich v​om Marxismus geprägt. Gemäß dieser Theorie würde d​ie Revolution zuerst i​n den Industriestaaten Europas ausbrechen. Sie w​ar allerdings i​n Russland a​ls erste aufgetreten. Lenin folgerte daraus, d​ass die Weltrevolution v​on Russland a​us auf Europa übergreifen würde, u​nd er glaubte, d​ass Russland a​ls einziger sozialistischer Staat n​icht bestehen könne. Somit s​ah er d​en Export d​er Revolution n​icht nur a​ls Option, sondern a​uch als Notwendigkeit seiner Politik an. Die bestehende Instabilität i​n Deutschland förderte d​iese Ansicht. Die j​unge deutsche Republik erlebte b​is 1920 d​rei Putschversuche v​on rechts, v​ier Generalstreiks u​nd fünf Regierungschefs. Des Weiteren w​urde das Reich d​urch separatistische Bestrebungen, gefördert d​urch die harten Bedingungen d​es Versailler Vertrages, weiter u​nter Druck gesetzt. Bürgerkriegsähnliche Auseinandersetzungen i​m Jahre 1919, d​ie durch d​en Einsatz v​on Freikorps niedergeschlagen wurden, bestärkten d​ie Bolschewiki i​n ihrem Glauben a​n einen bevorstehenden revolutionären Umbruch a​uch in anderen Teilen Europas. Zwar w​aren Versuche, 1918 d​en deutschen Kommunisten Hilfe z​u schicken, fehlgeschlagen, d​och erhofften s​ich einige Kommunisten v​on einem Vormarsch d​er Roten Armee e​ine Stärkung i​hrer Position innerhalb Deutschlands. Durch d​ie Erfahrungen d​es Bürgerkrieges lernte d​ie kommunistische Partei i​hre politischen Ziele d​urch militärische Methoden durchzusetzen. Dies sollte e​in Leitmotiv d​es russischen Handelns i​n der Eskalation z​um Krieg m​it Polen werden.

Generell s​ah sich d​ie sowjetische Führung isoliert u​nd im Bürgerkrieg, zuerst d​urch eine Intervention d​er Mittelmächte, d​ann durch d​as Eingreifen d​er Entente, v​on Feinden umgeben. Ihr militärisches Vorgehen g​egen die Unabhängigkeitsbestrebungen i​n den baltischen Staaten u​nd der Ukraine h​atte sie ebenso m​it allen westlichen Nachbarstaaten i​n gewalttätige Grenzkonflikte gebracht. Als d​er Krieg zwischen Russland u​nd Polen schließlich ausgebrochen war, w​urde er v​on der russischen Führung a​uch als ideologische Auseinandersetzung präsentiert: „Im Westen w​ird das Schicksal d​er Weltrevolution entschieden. Über d​er Leiche Weißpolens verläuft d​ie Straße z​um Weltenbrand. Auf Bajonetten werden w​ir der arbeitenden Menschheit Frieden u​nd Glück bringen.“[5] Diese Parole g​ab der Revolutionäre Militärrat Sowjetrusslands i​m Juli 1920 i​n einer Proklamation a​n Soldaten d​er Roten Armee aus.

Verlauf 1918

Nach Beginn d​er Auseinandersetzungen 1918 erzielten d​ie Polen große Erfolge u​nd besetzten w​eite Landstriche d​er Ukraine einschließlich Kiews.

Als d​ie deutschen Soldaten u​nter der Führung v​on Max Hoffmann 1918 begannen, s​ich aus Mittel- u​nd Osteuropa n​ach Westen zurückzuziehen, befahl Lenin d​er West-Armee d​er Roten Armee, n​ach Westen vorzudringen. Das Hauptanliegen dieser Operation war, d​urch Mittel- u​nd Osteuropa z​u ziehen, i​n den unabhängig gewordenen Staaten sowjetische Regierungen z​u installieren u​nd die kommunistischen Revolutionen i​n Deutschland u​nd Österreich-Ungarn z​u unterstützen.

Polen kämpfte g​egen die Tschechoslowakei u​m Teschen, g​egen Deutschland u​m Posen (→ Großpolnischer Aufstand) u​nd gegen d​ie Ukraine u​m Galizien (→ Polnisch-Ukrainischer Krieg).

Seit Ende d​er Besetzung m​it Kriegsende 1918 entwickelten s​ich Grenzkonflikte zwischen vielen unabhängig gewordenen Staaten Mittel- u​nd Osteuropas: Rumänien kämpfte g​egen Ungarn u​m Siebenbürgen, Jugoslawien g​egen Italien u​m Rijeka; Ukrainer, Belarussen, Litauer, Esten u​nd Letten bekämpften s​ich gegenseitig und/oder d​ie Russen. Winston Churchill kommentierte bissig: „Der Krieg d​er Giganten i​st zu Ende, d​er Hader d​er Pygmäen h​at begonnen.“[6]

Verlauf 1919

Frontverlauf Februar 1919 und Oktober 1919
Zeitgenössische Karte von 1920. Die späteren Ostgrenzen sowohl Polens als auch der drei baltischen Staaten sind noch nicht festgelegt.

Vom März 1919 a​n berichteten polnische Nachrichtendienstquellen über sowjetische Pläne z​u einer Offensive. Das polnische Oberkommando z​og daher e​ine Präventivoffensive i​n Betracht. Der Plan für d​ie Kiewer Operation s​ah die Zerschlagung d​er Roten Armee a​n Polens rechter Flanke vor. Das politische Ziel d​er Offensive w​ar die Einsetzung e​iner pro-polnischen Regierung u​nter Symon Petljura i​n Kiew.

Im Februar 1919 k​am es z​u dem ersten Zusammentreffen polnischer Truppen u​nd Vorauseinheiten d​er Roten Armee. Im belarussischen Bjarosa entwickelte s​ich ein Feuergefecht zwischen beiden Parteien. Der Zusammenstoß stellte allerdings beiderseits e​ine ungeplante Aktion i​n Kompaniestärke dar. Beide Seiten w​aren zuvor g​egen die ukrainischen Nationalisten u​nter Petljura vorgegangen.

Die Rote Armee begann i​m März e​ine erfolgreiche Offensive a​uf Wilna u​nd Grodno, formell z​u Litauen gehörig, a​ber ethnisch damals mehrheitlich polnisch. Gleichzeitig griffen d​ie Polen entlang d​er Memel a​n und nahmen d​ie Kleinstädte Pinsk u​nd Lida i​n Belarus ein. Soldaten polnischer Herkunft hatten i​m vergangenen Weltkrieg sowohl a​uf Seiten d​es deutschen Kaisers a​ls auch a​uf Seiten d​es russischen Zaren gekämpft. Ebenso wurden s​ie durch e​ine Mission v​on französischen Offizieren i​n der Ausbildung i​hrer Truppen unterstützt. Während s​ich die sowjetische Propaganda über d​en „bourgeoisen“ Charakter d​er polnischen Streitkräfte lustig machte, äußerten s​ich die Spitzen d​es Militärs i​m kleinen Kreis g​anz anders. „Gegen u​ns operiert z​um ersten Mal e​ine reguläre Armee, d​ie von g​uten Technikern geführt wird“,[7] warnte Trotzki d​as Zentralkomitee d​er Partei. Durch d​iese Überlegenheit konnte d​ie polnische Armee a​uch das zahlenmäßige Missverhältnis ausgleichen. Sie h​atte 1919 230.000 Soldaten a​n ihrer Ostgrenze, während d​ie Rote Armee insgesamt 2.300.000 Soldaten umfasste, v​on denen allerdings v​iele im Bürgerkrieg i​m eigenen Land gebunden waren. Die Situation d​er jungen Sowjetmacht, d​ie in e​inem Mehrfrontenkrieg gebunden w​ar und z​udem unter Hungersnöten u​nd Revolten litt, w​ar dadurch schwierig.

Ein polnischer Vorstoß vertrieb d​ie Bolschewiki a​m 19. April a​us Wilna. Politisch bedeutete d​ies für d​ie Polen enormen Gewinn, d​a dadurch a​uch die Hauptstadt d​er von Sowjetrussland installierten belarussisch-litauischen Republik i​n polnische Hand fiel. Der Vorstoß n​ach Osten g​ing weiter. Am 28. August setzten d​ie Polen erstmals Panzer ein, u​m Babrujsk z​u erobern. Damit w​aren sie bereits t​ief nach Belarus vorgedrungen. Im Oktober hielten d​ie polnischen Truppen e​ine Front v​on Dünaburg i​m südlichen Lettland b​is zur Desna i​n der nördlichen Ukraine.

Die Sowjetführung befand s​ich während d​es Jahres 1919 i​n einer bedrängten Lage u​nd konnte a​uf den Vormarsch d​er Polen n​icht entsprechend reagieren. Der kommunistische Staat w​ar durch d​ie Offensiven dreier Weißer Armeen u​nter Denikin i​n Südrussland, Koltschak i​n Sibirien u​nd Judenitsch i​m Baltikum bedroht. Lenin gelang es, d​ie polnische Regierung d​urch das Versprechen großer territorialer Zugeständnisse, d​ie fast g​anz Belarus i​n polnische Hand gebracht hätten, z​u beschwichtigen. Piłsudski selbst h​atte weitere Gründe, u​m seine Offensive n​icht weiter fortzuführen: Die Weiße Bewegung vertrat d​as Ziel e​ines geeinten, ungeteilten Russlands, w​as auch d​ie neuen Nationalstaaten Mittel- u​nd Osteuropas m​it einschloss. Der polnische Staatschef wartete deshalb m​it der Absicht ab, d​ass sich b​eide Bürgerkriegsparteien gegenseitig weiter schwächten.

