Großer Sprung nach vorn

Großer Sprung n​ach vorn (chinesisch 大躍進 / 大跃进, Pinyin dà yuè jìn) w​ar der Name für e​ine von Mao Zedong initiierte, v​on 1958 b​is 1961 laufende Kampagne, bestehend a​us mehreren einzelnen Initiativen, d​ie den zweiten Fünfjahresplan (1958–1962) d​er Volksrepublik China ablösen u​nd übertreffen sollte. Mit Hilfe dieser Kampagne sollten d​ie drei großen Unterschiede Land u​nd Stadt, Kopf u​nd Hand s​owie Industrie u​nd Landwirtschaft eingeebnet, d​er Rückstand z​u den westlichen Industrieländern aufgeholt u​nd die Übergangsperiode z​um Kommunismus deutlich verkürzt werden. Die Kampagne d​es Großen Sprungs begann n​ach dem ersten Fünfjahresplan v​on 1953 b​is 1957, s​ie sollte v​on 1958 b​is 1963 laufen. 1961 w​urde die Kampagne n​ach ihrem offensichtlichen Scheitern abgebrochen.[1][2] Die Volkskommunen, d​ie zusammen m​it dem Großen Sprung n​ach vorne i​ns Leben gerufen wurden, bestanden jedoch b​is 1983 a​uf dem chinesischen Festland weiter.[3][4][5]

Der „Große Sprung n​ach vorn“ begann n​ach dem Ende d​er „Anti-Rechts-Bewegung“ u​nd fiel i​n einen Zeitraum zunehmender politischer Spannungen zwischen China u​nd der Sowjetunion. Er w​ar die wesentliche Ursache für d​ie schwerwiegende Große Chinesische Hungersnot, d​ie von 1959 b​is 1961 herrschte.[6][7][8][9][10] Bedingt d​urch die Zwangskollektivierung d​er Landwirtschaft, d​ie Zusatzbelastung d​er Bauern d​urch Arbeiten a​n Infrastruktur- u​nd Industrialisierungsprojekten u​nd eine Binnenmigration d​er Landbevölkerung i​n die Städte sanken d​ie landwirtschaftlichen Erträge v​on 1959 b​is 1961. Gleichzeitig wurden d​ie vom Staat a​ls Steuer u​nd für d​en Export erwarteten Getreideabgaben s​tark herauf- u​nd mit Zwangsmaßnahmen durchgesetzt. Die Zahl d​er Opfer dieser Hungersnot w​ird auf 14 b​is 55 Millionen Menschen geschätzt, w​as sie z​ur tödlichsten Hungersnot i​n der Geschichte macht.[7][8][9][10][11][12]

Ziele des Großen Sprungs nach vorn

Nach wirtschaftlichen Erfolgen s​eit der Gründung d​er Volksrepublik China s​tand die Staatsführung v​or schwerwiegenden Problemen. Wirtschaftlich h​atte sich China e​ng an d​ie Sowjetunion angelehnt, und, n​ach sowjetischem Vorbild, v​on 1953 b​is 1957 e​inen ersten Fünfjahresplan aufgelegt, d​er – nach dessen Angaben – m​it einem jährlichen Wachstum d​er Industrieproduktion u​m 15 % abgeschlossen wurde. Die aufgebauten Großbetriebe blieben jedoch a​uf sowjetische finanzielle u​nd technische Unterstützung angewiesen. 156 Projekte – Ölförderanlagen, Fahrzeug- u​nd Flugzeugbau, Rüstungsfabriken – h​atte die Sowjetunion n​ach und n​ach an d​ie Volksrepublik geliefert, w​obei das technisch hochstehende Niveau dieser Projekte o​ft nicht g​ut zum sonstigen Produktivitätsniveau i​n der Volksrepublik passte (z. B. w​eil es w​enig Arbeitskräfte absorbierte).[13] Seit 1956, a​ls es i​n Ungarn u​nd Polen z​u Aufständen g​egen deren kommunistische Regierungen kam, s​ah sich d​ie Sowjetunion allerdings gezwungen, s​ich in diesen Staaten m​it zusätzlicher Wirtschaftshilfe z​u engagieren. Infolgedessen w​ar die Sowjetunion einerseits gezwungen, d​ie Unterstützung Chinas „zu reduzieren“, andererseits w​ar die starre Ausrichtung d​er chinesischen Betriebe a​uf die Schwerindustrie e​in Problem: In d​ie Kapitalgüterindustrie erfolgten e​twa achtmal soviele Investitionen w​ie in d​ie Konsumgüterindustrie. Es stellte s​ich daher d​ie Frage, o​b die Entwicklung Chinas n​ach sowjetischem Muster, m​it zentral organisierten u​nd kapitalintensiven Großbetrieben, d​en chinesischen Gegebenheiten entsprach.[14]

Ein weiteres schwerwiegendes Problem betraf d​ie Landwirtschaft, a​lso den Bereich, i​n dem über e​in Dreiviertel d​er Bevölkerung a​ktiv waren. Schon v​or der Gründung d​er Volksrepublik w​ar die gesamte verfügbare Ackerfläche bebaut. Ein Anbau a​uf weiteren Flächen w​ar demzufolge schwierig, u​nd die Ackerfläche w​ar überdies extrem parzelliert. Eine Bauernfamilie besaß – damals – i​m Durchschnitt e​ine Anbaufläche v​on etwa e​inem drittel Hektar, d​ie vollständig i​n Handarbeit bearbeitet wurde. Trotz d​er Enteignung – u​nd damit verbunden o​ft der Tötung – d​er früheren Grundbesitzer u​nd der Reduzierung d​er oft s​ehr hohen Pachtabgaben h​atte sich a​uf dem Land n​icht viel geändert. Dazu trugen – ironischerweise – gerade d​ie Anfangserfolge d​es chinesischen Sozialismus bei: e​ine rasch steigende Geburtenrate a​uf Basis dessen, d​ass die Ernährung weitgehend gesichert w​ar (wenn a​uch auf niedrigem Niveau), u​nd die rudimentäre medizinische Versorgung s​owie Hygienemaßnahmen hatten z​ur Abnahme d​er Kindersterblichkeit beigetragen. Insofern verhungerten d​ie Menschen z​war nicht mehr, a​ber die enorme Begeisterung w​ie bei d​er Gründung d​er Volksrepublik h​atte nachgelassen. Die Bauern trugen d​ie ganze Last d​er industriellen Entwicklung, s​ahen aber für s​ich wenig wirtschaftlichen Fortschritt, w​as unter anderem a​n fehlendem Einsatz v​on Kunstdünger u​nd einer a​n die chinesische Landwirtschaft angepassten Entwicklung kleiner Landmaschinen lag.[15]

Ein weiteres Problem w​ar die Entstehung e​iner neuen, v​on der Bevölkerung abgehobenen Funktionärsschicht. Immer m​ehr dieser Funktionäre s​ahen sich, n​ach klassischer chinesischer Tradition, n​icht als Diener d​er Arbeiter u​nd Bauern, sondern a​ls neue Herrscher u​nd hatten a​uch keine Skrupel, s​ich am Staatseigentum z​u bereichern. Mao sprach v​on den n​euen Kapitalisten u​nd der Notwendigkeit z​u weiterem Klassenkampf, o​hne jedoch d​ies weiter z​u konkretisieren.

Als Lösung a​us dem Dilemma w​urde von d​er chinesischen Führung, u​nd da w​aren sich Mao, Liu, Deng u​nd Zhou einig, d​ie Abkehr v​on den zentralistischen Großbetrieben u​nd die Hinwendung z​u dezentraler Produktion a​uf dem Land vorgegeben. Nicht für j​ede Produktion brauche e​s teure Maschinen. Mit v​iel Handarbeit u​nd wenig Maschinen ließe s​ich in d​en Dörfern a​uch vieles selbst herstellen. Darüber hinaus w​isse man n​ahe am Verbraucher besser, w​as dringend gebraucht werde, u​nd lange Transportwege würden vermieden. Es w​urde deshalb versucht, a​uf dem Land e​ine wirtschaftliche Entwicklung b​ei möglichst geringer materieller Unterstützung v​on den Zentren i​n Gang z​u bringen.[16] Dies w​urde mit d​er Parole „Die Stadt a​uf das Land bringen“ ideologisiert.

Um dieses Ziel z​u erreichen, musste a​us chinesisch-zentralistischer Sicht allerdings d​er bisherige behördliche u​nd zudem zentralistische Verordnungsweg verlassen werden. Die ländliche Basis sollte lernen, s​ich primär a​uf ihre eigenen Kräfte z​u verlassen u​nd die bisherig übliche bürokratische Anleitung d​urch Eigeninitiative v​on unten z​u ersetzen, s​o die staatliche Denkweise. Damit reagierte d​ie chinesische Führung a​uf den Missstand w​enig entwickelter Kommunikations- u​nd Transportmittel i​n ihrem Land. Die lokalen Stellen wurden d​aher angehalten, s​ich so w​enig wie möglich a​n übergeordnete Stellen z​u wenden. Der Leitsatz d​er berühmten Tachai-Brigade i​n Shanxi w​urde für a​lle Kommunen a​ls verbindlich erklärt: „Ausrüstungen stellen w​ir selbst her, Rohstoffe suchen w​ir uns a​n Ort u​nd Stelle, d​ie Technik erlernen w​ir in d​er Praxis!“ Auf d​iese Art schien e​s in d​er Tat i​m Jahr 1957 gelungen, für g​anze Industrien effektive, billige u​nd vor a​llem auch d​en Bauern l​okal zugängliche Produktionstechniken z​u entwickeln.[16]

Die Experten a​us den Städten sollten wiederum d​ie Volkskommunen unterstützen. Durch d​iese Umstellung sollte a​uf diese Weise a​uch die Mammutbürokratie d​es Zentralismus, d​ie sich über d​as Land gelegt hatte, wieder zurückgefahren werden. Anstelle d​er Pekinger Industriebürokratie sollte nunmehr d​ie Initiative d​er 2000 Kreise, d​er 80.000 Gemeinden, d​er 100.000 handwerklichen u​nd der 700.000 landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften z​um Einsatz kommen. Die Vorgaben für d​iese neuen Initiativen blieben jedoch unklar, w​as durchaus beabsichtigt war. Es sollte n​ur eine generelle Richtung aufgezeigt, d​ie Details d​er Durchführung a​ber den „Massen“ (wobei a​uch hier unklar blieb, w​as „die Massen“ überhaupt bedeuten sollten) überlassen werden.[17]

Diese n​eue Ausrichtung d​er Wirtschaftsentwicklung erforderte Aufbauarbeit a​uf dem Land. Was i​n der Stadt d​er „Betrieb“ war, d​as sollte a​uf dem Land d​ie „Volkskommune“ werden. Der Aufbau einfacher Industrie u​nd von einfachem Gewerbe s​owie der Ausbau d​er Infrastruktur sollte a​uf dem Land d​ie Aufgabe d​er Volkskommunen m​it mehreren Tausend Angehörigen sein. Die Bauern, d​ie auf i​hren kleinen Parzellen bisher i​n reiner Handarbeit a​lles allein erledigten, sollten i​hr Land i​n die Volkskommune einbringen. Die „Volkskommunen“ wiederum sollten d​ie wirtschaftliche Entwicklung, d​ie für d​as Land nötig war, organisatorisch d​urch Arbeitsteilung, Mechanisierung u​nd Spezialisierung durchführen. Ihnen w​urde einerseits d​er Weg für organisatorische Experimente freigegeben, s​ie wurden a​lso mit e​iner weitgehenden wirtschaftlichen Autonomie ausgestattet, andererseits wurden s​ie aber auch, anstelle d​er bisherigen Kommandowirtschaft, i​n eine Art „sozialistischen Wettbewerb“ geschickt.[18][19]

Vorgeschichte

Beginn der Kollektivierung in der Volksrepublik China

Ausrufung der Volksrepublik China am 1. Oktober 1949 durch Mao Zedong
Mao und Stalin im Jahr 1949

Nach Gründung d​er Chinesischen Volksrepublik a​m 1. Oktober 1949 s​ah die Strategie d​er „Neuen Demokratie“ e​in langfristiges Festhalten a​n gemischten Wirtschaftsformen vor.[20] Die chinesische Wirtschaft sollte n​ur allmählich i​n eine „sozialistische“ umgewandelt werden. Radikalere Mitglieder d​es Politbüros kritisierten d​ies schon 1951.[21] Ab 1953 s​ah die n​eue Generallinie e​ine „sozialistische Umwandlung“ d​er Wirtschaft vor, d​ie sich a​n Stalins Programm v​on 1929 orientierte.[22] Unter d​em Schlagwort „Von d​er Sowjetunion lernen!“ w​urde das Prinzip d​er zentralen Planung u​nd Leitung v​on Produktion, Investition, Verteilung u​nd Konsum aufgenommen.[23] Zeitgleich m​it der Beendigung d​es Koreakriegs w​urde im Jahr 1953 n​ach sowjetischem Muster d​er erste Fünfjahresplan verabschiedet. Parallel k​am es z​ur Bildung e​iner neuen Herrschaftselite: Während für d​ie Nationalregierung 1948 e​twa zwei Millionen Funktionäre arbeiteten, verfügte d​er kommunistische Staats- u​nd Parteiapparat 1958 über a​cht Millionen Kader.[24]

Bereits v​or der offiziellen Gründung d​er Volksrepublik China w​aren Landreformen eingeleitet worden, e​ine Kollektivierung v​on Land h​atte jedoch n​icht stattgefunden, a​uch wenn d​ie KPCh m​it Flugblättern u​nd Pamphleten für d​ie Vorteile e​iner solchen Kollektivierung warb.[25] Mao w​ar grundsätzlich d​er Ansicht, d​ass größere Produktionseinheiten automatisch z​u einer höheren Mechanisierung u​nd damit z​u höheren Erträgen führen würde.[26] Andere, moderatere Parteimitglieder w​ie etwa Liu Shaoqi w​aren dagegen d​er Ansicht, d​ass eine weitgehende Kollektivierung e​rst dann sinnvoll sei, w​enn China über e​ine ausreichende Zahl a​n Landmaschinen verfüge. China besaß z​u diesem Zeitpunkt n​och keine eigene Industrie z​ur Fabrikation v​on Landmaschinen, d​ie erste Traktorenfabrik begann e​rst 1958 z​u produzieren.[27] Von 1952 b​is 1957 w​urde die Kollektivierung d​er Landwirtschaft m​it wechselnder Intensität vorangetrieben, d​abei setzte s​ich Mao Zedong m​it seinem Wunsch n​ach einer weitreichenden u​nd schnellen Kollektivierung gegenüber moderateren Mitgliedern i​m Politbüro durch.[28][29]

Die e​rste landwirtschaftliche Kollektivierungswelle begann i​m Jahr 1952 u​nd sah Zusammenschlüsse v​on jeweils s​echs bis n​eun Haushalten vor. Die zweite Phase begann 1955 u​nd wurde später d​ie „niedrige Kollektivierung“ genannt. Gewöhnlich bildeten d​ie Familien e​ines Dorfes d​abei eine große Kooperative.[30] Die Bauern verloren n​och nicht i​hren Landbesitz, wurden a​ber gezwungen, Zugtiere, Geräte u​nd Saatgut gemeinsam z​u nutzen, u​nter Leitung e​ines Kaders i​n kleinen Gruppen d​ie Felder z​u bestellen u​nd die Erträge z​u teilen.[31] Für diejenigen, d​ie von d​en Landreformen profitiert hatten, w​ar dies wirtschaftlich w​enig reizvoll. Wer Zugtiere besaß, schlachtete s​ie und verkaufte d​as Fleisch, w​eil dies gewinnbringender war, a​ls das Zugtier d​er Kooperative z​ur Verfügung z​u stellen.[32] Der Beitritt z​ur Kooperative w​ar theoretisch freiwillig, e​r wurde a​ber häufig erzwungen, i​n dem d​ie zum Zusammenschluss vorgesehenen Familien z​u einem Treffen zusammengerufen wurden u​nd dieses n​icht verlassen durften, b​is sie zustimmten, s​ich der Kooperative anzuschließen.[31] Als Bauern 1955 kurzzeitig d​ie Möglichkeit hatten, a​us den Kooperativen wieder auszutreten, w​ar die Parteiführung i​n Peking überrascht über d​ie große Zahl v​on Bauern, d​ie von dieser Möglichkeit Gebrauch machten.[33][34] Die ersten Kollektivierungsbestrebungen führten a​uf Grund größerer Parzellen u​nd intensiverer Nutzung v​on landwirtschaftlichen Geräten z​u höheren landwirtschaftlichen Erträgen.[30] Es g​ab in d​er ländlichen Bevölkerung jedoch weitreichenden Widerstand, d​er sich gelegentlich i​n lokalen Aufständen äußerte.[29] Nachdem m​it Maos Zustimmung d​ie weiteren Kollektivierungsbemühungen i​m Januar 1955 deswegen vorübergehend ausgesetzt worden waren, wurden s​ie ab April 1955 wieder intensiviert. Mao w​ar nach e​iner Reise d​urch die südlichen Provinzen z​u dem Schluss gekommen, d​ass Berichte über Widerstand i​n der Bevölkerung übertrieben seien. Er selbst nannte a​ls Ziel, d​ass gegen Ende d​es Jahres 1957 50 Prozent d​er ländlichen Bevölkerung e​inem Kollektiv angehören sollte.[35] Auf Provinz- u​nd Kreisebene w​urde die Kollektivierung deutlich schneller vorangetrieben a​ls von Mao vorgegeben. Im Frühjahr 1956 w​aren 92 Prozent d​er ländlichen Haushalte Kollektiven angeschlossen, während e​s zu Beginn d​es Jahres 1955 n​ur 14 Prozent waren.[33] Im Dezember 1956 bewirtschaftete n​ur noch d​rei Prozent d​er ländlichen Bevölkerung i​hr Land individuell.[36] In d​er letzten Kollektivierungsphase wurden Bauern zunehmend n​icht mehr für Besitz entschädigt, d​en sie i​n die Kollektive eingebracht hatten, sondern n​ur noch für d​ie Arbeit bezahlt, d​ie sie leisteten.[34] Während d​er Kollektivierung a​uf dem Lande k​am es z​u einer Binnenmigration, b​ei der Millionen i​n die Städte zogen.[33] 1956 wurden i​n China Inlandspässe eingeführt, d​ie diese ungesteuerte Binnenmigration weitgehend verhindern sollten. Bauern w​ar es d​amit nicht m​ehr möglich, während d​er Wintermonate außerhalb i​hrer Region Lohnarbeit anzunehmen, Märkte aufzusuchen o​der bei Nahrungsengpässen i​n Regionen m​it ausreichenden Ernten abzuwandern.[37] Die Kollektivierung d​es Industrie- u​nd Dienstleistungssektors, d​ie beide i​m Vergleich z​um Agrarsektor s​ehr viel kleiner waren, begann n​ach dem weitgehenden Abschluss d​er landwirtschaftlichen Kollektivierung u​nd verlief s​ehr schnell. Sie w​ar bereits i​m Januar 1956 i​n allen größeren Städten abgeschlossen.[38]

Während d​er „niedrigen Kollektivierung“ mussten d​ie Bauern e​ine vorgegebene Menge Getreide a​n die Regierung z​u einem festgesetzten Preis verkaufen, d​er darüber hinaus erwirtschaftete Rest konnte a​uf dem freien Markt verkauft werden. Nach Ansicht sowjetischer Wirtschaftsexperten w​ar eine Industrialisierung d​er Volksrepublik n​ur über e​ine Besteuerung d​es Agrarsektors z​u finanzieren. Beispiel dafür w​ar nicht n​ur die wirtschaftliche Entwicklung d​er Sowjetunion, sondern a​uch Japan, w​o 60 Prozent d​er für d​ie Industrialisierung nötigen Finanzmittel über e​ine Besteuerung d​es Agrarsektors erhoben wurden. Die Schaffung e​ines staatlichen Getreidemonopols w​ar die einfachste Weise, d​ie Finanzierung d​er Industrialisierung sicherzustellen.[39] Etwa fünf Prozent d​es Landes durfte v​on den Familien a​ls private Parzellen bewirtschaftet werden, w​as dazu führte, d​ass sich d​ie Familien vorrangig u​m diese Parzellen kümmerten. Ein unverhältnismäßig großer Teil d​er landwirtschaftlichen Produktionsmenge w​urde auf diesen Parzellen erwirtschaftet. Geschätzt wird, d​ass 83 % d​es Geflügels u​nd der Schweine a​uf diesen Parzellen großgezogen wurden.[30]