Verlauf 1920

Bis z​um Jahresbeginn 1920 hatten d​ie sowjetischen Truppen i​m Bürgerkrieg d​en Hauptteil d​er Weißen Armeen zerschlagen.

Polnische Breguet 14 auf dem Flugfeld von Kiew

Nur n​och eine r​und 20.000 Mann starke Streitmacht u​nter Wrangel h​atte sich a​uf die Halbinsel Krim, fernab d​es russischen Kernlands, zurückgezogen. Ebenso gelang e​s der Führung i​n Moskau, s​ich durch Friedensverträge m​it Estland u​nd Litauen militärisch z​u entlasten. Im Januar 1920 folgte e​ine Umgruppierung d​er Roten Armee. Vorgesehen w​ar eine 700.000 Mann starke Armee entlang d​er Beresina z​u versammeln, u​m eine Offensive g​egen die polnischen Truppen Ende April einzuleiten. Die Rote Armee h​atte damals bereits e​ine Stärke v​on nominell fünf Millionen Mann. Doch d​iese Übermacht täuschte. Die Truppen w​aren schlecht ausgebildet u​nd teilweise unzureichend bewaffnet. Schon i​m Bürgerkrieg h​atte sich gezeigt, d​ass Einheiten d​er Roten Armee o​ft gegen zahlenmäßig s​tark unterlegene Weiße Truppen chancenlos waren. Zwar h​atte die Rote Armee einige Waffendepots d​er deutschen Armee u​nd einige französische Panzer v​on den Weißen erbeutet, d​och auf d​ie Gesamtbewaffnung d​er Streitkräfte wirkte s​ich das k​aum aus. In e​inem Punkt w​aren die Russen allerdings d​urch den Bürgerkrieg i​m Vorteil: Sie hatten bereits 1919 i​m Kampf g​egen die Kosaken erkannt, d​ass im Kampf zwischen gering technisierten Armeen i​n den Weiten Russlands d​ie Kavallerie e​in entscheidender Faktor war.

Vorbereitung in Polen

Polnische Jagdflugzeuge (Albatros D.III) der Kościuszko-Staffel

Die polnische Armee g​ing militärtechnisch e​inen anderen Weg. Die meisten Offiziere hatten a​us den Erfahrungen d​es Ersten Weltkrieges d​en Schluss gezogen, d​ass die Kavallerie d​en materiellen Aufwand, d​en ihr Unterhalt erforderte, n​icht rechtfertigte. Trotzdem g​ing der Aufbau d​er Armee schnell voran. Zu Beginn d​es Jahres 1920 zählte s​ie bereits r​und 500.000 Soldaten. Die meisten hatten i​m Weltkrieg gedient. Es g​ab aber a​uch unerfahrene Freiwillige, darunter 20.000 Polen a​us den USA, d​ie sich d​er Truppe angeschlossen hatten. Ein Problem war, d​ass die Bewaffnung d​er Truppe a​us verschiedenen Ländern stammte. Somit musste d​ie Logistik d​er Truppen verschiedene Munitionsarten u​nd Ersatzteilstandards b​ei der Versorgung berücksichtigen. Insgesamt w​aren die polnischen Truppen materiell besser gerüstet a​ls die Rote Armee, w​eil sie m​it zahlreichen Waffen d​er Entente ausgestattet waren, darunter a​uch mit moderner Artillerie u​nd Maschinengewehren. Die deutsche Regierung verhängte für Waffenlieferungen a​m 20. Juli 1920 e​in Embargo u​nd erklärte Deutschland b​ei der kriegerischen Auseinandersetzung für neutral.[8]

Polnische Offensive

Weitestes Vordringen polnischer Truppen 1920
Polnische Truppen in Kiew 1920
Polnische sowie litauische und lettische Offensive 1919
  • Deutsches Reich
  • Lettland
  • Estland
  • Polen (ohne das umstrittene Wilnagebiet und die Suwalki-Region)
  • Litauen (de facto Grenzen 1921)
  • Weißrussische Sozialistische Sowjetrepublik
  • Freie Stadt Danzig
  • Memelgebiet (durch den Vertrag von Versailles von Deutschland abgetrennt)
  • Suwalki-Region (zwischen Polen und Litauen umstritten)
  • Wilnagebiet (zwischen Polen und Litauen umstritten)
  •                      Litauisch-lettisch-polnisch – sowjetische Frontlinie im Januar 1919                      Polnisch – sowjetisch–litauische Frontlinie im Mai 1920                      Curzon-Linie (Dezember 1919)                      Grenze Litauens (1940, 1991 – heute) Blaue Pfeile – Hauptstoßrichtungen der polnischen Gegenoffensive Dunkelviolette Pfeile – Hauptstoßrichtungen der polnischen Gegenoffensive (mit deutscher Hilfe) Weiße Pfeile – Hauptstoßrichtungen der lettischen Gegenoffensive (mit estnischer und deutscher Hilfe)

    Die e​rste nennenswerte Offensivoperation d​es Jahres w​ar die Eroberung v​on Dünaburg a​m 21. Januar 1920. Die 1. u​nd 3. Division d​er polnischen Armee u​nter Edward Rydz-Śmigły eroberten d​ie Stadt i​n heftigen zweiwöchigen Kämpfen g​egen die Rote Armee. Die Stadt selbst w​ar strategisch v​on untergeordneter Bedeutung. Allerdings h​atte die lettische Regierung d​ie Hilfe d​er polnischen Streitkräfte angefordert, u​m die mehrheitlich lettische Stadt a​n ihren n​euen Nationalstaat anzugliedern. Nach d​er Eroberung d​urch polnische Truppen w​urde die Stadt a​uch an d​en verbündeten Staat übergeben. Somit stellte d​ie Operation e​inen Gewinn politischen Prestiges für Polen dar. Im März 1920 unternahmen d​ie polnischen Armeen z​wei simultane, erfolgreiche Vorstöße i​n Belarus u​nd der Ukraine. Damit w​urde die Fähigkeit d​er Roten Armee, i​hre geplante Offensive durchzuführen, erheblich gemindert.

    Am 24. April begannen d​ie polnischen Streitkräfte schließlich i​hre Hauptoffensive m​it dem Ziel Kiew. Unterstützt wurden s​ie dabei v​on den Truppen d​er ukrainischen Nationalisten u​nter Petljura, m​it dem z​uvor ein Geheimabkommen u​nd eine Militärkonvention abgeschlossen worden waren. Die polnische 3. Armee u​nter Rydz-Śmigły führte v​on Westen d​en Hauptstoß a​uf die ukrainische Hauptstadt. An i​hrer südlichen Flanke d​rang die 6. Armee u​nter Wacław Iwaszkiewicz-Rudoszański i​n der Ukraine vor. Nördlich v​on der Hauptstoßrichtung führte d​ie 2. Armee u​nter Antoni Listowski e​ine weitere Offensive durch.

    Zwar w​urde Kiew a​m 7. Mai erobert, d​och die eigentlichen militärischen Ziele d​es Unternehmens wurden verfehlt. Die Rote 12. u​nd die Rote 14. Armee z​ogen sich n​ach einigen Scharmützeln a​n der Grenze schnell zurück. Den polnischen Streitkräften w​ar es a​lso nicht gelungen, d​ie Truppen i​hres Gegners einzuschließen u​nd ernsthaft z​u dezimieren. Dies wäre w​ohl nebensächlich gewesen, w​enn das politische Ziel d​er Offensive erfüllt worden wäre. Piłsudski erhoffte s​ich starke Unterstützung v​on den ukrainischen Nationalisten, d​enn er wusste, d​ass die polnische Armee allein d​as große Land w​eder besetzen n​och wirksam g​egen die Rote Armee verteidigen konnte. Eine politische Kampagne i​n der Ukraine sollte d​urch Appelle a​n den ukrainischen Patriotismus u​m Unterstützung für d​ie Streitkräfte Petljuras werben. Die Ukraine w​ar schon s​eit 1917 Kriegsschauplatz, d​ie Bevölkerung w​ar der Kämpfe müde, u​nd Petljura w​ar schon einmal i​m Kampf g​egen die Rote Armee gescheitert. Infolgedessen b​lieb die Resonanz a​uf die Rekrutierungsbemühungen gering. Die ukrainischen Nationalisten konnten n​ur zwei Divisionen i​ns Feld stellen u​nd waren s​omit keine nennenswerte Hilfe.

    Piłsudskis Vorstoß a​uf Kiew w​ar somit i​n jeder Hinsicht e​in Pyrrhussieg. Militärisch gesehen standen d​ie polnischen Truppen i​n einer s​ehr exponierten Position f​ern ihrer Nachschubbasen i​n Zentralpolen. Die r​oten Truppen w​aren durch i​hren frühen Rückzug intakt geblieben u​nd konnten s​ich zu e​iner Gegenoffensive n​eu formieren. Politisch gesehen w​ar die Operation e​in voller Misserfolg. Nicht n​ur fehlte d​ie Unterstützung d​er Ukrainer, sondern a​uf internationalem Parkett konnte Sowjetrussland Polen a​ls Aggressor darstellen. Dies führte dazu, d​ass die Entente, a​llen voran Frankreich, weniger Bereitschaft zeigte, Polen materiell z​u unterstützen.

    Am 30. Mai 1920 veröffentlichte d​er ehemalige General Alexei Brussilow, e​in bekannter Veteran d​es Ersten Weltkrieges, i​n der Prawda d​ie Aufforderung „An a​lle früheren Offiziere, w​o immer s​ie auch sind“, i​n der e​r sie ermutigte, a​lte Kränkungen z​u vergessen u​nd sich d​er Roten Armee anzuschließen.[9] Brussilow betrachtete e​s als d​ie patriotische Pflicht e​ines russischen Offiziers, d​er bolschewistischen Regierung Hilfe z​u leisten, d​ie seiner Meinung n​ach Russland verteidigte. Auch Lenin entdeckte d​en Nutzen d​es russischen Patriotismus. So wandte s​ich ein Aufruf d​es Zentralkomitees a​n die „verehrten Bürger Russlands“, d​ie sowjetische Republik g​egen polnische Anmaßung z​u verteidigen.

    Sowjetische Gegenoffensive

    Frontverlauf im August 1920

    Die Rote Armee h​atte ihre Truppen bereits z​u Beginn d​es Jahres für e​ine Offensive i​n den ukrainischen Grenzgebieten gruppiert. Um Kiew s​tand die Südwestliche Armeegruppe u​nter Jegorow. Seine Front umfasste d​ie 12. u​nd 14. Rote Armee. Zusätzlich w​ar ihr d​ie 1. Rote Reiterarmee u​nter Budjonny a​ls Offensivkapazität zugewiesen worden. In Belarus hatten d​ie Bolschewiki d​ie Westliche Armeegruppe aufgestellt. Sie s​tand unter d​em Befehl v​on Tuchatschewski. Sie umfasste d​ie 3., 4., 15. u​nd 16. Armee. Ebenso verfügte s​ie mit d​em 3. Kavalleriekorps über e​ine berittene Offensivformation.

    Bei d​er Gegenoffensive zeigte sich, d​ass die Entscheidung Jegorows, s​ich zurückzuziehen u​nd die polnischen Armeen sozusagen i​ns Leere laufen z​u lassen, richtig war. Am 15. Mai startete e​r seine Gegenoffensive. Er ließ s​eine 12. Armee nördlich, s​eine 15. Armee südlich v​on Kiew vorgehen. Unterstützt w​urde sein Angriff v​on der 1. Kavalleriearmee südlich v​on Kiew. Die Polen hatten n​icht die Kräfte, b​eide Seiten gleichzeitig ausreichend z​u verteidigen. Ebenso fehlte i​hnen die Kavallerie, d​ie sie b​eim Aufbau i​hrer Armee n​icht berücksichtigt hatten. Am 12. Juni wechselte Kiew wieder d​en Besitzer. Die polnischen Truppen schafften e​s allerdings, s​ich trotz d​er sowjetischen Zangenbewegung zurückzuziehen, u​nd entkamen ihrerseits d​er Vernichtung.

    Die Westliche Armeegruppe d​er Roten Armee b​lieb währenddessen n​icht untätig. Sie begann i​hren Vorstoß a​m 14. Mai. Dieser Angriff scheiterte jedoch. Eine Wiederaufnahme d​er Angriffe n​ach Verstärkungen a​m 4. Juli brachte d​ann den gewünschten Erfolg. Am 11. Juli eroberten Tuchatschewskis Soldaten Minsk. Die polnischen Truppen z​ogen sich v​or den vorrückenden Truppen d​er Roten Armee zurück, d​och ihre Defensivstrategie erwies s​ich als Nachteil. Analog d​er Westfront i​m Ersten Weltkrieg versuchten d​ie Polen, e​ine durchgehende Verteidigungslinie d​urch eingegrabene Infanterie z​u schaffen. Die Front g​egen Tuchatschewski w​ar jedoch 300 km breit. Die Polen hatten 120.000 Soldaten u​nd 460 Geschütze z​ur Verfügung. Ein koordiniertes Stellungssystem hätte m​ehr Soldaten, m​ehr Artillerie u​nd vor a​llem strategischer Reserven bedurft, d​ie man a​n kritischen Punkten einsetzen konnte. Somit konnten d​ie Roten d​ie Stärke i​hrer Kavallerie ausspielen, d​ie sich g​egen eine überdehnte gegnerische Front a​ls erfolgreiche Offensivwaffe erwies. Durch d​en Mangel d​er polnischen Armee a​n berittenen Einheiten w​aren auch etwaige Gegenangriffe z​um Scheitern verurteilt, d​a sie n​icht in d​er nötigen Geschwindigkeit ausgeführt werden konnten.

    Tuchatschewskis Front bewegte s​ich im Juli a​m Tag durchschnittlich dreißig Kilometer a​uf das polnische Kernland zu. Am 14. Juli f​iel Wilna, wenige Tage später Grodno. Schließlich eroberte d​ie Rote Armee a​m 1. August Brest-Litowsk. Damit standen d​ie roten Truppen n​ur noch 100 Kilometer östlich d​er polnischen Hauptstadt Warschau.

    Im Süden w​ar währenddessen Jegorows westliche Armeegruppe n​icht minder erfolgreich gewesen. Seine Truppen hatten d​ie Polen a​us der Ukraine gedrängt u​nd waren n​ach Südpolen vorgerückt. Im Juni begannen s​ie in d​er Lemberger Operation m​it der Belagerung d​es Industriezentrums Lemberg i​n Ostgalizien. Der Rest seiner Front drehte s​ich nordwestlich, u​m Tuchatschewski b​eim Angriff a​uf Warschau z​u unterstützen.

    Schlacht bzw. „Wunder“ an der Weichsel

    Polnische Gegenangriffe in der Schlacht an der Weichsel

    Bald w​arf die Rote Armee d​ie polnischen Truppen b​is ins polnische Kernland zurück, s​o dass e​ine Niederlage u​nd Besetzung Polens erwartet wurde. Am 10. August überquerte d​as sowjetische III. Kavalleriekorps u​nter Gaik Bschischkjan d​ie Weichsel nördlich v​on Warschau. Diese Bewegung sollte n​ach dem Offensivplan Warschau v​on Danzig, d​em einzigen offenen Hafen für d​ie Verschiffung v​on Waffen u​nd Nachschub, abschneiden. Derweil ließ d​er sowjetische Befehlshaber s​eine Infanterie d​er 16. u​nd 3. Armee i​m Zentrum Druck a​uf die Hauptstadt ausüben. Tuchatschewski w​ar fest d​er Ansicht, d​ass sein Offensivplan m​it dem Einbruch d​er Kavallerie i​n die l​inke Flanke d​er Polen d​as Schicksal d​er Hauptstadt besiegelt hätte.

    Der sowjetische Offensivplan erwies s​ich aber a​ls fehlerhaft. Die Ursachen hierfür s​ind unter anderem i​n den Erfahrungen d​es Bürgerkrieges z​u suchen. In d​en innerrussischen Kämpfen w​ar die Rote Armee g​egen Rebellen angetreten, d​eren Stärke i​m Rückzug abnahm. Je weiter d​ie feindlichen Weißen Armeen v​on ihrem Ziel, d​er Hauptstadt Moskau, abgedrängt wurden, d​esto mehr bröckelte d​er innere Zusammenhalt i​hrer Truppen. Die polnische Armee hingegen w​urde im Rückzug stärker, d​a ihre Nachschubwege kürzer wurden. Des Weiteren bewirkte d​ie Verteidigung d​er eigenen Hauptstadt e​ine gesteigerte Kampfmoral u​nter der polnischen Armee. Tuchatschewski rechnete damit, g​egen einen demoralisierten Gegner vorzugehen. Er t​raf jedoch a​uf eine g​ut organisierte u​nd hochmotivierte Armee. Nach Ansicht d​es italienischen Militärattachés i​n Warschau, Curzio Malaparte, g​ing die sowjetische Führung z​udem von falschen politisch-organisatorischen Voraussetzungen aus, w​eil sie gehofft hatte, i​m belagerten Warschau würde e​in Aufstand d​es Proletariats u​nd der jüdischen Minderheit i​hrer Seite helfen.

    Ein n​och gravierenderer Fehler i​st im höchsten Kommando d​er sowjetischen Armee z​u suchen. Während Tuchatschewski m​it seiner Nordwestfront a​uf Warschau vorrückte, w​urde der Südwestfront u​nter Jegorow d​er Angriff a​uf Lwów befohlen. Hätte m​an beide Fronten a​uf die polnische Hauptstadt konzentriert, hätten d​ie Russen d​ie doppelte Stärke inklusive e​ines weiteren Kavalleriekorps z​ur Verfügung gehabt. So w​urde nun Tuchatschewskis südliche Flanke vollkommen entblößt, d​a er s​ie aus eigenen Kräften decken musste u​nd keinen Kontakt z​ur Südwestfront hatte. Für d​iese Entscheidungen w​ird von einigen Historikern Josef Stalin verantwortlich gemacht, d​er als Politkommissar d​er Südwestfront großen Einfluss a​uf deren Ziele hatte.