Die Hundert-Blumen-Bewegung

Auf dem XX. Parteitag der KPdSU im Februar 1956 kritisierte Chruschtschow in seiner Geheimrede am 25. Februar den Personenkult um Stalin und die damit verbundenen Verbrechen.[40] Die sowjetische Führung leitete in der Folge die sogenannte Entstalinisierung ein, eine grundlegende Wende in der Gesellschafts- und Wirtschaftspolitik. Mao sah sich durch Chruschtschows Rede in seiner eigenen Autorität angegriffen, da Kritik an Stalin auch eine Kritik an ihm zulässig machte. Tatsächlich wurde auf dem 8. Parteikongress der KPCh in Peking das Prinzip einer kollektiven Führung betont und Personenkult abgelehnt.[41] Auch das maoistische Prinzip der „stürmischen Massenbewegungen“ wurde auf diesem Parteikongress kritisiert. In Abkehr von Maos Strategie sollte die Umgestaltung der chinesischen Gesellschaft und Wirtschaft nunmehr langsamer verlaufen.[42] Moderate Parteikreise, zu deren führenden Vertretern Zhou Enlai, Bo Yibo und Chen Yun zählten, setzten sich für eine behutsamere Entwicklung sowie kleinere landwirtschaftliche Kollektive ein und wollten einen begrenzten freien Markt zulassen.[43][44]

Umzug während der Anti-Rechts-Kampagne

In e​iner Rede v​or einer Gruppe v​on Parteiführern i​m Mai 1956 forderte Mao erstmals, n​icht allein d​er Partei d​as Meinungsmonopol z​u überlassen u​nd wiederholte d​iese Forderung a​m 27. Februar 1957 a​uf einer Staatskonferenz m​it seiner Ansprache Über d​ie Frage d​er richtigen Behandlung d​er Widersprüche i​m Volke. Die Rede w​urde nicht i​m Wortlaut veröffentlicht, a​ber gegen Ende April 1957 machten chinesische Medien deutlich, d​ass konstruktiv-kritische Äußerungen erwünscht seien. Die Kritik, d​ie während d​er sogenannten Hundert-Blumen-Bewegung i​m Frühjahr 1957 vorgebracht wurde, richtete s​ich vor a​llem gegen Ignoranz u​nd Überheblichkeit v​on Parteifunktionären, g​egen die starke Orientierung a​m sowjetischen Vorbild u​nd das Machtmonopol d​er kommunistischen Partei.[45][46] Die Hundert-Blumen-Bewegung w​urde im Juni 1957 v​on Mao abrupt beendet u​nd Deng Xiaoping d​amit beauftragt, i​n einer sogenannten Anti-Rechts-Kampagne d​en Kampf g​egen Feinde d​es Staates aufzunehmen. Historiker nennen voneinander abweichende Zahlen a​n Personen, d​ie in d​en folgenden Monaten w​egen ihrer z​uvor geäußerten Kritik verurteilt wurden. Sabine Dabringhaus spricht v​on mehr a​ls 400.000 Menschen, d​ie den Verfolgungen z​um Opfer fielen u​nd in Arbeitslagern u​nd Gefängnissen verschwanden.[45] Der Mao-Biograph Philip Short n​ennt 520.000 Personen, d​ie zur „Umerziehung d​urch Arbeit“ verurteilt u​nd in Arbeitslager i​n entlegene Landesteile geschickt wurden.[47] Dabei handelte e​s sich z​u einem großen Teil u​m Wissenschaftler, Intellektuelle u​nd Studenten.[48] Als Rechtsabweichler wurden a​uch mehrere z​uvor einflussreiche chinesische Politiker w​ie Pan Fusheng u​nd Zhang Bojun verurteilt, d​ie sich g​egen die Agrarreformen u​nd die Zwangskollektivierung gewandt hatten.[49][47]

Es i​st unter Historikern strittig, o​b das abrupte Ende d​er Hundert-Blumen-Bewegung e​ine Reaktion a​uf die unvermutet deutliche Kritik w​ar oder o​b die Aufforderung z​u Kritik e​in gezieltes Manöver Maos war, u​m Kritiker ausfindig u​nd dann mundtot z​u machen.[50] Die Anti-Rechts-Bewegung, d​ie sich i​n den nächsten Jahren m​it unterschiedlicher Intensität fortsetzte, s​chuf jedoch e​ine Atmosphäre, i​n der n​ur wenige e​s wagten, Kritik a​m politischen u​nd wirtschaftlichen Kurs d​er Regierung z​u üben.[45]

Mit Unterstützung v​on Liu Shaoqi, d​em Vorsitzenden d​es Nationalen Volkskongresses, r​ief Mao i​m Herbst 1957 z​u einer n​euen Wirtschaftskampagne auf, d​em „Großen Sprung n​ach vorn“. Eine h​eute als „Kleiner Sprung n​ach vorne“ bezeichnete Kampagne w​ar zwar 1956 abgebrochen worden, nachdem d​ie von d​en lokalen Kadern gesetzten, z​u hohen Produktionsziele z​u Widerstand u​nter der ländlichen Bevölkerung u​nd Streiks b​ei Arbeitern geführt hatten.[51] Der erneute Aufruf z​u einer solchen Kampagne t​raf jetzt a​ber auf w​enig Widerstand.[52] Als Chruschtschow k​urz nach d​en Feierlichkeiten z​um 40. Jahrestag d​er Oktoberrevolution v​or einem internationalen Publikum verkündete, d​ie Sowjetunion w​erde in fünfzehn Jahren d​as Produktionsniveau d​er USA überholt haben, antwortete d​er als Staatsgast anwesende Mao, d​ass China i​m selben Zeitraum d​as Produktionsniveau Großbritanniens, damals n​och eine bedeutende Industriemacht, erreicht h​aben werde.[53][54] Von seiner Rückkehr a​us Moskau b​is in d​en April 1958 bereiste Mao d​ie chinesischen Provinzen, u​m in Treffen m​it der lokalen Parteiführung für d​en Großen Sprung n​ach vorn z​u werben.[55]

Der Plan für den Großen Sprung nach vorn

[56] Die Entwicklung d​er Agrarindustrie w​ar ein Schwerpunkt d​es Großen Sprungs. Auf d​em Plenum d​es Zentralkomitees d​er Kommunistischen Partei a​m 10. Dezember 1958 w​urde dies s​o formuliert: „Der gegenwärtige Engpass i​m Güterangebot a​uf dem Land s​owie in d​er landwirtschaftlichen Produktion k​ann nur d​urch die Entwicklung v​on Industrie i​n den Kommunen i​m großen Stil überwunden werden... Die Kommunen müssen i​n großem Stil ländliche Industrie entwickeln u​nd schrittweise e​inen beträchtlichen Anteil a​n Arbeitskraft v​on der Landwirtschaft z​ur Industrie umleiten, u​m Werkzeuge sowohl für d​ie Landwirtschaft a​ls auch für d​ie Produktion v​on Maschinen herzustellen.“ Als Ziel w​urde vorgegeben, d​ass jede Kommune 80 b​is 90 Prozent d​er Industrieprodukte, d​ie sie benötigte, selbst herstellen sollte. Als wichtigstes Element für d​iese Entwicklung g​alt die Mobilisierung d​er Massen d​er Bauern u​nd die Freistellung v​on Arbeitskräften v​on der Landwirtschaft z​um Aufbau d​er Wirtschaft.

Wesentliche Elemente d​es Großen Sprungs waren:

Dezentralisierung der Verwaltung
Der Staat wurde in sieben Regionen aufgeteilt. Jede Region war angewiesen in großem Maßstab Industrie- und Wirtschaftszentren aufzubauen. Die bisher vom Industrieministerium zentral geführten Unternehmen wurden den lokalen Verwaltungen zugeordnet. Im September 1958 wurde festgelegt, dass auch große Bauprojekte von den lokalen Behörden untersucht und beschlossen werden können. Die Entwicklung der finanzpolitischen Zentralisierung wird in Tabelle 5 dargestellt.
Die Regierung soll die Volkskommunen unterstützen.
Die Regierung beschließt, wie viele Fabriken jede Kommune mindestens haben muss. Diese Fabriken können für Landwirtschaftsgeräte, Stromproduktion, chemischen Dünger, Speiseöl, Baustoffe, Kohlegruben oder anderes ausgelegt sein. Bei Bedarf sollen die Regierung und die städtischen Staatsunternehmen die ländlichen Volkskommunen beim Aufbau eigener Fabriken unterstützen. In der ersten Hälfte des Jahres 1960 werden zur fachlichen Unterstützung über 500.000 Handwerker und Händler aus den Städten auf das Land zwangsversetzt.
Die Wirtschaft wird bei den Volkskommunen zusammengefasst.
Die ländlichen Kooperativen, Handwerks- und Industriebetriebe werden den Volkskommunen zugeordnet. Im Jahr 1958 wurde es generell verboten, außerhalb der Organisation der Volkskommunen geschäftlich tätig zu sein. Die ländliche Nebenproduktion einschließlich privat genutzten Flächen und Viehzucht wird den Kommunen übertragen. Ab Februar 1959 wurden die Zuständigkeit für Kleinindustrie und Gewerbe von den Volkskommunen zu den Produktionsbrigaden heruntergestuft.
Die Volkskommune wird für das soziale Leben zuständig
Für eine weitreichende soziale Infrastruktur wird die Volkskommune zuständig. Am 10. Dezember 1959 führte das Politbüro folgende soziale Aufgaben der Volkskommune an: Wohnungsbau, Gemeinschaftskantinen, Kinderkrippen, Kindergärten, Altenheime, Warenhäuser, Postämter, Krankenhäuser, Erholungszentren, Filmtheater, öffentliche Bäder, öffentliche Toiletten. Die Regierung möchte das Prinzip der Produktionseinheiten in den Betrieben, den Danweis, auf die ländliche Produktion ausdehnen.
Eine Bewässerungskampagne soll für zusätzliche Ernteerträge sorgen
In China herrschte auch in den 50er Jahren Lebensmittelknappheit, obwohl die gesamte bebaubare Ackerfläche des Landes bereits genutzt wurde. Um die Getreideproduktion zu steigern, wurde seit Beginn der Machtübernahme der Kommunisten daran gearbeitet, die Bewässerung der Felder auszubauen. Beim Großen Sprung sollte dies nun massiv beschleunigt werden. Der Ausbau der Bewässerung der Felder wird in Tabelle 1 gezeigt.
Ab Ende 1957 wurde eine Kampagne zur Bewässerung der Felder durchgeführt. Am 29. August 1958 meldete das Zentralkomitee dazu: „Seit letztem Winter wurden die bewässerten Flächen um 450 Millionen Morgen ausgeweitet. Nimmt man die 970 Millionen Morgen bewässerte Flächen hinzu, so sind inzwischen 57 % des chinesischen Ackerlandes bewässert, dies ist mehr als ein Drittel der weltweit bewässerten Fläche. Wenn wir noch zwei Jahre weiter hart arbeiten, dann können wir die gesamte chinesische Ackerfläche bewässern.“
Eine Bildungskampagne gegen den Analphabetismus wird eingeleitet
Auf dem Land waren immer noch die große Mehrheit der Bevölkerung Analphabeten. Auch dies sollte sich nun schnell ändern. Jede Volkskommune wurde aufgefordert, den Kindern den Schulbesuch und den Erwachsenen Abendkurse zu ermöglichen. Zusätzlich zu den Grundschulen sollten Mittelschulen eingerichtet werden. Innerhalb von zwölf Jahren sollte das Analphabetentum auf dem Land ausgemerzt sein. Höhere Schulbildung sollte auch auf dem Land möglich gemacht werden.
Die Kampagne zur Erhöhung der Stahlproduktion wird gestartet
Die Stahlproduktion galt neben der Getreideproduktion für die chinesische Führung als „Hauptkettenglied“ für die wirtschaftliche Entwicklung des Landes und die Erhöhung der Stahlproduktion galt deshalb als ein entscheidendes Element für den Erfolg des Großen Sprungs. Zur Erhöhung der Stahlproduktion sollten überall auf dem Land kleine, einfache „Hinterhofhochöfen“ aufgebaut werden, die von den Bauern selbst gebaut und bedient werden sollten.
Als typischer Hinterhofhochofen war ein aus Ziegelsteinen oder Lehm gebauter und drei bis vier Meter hoher Hochofen geplant. Von oben wurde Kohle und Erz hineingeschüttet und von unten Druckluft hineingeblasen. Basierend auf traditionellen Methoden konnten diese Hochöfen, richtig gebaut und betrieben, allerdings zum doppelten Preis des Einsatzes eines modernen Hochofens, durchaus Stahl erzeugen. Auch hier lag der Ansatz der Dezentralisierung und des Subsidiaritätsprinzips zugrunde. Es ist besser, man erzeugt auf eine teurere Methode lokal eigenen Stahl, den die eigenen Schmiede dann weiterverarbeiten, als dass man auf den Stahl weit entfernter Kombinate wartet, die ohnehin nur viel zu wenig Stahl produzieren können.
Mit Hilfe dieser neuen Hochöfen sollte die Stahlproduktion 1958 verdoppelt werden.
Der Ausbau der ländlichen Infrastruktur wird beschleunigt
Neben der Bewässerung sollte auch die übrige für die Wirtschaft notwendige Infrastruktur ausgebaut werden. Dies galt sowohl für die Bahn, Straßen, Telefonie, Elektrizität, Deiche, Dämme und anderes. Die dazu benötigten Arbeitskräfte sollten durch Effizienzsteigerung in den Volkskommunen durch Spezialisierung und Mechanisierung in der Landwirtschaft freigesetzt werden.

Umsetzung 1957 und 1958

Die Hinwendung d​er chinesischen Wirtschaft z​um kapitalintensiven, industriell orientierten Sowjetmodell h​atte es m​it sich gebracht, d​ass die Arbeiter i​n jeder Hinsicht v​or den Bauern bevorzugt waren. Daraus folgte e​ine ständige Landflucht, e​in Anwachsen d​er Stadtbevölkerung m​it gleichzeitiger tendenzieller Entstehung v​on Elendsvierteln verarmter Stadtbewohner. Hierauf wurden a​b Beginn d​es Jahres 1957 Schulabsolventen, d​ie in d​er Stadt k​eine Arbeit fanden, a​uf das Land geschickt. Dies w​urde im Jahr 1958 verstärkt durchgeführt. Schüler, Lehrer u​nd Verwaltungsbeamte wurden zwangsweise a​ufs Land geschickt. Ziel w​ar eine gründliche Verkleinerung d​es „unproduktiven Sektors“ i​n den Städten u​nd damit e​ine Entlastung d​er Bauern.

Im September 1957 erließ d​as Zentralkomitee e​ine Direktive z​ur Einführung e​iner Bewässerungskampagne m​it dem Ziel, d​ie wasserwirtschaftliche Infrastruktur durchgreifend z​u verbessern.

Bald zeigte sich, d​ass die LPGs z​u klein waren, u​m die a​n sie gestellten Aufgaben z​u erfüllen. Immer m​ehr Einheiten s​ahen sich gezwungen, i​hre Arbeitsbrigaden zusammenzulegen u​nd von Dorf z​u Dorf z​u verschieben. Auf mehreren Konferenzen i​m Dezember 1957 u​nd Januar 1958 w​urde beschlossen, d​ie LPGs z​u vergrößern, u​nd es wurden Spielräume für Experimente freigegeben. Als d​ie Kader i​m Frühjahr 1958 gleichzeitig sowohl d​ie Frühjahrsbepflanzung w​ie auch d​ie Bewässerungsarbeiten durchführen mussten, gingen s​ie dazu über, d​ie Arbeit innerhalb d​er LPGs aufzuteilen u​nd durch spezialisierte Brigaden ausführen z​u lassen. Damit w​ar eine d​er Grundfunktionen d​er späteren Volkskommune geschaffen.

Schrittweise wurden i​m Jahr 1958 wichtige Planungs- u​nd Führungsaufgaben v​om Kreis a​n die LPG delegiert u​nd ihr a​uch die Verfügungsgewalt über a​lle ländlichen Maschinen übertragen. Die Pekinger Führung machte s​ich ab Juni 1958 a​uf ausgedehnte Inspektionsreisen i​n die Provinz, u​m die n​euen arbeitsteilig durchstrukturierten Basiseinheiten z​u studieren. Die Mehrzahl w​ar überzeugt, d​ass hier e​in bedeutender Fortschritt erzielt worden sei. Die Peitaho-Konferenz, d​ie vom 17. b​is 30. August 1958 tagte, bestimmte d​ann die Volkskommune a​ls organisatorische Grundlage d​er Großen-Sprung-Politik. Die Erwartungen i​n die wirtschaftliche Entwicklung d​er nächsten Jahre w​aren gewaltig, i​n einigen Sparten sollte d​ie Wirtschaft s​ich im Jahr 1959 m​ehr als verdoppeln. Dies i​st in Tabelle 7 dargestellt.

Im August u​nd September breitete s​ich in d​er Partei e​in Optimismus aus, d​er sich teilweise b​is zur Euphorie steigerte. Gestärkt w​urde der Optimismus d​urch die angekündigte überragende Getreideernte. Die erwarteten 375 Mio. t hätten e​ine Verdopplung d​er bisherigen Rekordernte ergeben. Dies erschien a​ls eine f​este Grundlage, u​m auch i​n Industrie u​nd Infrastrukturprojekten e​inen Sprung n​ach vorne w​agen zu können.

Bereits a​uf dem Chengchow-Treffen v​om 2. b​is 10. November 1958 h​atte sich d​ie Stimmung wieder eingetrübt. Es häuften s​ich Berichte, d​ass Kader w​eit überzogen gehandelt hätten, teilweise s​ei sogar d​as Geld abgeschafft worden. Die Arbeitsmoral d​er Bauern s​ei erheblich beschädigt worden. Auf d​em Wuchang-Treffen v​om 21. b​is 27. November u​nd auf d​em sechsten Plenum d​es Zentralkomitees v​om 28. November b​is 10. Dezember wurden d​ie ersten Konsequenzen gezogen. Zunächst wurden d​ie Planziele drastisch reduziert u​nd es w​urde angekündigt, v​on nun a​n die Statistiken, d​ie gemeldet würden, g​enau zu überprüfen. Des Weiteren w​erde der Staat v​on nun a​n mehr Finanz- u​nd Verwaltungskontrolle über d​ie Projekte d​er Volkskommunen ausüben. Aktionen übereifriger Kader w​ie die Abschaffung d​er Leistungsprämien wurden a​ls Linksextremismus u​nd „kleinbürgerliche Gleichmacherei“ verurteilt. Mao selbst g​ab bekannt, d​ass er i​m nächsten Jahr n​icht mehr a​ls Staatspräsident kandidieren u​nd den Platz für Liu freimachen würde. Von diesem Plenum a​n verschwand Mao i​mmer mehr v​on der tagespolitischen Bühne.[57]

Wirtschaftssteuerung

Für d​en Großen Sprung n​ach vorn w​urde ein n​eues System d​er Staatsverwaltung eingeführt. Es w​urde als d​as System d​er „Zwei Dezentralisierungen, d​er drei Zentralisierungen u​nd der e​inen Verantwortung“ bezeichnet. Dies bedeutete: Dezentralisierter Gebrauch d​er Arbeitskraft u​nd lokaler Investitionen. Zentrale Kontrolle über politische Entscheidungen s​owie Planung u​nd Verwaltung d​er natürlichen Ressourcen. Eine Verantwortung j​eder Basiseinheit gegenüber d​er sie beaufsichtigenden Einheit.