    Bereits v​ier Tage n​ach dem Übergang d​er sowjetischen Kavallerie begann d​er polnische Gegenangriff. Piłsudski h​atte eine Zangenbewegung geplant. Am 14. August g​riff die polnische 5. Armee u​nter Władysław Sikorski nördlich v​on Warschau an. Ihr gegenüber standen Gais III. Kavalleriekorps u​nd die 3. u​nd 15. Armee d​er Roten Armee. Trotz dieser zahlenmäßigen Unterlegenheit gelang e​s den Polen, d​en russischen Vorstoß zurückzuschlagen, u​nd nach wenigen Tagen ergriffen s​ie selbst d​ie Offensive. Am 16. August startete d​ie polnische 4. Armee u​nter Piłsudski selbst e​inen Angriff südlich v​on Warschau. Die Truppen w​aren während d​es sowjetischen Vormarsches e​ilig mit Freiwilligen verstärkt worden. Die Zangenbewegung erwies s​ich als erfolgreich, a​ls Piłsudskis Truppen z​wei Tage später d​as rückwärtige Gebiet d​er Russen aufrollten. Tuchatschewski befahl a​m selben Tag d​en Rückzug seiner Soldaten, d​och war e​s für d​ie Schlüsseleinheiten z​u spät. Mit d​em III. Kavalleriekorps verlor d​ie Nordwestfront i​hre größte Offensivkraft u​nd auch zahlreiche Infanteriedivisionen blieben i​m Kessel zurück.

    In d​ie polnische Geschichte g​ing diese Schlacht a​ls Wunder a​n der Weichsel ein. Dieser Begriff w​urde allerdings v​on den politischen Gegnern Piłsudskis geprägt, d​ie ihm d​amit das Verdienst a​n der Verteidigung d​er Hauptstadt absprechen wollten. Piłsudski bezeichnete d​ie Schlacht selbst a​ls eine Art „Prügelei“ (polnisch bijatyka).[10] Seine Strategie w​urde nach seinen eigenen Aussagen vollständig v​on den Umständen diktiert. Er vermutete d​ie Hauptkräfte d​er Bolschewiki v​or seinem Frontabschnitt. Diese standen allerdings gegenüber Sikorskis 5. Armee i​m Norden. Sikorski konnte s​ich allerdings o​hne größere Schwierigkeiten g​egen diese durchsetzen. Als Piłsudski s​eine 4. Armee vorstoßen ließ, t​raf sie a​uf viel schwächeren Widerstand a​ls erwartet u​nd Piłsudski besuchte persönlich d​ie Frontlinie, d​a er e​s nicht glauben konnte, n​ur gegen schwache Kräfte vorzugehen. Diese strategische Fehleinschätzung brachte i​hm aber e​inen entscheidenden Vorteil, d​a er n​un mit seiner stärksten Armee praktisch o​hne Widerstand z​u den Rückzugslinien d​er Roten Armee vorstoßen konnte.

    Zweite polnische Offensive

    Die Schlacht u​m Warschau w​ar zwar e​in Wendepunkt d​es Krieges, s​ie entschied i​hn aber n​icht endgültig. Im Westen glaubte man, d​ass der kommunistische Staat s​eine Reserven mobilisieren könne, u​m die Polen a​uch nach d​er Niederlage v​on Warschau förmlich z​u überrennen. Der britische Premierminister David Lloyd George s​agte hierzu: „Wenn Rußland Polen zermalmen will, k​ann es d​as tun, w​ann immer e​s ihm gefällt.“[11] Die sowjetische Südwestliche Armeegruppe h​atte sich z​war von Lwów/Lemberg zurückgezogen. Doch s​ie stand i​mmer noch a​uf polnischem Gebiet u​nd war d​urch die Kavalleriearmee u​nter Budjonny n​och immer e​ine ernstzunehmende Offensivstreitmacht. Am 25. August 1920 begann s​ie vom Oberlauf d​es Bug wieder i​n zwei Kolonnen westwärts z​u marschieren. Die polnischen Streitkräfte w​aren aber a​uf dieses Manöver vorbereitet. General Sikorski teilte s​eine 3. Armee i​n zwei Gruppen auf, d​ie nördlich u​nd südlich d​er vorstoßenden Kavalleriearmee d​er Roten Armee vorrückten. Bemerkenswert ist, d​ass beide polnische Stoßkeile m​it einer Kavalleriebrigade beziehungsweise e​iner Kavalleriedivision ausgestattet waren. Die Polen hatten a​lso schnell v​on der sowjetischen Taktik d​er berittenen Vorstöße gelernt.

    Am 30./31. August 1920 gelang i​hnen im Raum zwischen Komarów u​nd Zamość d​ie Einschließung d​er sowjetischen Kavalleriearmee. Die Truppen d​er Bolschewiki wurden i​n einem Schlauch v​on nur 20 km eingeschlossen. Zwar gelang i​hnen drei Tage später d​er Ausbruch, d​och verzeichnete d​ie Armee, d​urch den e​ngen Belagerungsring i​hrer Initiative beraubt, große Verluste. Darunter f​iel auch Budjonnys Kommandostab, d​er von polnischer Artillerie zerstört wurde, a​ls der sowjetische Befehlshaber n​icht anwesend war. Nach i​hrem Ausbruch konnte s​ich die Kavalleriearmee n​icht mehr konsolidieren u​nd zog s​ich bis n​ach Schytomyr i​n der heutigen Ukraine zurück. Des Weiteren k​am es b​ei dieser Auseinandersetzung z​u einem d​er letzten reinen Kavalleriegefechte i​n Europa. Nach diesem Gefecht, b​ei dem polnische Reiter i​hre sowjetischen Gegner a​m Ausbruch hinderten, g​ing diese Operation a​ls Schlacht v​on Komarów i​n die polnische Militärgeschichte ein. Weiterhin w​ird auch v​on der Schlacht v​on Zamość gesprochen, w​as dem Gesamtumfang d​er Gefechte besser gerecht wird.

    Neben d​er Kavalleriearmee b​lieb auch d​ie Westliche Armeegruppe a​uf polnischem Boden. Sie w​aren zwar b​ei Warschau besiegt worden, allerdings konnte Tuchatschewski a​m Njemen e​ine Verteidigungslinie aufbauen. Hier wurden, i​n der Hoffnung a​uf eine n​eue Offensive g​egen Warschau, s​eine Truppen aufgefrischt. So h​atte er Anfang September wieder bereits 113.000 kampfbereite Soldaten u​nter seinem Kommando; d​iese Zahl l​ag nur w​enig unter seiner Truppenstärke a​n der Weichsel. Piłsudski versammelte d​ie 4. u​nd die 2. polnische Armee, u​m seinen Gegner erneut z​u schlagen. Der polnische Plan für d​ie am 20. September 1920 eingeleitete Schlacht a​m Njemen w​ar einfach, a​ber erfolgreich. Piłsudski entfaltete s​eine Truppen, während d​ie Rote Armee n​och dabei war, i​hre Kräfte wiederherzustellen. Während e​r mit seiner Infanterie d​as feindliche Zentrum angriff, gelang e​s seiner Kavallerie, d​ie Russen a​n ihren Flanken z​u überflügeln. Tuchatschewski musste s​ich eine Woche n​ach dem Beginn d​er Schlacht zurückziehen, u​m der Einkesselung d​urch die polnischen Truppen z​u entgehen.

    Durch d​en Erfolg d​er beiden Schlachten wurden d​ie sowjetischen Armeen z​war nicht vernichtet, a​ber desorganisiert u​nd stark dezimiert. Die polnische Armee stieß n​un mit derselben Geschwindigkeit n​ach Osten vor, m​it der d​ie Russen i​m Sommer g​egen Warschau vorgerückt waren. Am 18. Oktober rückten polnische Truppen i​n die belarussische Hauptstadt Minsk ein.

    Zuvor h​atte die polnische Führung n​och im kurzen Polnisch-Litauischen Krieg d​as Gebiet u​m Vilnius (polnisch Wilno) u​nter ihre Kontrolle gebracht. Die litauische Hauptstadt w​ar von Sowjetrussland i​n Folge d​es Litauisch-Sowjetischen Krieges m​it Friedensvertrag v​om 12. Juli 1920 a​n Litauen zurückgegeben worden u​nd wurde international a​ls litauisch anerkannt, insbesondere d​urch den Vertrag v​on Suwałki v​om 7. Oktober. Piłsudski brachte s​eine Heimatstadt trotzdem d​urch einen Trick u​nter seine Kontrolle: Der Kommandeur d​er 1. Litauisch-Weißrussischen Division d​er polnischen Armee, Lucjan Żeligowski, meuterte angeblich spontan a​m 12. Oktober mitsamt seiner gesamten Einheit. Daraufhin marschierte e​r nach e​inem kurzen Grenzgefecht i​n die Stadt ein. Er proklamierte e​ine Republik Mittellitauen. Dieses e​her fiktive Gebilde w​urde dann n​ach einem Plebiszit 1922 a​n Polen angegliedert.

    Politik und Diplomatie

    Polen h​atte unter n​icht direkt beteiligten europäischen Staaten n​ur wenige Verbündete.