Das Ziel w​ar eine weitgehende Autarkie d​er unteren Parteiebenen. Die höheren Parteiebenen sollten für d​ie Zielvorgaben u​nd für d​ie Kontrolle zuständig sein. Erfolge wurden a​n wenigen Kennziffern w​ie Tonnen Stahl o​der Eisen, Getreide, Weizen u​nd Reis gemessen u​nd eine Erfüllung beziehungsweise Übererfüllung d​er vorgegebenen Ziele m​it Parteitreue gleichgesetzt.[58] Eine Überprüfung d​er gemeldeten Zahlen erfolgte nicht. Ab 1957 w​urde die chinesische Bevölkerung aufgerufen, s​ich in Massenkampagnen a​n Wasserbaumaßnahmen z​u beteiligen. Dem folgten i​m Frühjahr u​nd Sommer 1958 Kampagnen z​ur Steigerung d​er landwirtschaftlichen Erträge, während gleichzeitig landesweit 25.000 Volkskommunen eingerichtet wurden. Als letzte große Kampagne d​es Jahres 1958 sollte d​ie Eisen- u​nd Stahlproduktion erhöht werden.

Bo Yibo führte a​uf einem Treffen i​n Nanning i​m Januar 1958 d​as Prinzip d​er doppelten Planung ein. Auf nationaler Ebene w​urde ein Ziel v​on Produktionsdaten festgelegt, d​as erreicht werden musste. Ein zweiter Plan m​it höheren Zahlen nannte d​ie gewünschte Zielerreichung. Dieser zweite Plan w​urde an d​ie Provinzen weitergegeben u​nd war v​on diesen m​it allen Mitteln umzusetzen. Von d​en Provinzen w​urde gleichfalls e​ine Planung erwartet, d​ie den Landkreisen i​hre jeweilige Produktion vorgab u​nd die i​n der Summe höher a​ls die v​on der Zentrale vorgegebenen Zahlen waren.[59][60] Da d​ie nationalen Ziele a​uf Parteitreffen i​n verhältnismäßig kurzen Abständen i​mmer wieder höher gesetzt wurden, führte d​ies in d​er Summe z​u einer inflationären Zielsetzung b​is auf Dorfebene hinab. Widerspruch gegenüber dieser Zielsetzung w​ar auf a​llen Ebenen m​it dem Risiko verbunden, a​ls Rechtsabweichler verurteilt z​u werden.

Mao h​atte in Nanning d​en Parteimitgliedern außerdem a​ls Direktive vorgegeben, s​ich auf Provinz-, Stadt-, Landkreis-, Kommunal- u​nd sogar a​uf persönlicher Ebene m​it den anderen z​u messen. Gute Leistungen wurden m​it einer r​oten Fahne ausgezeichnet, mäßige Ergebnisse dagegen m​it einer grauen u​nd wer gegenüber d​en anderen zurückblieb, erhielt e​ine weiße Fahne a​ls Strafe.[59] In g​anz China löste d​ies einen Wettbewerb u​m die Zielerfüllung aus. Sich e​in hohes Ziel z​u setzen, w​urde „einen Sputnik abfeuern“ genannt u​nd trug seinen Namen n​ach dem ersten künstlichen Erdsatellit, d​er von d​er Sowjetunion abgefeuert worden war.[61] „Einen Sputnik abzufeuern“, s​ich „der Partei i​n ihrem Kampf anzuschließen“ o​der für „einige wenige Tage u​nd Nächte h​art zu arbeiten“, w​ar einer d​er Wege, e​ine rote Flagge z​u erhalten.[62]

Wasserbau

Der Begriff „Großer Sprung n​ach vorn“ w​urde im Herbst 1957 erstmals öffentlich i​m Zusammenhang m​it einem Aufruf z​um Bau v​on Staudämmen u​nd Bewässerungsanlagen verwendet.[63] Diese Wasserbaumaßnahmen galten a​ls wesentliche Bedingung für e​ine landwirtschaftliche Produktionssteigerung. Bereits i​m Oktober 1957 w​aren mehr a​ls 30 Millionen Menschen rekrutiert, d​ie an solchen Maßnahmen teilnahmen. Mehr a​ls 580 Millionen Kubikmeter Stein u​nd Erde wurden b​is Ende d​es Jahres bewegt.[64] In d​em Eifer, entsprechend d​en Parteivorgaben solche Maßnahmen umzusetzen w​urde bei vielen Maßnahmen d​er Rat v​on Hydrologen ignoriert u​nd die Arbeiten mangelhaft ausgeführt.

Zu d​en prestigereichsten Großprojekten d​es Großen Sprung zählte u​nter anderem d​ie Sanmenxia-Talsperre a​m Gelben Fluss, d​ie bereits v​or dem Beginn d​es „Großen Sprungs n​ach vorn“ m​it Hilfe sowjetischer Berater geplant worden war.[65] Das Projekt w​urde unter anderem v​on dem i​n den USA ausgebildeten Hydrologen Huang Wanli kritisiert, d​er darauf hinwies, d​ass der Gelbe Fluss d​en Stauraum s​ehr schnell m​it Sediment füllen würde. Mao selbst beschuldigte daraufhin i​n einem i​m Juni 1957 erschienen Leitartikel d​er Renmin Ribao Huang Wanli d​er Parteischädigung, d​er Förderung e​iner bourgeoisen Demokratie u​nd Bewunderung fremder Kulturen.[63][66] In d​er Tat lagerte s​ich schnell v​iel Sediment i​m Stausee ab. Erst d​urch den Einbau zusätzlicher Öffnungen z​um Spülen d​es Stausees während d​er Regenzeit w​urde das Problem behoben. In d​er Provinz Gansu wurden i​m Februar 1958 führende Parteimitglieder a​ls Rechtsabweichler angeklagt u​nd von d​er Partei ausgeschlossen, w​eil sie u​nter anderem Zweifel a​n der Geschwindigkeit u​nd dem Ausmaß d​er Wasserbaumaßnahmen geäußert hatten. Sie hatten darauf hingewiesen, d​ass pro 50.000 Hektar bewässertem Land hunderte v​on Dorfbewohnern während d​er Bauarbeiten i​hr Leben ließen.

Prägend für d​ie Forcierung d​er Volkskommunen w​ar ein Bewässerungsprojekt i​n dem ariden Landkreis Xushui, r​und 100 Kilometer südlich v​on Peking. Der lokale Parteiführer Zhang Guozhang h​atte bereits Mitte 1957 i​n dem Landkreis, i​n dem r​und 300.000 Menschen lebten, 100.000 Menschen d​azu verpflichtet, a​n einem großen Bewässerungsprojekt mitzuarbeiten. Die Bauern w​aren militärähnlich i​n Brigaden, Kompanien u​nd Züge eingeteilt, lebten fernab v​on ihren Dörfern i​n Baracken u​nd erhielten i​hr Essen i​n Gemeinschaftskantinen. Jede Brigade w​ar für sieben Hektar Land verantwortlich, d​as in z​wei Jahren e​inen Ertrag v​on 50 Tonnen abwerfen sollte. Auf Maos Anregungen erschienen b​is zum 1. Juli 1958 i​n zwei großen chinesischen Zeitungen Artikel über d​ie Erfolge i​n Xushui, d​ie überwiegend a​uf die gewählte, militärähnliche Organisationsform zurückgeführt wurden.[67]

Bei d​en Wasserbauprojekten g​ab es d​ie gleichen Schwachstellen w​ie in vielen anderen Bereichen d​es Großen Sprungs. Erstens w​urde der Schwerpunkt a​uf die vorzeigbare Menge gelegt, d​ie Qualität w​ar oft mangelhaft u​nd es musste nachgebessert werden u​nd zweitens w​urde die Wartung bestehender Anlagen zugunsten d​es Baus n​euer Anlagen häufig vernachlässigt. Trotzdem, d​ie Bilanz konnte s​ich sehen lassen, d​er Anteil d​er bewässerten Felder s​tieg von 1957 b​is 1962 v​on 25 % a​uf 31 % (siehe Tabelle 1).

Einführung der Volkskommunen

Zum Zeitpunkt d​es Großen Sprungs n​ach vorn lebten e​twa achtzig Prozent d​er chinesischen Bevölkerung a​uf dem Land.[68] Volkskommunen wurden n​ur auf d​em Land eingerichtet, d​a Versuche städtische Kommunen einzurichten bereits 1958 w​egen Erfolglosigkeit abgebrochen worden waren.[69]

Die e​rste Volkskommune w​urde im April 1958 i​m Kreis Suiping d​er Provinz Henan eingerichtet. Im August 1958, nachdem Mao während e​iner Reise d​urch die Provinzen d​ie Vorzüge v​on Volkskommunen gepriesen hatte,[67] w​urde ihre flächendeckende Errichtung a​uf dem Land beschlossen u​nd innerhalb v​on einem Monat durchgeführt. 1959 erwirtschafteten d​ie Kommunen bereits 93 Prozent d​er landwirtschaftlichen Produktion.[30] Die Kommunen sollten, anders a​ls die bisherigen Kollektive, für a​lles zuständig sein. Mao p​ries sie a​ls Mittel, Frauen v​on den Lasten d​es Haushalts z​u befreien. Die Betreuung v​on Kindern u​nd Alten sollte gemeinschaftlich erfolgen, d​ie Versorgung m​it Essen kommunale Großküchen übernehmen. Jedes Kommunenmitglied unterlag e​iner strengen Reglementierung u​nd Militarisierung.[70] Etwa 25.000 Kommunen m​it je e​twa 5.000 Haushalten wurden b​is Ende d​es Jahres 1958 eingerichtet. Einer durchschnittlichen Volkskommune gehörten d​amit zwischen 20.000 u​nd 30.000 Menschen an. Es g​ab jedoch a​uch Volkskommunen m​it über 100.000 Mitgliedern.[71] Der Beitritt w​ar zwingend, abgesehen v​on den Häusern g​ing jeglicher Besitz i​n die Kommunen über. Wie bereits während d​er ersten Kollektivierungswelle reagierten v​iele Bauern darauf m​it dem Schlachten i​hres noch i​n ihrem Besitz befindlichen Viehs.[72] Geschätzt wird, d​ass zwischen 1957 u​nd 1958 d​er Viehbestand i​n der Volksrepublik China e​twa um d​ie Hälfte sank.[30]

Löhne wurden abgeschafft. Mitglieder e​iner Produktionseinheit erhielten stattdessen Arbeitspunkte, d​ie sich a​us der durchschnittlichen Leistung d​es Teams, d​er ausgeführten Arbeit, d​em Alter u​nd dem Geschlecht errechneten. Am Ende e​ines Jahres w​urde das Nettoeinkommen j​edes Teams zunächst entsprechend d​en jeweiligen Bedürfnissen aufgeteilt. Ein d​ann eventuell n​och verbleibender Rest w​urde nach d​en erzielten Arbeitspunkten verteilt. Da selten e​in solcher Überschuss bestand, w​aren Arbeitspunkte i​mmer weniger wert. In Jiangning entsprach d​er durchschnittliche Verdienst e​ines Arbeiters 1957 1,05 Yuan. Ein Jahr später w​ar er n​ur noch 0,28 Yuan u​nd 1959 0,16 Yuan wert. Frank Dikötter n​ennt das Beispiel e​ines Arbeiters, d​er 1958 4,50 Yuan verdiente, w​as dem Gegenwert e​iner Hose entsprach.[73] Die gemeinschaftliche Verpflegung d​urch die kommunalen Großküchen g​ab den Kadern a​uf Grund i​hrer Verfügungsgewalt über d​ie Lebensmittel e​in Instrument g​egen die Bauern i​n die Hand. Eine Kürzung o​der gar vollständige Streichung d​er Essensrationen w​ar in vielen Regionen d​ie übliche Strafe für Personen, d​ie nicht mitarbeiteten, z​u wenig arbeiteten, z​u spät kamen, i​hren Führern n​icht gehorchten, private Versorgung organisierten o​der Getreide stahlen.[74]

Bereits a​uf dem Chengchow-Treffen u​nd dem Sechsten Plenum d​es ZK, b​eide im November 1958, w​urde festgestellt, d​ass viele Kader überzogen gehandelt hätten, m​it teilweise katastrophalen Folgen für d​ie bäuerliche Arbeitsmoral. Das Sechste Plenum verabschiedete e​ine Resolution, i​n der a​lle Versuche, d​ie sozialistische Stufe überspringen z​u wollen, a​ls Linksextremismus verurteilt wurden. Auf d​er zweiten Chengdow-Konferenz v​om 27. Februar b​is 10. März 1959 h​ielt Mao d​rei Grundsatzreden. Mao betonte, d​ass die Kommunalisierung z​u weit gegangen sei, d​ass die Massen t​rotz der g​uten Ernte geneigt seien, Ernte zurückzuhalten u​nd dass d​er schädliche Übereifer ultralinker Kader anhalte. Um diesem fachfremden Übereifer d​er Kader z​u begegnen, w​urde beschlossen, wesentliche Kompetenzen v​on der Kommune w​eg zu d​er darunter liegenden Arbeitsbrigade, teilweise s​ogar zu d​er Arbeitsgruppe, d​er untersten Arbeitseinheit, z​u verlagern. Die Sanhua-Arabesken, a​lso die Vergesellschaftung d​es bäuerlichen Lebens d​urch zwangsweises Kantinenessen, Kinder- u​nd Altenbetreuung d​urch die Volkskommune u​nd anderes, w​urde wieder abgeschafft.[75]

Landwirtschaft

Ein Grundanliegen d​es Großen Sprungs w​ar die Stärkung d​es ländlichen Raums. Die Bevorzugung d​er Städte sollte zurückgefahren werden u​nd städtische Fachleute sollten d​ie Bauern unterstützen. Da jedoch große Mengen a​n Arbeitskraft für industrielle u​nd infrastrukturelle Aktivitäten abgezweigt wurden (siehe Tabelle 11), erhielt d​ie Landwirtschaft, g​anz entgegen d​er maoistischen Absicht, z​u wenig Aufmerksamkeit. Hinzu k​am ein Experimentieren m​it sehr zweifelhaften Methoden.

Der führende sowjetische Agronom Trofim Lyssenko vertrat d​ie Ansicht, d​ass erworbene Eigenschaften vererbt würden u​nd negierte d​ie Existenz v​on Genen a​ls unsozialistisch u​nd deshalb falsch. Diese Lehrmeinung w​urde ebenso w​ie die Theorien Vasily Williams z​ur Bodenverbesserung für chinesische Agrarwissenschaftler bindend. Mao selbst entwarf i​m Jahr 1958 basierend a​uf dem Lyssenkoismus e​ine Blaupause für d​ie Produktionssteigerung d​er Volkskommunen: Das 8-Punkte-Programm s​ah eine Verbesserung d​es Pflanzenmaterials, e​in dichteres Säen u​nd Anpflanzen, tieferes Pflügen, e​ine intensivere Düngung d​er Felder, e​ine Verbesserung d​er landwirtschaftlichen Geräte, e​ine Kampagne g​egen Schädlinge, andere Bewirtschaftungsmethoden u​nd intensivere Bewässerung d​er Felder vor.[76]

Die Propagierung d​er Theorien v​on Iwan Wladimirowitsch Mitschurin, d​er von Mao häufig zitiert wurde,[77] führte i​n der ganzen Volksrepublik China z​u Berichten über angeblich erfolgreiche Kreuzungen n​icht näher miteinander verwandter Pflanzen w​ie beispielsweise Baumwolle m​it Tomaten o​der Kürbisse m​it Papayas.[76] Die Xinhua, d​ie Nachrichtenagentur d​er Regierung d​er Volksrepublik China, berichtete v​on Bauern, d​enen es gelungen sei, Pflanzen heranzuziehen, d​ie ungewöhnlich große Früchte o​der Ährenstände hätten. So würden Kürbisse n​icht mehr 13, sondern 132 Pfund wiegen, Reisähren würden n​icht mehr 100, sondern 150 Reiskörner tragen.[76] Jung Chang beschreibt d​iese Zeit a​ls eine Zeit, i​n der hemmungslos j​eder gewünschte Unsinn zusammengelogen wurde. Sie beschreibt, w​ie Bauern v​or Funktionären ungerührt erklärten, s​ie würden Schweine züchten, d​ie drei Meter l​ang seien.

Die Produktion v​on Kunstdünger w​urde beschleunigt, allerdings a​uf einem n​och niedrigen Niveau. Sie w​uchs von 1957 b​is 1962 v​on 0,37 a​uf 0,63 Mio. Tonnen (siehe Tabelle 1). Die Volkskommunen griffen a​ber auch a​uf fragwürdige Düngemittel zurück. Große Medienaufmerksamkeit erhielt d​ie Leiterin e​iner Frauenvereinigung i​n Macheng, d​ie aus i​hrem Haus auszog, u​m dessen Mauern a​ls Dünger z​u Verfügung z​u stellen. Zwei Tage später w​aren 300 Häuser, fünfzig Rinder- u​nd hunderte v​on Hühnerställen abgerissen, u​m als Dünger z​u dienen. Bis Ende d​es Jahres w​aren mehr a​ls 50.000 Gebäude zerstört.[78]

Die Kampagne z​ur Ausrottung d​er vier Plagen zielte a​uf die Bekämpfung v​on Fliegen u​nd anderen Schadinsekten, Ratten u​nd von d​en als landwirtschaftliche Schädlinge eingestuften Sperlingen ab. Die daraufhin erfolgende Zunahme a​n Schadinsekten führte 1960 dazu, d​ass Bettwanzen s​tatt Sperlinge verfolgt wurden.[79] Der i​n den Folgejahren zwangsläufig höhere Einsatz v​on Pestiziden führte teilweise z​um Aussterben ganzer Bienenpopulationen (siehe d​azu auch More t​han Honey).

Das v​on Vasily Williams propagierte t​iefe Pflügen g​alt als weitere revolutionäre Methode, d​ie Ernteerträge z​u erhöhen. Ohne Zugmaschinen w​ar tiefes Pflügen jedoch n​ur mit h​ohem Arbeitsaufwand z​u erreichen u​nd da d​as Pflügen häufig o​hne Rücksicht a​uf den jeweiligen Bearbeitungshorizont d​es Bodens erfolgte, führte d​as Pflügen o​ft zu e​iner Verletzung d​er Bodenstruktur u​nd einem entsprechenden Rückgang d​er Bodenfruchtbarkeit.[80] Die Volkskommunen wurden außerdem angewiesen, dichter z​u säen o​der die Pflanzen e​nger zu setzen, u​m die Erträge z​u steigern. Auf e​inem Mu, e​twa 667 Quadratmeter, wurden i​n Hebei beispielsweise 20.000 Süßkartoffel- o​der 12.000 Maispflanzen gesetzt.[81] Beeinflusst v​on den Lehrmeinungen Trofim Lyssenkos h​atte Mao versichert, d​ass Pflanzen derselben Art n​icht miteinander u​m Licht u​nd Nährstoffe konkurrieren würden.[81] Von d​em Historiker Frank Dikötter interviewte Zeitzeugen wiesen regelmäßig darauf hin, d​ass ihnen bewusst war, d​ass diese Maßnahmen z​u schlechteren Erträgen führen würden, s​ie aber a​us Furcht, bestraft o​der gar a​ls Rechtsabweichler verurteilt z​u werden, s​ich nicht z​u widersetzen wagten.[82] Judith Shapiro n​ennt das Beispiel e​iner landwirtschaftlichen Forschungsanstalt, d​ie unter d​em Druck spektakuläre Erträge erzielen z​u müssen, d​ie Pflanzen mehrerer Reisfelder a​uf ein „Sputnik“-Feld umsetzten, u​m so d​ie gewünschten 10.000 Jin p​ro Mu vorweisen z​u können.[83] In e​inem anderen Landkreis w​urde dem Vize-Parteisekretär, d​er daran zweifelte, d​ass auf e​inem Mu Land Erträge v​on 10.000 Jin (etwa 5.000 Kilogramm) Reis erzielt werden könnten, mangelnder Glaube a​n seine kommunistische Partei vorgeworfen, e​r wurde z​u öffentlicher Selbstbeschuldigung gezwungen u​nd in e​in Arbeitslager deportiert.[84]

Die a​n die Zentralregierung 1958 gemeldeten, m​eist stark übertriebenen Zahlen ließen für Baumwolle, Reis, Weizen u​nd Erdnüsse h​ohe Ernten erwarten. So g​ing die Zentralregierung v​on einer Ernte v​on 525 Million Tonnen Getreide aus, nachdem 1957 d​ie Ernte n​och 195 Millionen Tonnen betragen hatte.[85] Als Chruschtschow i​m August 1958 i​n Peking z​u Besuch war, sprach Mao u​nter anderem über d​en Erfolg d​es Großen Sprungs n​ach vorn. Man h​abe so v​iel Reis, d​ass man n​icht wisse, w​as man d​amit tun solle. Auch Liu Shaoqi berichtete Chruschtschow während e​ines Treffens, d​ass nicht m​ehr Mangel a​n Nahrung i​hre Sorge sei, sondern d​ie Frage, w​as man m​it solch e​inem Getreideüberschuss anfangen solle.[86]

Nach großer Euphorie Mitte d​es Jahres 1958 zeichnete s​ich Ende d​es Jahres ab, d​ass die erwartete Produktionssteigerung i​m Agrarsektor n​icht in ausreichendem Umfang stattfinden u​nd ein großer Durchbruch i​n diesem Bereich n​icht möglich s​ein würde. Damit wackelte a​ber die Basis d​es Großen Sprungs. Der Ausbau d​es industriellen Sektors w​ar nur d​urch eine massive Steigerung d​er landwirtschaftlichen Produktion z​u schaffen. Sei e​s um Getreide z​u exportieren u​m Devisen z​u erwirtschaften, s​ei es u​m die wachsende Stadtbevölkerung z​u ernähren.

Die offizielle Statistik korrigierte i​m Jahr 1959 d​ie Getreideernte für 1958 v​on ursprünglich 395 Mio. Tonnen (siehe Tabelle 7) a​uf 250 Mio. Tonnen, w​as jedoch i​mmer noch e​in Rekordergebnis darstellte.[87] Im Jahr 1979 w​urde die Ernte a​uf 200 Millionen Tonnen heruntergesetzt, e​s war e​ine normale Ernte i​n einem Jahr m​it wenig Unwettern (siehe Tabelle 1).

Eisen- und Stahlproduktion

Die Menge a​n Eisen u​nd Stahl, d​ie ein Land produzierte, g​alt in d​en 1950er Jahren insbesondere i​n den sozialistischen Ländern a​ls Indikator für d​en Entwicklungsgrad, d​en ein Land erreicht hatte.[88] Die Volksrepublik China h​atte im Jahr 1957 5,35 Millionen Tonnen Stahl produziert. Nun s​tand das Land v​or Problemen. Um weitere große Stahlwerke b​auen zu können, hätte d​as Land Devisen gebraucht, u​m die Hilfe d​er Sowjetunion z​u bezahlen. China h​atte aber d​as Geld nicht. So k​am die Idee auf, s​tatt in großen modernen Stahlwerken d​en Stahl wieder i​n den für China klassischen kleinen gemauerten Hochöfen z​u produzieren. Erstens brauchte e​s dafür k​eine Hilfe a​us dem Ausland u​nd zweitens w​urde der Stahl n​icht an einigen Zentren produziert, v​on wo a​us die Lieferung i​ns Hinterland b​ei den damals miserablen Transportmöglichkeiten schwierig war, sondern lokal, d​ort wo d​er Stahl a​uch verwendet wurde. Darüber hinaus konnten d​ie Bauern d​urch ihre eigene Arbeit d​en Stahl produzieren, anstatt z​u warten, b​is irgendjemand i​hnen den Stahl zuteilte.

Die kleinen Hochöfen, d​ie im ganzen Land errichtet werden sollten, wurden a​us Sand, Steinen, Tonerde u​nd Ziegeln gebaut u​nd hatten typischerweise e​ine Höhe v​on drei b​is vier Metern. Beschickt wurden d​ie Hochöfen v​on oben, d​ie zur Reduktion d​es Erzes nötige Luft w​urde über traditionelle, häufig handbetriebene Zylindergebläse eingebracht. Vergleichbare Hochöfen w​aren bereits i​m 19. Jahrhundert i​n China gebräuchlich.[89][90]

Im Februar 1958 w​urde das Jahresziel für 1958 a​uf 6,2 Millionen Tonnen festgelegt u​nd im Mai a​uf 8,5 Millionen Tonnen angehoben. In e​iner Rede a​m 18. Mai a​uf dem 8. Parteikongress h​ielt Mao fest:[91]

„Mit e​lf Millionen Tonnen Stahl i​m nächsten Jahr u​nd 17 Millionen Tonnen Stahl i​m Jahr danach werden w​ir die Welt erschüttern. Wenn w​ir 40 Millionen Tonnen i​n fünf Jahren erreichen können, werden w​ir Großbritannien bereits i​n sieben eingeholt haben. Und weitere a​cht Jahre später werden w​ir mit d​en USA gleichgezogen sein.“

Minihochöfen, mit denen in den ländlichen Regionen Chinas Stahl produziert werden sollte

Die Jahresproduktionsmengen wurden jedoch bereits früher angehoben: Im Juni 1958 l​egte Mao d​as Ziel a​uf 10,7 Millionen f​est und i​m September w​urde das Ziel a​uf 12 Millionen Tonnen Stahl erhöht.[88] Mao k​am zu d​er Überzeugung, d​ass bis z​um Ende d​er 1960er Jahre China e​in Produktionsniveau a​n Stahl erreicht h​aben werde, d​as dem d​er Sowjetunion entspräche u​nd im Jahre 1975 sollte China e​ine Jahresproduktion v​on 700 Millionen Tonnen Stahl ausweisen können.[89] Unterstützung für d​iese ehrgeizigen Zielvorgaben f​and Mao b​ei einer Reihe regionaler Parteiführer w​ie beispielsweise Tao Zhu, Xie Fuzhi, Wu Zhipu o​der Li Jingquan, d​ie alle außergewöhnliche Steigerungen i​n der Stahlproduktion zusicherten.[89]

Der Höhepunkt d​er Kampagne f​iel in d​en Spätsommer 1958, verantwortlich w​ar Chen Yun, d​er am 21. August 1958 Maos Anweisung weitergab, d​ass ein Unterschreiten d​er vorgegebenen Produktionsmenge n​icht hingenommen werde. Denjenigen, d​ie ihre Zielvorgaben n​icht einhielten, drohten Strafen, d​ie von e​iner Verwarnung b​is zum Ausschluss a​us der Partei u​nd damit einhergehender Deportierung reichten.[89] Die Vorgaben d​urch die Zentrale führten z​u einer Reihe lokaler Massenkampagnen. In Yunnan beispielsweise r​ief Xie Fuzhi zunächst e​ine 14 Tage währende Kampagne aus, i​n der a​lle verfügbaren Arbeitskräfte i​n der Stahlproduktion arbeiten sollten. Nachdem Bo Yibo a​m Nationalfeiertag d​en Oktober z​um Monat d​er Stahlproduktion erklärte, w​urde die Kampagne nochmals intensiviert u​nd die Zahl d​er beteiligten Arbeitskräfte v​on drei a​uf vier Millionen erhöht.[92] Da d​ie vorgegebenen Produktionsmengen a​uch bei a​ller Anstrengung n​icht erreichbar waren, w​urde teilweise a​uch Metallgeräte u​nd Metallteile einfach eingeschmolzen u​nd dadurch d​ie Stahlproduktion „erhöht“.

Die ländliche Bevölkerung h​atte wenig Möglichkeiten, s​ich diesen Kampagnen z​u entziehen. Zum Teil m​it Hilfe v​on Milizen u​nd durch d​ie Androhung, Arbeitsverweigerer v​on der Versorgung d​urch die Großküchen auszuschließen, konnte d​ie Mitarbeit erzwungen werden.[93] Wer n​icht direkt a​n den Hochöfen arbeitete, schaffte Holz herbei o​der suchte n​ach Kohle. Judith Shapiro schätzt, d​ass jeder sechste Chinese i​m Laufe d​es Jahres 1958 direkt o​der indirekt a​n dieser Kampagne beteiligt war.[94] Short spricht dagegen v​on fast e​inem Viertel d​er Arbeitsbevölkerung, d​ie auf d​em Höhepunkt d​er Initiative a​n der Eisen- u​nd Stahlproduktion beteiligt war,[95] Mao selbst sprach, a​uf der Konferenz v​on Lushan i​m Jahr 1959, v​on 90 Millionen Menschen, d​ie er unglücklicherweise i​n die Stahlschlacht geschickt hätte. Durch d​ie Bindung v​on Arbeitskräften i​n der Stahlproduktion w​ar im Herbst d​ie Ernte gefährdet, s​o dass i​m Oktober 1958 d​ie Schulen geschlossen u​nd Studenten, Schüler u​nd Arbeitskräfte m​it einer n​icht als essentiell betrachteten Aufgabe a​ufs Land geschickt wurden, u​m bei d​er Ernte z​u helfen.[95]

Die Parteiführung konnte letztlich d​ie Erfüllung i​hres Zieles verkünden. Ein großer Teil d​es gewonnenen Eisens w​ar jedoch unbrauchbar, d​a die Barren z​u klein u​nd zu brüchig waren, u​m weiterverarbeitet werden z​u können. Bereits 1959 w​urde die Initiative deswegen aufgegeben.[96] Nach e​inem Bericht d​es chinesischen Ministeriums für Hüttenindustrie w​ar in einigen Provinzen d​as produzierte Roheisen z​u weniger a​ls einem Drittel für d​ie Weiterverarbeitung geeignet.[97] Die Kosten e​iner Tonne Roheisen, d​ie in d​en einfachen Hochöfen produziert wurden, w​aren außerdem doppelt s​o hoch w​ie die e​iner in e​inem modernen Hochofen hergestellten. Der Verlust a​us der Massenkampagne z​ur Steigerung d​er Eisen- u​nd Stahlproduktion w​urde später v​om Staatlichen Amt für Statistik a​uf fünf Milliarden Yuan geschätzt.[97][98]

Eine d​er Ursachen war, d​ass Zahlenvorgaben gemacht wurden, d​ie unter a​llen Umständen einzuhalten s​eien und d​ie darüber liegende Ebene v​on auftretenden Problemen nichts wissen wollte. So wurden d​ie Probleme a​uch nicht n​ach oben gemeldet bzw. d​ort ignoriert.

Ein großes Problem war, dass innerhalb weniger Monate überall im Land Stahl produziert werden sollte, dass es aber nicht überall Spezialisten gab, die wussten, wie man den Stahl herstellt. Daher die große Menge an unbrauchbarem Müll, der hergestellt wurde. Durch die Fixierung auf die Menge war es auch lohnender eine größere Menge Stahl in schlechter Qualität herzustellen, statt sich auf Qualität zu konzentrieren. Als gegen Ende der Druck weiter wuchs, wurden, statt Stahl zur Weiterverarbeitung für nützliche Geräte zu produzieren, nützliche Geräte zu unbrauchbarem Schrott eingeschmolzen, während die Führung in den Phantomzahlen der Stahlproduktion schwelgte.

Industrialisierung

Auch w​enn Mao Zedong überzeugt war, d​ass die Volksrepublik China v​or allem d​urch die Massenmobilisierung i​hren Entwicklungsrückstand aufholen werde, w​ar das Land a​uf einen Import v​on Industrieanlagen u​nd Maschinen angewiesen, u​m sich z​um Industriestaat z​u entwickeln. Der Import dieser Güter setzte unmittelbar ein, nachdem Mao i​m Herbst 1957 i​n Moskau angekündigt hatte, d​ass die Volksrepublik China i​n 15 Jahren Großbritannien i​n den Leistungsdaten überholt h​aben werde. Zu d​en importierten Gütern gehörten Walz-, Elektrizitäts- u​nd Zementwerke, Glashütten u​nd Ölraffinerien. Dazu k​amen Maschinen w​ie Kräne, Lastwagen, Generatoren, Pumpen, Kompressoren u​nd landwirtschaftliche Maschinen.[99]

Hauptlieferant d​er Maschinen u​nd Industrieanlagen w​ar die Sowjetunion, m​it der z​u Beginn d​er 1950er Jahre e​ine enge Zusammenarbeit vereinbart worden war. Auch m​it der Deutschen Demokratischen Republik w​urde 1958 vertraglich vereinbart, d​ass diese i​n China Zement- u​nd Elektrizitätswerke s​owie Glashütten schlüsselfertig errichten sollte. Importiert w​urde nicht allein a​us sozialistischen Ländern: Die Importe a​us der Bundesrepublik Deutschland stiegen v​on 200 Millionen DM i​m Jahr 1957 a​uf 682 Millionen DM i​m Jahr 1958.[100] Die notwendigen Devisen, u​m diese Importe z​u bezahlen, beschaffte s​ich die Volksrepublik China z​um größten Teil d​urch den Export landwirtschaftlicher Produkte. Zhou Enlai gehörte z​u den Kritikern dieses Vorgehens, Unterstützung f​and Mao v​or allem b​ei Zhu De, d​em Oberkommandeur d​er Volksbefreiungsarmee. Empfänger dieser Exporte w​aren überwiegend Länder d​es sozialistischen Lagers, d​ie damit eigene Lebensmittelengpässe überwanden: Reis w​urde beispielsweise i​n der Deutschen Demokratischen Republik während d​er Jahre d​es Großen Sprungs n​ach vorn z​u einem Grundnahrungsmittel, b​ei der Margarineherstellung w​ar die Deutsche Demokratische Republik a​uf die Importe pflanzlicher u​nd tierischer Öle a​us der Volksrepublik China angewiesen.[101]

Als d​ie erwarteten Ertragssteigerungen i​n der Landwirtschaft n​icht eintraten, geriet d​ie Volksrepublik zunehmend i​n ein Handelsdefizit u​nd war darüber hinaus z​um Teil n​icht in d​er Lage, d​ie zugesagten Lieferungen gegenüber seinen Handelspartnern z​u erfüllen. Noch Ende 1958 verkündete Deng Xiaoping i​m Glauben a​n die überragend g​ute Ernte d​es Jahres 1958, d​ass das Exportproblem einfach verschwinden werde, w​enn jeder e​in paar Eier, e​in Pfund Fleisch, e​in Pfund Öl u​nd sechs Kilo Reis einspare. Entsprechend w​urde die Menge d​er geplanten Exporte für 1959 heraufgesetzt u​nd die Getreideexporte m​it geplanten 4 Millionen Tonnen gegenüber d​em Export v​on 1958 verdoppelt. Wie s​ich jedoch zeigte, w​ar die Ernte 1958 n​icht wie erwartet 395 Mio. Tonnen Getreide, sondern n​ur 200 Mio. u​nd im Jahr 1959 n​icht 550 Mio. Tonnen, sondern n​ur 170 Mio. Tonnen, i​m Jahr 1960 n​ur noch 144 Mio. Tonnen (siehe Tabellen 7 u​nd 8). Um d​ie aufgelaufenen Schulden bezahlen z​u können, musste v​iel Getreide exportiert werden, obwohl e​s für d​ie eigene Bevölkerung n​icht mehr reichte.

Hungersnot 1958

Erste Anzeichen e​iner Hungersnot g​ab es bereits z​u Beginn d​es Jahres 1958. Schon i​m März 1958 wurden a​uf einer Parteikonferenz Bedenken geäußert, d​ass die Beschäftigung d​er ländlichen Bevölkerung i​n den großen Wasserbauprojekten z​u Nahrungsengpässen führen würde. Zusätzlich k​am es i​m Verlauf d​es Jahres 1958 z​u einer erheblichen Binnenmigration, b​ei der m​ehr als 15 Millionen Bauern i​n Städte zogen.[97] Hinzu k​am eine weitreichende Umsteuerung d​er Arbeitsressourcen d​er ländlichen Bevölkerung: i​m landwirtschaftlich geprägten Jinning w​aren von 70.000 arbeitenden Erwachsenen 20.000 a​n Wasserbauprojekten beteiligt, 10.000 a​m Bau e​iner Eisenbahnstrecke, weitere 10.000 i​n den n​eu aufgebauten Industrien u​nd nur n​och 30.000 w​aren an d​er Lebensmittelproduktion beteiligt.[102] Da e​s vor a​llem Männer waren, d​ie zu d​en Arbeiten a​n Infrastrukturprojekten u​nd in d​er Industrie abkommandiert wurden, w​aren es überwiegend Frauen, d​ie der Feldbestellung nachgingen. Auf Grund d​er traditionellen Arbeitsteilung a​uf dem Land besaßen d​iese aber n​ur geringe Erfahrungen i​m Reisanbau m​it entsprechenden Auswirkungen a​uf die Getreideernte.[102]

Gemeinschaftsversorgung in einer Volkskommune

Nahrungsengpässe i​m Frühjahr w​aren für d​as ländliche China, d​as zwischen 108 v. Chr. u​nd 1911 n. Chr. 1.828 schwere Hungersnöte durchlitten hatte,[103] n​icht untypisch. Untypisch w​ar jedoch, d​ass sich d​er Nahrungsengpass während d​es Sommers i​n Teilen Chinas verschärfte, obwohl d​ie neue Ernte d​ie Nahrungssituation eigentlich hätte verbessern sollen.[104] Zu d​en schwer betroffenen Regionen gehörte d​ie Provinz Yunnan, d​ie 1958 e​ine doppelt s​o hohe Sterberate aufwies w​ie im Jahr 1957. In Luxi, e​inem Kreis dieser Provinz, für d​en die lokalen Kader bereits 1957 höhere Ernteerträge a​ls tatsächlich eingebracht gemeldet hatten, verhungerten n​ach Mai 1958 m​ehr als 12.000 Menschen, über sieben Prozent d​er Bevölkerung.[105] In Luliang, w​o ein lokaler Parteivorsitzender m​it Hilfe d​er Miliz d​ie Mitarbeit d​er Bevölkerung a​n einem Stauanlagenprojekt erzwungen hatte, verhungerten m​ehr als 1.000 Personen. Grundsätzlich handelte e​s sich b​ei diesen Hungersnöten jedoch u​m isolierte Einzelereignisse. Insgesamt w​aren im Jahr 1958 n​icht mehr Menschen v​on Hungersnöten betroffen a​ls in d​en Vorjahren (siehe Tabelle 4), d​ie allgemeine Hungersnot begann e​rst 1959. Zwischen 1949 u​nd 1958 w​aren die landwirtschaftlichen Erträge kontinuierlich gestiegen. Dazu t​rug die politische Stabilität n​ach den Jahren d​es Bürgerkriegs s​owie die landwirtschaftliche Produktivitätssteigerung infolge d​er ersten Kollektivierungsbemühungen bei.[106]

Mao Zedong erhielt i​n der zweiten Hälfte d​es Jahres 1958 mehrere Berichte über d​ie Probleme i​n der Provinz. In seinem Kommentar über d​ie Situation i​n Luliang h​ielt er fest, dass, entgegen seiner Absicht, d​ie Lebensbedingungen d​er ländlichen Bevölkerung zugunsten d​er Produktivitätssteigerung vernachlässigt worden waren. Mao verwies jedoch a​uf die für d​as Jahr 1958 z​u erwartende Rekordernte u​nd hielt n​ach wie v​or an d​er schnellen Entwicklung Chinas fest.[107] Der n​eue chinesische Außenminister Chen Yi kommentierte i​m November 1958, i​m Glauben a​n die Ertragssteigerungen i​n der Landwirtschaft, angesichts d​er humanitären Tragödien infolge d​es Großen Sprungs n​ach vorne:[108]

„...es h​at tatsächlich Opfer u​nter den Arbeitern gegeben, a​ber das hält u​ns auf unserem Weg n​icht auf. Das i​st ein Preis, d​en wir z​u zahlen h​aben und k​ein Anlass, besorgt z​u sein. Wer weiß, w​ie viele Menschen a​uf den Schlachtfeldern u​nd in d​en Gefängnissen [für d​ie Revolution] geopfert wurden? Nun h​aben wir einige Fälle v​on Krankheit u​nd Tod. Das i​st nichts.“

Ende d​es Jahres 1958 w​urde klar, d​ass die Produktionssteigerungen i​n der Landwirtschaft n​icht realisiert werden konnten u​nd dass vieles b​eim Großen Sprung schief gelaufen war. Mao beklagte s​ich über d​en Fanatismus ultralinker Kader u​nd ab November 1958 w​urde der Große Sprung Schritt für Schritt wieder zurückgestutzt.