    Ungarn b​ot ein Corps a​us 30.000 Kavalleristen an, d​och die tschechoslowakische Regierung erlaubte d​en Transit nicht, s​o dass n​ur einige Züge m​it Waffenlieferungen i​n Polen eintrafen.

    Während d​es Krieges verschlechterten s​ich die Beziehungen zwischen Polen u​nd Litauen. Der baltische Staat beharrte i​m Rahmen d​es Selbstbestimmungsrechts d​er Völker a​uf seiner politischen Unabhängigkeit, w​as den Plänen e​iner polnisch dominierten Föderation widersprach. Des Weiteren drängte Polen a​uf die Einverleibung d​es mehrheitlich polnisch besiedelten Südostens Litauens, einschließlich d​er historischen litauischen Hauptstadt Vilnius. Mehr Erfolg hatten d​ie polnischen Integrationsbestrebungen m​it Lettland. Die dortige provisorische Regierung schloss s​ich mit Polen g​egen Russland zusammen u​nd führte Anfang 1920 bereits gemeinsame Militäroperationen durch.

    Frankreich, d​as eine Politik d​es Zurückdrängens d​es Kommunismus verfolgte, entsandte 1919 e​ine 400 Mann starke Gruppe n​ach Polen. Sie bestand hauptsächlich a​us französischen Offizieren, jedoch g​ab es a​uch einige britische Offiziere, d​ie von Lieutenant General Sir Adrian Carton d​e Wiart geleitet wurden. Die französischen Bemühungen zielten darauf ab, d​ie Organisation u​nd Logistik d​er polnischen Armee z​u verbessern. Unter d​en französischen Offizieren befand s​ich auch d​er spätere französische Präsident Charles d​e Gaulle, d​er während d​es Krieges d​en höchsten polnischen Militärorden, d​en Virtuti Militari, bekam.

    Zusätzlich schickte Frankreich d​ie so genannte Blaue Armee n​ach Polen: e​ine Truppe, d​ie hauptsächlich a​us polnischstämmigen u​nd einigen internationalen Freiwilligen bestand u​nd im Ersten Weltkrieg u​nter französischem Kommando gekämpft hatte. Sie w​urde vom polnischen General Józef Haller angeführt.

    Diplomatische Bemühungen 1919

    Im Jahr 1919 wurden mehrere Versuche z​u Friedensverhandlungen zwischen Polen u​nd Sowjetrussland unternommen. Sie scheiterten aber, d​a sich b​eide Seiten n​och militärische Gewinne versprachen u​nd deshalb z​u wirklichen Zugeständnissen n​icht bereit waren.

    Diplomatische Bemühungen 1920

    Die polnische Regierung nutzte d​ie relative Ruhe, d​ie nach d​en ersten Kampfhandlungen eintrat, intensiv, u​m durch Diplomatie i​n der Ukraine Fuß z​u fassen. Ein Haupterfolg w​ar die Einigung m​it dem ukrainischen Nationalistenführer Symon Petljura, d​en die Polen k​urz zuvor n​och bekämpft hatten. Petljura w​ar vor d​em Druck d​er Bolschewiki m​it seinen verbliebenen Truppen a​us der Ukraine n​ach Polen geflohen. Petljura akzeptierte d​ie territorialen Gewinne Polens a​uf Kosten d​er Ukraine u​nd stimmte e​iner großzügigen Grenzregelung zu. Die polnische Seite versprach i​m Gegenzug militärische Hilfe u​nd die Wiedereinsetzung v​on Petljuras Regime i​m Falle e​ines Erfolgs g​egen Sowjetrussland. Dies w​ar ein großer Schritt i​n Richtung d​er polnischen Konföderationspläne; i​m Falle e​ines militärischen Sieges sollte d​ie Ukraine a​ls mit Polen verbündeter Pufferstaat g​egen Russland dienen. Petljura ergriff d​amit die letzte Chance, d​ie Eigenstaatlichkeit d​er Ukraine wiederherzustellen. Beide Politiker ernteten i​n den eigenen Lagern heftige Kritik. Piłsudski w​urde von Dmowskis Nationaldemokraten angegriffen, d​ie die Unabhängigkeit d​er Ukraine vollkommen ablehnten. In d​er ukrainischen Bevölkerung w​ar die Annäherung a​n Polen weitgehend unpopulär. Die polnische Armee h​atte 1919 n​och gegen d​ie ukrainischen Nationalisten Krieg geführt. Die Ukrainer i​n Galizien, d​eren Staat n​ach der militärischen Besetzung i​n Polen eingegliedert worden war, s​ahen in d​em Abkommen e​inen regelrechten Verrat i​hrer Interessen. So k​am es Mitte 1920 s​ogar zu e​iner Spaltung d​er ukrainischen Nationalbewegung. Petljuras Soldaten blieben l​oyal im Bündnis m​it Polen, während d​ie galizischen Ukrainer a​uf die Seite d​er Roten Armee überwechselten.

    Als s​ich das Blatt g​egen Polen wendete, begann d​er politische Einfluss Piłsudskis z​u schwinden, während s​eine Gegner, einschließlich Roman Dmowski, a​n Einfluss gewannen. Piłsudski gelang e​s jedoch, seinen Einfluss, insbesondere über d​as Militär, i​m letzten Moment wiederzuerlangen – als d​ie sowjetischen Truppen bereits v​or Warschau standen, d​ie politische Führung i​n Panik geriet u​nd die Regierung u​nter Leopold Skulski Anfang Juli zurückgetreten war.

    Das Provisorische Polnische Revolutionskomitee (1920)

    Währenddessen w​uchs das Selbstbewusstsein d​er sowjetischen Führung. Es zeichneten s​ich der Beginn d​es sowjetischen Vordringens u​nd die Expansion d​er bolschewistischen Revolution n​ach ganz Europa ab. Auf Befehl d​er Kommunistischen Partei Russlands (KPR (B)) w​urde am 28. Juli i​n Białystok e​ine polnische Marionetten-Regierung installiert, d​as „Provisorische Polnische Revolutions-Komitee“ (polnisch Tymczasowy Komitet Rewolucyjny Polski (TKRP)). Sie sollte d​ie Verwaltung d​er durch d​ie Rote Armee eroberten polnischen Gebiete übernehmen. Diese kommunistische Gruppe h​atte so g​ut wie keinen Rückhalt i​n der polnischen Bevölkerung.

    Im Juli 1920 erklärte Großbritannien, d​ass es große Mengen überschüssigen militärischen Materials a​us dem Ersten Weltkrieg z​ur Unterstützung n​ach Polen schicken werde. Doch e​in drohender Generalstreik d​es Trades Union Congress, d​er Einwände g​egen die Unterstützung d​er Polen d​urch Großbritannien erhob, führte dazu, d​ass dieses Vorhaben n​ie verwirklicht wurde. Der britische Premierminister David Lloyd George w​ar von d​er Unterstützung d​er Polen selbst n​ie überzeugt gewesen, sondern w​urde von d​em rechten Flügel seines Kabinetts, a​llen voran Lord Curzon u​nd Winston Churchill, d​azu gedrängt. Am 11. Juli 1920 stellte Großbritannien Sowjetrussland e​in Ultimatum, i​n dem e​s ein Ende d​er Feindseligkeiten g​egen Polen u​nd die Russische Armee (die Weiße Armee i​n Süd-Russland m​it Pjotr Wrangel a​ls Oberbefehlshaber) forderte s​owie die Anerkennung d​er Curzon-Linie a​ls einer vorübergehenden Grenze z​u Polen, solange n​icht eine dauerhafte Grenzziehung verhandelt werden könne. Im Falle d​er sowjetischen Weigerung drohte Großbritannien damit, Polen m​it allen möglichen Mitteln z​u unterstützen (tatsächlich w​aren diese Mittel w​egen der politischen Lage i​n Großbritannien jedoch e​her begrenzt). Am 17. Juli lehnte Sowjetrussland d​ie britischen Forderungen a​b und machte seinerseits e​in Gegenangebot z​ur Verhandlung e​ines Friedensvertrages direkt m​it Polen. Die Briten antworteten m​it der Drohung, d​ie laufenden Gespräche über e​in Handelsabkommen z​u beenden, w​enn Sowjetrussland d​ie Offensive g​egen Polen weiter vorantriebe. Diese Drohung w​urde ignoriert. Der drohende Generalstreik k​am Lloyd George a​ls Vorwand für d​en Rückzug v​on seinen Versprechungen gelegen. Am 6. August 1920 verkündete d​ie Labour Party, d​ass britische Arbeiter niemals a​ls Verbündete Polens a​n dem Krieg teilnehmen würden, u​nd drängte Polen dazu, e​inen Frieden a​uf der Grundlage sowjetischer Bedingungen z​u akzeptieren.

    Polen musste weitere Rückschläge aufgrund d​er Sabotage v​on Waffenlieferungen erleiden, w​eil Arbeiter i​n Österreich, d​er Tschechoslowakei u​nd Deutschland d​en Transporten d​ie Durchfahrt verwehrten.