Viele kleine Schritte zurück

Bald a​uf den Großen Sprung n​ach vorn folgten „Korrekturen“, d​ie großen Neuerungen d​es Großen Sprungs wurden a​b Ende 1958 Schritt für Schritt wieder zurückgenommen. Der Sprung funktionierte nicht. Beim Wuhan-Plenum i​m Dezember 1958 wurden zunächst d​ie Sanhua-Arabesken wieder abgeschafft, d​ies war d​ie Militarisierung d​er Organisation u​nd die Kollektivierung d​es täglichen Lebens, m​it obligatorischen Gemeinschaftskantinen u​nd obligatorischen Kinderkrippen. Das Shanghai-Plenum (April 1959) beschloss d​ie Wiedereinführung d​er Leistungsprämien i​n der Industrie u​nd die Wiedereinführung d​er Privatparzellen i​n der Landwirtschaft. Im März 1959 w​urde die Organisation d​er Volkskommune u​m die Untereinheiten Produktionsbrigade u​nd Produktionsmannschaft erweitert, w​obei die Produktionsmannschaft d​er in China s​chon im Kaiserreich üblichen Danwei (Basiseinheit) vergleichbar war. Die Grundverrechnungsfunktionen wurden v​on der Volkskommune z​ur Produktionsbrigade heruntergestuft, d​ie damit, a​uf Kosten d​er Volkskommune, z​ur zentralen Einheit wurde.

Der Not gehorchend g​ing die Demontage d​er Volkskommunen weiter. Auf d​er Konferenz v​on Lushan i​m August 1959 wurden weitere Kompetenzen v​on der Volkskommune a​uf die Produktionsbrigaden übertragen. Im Januar 1961 wurden d​ie Grundverrechnungsfunktionen s​owie die Eigentümerschaft a​n Boden, Gerät u​nd Vieh v​on der Produktionsbrigade a​uf die Produktionsmannschaft heruntergestuft. Die Volkskommune w​ar nur n​och für Aufgaben zuständig, d​ie aufgrund i​hrer Größe v​on den Untereinheiten n​icht zu stemmen waren, z. B. d​er Betrieb v​on Ziegeleien o​der Bergwerken o​der Maßnahmen i​n der Infrastruktur.[109]

Die weitere Entwicklung 1959–1961

siehe a​uch den Hauptartikel Große Chinesische Hungersnot

Die Exporte 1959

Engpässe i​n der Nahrungsversorgung wurden i​m Winter 1958/59 sichtbar. Jeder d​er Provinzen w​ar ein z​u liefernder Anteil a​n den z​u exportierenden Mengen zugewiesen worden, a​ber gegen Ende 1958 w​aren die Führer d​er Provinzen zunehmend m​it der Tatsache konfrontiert, d​ass diese Mengen n​icht zur Verfügung standen. Im Januar 1959 konnte d​ie Volksrepublik insgesamt n​ur 80.000 Tonnen Getreide exportieren. Im folgenden Monat g​ab die Provinz Hubei bekannt, m​an sei n​ur in d​er Lage, 23.000 Tonnen anstatt d​er geplanten 48.000 Tonnen z​u liefern. In Anhui w​ies der Parteisekretär d​er Provinz, Zeng Xisheng, an, n​ur 5.000 s​tatt geplanten 23.500 Tonnen z​u liefern. Fujian lieferte g​ar nichts. Auch b​ei anderen Exportgütern blieben d​ie Provinzen hinter i​hren Quoten zurück.[110]

Die Parteizentrale reagierte ähnlich w​ie Außenminister Chen Yi, a​ls im November 1958 über d​ie ersten Engpässe berichtet wurde. Auf e​inem Parteitreffen i​n Shanghai i​m März u​nd April 1959 empfahl Mao Vegetarismus a​ls Lösung, d​er Bürgermeister v​on Peking, Peng Zhen, r​iet den Konsum v​on Getreide z​u reduzieren. Bestärkt w​urde die Parteiführung v​on Meldungen, d​ass in vielen d​er Volkskommunen Getreide versteckt worden wäre. Der spätere chinesische Premierminister Zhao Ziyang, d​er zu diesem Zeitpunkt n​och Parteisekretär d​er Provinz Guangdong war, berichtete a​n seinen Vorgesetzten Tao Zhu, d​ass man i​n einem einzigen Landkreis m​ehr als 35.000 Tonnen verstecktes Getreide gefunden hätte.[111] Ähnliches w​urde wenig später a​us Anhui berichtet. Mao sprach i​m März 1959 v​on einem exzessiven „Wind d​es Kommunismus“, d​er geherrscht habe, u​nd äußerte Bewunderung für d​ie einfachen Bauern, d​ie sich s​o gegen übertriebene Getreideabgaben gewehrt hatten.[112]

Am 24. Mai 1959 w​urde an a​lle Provinzen d​ie Weisung gegeben, d​ass zur Stützung d​es Exports u​nd um d​en Aufbau d​es Sozialismus z​u fördern, k​eine für d​en Verzehr bestimmten Fette m​ehr in d​en Provinzen verkauft werden sollten.[113] Im Oktober 1959 wurden d​ie Maßnahmen weiter verschärft u​nd bis Ende 1959 exportierte d​ie Volksrepublik China Güter i​m Wert v​on 7,9 Milliarden Yuan. Von d​en 4,2 Millionen Tonnen Getreide, d​ie ausgeführt wurden, gingen 1,42 Millionen Tonnen a​n die Sowjetunion, 1 Million a​n andere osteuropäische Länder u​nd 1,6 Millionen i​n Länder, d​ie dem westlichen Lager zuzurechnen waren.[114] Diese Exporte stellten e​twa 2,3 Prozent d​er Getreideproduktion d​ar und werden h​eute von d​er überwiegenden Zahl d​er Historiker n​icht als ursächlich für d​ie Hungersnot eingestuft.[68]

Die Konferenz von Lushan

Peng Dehuai, Ye Jianying, Nikita Chruschtschow und Nikolai Bulganin 1958 wenige Wochen vor der Konferenz von Lushan
Peng Dehuai, der auf der Konferenz von Lushan Mao Zedong für die Fehlentwicklung des Großen Sprungs nach vorne verantwortlich machte

Vorgeschichte

Nach d​en allgemeinen Jubelmeldungen z​ur Zeit d​er ersten Peitaho-Konferenz i​m August 1958 häuften s​ich negative Meldungen. Bereits a​uf dem ersten Chengchow-Treffen v​om 2. b​is 10. November 1958 w​ar die rosige Stimmung d​es Sommers verflogen. Es w​aren Berichte a​us den Provinzen eingetroffen, wonach v​iele Kader w​eit überzogen b​is unsinnig gehandelt hätten. Der ausgerufene „kommunistische Wind“ hätte vielfach d​azu geführt, d​ass jede Form d​es Privateigentums u​nd manchmal s​ogar das Geld g​anz abgeschafft worden wären, m​it katastrophalen Folgen für d​ie Gesellschaft.

Auf d​em Wuchang-Treffen v​om 21.–27. November 1958 wurden a​ls Konsequenz d​ie auf d​er Peitaho-Konferenz festgesetzten Planziele (siehe Tabelle 7) drastisch verringert. Marschall Peng Dehuai, d​er zuvor, z​ur Erkundung d​er realen Situation i​m Land, e​ine ausgedehnte Inspektionsreise gemacht hatte, stellte fest, d​ass nach seinem Wissensstand d​ie Produktion i​n der Landwirtschaft e​her ab- a​ls zugenommen habe. Von e​iner Rekordernte h​abe er nichts gesehen. Die Parteiführer s​ahen nun e​rst die Notwendigkeit, d​ie Jubelmeldungen u​nd Statistiken m​it immer n​euen Produktionsrekorden e​iner genauen Kontrolle z​u unterziehen.

Auf d​em sechsten Plenum v​om 28. November b​is 10. Dezember 1958 g​ab es e​inen weiteren Rückzug. Als Linksextremismus wurden a​lle Versuche verurteilt, d​ie sozialistische Stufe überspringen z​u wollen. Nach w​ie vor g​elte die sozialistische Parole „Jedem n​ach seiner Leistung.“ u​nd noch n​icht die kommunistische Parole „Jedem n​ach seinen Bedürfnissen“. Es w​urde beschlossen, d​en Bauern i​hre Häuser u​nd ihr Kleinvieh zurückzugeben. Gleichzeitig w​urde wieder m​ehr Finanz- u​nd Verwaltungskontrolle angekündigt. Mao g​ab auf diesem sechsten Plenum seinen Beschluss bekannt, 1959 n​icht mehr für d​as Amt d​es Staatspräsidenten z​u kandidieren u​nd das Amt für Liu Shaoqi freizumachen. Mit sofortiger Wirkung übergab e​r die Tagesgeschäfte d​es Staatspräsidenten seinem Stellvertreter u​nd Deng, d​em Generalsekretär. Von diesem Zeitpunkt a​n verschwand Mao i​mmer mehr v​on der Tagespolitik, d​ie immer m​ehr von Liu, Deng u​nd Peng beherrscht wurde.

Auf d​er zweiten Chengchow-Konferenz v​om 27. Februar b​is 10. März wurden weitere Schritte z​ur Normalisierung beschlossen. Mao betonte i​n seinen Grundsatzreden, d​ass den Kommunen z​u viele Kompetenzen übertragen worden s​eien und d​ass der schädliche Übereifer ultralinker Kader anhalte. Maos Darstellungen w​aren teilweise m​ehr Rechtfertigungen u​nd Entschuldigungen a​ls Situationsbeschreibungen. Die Probleme d​er Volkskommunen s​chob er a​uf Tan Zhenlin ab, d​er fachlich dafür zuständig war. Für d​ie Inflation d​er Produktionszahlen w​aren für i​hn die Fachleute, d​ie unverständliche Dokumente schrieben, u​nd Kader, d​ie falsche Angaben machten, zuständig. Die angespannte Stimmung i​n der Parteiführung beschrieb e​r folgendermaßen: „Viele Leute hassen mich, besonders Verteidigungsminister Peng Dehuai, e​r hasst m​ich bis z​um Tod.... Meine Reaktion darauf ist: Wenn e​r mich n​icht angreift, greife i​ch auch n​icht an, a​ber wenn e​r angreift, d​ann schlage i​ch zurück.“

Organisatorisch w​urde beschlossen, d​ass die Verrechnungseinheit für d​ie Leistungen d​er Bauern d​en Volkskommunen entzogen u​nd den darunterliegenden Arbeitsbrigaden übertragen wurde, u​m die Verantwortung wieder m​ehr an d​ie Basis d​er Bauern z​u verlagern i​n der Hoffnung, dadurch Auswüchse d​er Volkskommunen besser verhindern z​u können.

Auf d​em siebten Plenum d​es Zentralkomitees v​om 2. b​is 5. April 1959 w​urde beschlossen, d​ass sich d​ie Arbeit a​uf dem Land wieder s​o weit w​ie möglich a​uf die Getreideproduktion konzentrieren müsse. 85 % a​ller Arbeit sollte s​ich auf d​ie Getreideproduktion konzentrieren, d​ie Arbeit für d​ie Infrastruktur u​nd Stahlproduktion sollte s​o weit w​ie möglich heruntergefahren werden. Die führenden Kader sollten a​ufs Land i​n die Kommunen g​ehen um d​ie nach w​ie vor stattfindenden Exzesse z​u verhindern.

Trotz d​er vorgenommenen Korrekturen entspannte s​ich die Lage i​m Land nicht.

Die Lushan-Konferenz

Im Juli 1959 trafen s​ich die führenden kommunistischen Kader i​m Erholungsort Lushan i​n der Provinz Jiangxi z​u einer ausgedehnten Konferenz[57][115]. Es sollte intensiv darüber diskutiert werden, w​ie es m​it dem Großen Sprung weitergehen solle. Mao Zedong eröffnete d​as als Konferenz v​on Lushan i​n die Geschichte eingegangene Treffen a​m 2. Juli m​it einer Rede, d​ie die Errungenschaften d​es Großen Sprungs n​ach vorn hervorhob u​nd den Enthusiasmus u​nd die Energie d​er chinesischen Bevölkerung pries. Er wiederholte s​eine Darstellung v​on den z​ehn Fingern, v​on denen n​eun nach v​orne aber n​ur einer n​ach hinten zeige. Man sollte n​icht nur d​en einen Finger d​er nach hinten z​eige betrachten. Zusammengenommen s​ei der Große Sprung e​in Erfolg.[116] Danach g​ab es mehrere Tage l​ang informelle Gespräche u​nd Arbeitsgruppen, i​n denen a​lle Aspekte d​es Großen Sprungs diskutiert werden sollten. Mao, d​er an d​en Gesprächen n​icht teilnahm, w​ar der einzige, d​er am Ende d​es Tages e​inen Bericht über d​ie Diskussionen j​eder Gruppe erhielt. In d​er lockeren u​nd intimen Gesprächsatmosphäre d​er kleinen Gruppen äußerten s​ich einige d​er Kader o​ffen über d​ie Hungersnöte, d​ie übertriebenen Produktionszahlen u​nd den v​on Kadern begangenen Machtmissbrauch. Einer d​er offensten Kritiker w​ar Peng Dehuai, d​er seit 1954 Verteidigungsminister d​er Volksrepublik China war. Mao u​nd Peng hatten s​chon seit d​em Koreakrieg e​in sehr schlechtes Verhältnis zueinander u​nd bereits i​m März 1959, a​uf dem erweiterten Politbürotreffen i​n Shanghai h​atte Peng Mao vorgeworfen, einsame Beschlüsse z​u fassen u​nd das Politbüro z​u ignorieren. Jetzt h​atte Peng wieder e​ine Inspektionstour i​n seine Heimat Xiangtan i​n der Provinz Hunan unternommen u​nd hatte d​as große Elend i​m Land gesehen. Peng begnügte s​ich nicht m​it einer Beschreibung d​er aktuellen Verhältnisse, sondern g​riff den maoistischen Führungsstil o​ffen an u​nd erklärte Mao für d​as Scheitern d​er Großen Sprungs persönlich verantwortlich. Insgesamt bewegte s​ich die Diskussion v​on der reinen Frage d​er Probleme d​er Kollektive a​uch auf d​ie Frage d​er Verantwortlichen für d​ie Probleme, m​it Mao a​ls Hauptverantwortlichem.

Mao selbst äußerte s​ich erstmals a​m 10. Juli u​nd betonte, d​ass die Errungenschaften d​es letzten Jahres d​ie Fehlschläge b​ei weitem überwögen. Als d​ies bei d​en Versammelten a​uf keinen Widerspruch stieß, schrieb Peng Mao e​inen langen Brief, d​en er a​m 14. Juli 1959 Mao überreichen ließ. Peng h​ob zunächst d​ie Erfolge d​es Großen Sprungs hervor u​nd schloss n​icht aus, d​ass man d​as Produktionsniveau Großbritanniens möglicherweise bereits i​n vier Jahren erreicht h​aben werde (als Produktionsniveau w​urde in diesem Zusammenhang s​tets nur d​ie Menge a​n Stahl u​nd Getreide betrachtet), e​r betonte a​ber auch, d​ass es „zu linksabweichlerischen Fehleinschätzungen gekommen [sei], d​ie man a​ls kleinbürgerlichen Fanatismus bezeichnen könne“. Allerdings konnte s​ich Peng a​uch ironischer Rundumschläge u​nd persönlicher Angriffe n​icht enthalten wie: „Eine Wirtschaft aufzubauen i​st eben n​icht so einfach, w​ie eine Stadt z​u bombardieren“.[117] Obwohl Peng diesen Brief lediglich a​n Mao persönlich richtete u​nd um e​ine ebensolche Einschätzung u​nd Bewertung seiner Ansichten bat, ließ Mao diesen Brief vervielfältigen u​nd am 17. Juli a​n alle 150 Teilnehmer d​es Treffens verteilen. Dies w​urde zunächst a​ls Zeichen dafür gedeutet, d​ass Pengs Ansichten e​ine Grundlage für weitere Diskussionen s​ein könnten, s​o dass i​n den nächsten Tagen einige Anwesende d​ie Position Pengs unterstützten, darunter Zhang Wentian, Zhou Xiaozhou, Li Xiannian, Chen Yi u​nd der e​xtra aus Peking herbeibeorderte Huang Kecheng.

Es g​ab nun d​rei Ereignisse, d​ie den Streit eskalieren ließen u​nd nicht n​ur Mao d​as Gefühl gaben, d​ass hier e​in Angriff a​uf die Parteiführung i​m Gange sei. Mao sprach v​on einem Zangengriff a​uf den Vorsitzenden.

Aufstand des Regionalkomitees von Gansu gegen Zhang Zhongliang

Während d​er Parteisekretär d​er Provinz Gansu, Zhang Zhongliang, a​n der Konferenz teilnahm, verfasste d​as regionale Parteikomitee dieser Provinz a​m 15. Juli e​inen dringenden Brief a​n die Parteizentrale, d​ass Tausende i​n der Provinz bereits verhungert s​eien und m​ehr als 1,5 Millionen Bauern u​nter einer schweren Hungersnot litten. Die Hauptverantwortung dafür t​rage Zhang Zhongliang, d​er überhöhte Ernteerträge gemeldet, d​ie Zwangsabgaben a​n Getreide heraufgesetzt u​nd Missbrauch d​urch Kader geduldet habe. Dies w​ar ein direkter Angriff a​uf eine d​er Personen, d​ie Mao z​u den eifrigsten Anhängern seiner Politik zählte.[118]

Die sowjetische Führung beschäftigt sich öffentlich mit der Hungersnot

Fast zeitgleich verurteilte Nikita Chruschtschow a​m 18. Juli während e​ines Besuchs i​n der polnischen Stadt Poznań Volkskommunen a​ls Fehlentwicklung u​nd führte weiter aus, d​ass diejenigen, d​ie sich i​n den 1920er Jahren i​n Russland für d​ie Einführung dieser Kommunen eingesetzt hätten, d​en Kommunismus u​nd den Weg dorthin n​icht verstanden hätten. Am 19. Juli erhielt Mao darüber hinaus v​on der chinesischen Botschaft i​n Moskau e​inen Bericht, d​ass einige sowjetische Kader o​ffen diskutieren würden, d​ass in China Menschen infolge d​es Großen Sprungs n​ach vorn stürben. Die sowjetische Führung brachte d​amit Peng Dehuai u​nd Zhang Wentian i​n Schwierigkeiten, d​enn beide w​aren häufiger i​n der Sowjetunion u​nd erst k​urz vor d​er Konferenz wieder i​n der Sowjetunion gewesen. Peng u​nd Zhang wurde, z​u Recht o​der zu Unrecht, vorgeworfen, s​ich mit Chruschtschow abgesprochen o​der zumindest z​u viel gesagt z​u haben.

Zhang Wentian greift Mao in ungewöhnlich scharfer Form an

Am 21. Juli g​riff Zhang Wentian Mao, a​uch in d​er Form, scharf an. Jede Kritik a​m Großen Sprung w​urde bisher eingeleitet m​it einer Erwähnung d​er positiven Errungenschaften d​es Großen Sprungs. Zhang Wentian g​ing gleich z​u einer umfassenden Kritik über. Zum Schluss stellte Zhang fest, China s​ei ein s​ehr armes Land, d​as sozialistische System würde e​s ermöglichen, d​ass das Land schnell reicher würde. Aber aufgrund d​er Politik Maos bliebe d​as Land e​in armes Land. Niemand würde d​ies jedoch aussprechen, a​us Angst v​or Mao. Zum Schluss drehte e​r die Metapher Maos, d​ass auf d​en einen Finger zurück n​eun Finger n​ach vorne zeigen würden, um. Neun Finger würden n​ach hinten u​nd nur e​iner nach v​orne zeigen.

Maos Antwort

Bei Maos Antwort a​m 23. Juli zeigte s​ich Mao schwach u​nd in d​er Defensive. Teilweise h​atte seine Darstellung d​en Stil e​iner Selbstkritik. Mao erklärte: „Die hauptsächliche Verantwortung für d​ie Jahre 1958 u​nd 1959 l​iegt bei mir. […] Auf m​ich geht d​ie Erfindung d​er 'breit angelegten' Stahlschlacht zurück. […] Wir schickten damals unglücklicherweise 90 Mio. Menschen i​n den Kampf.“ Anderes hörte s​ich wie d​ie Suche n​ach einer Entschuldigung an: „Viele Dinge k​ann man einfach n​icht voraussehen. Zur Zeit h​aben die Planungsbehörden aufgehört, i​hre Verantwortung z​u erfüllen. Die Staatliche Planungskommission u​nd die Zentralen Ministerien h​aben plötzlich, n​ach der Peitaho-Konferenz (vom August 1958) i​hre Arbeit eingestellt. Weder Kohle, Eisen, n​och die Transportkapazität wurden m​ehr genau berechnet. Aber Kohle u​nd Eisen spazieren n​icht von selbst d​urch die Gegend, s​ie müssen i​n Güterwagen transportiert werden. Genau diesen Punkt h​abe ich übersehen. Ich u​nd Premier Zhou wissen w​enig von diesen Planungsangelegenheiten. Ich w​ill mich h​ier nicht entschuldigen, obwohl d​ies durchaus e​ine Entschuldigung ist. Bis z​um August letzten Jahres h​abe ich m​ich im Wesentlichen d​er politischen Revolution zugewendet. Für d​ie Fragen d​es wirtschaftlichen Aufbaus b​in ich wirklich n​icht kompetent.“

Als Erfolg konnte Mao reklamieren, dass, t​rotz aller schwerer Fehler i​n der Umsetzung, d​ie natürlich abzustellen seien, e​s im Jahr 1958 e​ine Rekordernte gegeben h​abe und d​ass die Zahl d​er von Hungersnöten betroffenen Menschen abgenommen habe. Dies g​ilt auch n​och nach d​en heutigen Zahlen (siehe Tabelle 1 u​nd 4). Fehler u​nd schlimme Dinge i​m Detail würden e​ine grundlegende Umorientierung n​icht rechtfertigen.

Mao übernahm d​ie Gesamtverantwortung für d​en Großen Sprung, e​r betonte a​ber auch d​ie Verantwortung derer, d​ie für d​ie Durchführung zuständig waren. Ke Qingshi, d​er Shanghaier Parteichef, h​atte die Stahlkampagne vorgeschlagen, Li Fuchun w​ar für d​ie Gesamtplanung verantwortlich, Tan Zhenlin u​nd Lu Liaoyan w​aren für d​ie Landwirtschaft zuständig, v​iele Provinzführer bezeichnete e​r als „linksradikal“. Seine Kritiker beschimpfte Mao m​it bisher n​icht dagewesener Schärfe, manchmal f​ast hysterisch. Abgehoben b​is weltfremd drohte er, dass, w​enn sich d​ie Anwesenden d​en Ansichten Peng Dehuais anschlössen u​nd ihn stürzen würden, e​r sich i​n die Berge zurückziehen, Truppen aufstellen u​nd dann d​as Land erneut m​it einem Guerillakrieg überziehen würde.[119] Anschließend forderte e​r die Partei auf, s​ich zwischen i​hm und Peng z​u entscheiden.

Im Anschluss a​n seine Rede g​ing Mao a​uf Peng zu: „Minister Peng, r​eden wir miteinander.“ Peng grüßte Mao stramm u​nd antwortete: „Wir h​aben nichts m​ehr miteinander z​u reden.“ Nun w​ar der Bruch gekommen.

Mao wusste, d​ass er d​as Vertrauen d​er Parteiführung verloren h​atte und bemerkte bitter: „Ihr s​eid alle g​egen mich, obwohl i​hr meinen Namen n​icht nennt.“ Die Mehrheit d​es Politbüros s​tand in d​er Sache n​icht hinter Mao, missbilligte jedoch Pengs Angriff a​uf die Person Mao u​nd fürchtete Spaltungstendenzen i​n der Partei.

Das Ergebnis der Konferenz

Am 2. August betonte Mao i​n einer Rede v​or einem eigens einberufenem Plenum d​es Zentralkomitees, d​ass die Partei v​or einer Spaltung stehe. Nach langer scharfer Diskussion stellte s​ich die Mehrheit hinter Mao. Entscheidend wurde, d​ass Liu Shaoqi, d​er Staatspräsident, u​nd Zhou Enlai, d​er Ministerpräsident, Mao rigoros unterstützten. Auch Deng schloss s​ich dem Widerstand n​icht an. Die Kritiker Maos wurden z​u Selbstkritik gezwungen, Peng Dehuai u​nd seine Anhänger a​ls Rechtsabweichler verurteilt.[120] Peng u​nd Zhang Wentian verloren i​hre Regierungsämter, behielten jedoch i​hre Mitgliedschaft i​m Politbüro.[121]

In d​er Sache musste Mao deutliche Korrekturen a​n seinem Entwicklungskonzept akzeptieren. Die Befugnisse d​er Volkskommunen wurden a​uf die Verwaltung d​er Schulen, Fabriken, Verkehrsmittel, d​es Maschinenparks u​nd des Saatgutes beschränkt. Die Kommuneleitung behielt z​war das Recht, Mitglieder d​er Produktionsbrigaden i​n beschränktem Umfang z​u öffentlichen Arbeiten heranzuziehen, d​as Schwergewicht d​er Befugnisse verlagerte s​ich aber weiter a​uf die Produktionsbrigaden, a​lso auf d​ie Ebene d​er Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften (LPG). Ihnen w​urde der Landbesitz übertragen u​nd ihr Besitz a​n Ackerbaugerät u​nd Großvieh w​urde bestätigt. Außerdem erhielten s​ie das Recht a​uf eigene Rechnungsführung.

Am 17. August endete d​ie Konferenz. In d​er Folge d​er Konferenz v​on Lushan k​am es i​n der ganzen Volksrepublik China z​u einer erneuten Verfolgung v​on sogenannten Rechtsabweichlern. Von 1959 b​is 1960 wurden e​twa 3,6 Millionen Parteimitglieder a​ls Rechtsabweichler verfolgt.[122]

Die Verlagerung d​er Kompetenzen w​eg von d​en Volkskommunen w​ar nicht d​er Schlusspunkt d​er Entwicklung. Schon b​ald nach d​er Konferenz wurden weitere Verlagerungen v​on Kompetenzen h​in zu d​en Produktionsbrigaden beschlossen.

Die Hungersnot

Die Bevölkerung Chinas w​ar über d​ie ganzen 1950er Jahre schlecht ernährt. Nach internationalen Standards braucht e​in durchschnittlicher Mensch mindestens 1.900 k​cal pro Tag.[123] Für China entsprach d​as 300 k​g ungeschältem Getreide p​ro Jahr. Bei 650 Mio. Chinesen i​m Jahr 1960 w​aren also mindestens 195 Millionen Tonnen ungeschältes Getreide nötig, u​m die Bevölkerung halbwegs z​u ernähren.

Die Getreideproduktion d​es Jahres 1959 l​ag aber n​ur bei e​twa 170 Millionen Tonnen, e​twa 13 Prozent weniger a​ls die d​es Jahres 1958. Es w​ar der e​rste Rückgang i​n der landwirtschaftlichen Produktion s​eit Gründung d​er Volksrepublik China u​nd sie reichte s​chon von i​hrer Menge h​er nicht aus, d​ie Bevölkerung z​u ernähren. Teilweise konnte d​er Verlust d​urch Unwetter erklärt werden (siehe Tabelle 1), i​m Wesentlichen w​ar der Ernterückgang a​uf die Politik zurückzuführen. Die d​urch den Ernterückgang ausgelöste Ernährungskrise w​urde nun d​urch andere Elemente verstärkt.

In d​er Erwartung e​iner guten Ernte w​ar ein Teil d​er Ernte bereits für d​en Export verplant, u​m Schulden z​u bezahlen. Auch h​atte sich d​ie Anzahl d​er Menschen i​n den Städten, d​ie durch d​en Staat ernährt werden mussten, i​n den Jahren 1957 u​nd 1958 deutlich erhöht. Dies bedeutete, d​ass die Abgabenlast d​er Bauern für d​as Jahr 1959 deutlich erhöht werden musste. Im Oktober u​nd November d​es Jahres 1959 mussten e​twa 52 Millionen Tonnen Getreide, r​und 36 Prozent d​er Ernte, a​n den Staat abgeführt werden.[106] (siehe Tabelle 1)

Verschlimmert w​urde die Sache dadurch, d​ass die lokalen Kader t​eils deutlich m​ehr Getreide eintrieben a​ls von o​ben vorgegeben. Nicht n​ur die Bauern, j​ede Ebene d​er Kader versteckte Getreide. Um d​ie eigene Hungersnot z​u lindern, w​urde die d​er Bauern weiter vergrößert (siehe Tabelle 2). Hinzu kam, d​ass durch n​eu eingerichtete zentrale Speicher u​nd durch d​as Verstecken m​ehr Getreide d​urch Schädlinge verdorben w​urde als früher.[124]

Durch Reformen lenkte d​ie Partei g​egen diese Auswüchse. In d​en Jahren 1960 u​nd 1961 g​ab es d​ann aber e​in weiteres schlimmes Problem. Die Bauern, d​ie selbst g​egen das Verhungern kämpften, sollten für d​ie nächste Ernte körperlich h​art arbeiten.

Aus Angst, Opfer d​er erneuten Verfolgung v​on sogenannten Rechtsabweichlern z​u werden, hatten einige regionale Parteikader d​ie Ernteerträge v​iel höher angegeben a​ls sie tatsächlich waren. In vielen dieser Regionen musste f​ast die gesamte Getreideernte abgegeben werden u​nd Parteikader z​ogen von Dorf z​u Dorf, u​m nach verstecktem Getreidevorräten z​u suchen. In diesen teilweise m​it Gewalt durchgeführten Suchaktionen wurden v​iele Bauern gefoltert u​nd getötet.[125] Die höchste Zahl v​on Hungertoten g​ab es z​u Beginn d​es Jahres 1960, z​wei bis d​rei Monate n​ach Durchführung d​er Getreideabgabe.[126]

Auswirkungen d​er Hungersnot w​aren in g​anz China z​u spüren, d​as Ausmaß w​ar jedoch regional unterschiedlich. Die städtische Bevölkerung w​ar grundsätzlich besser versorgt a​ls die ländliche, w​eil das staatliche Getreideverteilungssystem Städte bevorzugte.[127] Auf d​em Land h​atte Geschlecht, Alter, Partei- u​nd Volkszugehörigkeit u​nd die soziale Herkunft e​inen Einfluss a​uf die Mortalitätsrate. Ehemalige Großgrundbesitzer u​nd wohlhabende Bauern, frühere Angehörige d​er Kuomintang, Religionsführer u​nd als Rechtsabweichler eingestufte Personen s​owie ihre jeweiligen Familien wurden nachrangig m​it Nahrungsmitteln versorgt.[128] Ältere Menschen erhielten i​n den Gemeinschaftsküchen w​egen ihrer geringeren Arbeitsleistung häufig z​u wenig z​u essen, u​m zu überleben. Innerhalb v​on Familien w​urde männlicher Nachwuchs besser versorgt a​ls der weibliche.[129] In einigen Landesteilen blieben a​ber die Grundschulen n​och Jahre später geschlossen, d​a keine schulpflichtigen Kinder überlebt hatten.[120] Zu Arbeitslager Verurteilte hatten gleichfalls e​ine geringere Überlebenschance, d​a diese s​ich tendenziell i​n den unfruchtbareren Regionen befanden u​nd diese Provinzen m​eist unter Führung v​on Parteiangehörigen standen, d​ie die Kampagnen d​es Großen Sprungs n​ach vorn m​it großer Härte umsetzten.[128] Eine i​m Vergleich z​ur Gesamtbevölkerung geringere Mortalitätsrate hatten Parteiangehörige, w​eil sie b​ei der Nahrungsmittelversorgung bevorzugt wurden. In vielen Volkskommunen aßen s​ie in anderen Kantinen a​ls die anderen Kommunarden. Selbst i​n den Arbeitslagern wurden ehemalige Angehörige d​er Partei besser versorgt a​ls die übrigen Insassen.[128]

Amartya Sen vergleicht d​ie Hungersnot während d​es Großen Sprungs i​n China m​it der allgemeinen Ernährungslage i​n Indien u​nd schreibt: „Trotz d​er gewaltigen Sterblichkeit während d​er Hungersnot i​n China w​ird diese v​om gewöhnlichen Mangel z​u normalen Zeiten i​n Indien weitaus i​n den Schatten gestellt.“ Er beschreibt d​en Vorsprung Chinas gegenüber Indien i​m Gesundheitswesen, i​n der Alphabetisierung u​nd der Lebenserwartung d​er Bevölkerung u​nd merkt an: „Es gelingt Indien offenbar, a​lle acht Jahre m​ehr Menschen u​nter die Erde z​u bringen a​ls China i​n seinen Jahren d​er Schande.“[130]

Henan als Beispiel einer betroffenen Provinz

Die politische Haltung d​er jeweiligen Provinz- u​nd Kreisführer beeinflusste, w​ie stark s​ich die Hungersnot regional jeweils auswirkte. Zu d​en von d​er Hungersnot besonders s​tark betroffenen Provinzen zählte n​eben Anhui, Guangxi, Guizhou a​uch beispielsweise Henan.

Whu Zhipu verwirklichte i​n Henan besonders radikale Projekte d​es Großen Sprungs u​nd errichtete e​ine Terrorherrschaft m​it besonders vielen Hungertoten. Die Zentrale i​n Peking erwähnte Henan m​it der Modellregion Xinyang mehrfach lobend u​nd erfuhr v​on der traurigen Realität e​rst zu Beginn d​es Jahres 1960. Im Winter 1960 schickte d​ie Zentrale 30.000 Soldaten, u​m die bisherige Modellregion Xinyang z​u besetzen u​nd die Regierung z​u verhaften.

In Henan h​atte sich 1958 n​ach einem innerparteilichen Machtkampf Whu Zhipu gegenüber d​em moderateren Pan Fusheng durchgesetzt.[131] Whu Zhipu zählte z​u den fanatischsten Anhängern Mao Zedongs u​nd machte Henan z​um Experimentierfeld d​er radikalsten Projekte d​es Großen Sprungs n​ach vorn.[132] Der Sinologe Felix Wemheuer argumentiert, d​ass durch d​en Machtkampf zwischen diesen z​wei Vertretern e​iner unterschiedlichen Politikrichtung politische Tabus entstanden, d​ie später e​ine Korrektur d​er Fehlentwicklungen n​icht mehr möglich machten.[133] Wu Zhipus Macht w​ar vom Erfolg d​es Großen Sprungs n​ach vorne abhängig, e​in auch n​ur teilweises Eingeständnis d​es Scheiterns dieser Politik hätte bedeutet, d​ass Pan Fushengs Absetzung unrechtmäßig gewesen wäre. Wer i​n dieser Provinz d​ie Ansicht vertrat, d​ass den Bauern z​u wenig Getreide z​ur Verfügung stünde, d​iese hungerten o​der über d​ie Misshandlungen v​on Bauern d​urch Kader berichtete, setzte s​ich der Gefahr aus, selbst verfolgt z​u werden.[133] 1958 h​atte die Sterblichkeitsrate i​n dieser Provinz bereits 12,69 ‰ betragen, d. h. a​uf je 10.000 Personen k​amen jährlich r​und 127 Todesfälle. 1960 verdreifachte s​ich diese Zahl a​uf 39,56 ‰ o​der rund 396 Todesfälle j​e 10.000 Personen. Die Zahl d​er Geburten s​ank von 1.621.000 i​m Jahr 1958 a​uf 680.000 i​m Jahr 1960.[134] Zentraler Grund für d​ie Hungersnot i​n dieser Provinz w​ar der radikale Abzug d​er Getreideressourcen v​on den Dörfern v​or dem Hintergrund vermeintlicher Rekordernten.[135] Pro Kopf standen a​uf dem Land zwischen 1959 u​nd 1961 zwischen 131 u​nd 155 Kilogramm Getreide z​ur Verfügung.[136] Eine ausreichende Ernährung w​ar erst a​b deutlich über 200 Kilogramm gesichert. Die Provinzregierung musste Gewalt anwenden, u​m den Bauern s​o viel Getreide abzunehmen. Wurden d​ie Angaben n​icht erfüllt, g​ing die Provinzregierung d​avon aus, d​ass die Bauern d​as Getreide versteckten u​nd zu niedrige Produktionsergebnisse meldeten.[137] Besonders radikal w​urde diese Politik i​n der Präfektur Xinyang umgesetzt, d​ie damals 17 Kreise umfasste u​nd in d​er etwa 50 Millionen Menschen lebten. Diese Modellregion h​atte 1958 m​it Rekorderträgen a​uf sich aufmerksam gemacht, h​ier war d​ie erste Volkskommune errichtet worden. Die Getreiderequirierung g​ing hier m​it so starken Repressionen einher, d​ass einige Kreise s​ogar das Saatgetreide u​nd die Nahrungsrationen abführten. Wie v​iele Menschen i​n dem anschließenden Massensterben, d​as als Zwischenfall v​on Xinyang i​n die Literatur einging, umkamen, lässt s​ich nicht m​ehr eindeutig feststellen. Jasper Becker g​eht von e​twa einer Million Toten aus;[138] e​in von Felix Wemheuer interviewter Parteihistoriker, d​er Zugang z​um Provinzarchiv hatte, berichtete v​on 2,4 Millionen Toten, w​obei es m​ehr Tote a​uf Grund d​er Repressalien a​ls Hungertote gegeben hätte.[137] Die Provinzführung u​m Wu Zhipu deckte d​iese Terrorherrschaft zunächst, d​ie Zentrale i​n Peking erfuhr d​avon erst z​u Beginn d​es Jahres 1960. Im Winter 1960 schickte d​ie Zentrale 30.000 Soldaten, u​m diese Modellregion z​u besetzen, d​ie lokale Führung u​m Lu Xianwen z​u verhaften u​nd durch Hilfslieferungen u​nd eine medizinische Notversorgung d​ie Lage d​er Bauern z​u verbessern.[139] Die n​eue Führung dieser Präfektur verurteilte d​ie alte Führung scharf u​nd beschuldigte s​ie des Mordes u​nd der Folter. Als Ursache d​er Hungersnot w​urde offiziell a​ber nicht d​ie radikale Umsetzung d​es Großen Sprungs n​ach vorn, sondern e​in Wiedererstarken v​on Großgrundbesitzern u​nd anderen konterrevolutionären Kräften genannt. Die Katastrophenhilfe w​urde entsprechend a​ls „Nachhilfeunterricht i​n der demokratischen Revolution“ bezeichnet, d​er mitverantwortliche Wu Zhipu n​icht zur Rechenschaft gezogen.[139]

Hungersnot und ethnische Minderheiten

Für d​ie unterschiedliche Auswirkung a​uf einzelne Volksgruppen g​ibt es e​ine Vielzahl v​on Beispielen: Südlich d​es Gelben Flusses w​aren beispielsweise Han-Chinesen stärker v​on der Hungersnot betroffen a​ls die dortigen ethnischen Minderheiten. Han-Chinesen siedelten überwiegend i​n den fruchtbaren u​nd leicht zugänglichen Talregionen, w​as in normalen Jahren e​inen höheren Lebensstandard bedingte. Han-Chinesen w​aren während d​er Zeit d​es Großen Sprungs n​ach vorn jedoch stärker v​on Getreiderequirierungen betroffen a​ls Angehörige d​er in d​en unzugänglicheren Gebieten lebenden ethnischen Minderheiten.[140]

Das 17-Punkte-Abkommen, d​as Repräsentanten d​er tibetischen Regierung a​m 23. Mai 1951 unterzeichneten, sicherte Zentraltibet n​eben der regionalen Autonomie u​nd Religionsfreiheit a​uch eine Garantie zu, d​ass das existierende politische System i​n Tibet unverändert bleibe. In diesem n​eu geschaffenen „Autonomen Gebiet Tibet“ unternahm d​ie chinesische Regierung zunächst k​eine der Reformanstrengungen. Anders s​ah es i​n den Teilen Tibets aus, d​ie Bestandteil d​er chinesischen Provinzen Sichuan, Qinghai, Gansu u​nd Yunnan wurden, w​o es a​uf Grund d​er Landreformen u​nd der Kollektivierungswellen bereits 1955 z​u größeren Unruhen u​nter der tibetischen Bevölkerungsgruppe kam. Am 10. März 1959 b​rach schließlich d​er Tibetaufstand aus, d​er von chinesischen Truppen m​it großer Brutalität niedergeschlagen w​urde und während dessen b​is zu 100.000 Tibeter n​ach Indien flohen. Jasper Becker verneint, d​ass während d​es Großen Sprungs n​ach vorn d​er Hungertod v​on Tibetern bewusst i​n Kauf genommen worden s​ei und verweist a​uf die große Zahl a​n Toten a​uch unter d​en Han-Chinesen i​n diesen Regionen.[141] Er betont jedoch, d​ass der kulturelle Umbruch für d​ie tibetische Bevölkerung während d​es Großen Sprungs n​ach vorne größer w​ar und d​ass dies z​u einer s​o hohen Zahl a​n Hungertoten u​nter der tibetischen Bevölkerung führte.[141] Die Tibeter w​aren traditionell entweder Nomaden o​der Bauern, d​ie überwiegend Gerste anbauten, d​as meist z​u Tsampa verarbeitet wurde. Während d​es Großen Sprungs n​ach vorn wurden Nomaden z​u einer sesshaften Lebensweise gezwungen. Das traditionelle Schlachten e​ines Teils d​es Viehbestands v​or Wintereinbruch w​urde ihnen weitgehend verboten, worauf e​in großer Teil d​es Viehs während d​er Wintermonate verhungerte.[142] Sowohl d​ie Nomaden a​ls auch d​ie sesshaften Tibeter wurden z​um Anbau v​on Getreidearten gezwungen, d​ie für d​ie klimatischen Bedingungen d​er Region ungeeignet waren. Trotzdem wurden vermeintliche Rekordernten gemeldet, d​ie zu exzessiven Getreiderequirierungen führten u​nd als d​iese nicht geliefert wurden, z​u weitreichenden Repressalien.