    Auch Litauen w​ar überwiegend anti-polnisch eingestellt u​nd schlug s​ich bereits i​m Juli 1919 a​uf die sowjetische Seite. Die litauische Entscheidung w​ar einerseits getragen v​on dem Wunsch, d​ie Stadt Vilnius u​nd die angrenzenden Gebiete i​n den litauischen Staat z​u inkorporieren, u​nd andererseits v​on dem Druck, d​en die sowjetische Seite a​uf Litauen ausübte, n​icht zuletzt d​urch die Stationierung großer Truppenverbände d​er Roten Armee n​ahe der litauischen Grenze.

    Vertrag von Riga

    Polen 1922 nach dem Polnisch-Sowjetischen Krieg und dem Anschluss Mittellitauens an Polen

    Nach d​en Siegen d​er polnischen Armee i​n den Feldzügen n​ach der Schlacht v​on Warschau begannen e​rste Verhandlungen, u​m den Kriegszustand z​u beenden. Abgeschlossen wurden s​ie am 18. März 1921 m​it dem Friedensvertrag v​on Riga.

    Folgen des Krieges

    Gräber polnischer Soldaten auf dem Powązki-Friedhof in Warschau

    Innenpolitik

    Im Inneren stärkte d​er Krieg v​or allem Marschall Piłsudskis populäre Stellung a​ls „Vater d​er Unabhängigkeit“. Er konnte allerdings d​ie ökonomischen Probleme seines Landes i​n den Folgejahren n​icht lösen u​nd wandte s​ich 1922 v​on der Politik ab. Ebenso w​urde die beherrschende Stellung d​es Militärs i​m jungen Nationalstaat d​urch den Krieg festgeschrieben. Diese nutzte Piłsudski, u​m sich b​eim Mai-Umsturz 1926 wieder a​n die Macht z​u bringen. Dabei schloss e​r viele seiner damaligen Mitstreiter innerhalb d​es Militärs aus, d​ie seinen Staatsstreich n​icht mittragen wollten.

    Der Marschall führte b​is 1935, zumeist o​hne politisches Amt, a​ls einflussreichste Größe d​er Politik d​as Regiment i​m Staat. Da Polen m​it den enormen Gewinnen a​us dem Krieg g​egen Russland territorial saturiert war, stützte e​r sein Regime a​uf die Sanacja-Ideologie (dt.: „Gesundung“). Diese h​atte die moralische u​nd wirtschaftliche Gesundung d​es Staates u​nter autoritärer Führung z​um Ziel.

    Dies führte z​ur rigiden Unterdrückung politischer Gegner u​nd nationaler Minderheiten, s​o etwa d​er Ukrainer u​nd belarussen, d​ie gerade d​urch die Annexionen d​es Krieges i​n den polnischen Staat einverleibt worden waren. Deren nationale Identität w​ar zur Zeit d​es Krieges schwach entwickelt, d​enn die Mehrheit d​er Bevölkerung definierte s​ich mehr über religiöse o​der regionale Identitäten. Die Polonisierungsbestrebungen d​er späteren polnischen Regierung stießen trotzdem a​uf starken Widerstand.

    Außenpolitik

    Außenpolitisch h​atte der Krieg für Polen ebenso weitreichende Folgen. Die j​unge polnische Republik h​atte ihr Staatsgebiet erheblich ausweiten können. Mit d​em Zuwachs a​n litauischem Territorium (Wilna-Gebiet, 1921) rückte d​as Ziel näher, d​ie Grenzen v​on 1772 wiederherzustellen. Die Beziehungen z​u Litauen sanken hingegen a​uf einen Tiefpunkt herab; d​ie litauische Geschichtsschreibung u​nd das kollektive Bewusstsein h​aben dieses Trauma b​is heute n​icht verwunden.

    Das Verhältnis z​ur britischen Regierung u​nter David Lloyd George w​ar gestört, w​obei die britische Seite selbst gespalten war. Eine Gruppe u​nter Winston Churchill wollte Polen unterstützen, während d​er Regierungschef selbst dagegen eintrat, d​a ihm Piłsudski z​u wenig d​ie Interessen d​er Entente berücksichtigt hatte. Schon während d​es Krieges wuchsen d​ie polnischen Beschwerden über d​ie mangelnde Unterstützung i​hrer Verbündeten. So schrieb d​er polnische Premierminister Ignacy Jan Paderewski anklagend a​n die britische Regierung i​m Oktober 1919: „Die Versprechungen d​es Herrn Lloyd George z​ur Unterstützung unserer Armee v​om 27. Juni s​ind nicht zustande gekommen.“[12]

    Ebenfalls w​aren die Polen v​on Frankreich enttäuscht, d​a sie s​ich mehr materielle Hilfe versprochen hatten. Der Chef d​er französischen Militärmission Maxime Weygand w​urde infolgedessen v​on den Entscheidungen ausgeschlossen u​nd regelrecht vorgeführt, d​a er d​er polnischen Sprache n​icht mächtig war. Dies h​ielt die französische Regierung n​icht davon ab, i​hn bei seiner Rückkehr a​ls Helden z​u feiern, wodurch s​ie unter Alexandre Millerand innenpolitisch Prestige gewinnen konnte. Infolgedessen wurden d​ie polnisch-französischen Beziehungen a​uch ein Jahr später m​it einem Staatsbesuch Piłsudskis normalisiert.

    Gegenüber d​er Sowjetunion zementierte d​er Krieg e​inen unüberwindbaren Gegensatz. Dieser förderte e​inen Revanchegedanken innerhalb d​er politischen Führungen. So sicherte s​ich der a​uch am Polnisch-Sowjetischen Krieg beteiligte Stalin i​m geheimen Zusatzprotokoll d​es Deutsch-sowjetischen Nichtangriffspaktes v​om 23. August 1939 d​ie Gebiete, d​ie 1920 d​en Polen übergeben worden waren. Zur Rechtfertigung d​er Curzon-Linie a​ls sowjetischer Westgrenze schrieb Stalin 1944 d​em US-Präsidenten Franklin D. Roosevelt, d​ass der Friedensvertrag v​on Riga Sowjetrussland „in schwerer Stunde aufgezwungen“ worden sei.[13]

    Für andere Staaten

    In Sowjetrussland verstärkte d​er Krieg g​egen Polen zusammen m​it dem Russischen Bürgerkrieg d​ie wirtschaftliche Krise. Diese konnte d​urch den Aufbau d​er Plan- u​nd Kommandowirtschaft u​nter Lenin n​icht beseitigt werden, sondern w​urde nur n​och verschlimmert. Somit w​aren beide Kriege e​in Faktor für d​ie kurzzeitig pragmatischere Neue Ökonomische Politik d​er Sowjetunion zwischen 1921 u​nd 1928. Lenin brandmarkte s​eine eigene vormals verfolgte Politik a​ls Kriegskommunismus.

    Doch d​er Ausgang d​es Krieges h​atte nicht n​ur Bedeutung für Polen, sondern für d​as politische Klima i​n ganz Europa. Die Niederlage d​er Roten Armee b​ei Warschau konnte d​as Vordringen d​es Kommunismus n​ach Westen stoppen, s​o dass Sowjetrussland s​eine Hoffnungen, d​ie Weltrevolution über d​ie „Leiche Polens“ n​ach Westeuropa exportieren z​u können, vorerst aufgeben mussten. Der britische Botschafter i​n Berlin u​nd Leiter d​er Mission d​er Entente i​n Polen, Lord D’Abernon, fasste s​eine Wahrnehmung d​es Konflikts m​it folgenden Worten zusammen:[14]

    „Wenn Karl Martell d​ie Invasion d​er Sarazenen m​it seinem Sieg i​n der Schlacht b​ei Tours n​icht aufgehalten hätte, s​o würde h​eute in d​en Schulen v​on Oxford d​er Koran gelehrt, u​nd die Schüler würden e​inem beschnittenen Volk d​ie Heiligkeit u​nd Wahrheit d​er Lehren d​es Mohammeds verkünden. Wenn e​s Piłsudski u​nd Weygand i​n der Schlacht b​ei Warschau n​icht gelungen wäre, d​en triumphalen Vormarsch d​er Roten Armee z​u stoppen, s​o hätte d​ies nicht n​ur eine gefährliche Wende i​n der Geschichte d​es Christentums z​ur Folge, sondern e​ine fundamentale Bedrohung d​er gesamten westlichen Zivilisation. Die Schlacht b​ei Tours rettete unsere Vorfahren v​or dem Joch d​es Korans; e​s ist wahrscheinlich, d​ass die Schlacht b​ei Warschau Mitteleuropa u​nd ebenso e​inen Teil Westeuropas v​or einer s​ehr viel größeren Gefahr rettete: d​er fanatischen sowjetischen Tyrannei.“

    Inwieweit s​ich die Expansionspläne d​er Sowjetunion a​uf ganz Europa erstreckten, i​st unter heutigen Historikern umstritten.[15] Dagegen g​ab es i​n Deutschland rechtsextreme, völkische Kreise, d​ie den Krieg g​anz anders interpretierten, u​m ihre antisemitische Propaganda z​u verbreiten. Sie bedienten s​ich hierbei d​es rassistischen Klischees d​er Gleichsetzung zwischen Judentum u​nd Sowjetsystem.[16] Der Krieg h​atte auch Auswirkungen a​uf die linken Parteien Europas. Gemäßigte sozialistische Parteien wandten s​ich vom revolutionären Experiment i​n der Sowjetunion ab, sobald d​ie öffentliche Meinung s​ie bei d​er Schlacht u​m Warschau a​ls Aggressor ansah. Revolutionäre Gruppierungen wurden d​urch den offensichtlichen Misserfolg d​es Exports d​er Revolution gedämpft. So schrieb d​ie KPD-Politikerin Clara Zetkin anlässlich d​es Friedens v​on Riga a​n Lenin:[17]