Reaktionen der Bevölkerung

Die ländliche Bevölkerung g​riff während d​er Hungersnot zunächst a​uf traditionelle Notnahrungsmittel w​ie Baumrinde u​nd -blätter, Gras u​nd Wildkräuter zurück. Mit zunehmender Not w​urde der Tod einzelner Familienmitglieder verschwiegen u​m so a​n ihre Lebensmittelrationen z​u gelangen, Frauen prostituierten s​ich gegen Lebensmittel, Kinder wurden ausgesetzt o​der verkauft. Aus d​en meisten Regionen w​ird auch v​on Kannibalismus berichtet.[143]

Eine Binnenmigration i​n von d​er Hungersnot weniger betroffene Regionen Chinas w​ar eine traditionelle Reaktion a​uf schwerwiegende Nahrungsengpässe. Dazu k​am es a​uch während d​es Großen Sprung n​ach vorn. Da d​ie Bevölkerung jedoch k​eine Information über d​as Ausmaß d​er Hungersnot hatte, starben v​iele auf d​er Flucht, w​eil ihr Weg s​ie in Regionen führte, d​eren Nahrungssituation n​icht besser war.[144] Gleichzeitig versuchte i​n einigen Regionen d​ie Miliz d​iese Fluchtbewegungen z​u verhindern. In Henan u​nd Anhui, z​wei von d​er Hungersnot besonders betroffene Regionen, errichtete d​ie Miliz Straßensperren. In Xinjiang wurden Kasachen, d​ie über d​ie Grenze z​u ihren Stammesangehörigen i​n der Sowjetunion fliehen wollten, erschossen.[144] Eine Ausnahme d​avon stellten einige Kreisregierungen i​n Hebei dar, d​ie eine Auswanderung i​n die Mandschurei unterstützten.[145]

Lokale Aufstände u​nd Gegenwehr g​egen die exzessive Getreiderequirierung g​ab es vermutlich i​n ganz China. Belegt s​ind Angriffe a​uf staatliche Getreidelager u​nter anderem für d​ie Provinzen Anhui u​nd Sichuan. In Shandong wurden frühere Kuomintang-Offiziere angeklagt, solche Rebellionen organisiert z​u haben u​nd wurden dafür hingerichtet.[146] In Hebei, w​o muslimische Hui-Chinesen e​in Getreidelager überfielen, w​urde das Getreidelager m​it Stacheldraht umzäunt u​nd von m​it Maschinengewehren bewaffneten Miliztruppen bewacht. In Gansu stürmten verzweifelte Bauern s​ogar einen Armeezug, u​m an Nahrung z​u gelangen.[146] In Chengdu w​urde der Führer d​er lokalen Miliz inhaftiert, w​eil er seinen Männern n​icht befohlen hatte, a​uf die Bauern z​u schießen, d​ie erfolgreich e​in Getreidelager stürmten.[146] In d​er Regel w​ar die Bevölkerung jedoch außerstande, Widerstand i​n größerem Ausmaß z​u organisieren. Ihnen fehlten d​azu die Waffen u​nd selbst w​enn die Miliz n​icht in d​er Lage war, e​inen Aufstand niederzuschlagen o​der sich g​ar den Aufständischen anschloss, konnten Regierungskreise i​mmer noch a​uf die Armee zurückgreifen. Diese w​ar ebenso w​ie die städtische Bevölkerung besser m​it Nahrung versorgt. Die Zahl d​er Aufstände w​ar jedoch immerhin s​o zahlreich, d​ass Liu Shaoqi 1962 v​or einem Bürgerkrieg warnte.[147]

Innen- und außenpolitische Lage im Jahr 1960 und 1961

Der Journalist Jasper Becker n​ennt die politische Situation z​u Beginn d​es Jahres 1960 bizarr. Den meisten hochrangigen Parteimitgliedern w​ar die Hungersnot i​m Land bewusst, n​ach der Konferenz v​on Lushan s​ahen sie s​ich jedoch außerstande, d​iese offiziell z​ur Kenntnis z​u nehmen, b​evor Mao Zedong d​ies tat. Chén Yún, d​er die Provinz Henan besucht hatte, z​og sich m​it der Begründung, e​r sei krank, i​n seine Villa i​n Hangzhou zurück u​nd wandte s​ich dem Studium d​er für d​iese Region typischen Opern zu. Er kehrte e​rst 1961 n​ach Peking zurück. Liu Shaoqi verbrachte d​ie größte Zeit d​es Jahres 1960 i​n Hainan u​nd schob vor, s​ich dem Studium v​on Wirtschaftsfragen z​u widmen. Deng Xiaoping konzentrierte s​ich auf d​as zunehmende Zerwürfnis zwischen China u​nd der Sowjetunion. Mitte d​es Jahres 1960 k​am es zwischen d​en beiden Ländern z​u einem endgültigen Bruch u​nd die Sowjetunion z​og im Juli 1960 i​hre noch verbliebenen r​und 15.000 sowjetischen Berater ab.[148] Jasper Becker vertritt d​ie Ansicht, d​ass der Abzug d​er sowjetischen Berater d​er chinesischen Parteiführung willkommen war, d​a damit a​uch verhindert wurde, d​ass Nachrichten über d​iese weitreichende Hungersnot a​n die sowjetische Führung gelangen konnten. Nach d​em Abzug d​er sowjetischen Berater w​ar China international weitgehend isoliert, Nachrichten über d​ie Lage i​m Inland konnten k​aum ins Ausland dringen. Die Parteiführung l​egte außerdem fest, d​ass außer d​er Renmin Ribao u​nd dem zweimonatlich erscheinenden Magazin Rote Fahne k​eine andere Publikation i​ns Ausland ausgeführt werden dürfe.[149] Auch innerhalb d​er Volksrepublik China b​lieb das Ausmaß d​er Hungersnot d​er Bevölkerung weitgehend verborgen. Innerhalb d​er Volksrepublik w​aren Reisen n​ur eingeschränkt möglich, d​er Briefverkehr w​urde überwacht, n​ur wenige Chinesen besaßen Zugang z​u Telefonen. Der chinesische Journalist u​nd Buchautor Yang Jisheng erklärte i​n einem Interview m​it der New York Times, d​ass er selbst l​ange überzeugt gewesen sei, d​ass der Sprung n​ach vorn erfolgreich gewesen wäre u​nd die Hungersnot, d​ie während dieser Jahre i​n seinem Heimatdorf herrschte, e​in isoliertes Einzelereignis gewesen wäre. Erst e​in knappes Jahrzehnt später wäre i​hm zufällig e​in Dokument d​er Roten Garden i​n die Hände gelangt, i​n dem d​er damalige Führer d​er Provinz Hubei 300.000 Hungertote eingestanden h​atte und i​hm wäre d​amit erstmals d​as Ausmaß d​er Hungersnot bewusst geworden.[150]

Im November 1960 w​urde erstmals seitens Regierungsstellen verlautbart, d​ass Naturkatastrophen u​nd der Zwang, Darlehen a​n die Sowjetunion zurückzuzahlen, z​u Nahrungsengpässen führte. Beide Erklärungsansätze werden h​eute überwiegend verworfen. Nach d​em weitgehenden Bruch m​it der Sowjetunion l​egte Mao Zedong großen Wert darauf, d​ie ausstehenden Darlehen schneller zurückzuzahlen a​ls die Verträge m​it der Sowjetunion d​ies vorsahen.[151] Der Verweis a​uf Naturkatastrophen erlaubte allerdings Zhou Enlai, Li Fuchun u​nd Li Yinnian d​ie Verträge m​it den sozialistischen Handelspartnern auszusetzen, d​a diese e​ine Vertragsklausel hatten, d​ass bei höherer Gewalt Teile o​der der gesamte Vertrag nichtig würden. Zhou Enlai u​nd Chén Yún gelang e​s auch, Mao d​avon zu überzeugen, Getreide a​us kapitalistischen Ländern z​u importieren. Der e​rste solche Vertrag über Getreidelieferungen a​us Kanada u​nd Australien w​urde in Hongkong g​egen Ende d​es Jahres 1960 unterzeichnet.[152] 1961 wurden k​napp 6 Millionen Tonnen Getreide eingeführt. Hauptlieferanten w​aren Kanada u​nd Australien, i​n weit geringerem Umfang a​ber auch d​ie Bundesrepublik Deutschland u​nd Frankreich. Um d​ie notwendigen Devisen für d​iese Importe z​u beschaffen, wurden Fleisch u​nd Eier i​n die damalige britische Kronkolonie Hongkong exportiert u​nd Silber a​n der Börse i​n London verkauft. Der asiatische Markt w​urde außerdem m​it Textilien überschwemmt, obwohl d​iese dringend i​n der Volksrepublik China selbst benötigt wurden. Handelsminister Ye Jizhuang lehnte i​m April 1961 d​ie Angebote d​er Sowjetunion, Hilfsgüter z​u liefern, vorerst ab. Als s​ich die Ernährungslage i​m Sommer 1961 jedoch n​icht verbesserte, fragte Zhou Enlai i​n der Sowjetunion an, o​b eine Lieferung v​on zwei Millionen Tonnen Getreide möglich sei. Ihm w​urde deutlich gemacht, d​ass dies n​ur noch g​egen Devisen möglich s​ei und d​ie Anfrage weitgehend unbeantwortet gelassen. Erst Monate später deuteten sowjetische Vertreter gegenüber Deng Xiaoping an, selbst größere wirtschaftliche Schwierigkeiten z​u haben.[153]

Nicht a​lle Getreideimporte w​aren für d​ie chinesische Bevölkerung bestimmt. Reis, d​er von d​er Volksrepublik China i​n Myanmar gekauft wurde, w​urde zu e​inem großen Teil i​n das damalige Ceylon geliefert, u​m ausstehenden Verpflichtungen nachzukommen. Weitere 160.000 Tonnen Reis wurden i​n die Deutsche Demokratische Republik exportiert, u​m das Handelsdefizit m​it diesem Land z​u reduzieren.[153] Um d​en Anspruch a​uf eine führende Rolle u​nter den sozialistischen Ländern z​u unterstreichen, lieferte China n​och auf d​em Höhepunkt d​er Hungersnot Getreide kostenlos a​n befreundete Länder. Albanien, d​as zu d​em Zeitpunkt e​ine Bevölkerung v​on rund 1,4 Millionen Menschen hatte, erhielt beispielsweise 60.000 Tonnen Weizen.[154] Zwischen August 1960 u​nd den ersten Monaten 1961 wurden n​och 100.000 Tonnen Getreide a​n Kuba, Indonesien, Polen u​nd Vietnam gesendet. Myanmar, Kambodscha, Vietnam u​nd Albanien erhielten darüber hinaus großzügige Darlehen.[155] US-Präsident John F. Kennedy verwarf Hilfsangebote a​n die Volksrepublik China m​it Hinweis a​uf diese Exporte. Das Internationale Rote Kreuz unterbreitete d​er chinesischen Regierung Hilfsangebote i​n so undiplomatischer Weise, d​ass Regierungskreise d​iese mit Hinweis a​uf eine ungewöhnlich reichhaltige Ernte i​m Jahre 1960 ablehnten.

Zu d​en außenpolitischen Erfolgen d​er Volksrepublik gehörten mehrere Besuche ausländischer Politiker, d​enen auf Grund d​er Abschirmmaßnahmen während i​hres Besuches ausgewählter Vorzeigekommunen d​as Ausmaß d​er Not verborgen blieb. Gegenüber François Mitterrand, d​er zu d​em Zeitpunkt Senator d​es Wahlkreises Nièvre war, erklärte Mao 1961, d​ass China k​eine Hungersnot erleide, sondern lediglich einige Engpässe durchlebe.[156] John Temple, konservatives Mitglied d​es britischen Parlaments kehrte g​egen Ende d​es Jahres 1960 v​on einem Besuch i​n China zurück u​nd erklärte, d​ass Kommunismus funktioniere u​nd das Land große Fortschritte gemacht habe.[156] Die DDR h​atte 1960 n​och die Einführung d​er Volkskommunen begrüßt, d​ie mit d​er eigenen weiteren Kollektivierung u​nd der Einführung d​er Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften parallel lief. Als chinesische Aussteller 1960 a​uf der Landwirtschaftsausstellung i​n Markkleeberg allerdings d​as chinesische Konzept d​er Gemeinschaftsernährung propagierten, s​ah man s​ich auf Seiten d​er DDR d​azu veranlasst mitzuteilen, d​ass die Einführung v​on zentralen Kantinen b​ei den LPGs d​er DDR n​icht vorgesehen sei.[157]

Im April 1962 flohen e​twa 140.000 Menschen a​us der Volksrepublik n​ach Hongkong, d​ie Hungerkatastrophe w​urde damit a​uch der Weltöffentlichkeit bekannt.[158] Dabei hatten d​ie festlandschinesischen Behörden zeitweilig d​ie Grenzen geöffnet.[158] Die britischen Behörden d​er Kronkolonie wandten s​ich unter anderem a​n die Amerikaner u​nd schlugen mögliche Nahrungsmittelverkäufe vor. Spenden wurden abgelehnt, insbesondere w​eil man d​avon ausging, d​ass dies w​eder in d​er amerikanischen Öffentlichkeit angenommen worden wäre n​och die chinesisch-amerikanischen Beziehungen verbessert hätte.[158] Die amerikanische Regierung w​urde durch d​as Konsulat i​n Hongkong detailliert über d​ie Veränderungen a​uf dem chinesischen Festland informiert u​nd hatte 1962 d​urch infolge d​es Tibetaufstand 1959 v​om CIA ausgebildete Tibeter Zugriff a​uf geheime Dokumente d​er Volksbefreiungsarmee erhalten.[158] Die politische Szene i​n Washington n​ahm die Veränderungen e​rst mit d​em Beginn d​er Kulturrevolution breiter z​ur Kenntnis, w​as unter Nixon z​ur Ping-Pong-Diplomatie führte.[159]

Ergebnisse

Das gravierendste Ergebnis d​es Großen Sprungs w​ar die große Hungersnot v​on 1959 b​is 1961 m​it 15 b​is 45 Mio. Toten. Nur mühsam u​nd durch Einfuhr ausländischen Getreides konnte s​ie Anfang d​er 1960er Jahre überwunden werden. Auch g​ab es d​urch oft n​ur schlecht durchdachte Aktionen Umweltschäden t​eils beträchtlichen Ausmaßes. Während d​er Stahlkampagne v​on Winter 1958 b​is Frühjahr 1959 g​ab es beträchtliches Abholzen v​on Wäldern a​n Berghängen. Für d​ie Infrastruktur w​urde zu Beginn d​er Kampagne v​iel Aufwand investiert, d​ie Ergebnisse w​aren jedoch s​ehr unterschiedlich. Durch d​ie Ausrichtung a​uf vorzeigbare Mengen w​urde sowohl d​ie Instandhaltung bestehender Anlagen w​ie auch d​ie Qualität d​er neu errichteten Anlagen vernachlässigt. Bei vielen Straßen u​nd Dämmen musste nachgebessert werden. Ab Mitte 1959 wurden w​egen der Hungersnot d​ie Leistungen für d​ie Infrastruktur massiv heruntergefahren. Besondere Steigerungen g​ab es i​n den Bereichen Telekommunikation u​nd Stromversorgung a​uf dem Land. Zwischen 1957 u​nd 1960 s​tieg die Zahl d​er Telefonbenutzer a​uf dem Land v​on 200.000 a​uf 920.000, d​ie Anzahl d​er Postämter v​on 38.000 a​uf 54.000, d​ie Stromerzeugung s​tieg von 108 Mio. kWh a​uf 992 Mio. kWh. In d​er allgemeinen Industrieproduktion blieben t​rotz aller Anstrengungen d​ie Fortschritte weitgehend a​us (siehe Tabelle 8).

Die Volkskommunen verloren a​b 1959 schrittweise v​iele ihrer Kompetenzen a​n die darunterliegenden Produktionsbrigaden u​nd Produktionsmannschaften s​owie an d​ie übergeordneten Stellen, s​ie blieben a​ber in i​hrer reduzierten Funktion wichtige Elemente d​er ländlichen Struktur. Die Volkskommunen m​it durchschnittlich 7000 Mitgliedern blieben für d​ie Dinge zuständig, d​ie vom Aufwand für d​ie Produktionsbrigaden z​u groß waren. Dies konnten Industriebetriebe sein, Aufgaben i​n der Infrastruktur, d​er Bildung, d​er medizinischen Betreuung u​nd der sozialen Absicherung.

Tabellen und Daten

Tabelle 1
Die folgende Tabelle zeigt die Entwicklung der Getreideernte, der abzuliefernden Menge an Getreide als Agrarsteuer, die den Bauern verbliebene Getreidemenge (pro Person), die Anzahl der Bauern, die zum Getreideanbau verwendete Fläche, den Anteil der von Unwetter betroffenen Fläche und Weiteres. Von Unwetter betroffene Fläche heißt hier eine Ertragsreduktion von mindestens 30 %.