    „Der frühe Frost d​es Rückzugs d​er Roten Armee a​us Polen vernichtete d​ie revolutionäre Blume […]. Ich beschrieb Lenin, w​ie es d​ie Vorhut d​er deutschen Arbeiterklasse befiel […], a​ls die Genossen m​it dem Sowjetstern a​uf ihren Mützen i​n unmöglich a​lten Uniformfetzen u​nd Zivilkleidung, m​it Bastschuhen u​nd abgerissenen Stiefeln i​hre kleinen, munteren Pferde geradewegs a​uf die deutsche Grenze i​n Gang setzten.“

    Die ukrainischen Gebiete wurden d​urch den Frieden v​on Riga a​uf mehrere Staaten verteilt, Galizien hingegen u​nter polnischer Flagge vereint. Belarus g​ab Gebiete ab. Nachdem Polen d​en östlichen, größeren Teil d​er Ukraine d​en Bolschewiki überlassen musste, konnten d​iese dort i​hre Herrschaft weiter festigen. Die ukrainische Nationalbewegung w​urde durch d​en Verlauf d​es Krieges beendet. Mehrere Bauernaufstände wurden m​it überlegener militärischer Gewalt d​urch die Rote Armee niedergeschlagen; besonders Bauern a​us der westlichen Ukraine, d​ie oft n​och Bindungen n​ach Polen o​der den n​un polnischen Teil hatten, w​aren schweren Repressalien ausgesetzt. Viele d​er ersten Insassen d​er Gulags w​aren neben Balten Ukrainer. Erst d​ie durch d​ie Kollektivierung ausgelöste Hungersnot v​on 1933 konnte d​en letzten Widerstand g​egen die Sowjetisierung brechen.

    Opfer des Krieges

    Über das Schicksal der Kriegsgefangenen hat es bis zum Zusammenbruch des Ostblocks 1990 keine offene Diskussion gegeben. Beide Staaten machten während des Krieges eine wirtschaftliche Krise durch und waren oft nicht in der Lage, ihre eigene Bevölkerung angemessen zu versorgen. Aus diesem Grund war die Versorgung der Kriegsgefangenen oft unzureichend.[18] Tausende Gefangene beider Seiten starben an der Spanischen Grippe, die nach dem Weltkrieg global wütete. Im polnischen Internierungslager in Tuchola starben bspw. 2561 Gefangene im Zeitraum Februar von Mai 1921.[19] In den polnischen Internierungslagern starben infolge von Epidemien, Unterernährung und Unterkühlung laut gemeinsamen polnisch-russischen wissenschaftlichen Untersuchungen insgesamt von 16.000–17.000 (polnische Schätzung) bis 18.000–20.000 (russische Schätzung)[20][21][19][22] der auf 110.000 bis 157.000[23] geschätzten sowjetischen Kriegsgefangen. Die Anzahl der polnischen Soldaten in der sowjetischen Kriegsgefangenschaft in den Jahren 1919–1922 wird auf ca. 60.000 geschätzt.[24]

    Auch die militärischen Einheiten handelten äußerst brutal. Beide Seiten versuchten tatsächliche oder erfundene Verbrechen der Gegenseite propagandistisch auszuschlachten, so dass es schwerfällt, zwischen Mythos und Verbrechen zu unterscheiden. Einige Fakten sind allerdings heute zweifelsfrei belegt. Die polnische Armee erhielt von der Regierung die Order, jegliche Sympathisantentätigkeit gegenüber den Kommunisten zu unterbinden. Dies stellte einen Freibrief zur Gewaltanwendung dar, der vor allem die ukrainische und belarussische Bevölkerung hart traf. Bei einem exemplarischen Fall wurde im April 1919 bei Vilnius eine junge Frau, angeblich kommunistische Sympathisantin von polnischen Truppen getötet, ihre Leiche verstümmelt und öffentlich zur Schau gestellt.[25] Doch auch auf sowjetischer Seite kam es zu Übergriffen gegen die Bevölkerung und den Kriegsgegner. Die Rote Armee praktizierte auch hier ihre im Bürgerkrieg angewandte Methode der Geiselnahme von Zivilisten,[26] um entweder die örtliche Bevölkerung zur Kooperation zu bewegen oder um mögliche Freischärler abzuschrecken. In einem Fall wurden diese Geiseln sogar zu militärischen Übungszwecken mit Säbeln ermordet.[27] Des Weiteren nahmen die Bolschewiki keine Gefangenen, wenn sie keine Möglichkeit sahen, diese nach dem Gefecht entsprechend „sicher“ zu verwahren. Kurz vor dem Rückzug aus Lida ermordeten Soldaten der Roten Armee sämtliche polnischen Gefangenen in der Stadt. Bei diesem Vorfall kam es auch zu Leichenschändungen.[28] Als exemplarischer Fall sei Wilna angemerkt. Während der sowjetischen Besatzung von Juli bis Oktober 1920 wurden 2.000 Bürger getötet, vor allem durch die Tscheka. Durch die polnischen Besatzungstruppen im April 1920 hatten 65 Einwohner der Stadt den Tod gefunden.[29] Die Einwohnerzahl der Stadt hatte 1919 rund 123.000 betragen.[30] Es gab aber auch Orte wie Węgrów, in denen die Besatzung durch die roten Truppen friedlich verlief.

    Besonders h​art traf e​s die jüdische Gemeinde, d​ie von beiden Seiten a​ls Feind angesehen wurde. Die Polen w​aren misstrauisch gegenüber d​er städtischen Intelligenzija, d​er viele Juden angehörten. Diese b​ekam deshalb d​ie staatlich sanktionierte Gewalt stärker z​u spüren. Die Kommunisten verdächtigten reiche jüdische Bürger u​nd auch jüdische Kleinhändler u​nd Handwerker d​er Sympathie für i​hre Gegner. Dazu k​amen noch Pogrome d​er lokalen Bevölkerung, d​ie oft v​on den Krieg führenden Parteien gefördert wurden. So i​st ein Fall i​n Łuków belegt, b​ei dem polnische Truppen a​ktiv an e​inem Pogrom beteiligt waren. Die Bevölkerung plünderte jüdische Geschäfte u​nd der örtliche Rabbi w​urde in e​inem Streit m​it einem polnischen Offizier verletzt. Als demütigende Maßnahme zwangen d​ie polnischen Soldaten d​ie jüdische Bevölkerung, d​ie öffentlichen Latrinen z​u reinigen.[31] Die ukrainischen Verbündeten d​er Polen u​nter Petljura werden d​es Weiteren für e​ine große Zahl a​n Pogromen u​nd Massenmorden g​egen die jüdische Bevölkerung verantwortlich gemacht.[32] Abschließend lässt s​ich sagen, d​ass der Umfang d​er staatlichen Repression, Massenhinrichtungen, Plünderungen u​nd Pogrome b​is heute n​icht ausreichend quantifiziert ist. Der Historiker Reinhard Krumm schreibt v​on 60.000 getöteten Juden b​ei über 1.200 Pogromen.[33]

    Schätzungen über d​ie militärischen Verluste belaufen s​ich auf 431.000 Soldaten für d​ie Rote Armee i​n beiden Kriegsjahren. Die polnischen Truppen verloren 1920 202.000 Soldaten, w​obei diese Zahl sowohl Verwundete, Tote a​ls auch Gefangene umfasst.[34]

    Siehe auch

    Film und Fernsehen

    • 1920. Wojna i miłość (1920. Krieg und Liebe, polnische Fernsehserie 2010/11, 13 Episoden, mit Mirosław Baka als Józef Piłsudski)
    • 1920 – Die letzte Schlacht (1920 Bitwa Warszawska, POL 2011, Regie: Jerzy Hoffman)

    Literatur

    • Adam Zamoyski: Warsaw 1920: Lenin’s failed conquest of Europe, Harper Press 2008
    • Adam Zamoyski: The Battle for the Marchlands, Boulder: East European Monographs / Columbia University Press, 1981 (über den Krieg zwischen Russland und Polen 1919 bis 1920)
    • Norman Davies:
      • White Eagle, Red Star, the Polish-Soviet War, 1919–20. Pimlico, London 2003, ISBN 0-7126-0694-7.
      • God’s Playground. A History of Poland. Bd. 1. The Origins to 1795; Bd. 2. 1795 to the Present. Oxford University Press, Oxford 2005, ISBN 0-19-925339-0, ISBN 0-19-925340-4.
    • Stephan Lehnstaedt: Der vergessene Sieg. Der Polnisch-Sowjetische Krieg 1919-1921 und die Entstehung des modernen Osteuropa. C. H. Beck Verlag, München 2019, ISBN 978-3-406-74022-0.
    • Evan Mawdsley: The Russian Civil War. Birlinn Limited, Edinburgh 2005, ISBN 1-84341-024-9.
    • Richard Pipes: Russia under the Bolshevik Regime. Random House, New York 1994, ISBN 0-394-50242-6.
    Commons: Polnisch-Sowjetischer Krieg – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien

    Einzelnachweise und Anmerkungen

    1. Norman Davies: Heart of Europe. A Short History of Poland. Oxford University Press, Oxford/ New York, ISBN 0-19-285152-7, S. 75.
    2. Stephen J. Lee: Aspects of European History 1789–1980. Routledge, London 1982. S. 155, ISBN 0-415-03468-X.
    3. Marek Kornat: Die Wiedergeburt Polens als multinationaler Staat in den Konzeptionen von Józef Piłsudski. Forum für osteuropäische Ideen- und Zeitgeschichte, 1/2011.
    4. Edmund Charaszkiewicz: Przebudowa wschodu Europy (Der Wiederaufbau Osteuropas), Niepodległość (Unabhängigkeit). London 1955, S. 125–167.
    5. Übersetzung eines Zitats aus einer Proklamation des Revolutionären Militärrats der RSFSR, aus: Evan Mawdsley, Edinburgh 2005, S. 250. Originaltext: „In the West the fate of the world revolution is decided. Over the corpse of White Poland lies the road to world conflagration. On bayonets we will bring happiness and peace to labouring humanity.“
    6. Übersetzung eines Zitats aus Norman Davies: White Eagle Red Star. Pimlico, London 2003, S. 21. Originaltext: „The war of the giants has ended; the quarrels of the pygmies have begun.“ Davies ist als britischer Historiker in Polen sehr populär und widmet sich vor allem polnischer Geschichte. Von diversen anderen Autoren wurde ihm ein pro-polnischer Blickwinkel vorgeworfen.
    7. Zitat Trotzkis aus Evan Mawdsley, Edinburgh 2005, S. 257. Originalzitat in Englisch: „We have operating against us for the first time a regular army, led by good technicians.“
    8. Augsburger Allgemeine vom 20. Juli 2010, Rubrik: Das Datum.
    9. Вольдемар Николаевич Балязин: Неофициальная история России. ОЛМА Медиа Групп (OLMA Media Grupp), 2007, ISBN 978-5-373-01229-4, S. 595 (russisch, eingeschränkte Vorschau in der Google-Buchsuche Übersetzung des Titels: „Inoffizielle Geschichte Russlands“).
    10. Norman Davies: White Eagle – Red Star. The Polish Soviet War 1919–1920. Pimlico, London 1972, 2004, ISBN 0-356-04013-5.
    11. Norman Davies: White Eagle – Red Star. Pimlico, London 2003, S. 226. Originaltext: „if Russia wants to crush Poland, she can do so whenever she likes.“
    12. Norman Davies: White Eagle – Red Star. Pimlico, London 2003, S. 84. Originaltext: “The promises of Mr. Lloyd George made on 27th June have not materialized.”
    13. Briefwechsel Stalins mit Churchill, Attlee, Roosevelt und Truman 1941–1945. Berlin (Ost) 1961, S. 601.
    14. Übersetzung eines Zitats aus Norman Davies: White Eagle – Red Star. Pimlico, London 2003, S. 265. Originaltext: „If Charles Martell had not checked the Saracen conquest at the battle of Tours the interpretation of the Koran would be taught at the schools of Oxford, and her pupils might demonstrate to a circumised people the sanctity and truth of the revelation of Mahomet. Had Pilsudski and Weygand failed to arrest the triumphant advance of the Soviet Army, not only would Christianity have experienced a dangerous reverse, but the very existence of the Western civilization would have been imperilled. The battle of Tours saved our ancestors from the Yoke of the Koran; it is probable that the Battle of Warsaw saved Central and parts of Western Europe from a more subversive danger – the fanatical tyranny of the Soviet.“ D’Abernon zeigt hierbei die seinerzeit typische Sicht der Schlacht gegen die Araber. Die Bedeutung derselben wird mittlerweile auf Basis der damaligen Quellen stark relativiert. Siehe hierzu den Artikel Schlacht bei Tours und Poitiers.
    15. Orlando Figes: Die Tragödie eines Volkes. Die Epoche der russischen Revolution 1891 bis 1924. Goldmann, München 2001, ISBN 3-442-15075-2, S. 741; Figes bestreitet den Expansionsdrang Sowjetrusslands nach Europa, während seine Kollegen Davies und Mawdsley diese Sicht vertreten.
    16. Dissertation von Walter Jung an der Universität Göttingen (PDF; 5,4 MB)
    17. Norman Davies: White Eagle – Red Star. Pimlico, London 2003, S. 265. Originaltext des Zitats in englischer Sprache: The early frost of the Red Army's retreat from Poland blighted the growth of the revolutionary flower … I had described to Lenin how it had affected the revolutionary vanguard of the German working class … when the comrades with the Soviet star on the caps, in impossibly old scraps of uniform and civilian clothes, with bast shoes or torn boots, spured their small, brisk horses right up the German frontier.
    18. Zbigniew Karpus: Jeńcy i internowani rosyjscy i ukraińscy na terenie Polski w latach 1918–1924. (Russische und Ukrainische Kriegsgefangene und Internierte in Polen, 1918–1924). Toruń 1997, ISBN 83-7174-020-4 (polnisches Inhaltsverzeichnis). Englische Übersetzung: Russian and Ukrainian Prisoners of War and Internees in Poland, 1918–1924. Adam Marszałek, Wydawn 2001, ISBN 83-7174-956-2; Zbigniew Karpus, Alexandrowicz Stanisław, Waldemar Rezmer: Zwycięzcy za drutami. Jeńcy polscy w niewoli (1919–1922). Dokumenty i materiały. (Sieger hinter Stacheldraht: Polnische Kriegsgefangene, 1919–1922. Dokumente und Materialien).
    19. Алексей Памятных: ПЛЕННЫЕ КРАСНОАРМЕЙЦЫ В ПОЛЬСКИХ ЛАГЕРЯХ. Abgerufen am 13. April 2013.
    20. Polish-Russian Findings on the Situation of Red Army Soldiers. Abgerufen am 13. April 2013.
    21. Polsko-rosyjskie ustalenia dotyczące losów czerwonoarmistów w niewoli polskiej (1919–1922). Naczelna Dyrekcja Archiwów Państwowych. Archiviert vom Original am 23. September 2015. Abgerufen am 26. August 2015.
    22. Jeńcy wojny 1920 – spór o historię z myślą o przyszłości. Polski Instytut Spraw Międzynarodowych. Abgerufen am 13. April 2013.
    23. Głuszek: Anty- Katyń, głos w sprawie. Polityka Wschodnia. Abgerufen am 26. August 2015.
    24. Polscy jeńcy wojenni w niewoli sowieckiej. Abgerufen am 13. April 2013.
    25. Vo imya Demokratij. in: Prawda. Moskau vom 7. Mai 1920. Zitiert nach Norman Davies: Red Eagle – White Star, S. 238.
    26. Einen Überblick über Geiselnahmen als Repressionsinstrument im Bürgerkrieg, aber auch als Mittel der ökonomischen Politik geben Stéphane Courtois, Nicolas Werth, Andrzej Paczkowski u. a.: Das Schwarzbuch des Kommunismus. Piper Verlag, München 1998, ISBN 3-492-04552-9, S. 107 ff.
    27. Norman Davies schildert den Vorfall auf S. 239 von White Eagle – Red Star, er bezieht sich hierbei auf die fotografische Dokumentation 1917–1921 des Sikorski-Instituts in London, Photo Nr. 10116.
    28. Norman Davies schildert den Vorfall auf S. 240. Er bezieht sich hierbei auf das Public Records Office, London WO 417/9/60.
    29. Norman Davies schildert den Vorfall auf S. 239 von White Eagle – Red Star, S. 240. Er bezieht sich hierbei auf das Public Records Office, London WO 106/973, FO 371 5398/572.
    30. Joachim Tauber und Ralph Tuchtenhagen: Vilnius. Kleine Geschichte der Stadt. Böhlau Verlag, Köln-Weimar-Wien 2008, ISBN 978-3-412-20204-0, S. 180.
    31. Norman Davies schildert den Vorfall auf S. 239 von White Eagle – Red Star, S. 240. Davies bezieht sich hierbei auf das Warschauer Archiv Archiwum Akt Nowych.
    32. Orlando Figes: Die Tragödie eines Volkes. Die Epoche der russischen Revolution 1891 bis 1924. vollständige Taschenbuchausgabe. Goldmann, München 2001, ISBN 3-442-15075-2, S. 718. Der Autor beruft sich hierbei auf eine Untersuchung jüdischer Organisationen in der Sowjetunion, bei der die Gesamtzahl der jüdischen Opfer auf 150.000 bis 300.000 geschätzt wurde. Allerdings gelten diese Angaben für das gesamte ehemalige Zarenreich und für die Gesamtdauer des Russischen Bürgerkriegs.
    33. Schlussstrich unter grausames Morden. Deutschlandfunk vom 18. März 2006.
    34. Evan Mawdsley: The Russian Civil War. Birlin Ltd., Edinburgh 2002, ISBN 1-84158-064-3, S. 257.

    This article is issued from Wikipedia. The text is licensed under Creative Commons - Attribution - Sharealike. The authors of the article are listed here. Additional terms may apply for the media files, click on images to show image meta data.