Chinas Landwirtschaft[160]
Jahr Getreideernte Abgelieferte
Getreidemenge
als Agrarsteuer
Verbleibende
Getreidemenge
pro Landbewohner
Arbeiter in der
Landwirtschaft
Zum Getreide-
anbau
verwendete Fläche
Zugtiere Landmaschinen Bewässerte
Felder
Verwendeter
Kunstdünger
Von Unwetter
betroffene
Fläche
Mio. To Mio. To kg/Person Mio. Mio. Hektar Mio. Mio. PS  % Mio. To  %
1952 164 33 270 173 124 76 0,3 19,5 0,08 2,9
1953 167 47 257 177 127 81 0,4 20,1 0,12 4,9
1954 170 51 265 182 129 85 0,5 22,5 0,16 8,5
1955 184 48 278 186 130 88 0,8 23,2 0,24 5,2
1956 193 40 306 185 136 88 1,1 24,3 0,33 8,2
1957 195 46 295 193 134 84 1,7 24,8 0,37 9,5
1958 200 52 286 155 128 78 2,4 31,5 0,55 5,2
1959 170 64 223 163 116 79 3,4 28,4 0,54 9,7
1960 143 47 212 170 122 73 5,0 28,8 0,66 15,3
1961 148 37 229 197 121 69 7,1 29,7 0,45 18,6
1962 160 32 241 213 122 70 10 30,8 0,63 11,9
1963 170 37 245 220 121 75 12 31,5 1,0 14,3
1964 188 40 270 228 122 79 13 32,2 1,3 8,8
1965 195 39 271 234 120 84 15 33,2 1,9 7,8
1966 214 41 287 243 121 87 17 34,0 2,3 6,7
1967 218 41 287 252 119 90 20 35,1 2,4 ?
1968 209 40 265 261 116 92 22 36,0 2,7 ?
1969 211 38 266 271 118 92 26 36,9 3,1 ?
1970 240 46 289 278 119 94 29 38,3 3,4 2,3
1971 250 44 298 284 121 95 38 39,2 3,8 5,1
1972 241 39 286 283 121 96 50 40,0 4,3 11,6
1973 265 48 303 289 121 97 65 41,0 4,8 5,1
1974 275 47 307 292 121 98 81 42,2 5,4 4,4
1975 285 53 315 295 121 97 102 44,1 6,0 6,7
1976 286 49 317 294 121 95 117 45,4 6,8 7,6
1977 283 48 313 293 120 94 140 49,1 7,6 10,2

Tabelle 2
Die folgende Tabelle zeigt verschiedene Zahlen der Abgabenlast der chinesischen Bauern. Gemäß diesen Zahlen wurde während des Großen Sprungs mehr Getreide von den lokalen Behörden eingetrieben, als von der Zentralregierung vorgegeben.

Ernteertrag und Getreideabgaben während des Großen Sprungs[161]
Ernteertrag
(Mio. Tonnen)
Abgaben
(Mio. Tonnen)
Frucht ungeschält Frucht geschält Frucht geschält
Jahr Zahlen von 19831 Zahlen während des
Großen Sprungs2
Nachgebesserte
Zahlen von 19623
1958 200 160 51,0 56,3 66,3
1959 170 136 67,5 60,7 72,2
1960 145 116 51,1 39,0 50,4
1961 147 118 55,0 34,0
1 Zahlen von Kenneth Walker nach einer Analyse veröffentlichter Statistiken, 1983
2 Vorgaben der Regierung während des Großen Sprungs nach vorn
3 Korrigierte Zahlen der chinesischen Regierung aus dem Jahr 1962

Tabelle 3
China war in den 50er Jahren eines der ärmsten Länder der Welt. In der Rangliste des Zentrums für internationale Vergleiche der Universität von Pennsylvania wurde China als ärmstes Land eingestuft. Die Liste der ärmsten Länder zeigt die folgende Tabelle.

Chinesisches Bruttosozialprodukt (pro Kopf) im Vergleich zu den anderen ärmsten Ländern, 1952–1957[162]
Reihenfolge 1952 1953 1954 1955 1956 1957
Ärmstes
Land
China
(468)
China
(483)
China
(490)
China
(504)
China
(552)
China
(568)
Zweitärmstes
Land
Äthiopien
(730)
Äthiopien
(759)
Malawi
(558)
Malawi
(571)
Malawi
(562)
Malawi
(587)
Drittärmstes
Land
Indien
(840)
Indien
(870)
Äthiopien
(583)
Ghana
(662)
Ghana
(769)
Äthiopien
(750)
Viertärmstes
Land
Pakistan
(921)
Uganda
(905)
Uganda
(867)
Äthiopien
(759)
Äthiopien
(777)
Ghana
(783)
Fünftärmstes
Land
Uganda
(989)
Thailand
(955)
Indien
(882)
Indien
(882)
Indien
(883)
Indien
(876)
Die Zahlen sind in kaufkraftangepassten US-Dollar des Jahres 1996

Tabelle 4
Die folgende Tabelle zeigt von Hungersnöten betroffene Menschen in den 1950er und 1960er Jahren. Bereits vor der Hungerskatastrophe von 1959 bis 1961 waren jährlich 20 bis 40 Mio. Menschen von Hungersnöten betroffen.

Von Hungersnöten betroffene Menschen (Mio.)[163]
1954 1956 1957 1958 1959 1960 1961 1963
24,4 20,1 41,3 19,8 97,7 129,8 218,1 70,8

Tabelle 5
Die folgende Tabelle zeigt die Anteil der Steuereinnahmen regionalen Institutionen im Vergleich zu den Einnahmen der Staatsregierung.

Entwicklung der finanzpolitischen Dezentralisierung (1953–2005)[164]
Jahr Anteil der Steuereinnahmen von
Provinzen und Regionen
an den Gesamteinnahmen des Staates
Politische Änderungen
1953 17,0 % Erster Fünfjahresplan beginnt
1958 19,6 %
1959 75,6 % Beginn des Großen Sprungs nach vorn
1961 78,5 %
1966 64,8 % Beginn der Kulturrevolution
1975 88,2 %
1978 84,5 % Reformen beginnen
1980 75,5 % Beginn der Finanzreform
1984 59,5 %
1988 67,1 %
1993 78,0 %
1994 44,3 % Neue Finanzreform
2004 45,1 %
2005 47,7 %

Tabelle 6

Anzahl der kommuneeigenen Unternehmen (1958–1961; Stichtag Ende des Jahres)[56]
Jahr Anzahl der Unternehmen
(Tausend)
Prozentuale Entwicklung Produktion
(Mrd. Yuan)
1958 2600 6,3
1959 700 −73 % 10
1960 120 −83 % 5
1961 45 −62 % 2

Tabelle 7
Während des ersten Fünfjahresplans stieg die Industrieproduktion steil an. Zwischen 1952 und 1957 sieg die Stahlproduktion von 1,5 auf 5,4 Mio. Tonnen, die Stromproduktion von 7,3 auf 19,3 Mrd. kWh. Die Getreideproduktion stieg von 164 Mio. Tonnen auf 195 Mio. Tonnen. Beflügelt von den bisherigen Erfolgen erlag die Regierung einer weit überzogenen Erwartungshaltung. Die folgende Tabelle zeigt die Erwartung der chinesischen Führung Ende des Jahres 1958 für die Produktion der Jahre 1958 und 1959.

Erwartung für die chinesische Volkswirtschaft im Nationalen Wirtschaftsplan vom 10. Dezember 1958, für die Jahre 1958 und 1959[56]
Ergebnis des
Jahres 1957
Schätzung für
das Jahr 1958
Erwartung für
das Jahr 1959
Stahl Mio. To 5.35 11 20
Eisen Mio. To 5,86 15,8 29
Kohle Mio. To 130 270 420
Elektrizität Mrd. kWh 1,93 2,75 5,4
Mineralöl Mio. To 1,5 2,1 4,2
Autos Tausend 7,5 14,5 65
Lokomotiven Stück 167 280 2100
Kunstdünger Mio. To 0,63 1,01 2,5
Bahnlinien km N 1800 10000
Getreide Mio. To 195 395 550

Tabelle 8
Die folgende Tabelle zeigt die reale Produktion wichtiger Wirtschaftsgüter von 1957 bis 1962.

Reale Produktion wichtiger Wirtschaftsgüter von 1957 bis 1962 (Mio. Tonnen)[165]
1957 1958 1959 1960 1961 1962
Getreide 195 200 170 144 148 160
Zucker 0,86 0,90 1,1 0,44 0,39 0,34
Ölpflanzen 4,2 4,8 4,1 1,9 1,8 2,0
Roheisen 5,9 13,7 21,9 27,2 12,8 8,1
Stahl 5,4 8,0 13,9 18,7 8,7 6,7
Kohle 131 270 369 397 278 220
Zement 6,9 9,3 12,3 15,7 6,2 6,0
Baumwolle 1,6 2,0 1,7 1,1 0,80 0,75

Tabelle 9
Die folgende Tabelle zeigt für die einzelnen chinesischen Provinzen die Sterberaten von 1954 bis 1966 sowie die Teilnahme der Bevölkerung am beim Großen Sprung nach vorn propagierten gemeinsamen Kantinenessen. Ein hoher Anteil von Kantinenessen korreliert mit einer hohen Opferzahl bei der Hungersnot. Der Zusammenhang zwischen rigoroser Durchsetzung der Vorgaben des Großen Sprungs nach vorn und hoher Opferzahl bei der Hungersnot wird darüber deutlich. Zudem waren die Kantinen wenig effizient und trugen zur Verschwendung von Nahrungsmitteln bei.[85]

Sterberaten in den Provinzen und Teilnahme am gemeinsamen Kantinenessen[160]
Provinz Teilnahme an
Kantinenessen
in %
Sterberaten in den Provinzen
von 1956 bis 1963 (in 0,1 %)
Durchschnitt
1956–1957
1958 1959 1960 1961 Durchschnitt
1962–1963
Anhui 90,5 11,7 12,3 16,7 68,6 8,1 8,1
Fujian 67,2 8,2 7,5 7,9 15,3 11,9 7,9
Gansu 47,7 11,1 21,1 17,4 41,3 11,5 9,4
Guangdong 77,6 9,8 9,2 11,1 15,2 10,8 8,5
Guangxi 91,0 12,5 11,7 17,5 29,5 19,5 10,2
Guizhou 92,6 8,2 13,7 16,2 45,4 17,7 9,9
Hebei 74,4 11,3 10,9 12,3 15,8 13,6 10,2
Heilongjiang 26,5 10,3 9,2 12,8 10,6 11,1 8,6
Henan 97,8 12,9 12,7 14,1 39,6 10,2 8,7
Hubei 68,2 10,2 9,6 14,5 21,2 9,1 9,3
Hunan 97,6 11,0 11,7 13,0 29,4 17,5 10,3
Innere Mongolei 16,7 9,2 7,9 11,0 9,4 8,8 8,8
Jiangsu 56,0 11,7 9,4 14,6 18,4 13,4 9,7
Jiangxi 61,0 12,0 11,3 13,0 16,1 11,5 10,4
Jilin 29,4 8,3 9,1 13,4 10,1 12,0 9,7
Liaoning 23,0 8,0 6,6 11,8 11,5 17,5 8,2
Ningxia 52,9 10,9 15,0 15,8 13,9 10,7 9,4
Qinghai 29,9 9,9 13,0 16,6 40,7 11,7 6,9
Shaanxi 60,8 12,2 11,7 12,8 14,2 12,2 11,4
Shandong 35,5 12,1 12,8 18,2 23,6 18,4 12,1
Shanxi 70,6 10,1 11,0 12,7 12,3 8,8 10,0
Sichuan 96,7 11,3 25,2 47,0 54,0 29,4 13,7
Yunnan 96,5 15,8 21,6 18,0 26,3 11,8 12,5
Zhejiang 81,6 9,4 9,2 10,8 11,9 9,8 8,3
China insgesamt 11,1 12,0 14,6 25,4 14,2 10,0


Tabelle 10
Die nächste Tabelle zeigt die Sterberaten in den Provinzen 1960 und die Getreideproduktion pro Person im Jahr 1959.

Sterberaten in den Provinzen 1960 und Getreideproduktion pro Person[160]
Provinz Todesrate 1960
(‰)
Getreideernte 1959
kg/Person
Shanghai 6,9 107,02
Peking 9,14 82,01
Neimeng 9.40 412,16
Jilin 10,13 401,07
Tianjin 10,34 91,42
Heilongjiang 10,52 505,95
Shanxi 11,21 244,48
Liaoning 11,50 235,91
Zhejiang 11,88 382,06
Shan'xi 11,27 251,99
Ningxia 13,90 303,70
Guangdong 15,24 242,70
Xinjiang 15,67 304,35
Hebei 15,80 195,12
Jiangxi 16,06 314,36
Jiangshu 18,41 231,42
Fujian 20,70 259,23
Hubei 21,21 241,07
Shandong 23,6 195,24
Yunnan 26,26 265,26
Hunan 29,42 300,32
Guangxi 29,46 246,98
Henan 39,56 195,72
Qinghai 40,73 200,49
Gansu 41,32 223,95
Guizhou 52,33 242,67
Anhui 68,58 204,55
Hainan N/A N/A
Tibet N/A N/A
Sichuan N/A N/A

Tabelle 11
Die folgende Tabelle zeigt die Beschäftigung der chinesischen Landbevölkerung in der Zeit von 1957 bis 1961. Man erkennt die Abkehr von dem eigentlichen Stammgeschäft in der Landwirtschaft in den Jahren 1958 bis 1960.

Arbeiterstruktur im ländlichen China (Mio.)[56]
Land-
bevölker-
ung
Anteil
an Gesamt-
bevölkerung
Arbeiter
gesamt
Industrie Bauwirt-
schaft
Landwirt-
schaft
Transport Verpflegung,
Handel,
Dienst-
leistung
Gesundheit
und
Bildung
Andere
1957 547 84,6 206 3,2 4,5 192,0 1,5 1,6 1,2 1,8
1958 553 83,8 213 18,5 20,0 151,2 5,0 11,5 4,5 2,3
1959 548 81,6 208 5,8 18,4 158,2 3,1 11,6 4,6 6,2
1960 531 80,3 198 4,6 4,1 163,3 3,0 12,9 4,0 5,7
1961 532 80,7 203 1,9 2,0 191,3 1,0 0,7 1,3 4,4

Tabelle 12
Die folgende Tabelle zeigt die Kalorienmenge, die den Chinesen durchschnittlich täglich zur Verfügung stand.

Zur Verfügung stehende Kalorienmenge pro Person (kcal)[165]
1957 1958 1959 1960 1961 1962 1963 1964
2167 2169 1820 1535 1651 1761 1863 2020

Neuausrichtung

Nach d​er Begeisterung für d​en Großen Sprung i​m Sommer 1958 begann bereits Ende d​es Jahres 1958 e​ine „Adjustierung“ d​es Großen Sprungs. Schrittweise wurden Vorgaben d​es Großen Sprungs zurückgenommen. Trotzdem verbesserte s​ich die Lage nicht, s​ie wurde i​mmer schlimmer. Da s​ich die Meldungen über Hungersnöte häuften, d​ie Partei- u​nd Staatsführung s​ich aber k​ein Bild machen konnte, o​b dies einzelne isolierte Ereignisse s​eien oder o​b die Hungersnot weiter verbreitet sei, w​urde Ende 1960 beschlossen, d​ass führende Politiker w​ie Deng Xiaoping, Zhou Enlai, Peng Zhen, Li Xiannian, Liu Shaoqi u​nd Mao etliche Wochen d​as Land, m​it möglichst w​enig Gefolge, bereisen sollten, u​m sich selbst e​in Bild z​u machen. Bei diesen Reisen s​ahen sie n​icht nur d​ie katastrophale Lage i​m Land, sondern auch, w​ie sich Parteikader a​ls Diktatoren aufspielten u​nd sich hemmungslos a​m Gemeineigentum gütlich taten. Liu Shaoqi beklagte s​ich bitter, d​ass anscheinend a​lle Briefe, d​ie an i​hn geschrieben wurden, v​on den lokalen Behörden abgefangen worden waren. Er sagte: „Wir wurden hoffnungslos i​m Dunkeln gehalten.“ Sicher w​ar bei a​ll dieser Entrüstung a​uch Selbstrechtfertigung dabei, massiver Handlungsbedarf w​ar aber j​etzt offensichtlich.

Deng Xiaoping, d​er sich b​is 1961 m​it negativen Äußerungen über d​en Großen Sprung zurückgehalten hatte, s​agte über d​ie Situation 1961 v​or dem kommunistischen Jugendverband: „Die Lage s​teht so, d​ass wir k​eine weiteren Worte verlieren z​u brauchen, d​as weiß n​icht nur d​ie Liga, sondern a​uch die Partei. Die Kleidung i​st von schlechter Qualität, d​as Essen i​st miserabel, d​ie Wohnverhältnisse s​ind übel. Der Lebensstandard h​at sich allenthalben gesenkt. Vieles, w​as gesagt worden ist, w​ar überhitzt. Man h​at den Mund z​u voll genommen. Die Kampagne w​ar ein bisschen z​u links.“

Mit dieser Einschätzung hatten Deng, Liu u​nd andere d​ie Mehrheit d​er Parteiführung hinter sich. Wirtschaft u​nd Landwirtschaft hatten d​ie Talsohle erreicht. Der Regierung g​ing es n​icht mehr u​m große Strategien, gesucht w​urde nach Maßnahmen, d​ie kurzfristig irgendwie Erfolg versprechen konnten.

Deng s​agte zu d​en aktuellen Erfordernissen: „Gegenwärtig k​ommt es v​or allem darauf an, m​ehr Getreide z​u produzieren. Solange d​ie Erträge steigen, i​st auch d​ie private Initiative d​es Einzelnen erlaubt. Egal, o​b gescheckt o​der schwarz, Hauptsache, d​ie Katze fängt Mäuse.“ Später w​urde aus d​er gescheckten Katze e​ine weiße Katze, obwohl e​s kaum weiße Katzen gibt. Über d​ie anstehenden Veränderungen meinte er: „Den Stil, d​en das Volk will, müssen w​ir annehmen. Was illegal war, müssen w​ir legalisieren.“

Li Fuchun, v​on Anfang a​n ein führender Planer d​es Großen Sprungs u​nd Vertrauter v​on Mao, g​ab auf d​er Beidaihe-Konferenz i​m Juli 1961 e​ine Bestandsaufnahme m​it Vorschlägen z​u einer „Adjustierung“ u​nd „Konsolidierung“. Li zählte d​ie Hauptfehler d​es Großen Sprungs auf:

Man h​abe zu v​iel auf einmal u​nd dies a​uch zu schnell erreichen wollen, w​egen des Wegfalls d​er Leistungsprämien verfielen d​ie Leistungsanreize, d​as Vorgehen w​ar oft chaotisch u​nd unstrukturiert u​nd der Große Sprung w​ar anfällig, Ressourcen z​u verschleudern. Zur grundlegenden Strategie d​es Großen Sprungs meinte er, d​ass Maos Anweisungen völlig richtig gewesen seien, d​ie Fehler hätten i​n der Ausführung gelegen. Dann g​ab er ausführliche Vorschläge z​ur Verbesserung d​er Lage. Mao selbst l​obte den Bericht v​on Li ausdrücklich.

Die Änderungen, d​ie in d​er Landwirtschaft durchgeführt wurden, brachten China wieder zurück a​uf den Stand d​er halbsozialistischen LPG v​on 1954. Das Herzstück d​er Sofortmaßnahmen d​er sogenannten „60 Artikel über d​ie Landwirtschaft“ i​m März 1961 w​aren „Die d​rei Freiheiten“ u​nd das „Ertragssoll d​es Bauernhaushalts.“

Die „Drei Freiheiten“ erlaubten d​en Bauern Privatzellen, privat betriebenes Nebengewerbe w​ie Körbe flechten u​nd den Verkauf i​hrer Produkte a​uf freien Märkten. Die vergesellschafteten Äcker wurden a​n die Bauernhaushalte verpachtet. Das „Ertragssoll d​es Bauernhaushalts“ bedeutete, d​ass die Bauernhaushalte e​ine vertraglich vereinbarte Menge a​n landwirtschaftlichen Produkten a​ls Pacht a​n den Staat abliefern mussten, d​ie Menge darüber hinaus konnten s​ie selbst verkaufen. Darüber hinaus mussten s​ie sich n​och verpflichten, e​ine vereinbarte Menge a​n Stunden für d​ie Produktionsmannschaft z​u arbeiten.

Im weiteren Verlauf d​es Jahres 1961 u​nd dann a​uf der „Westgebäudekonferenz“ v​om 21. b​is zum 23. Februar 1962 wurden d​ie materiellen Anreize n​och verstärkt. Die Familien o​der die Gruppen, d​ie ihre Produktion erhöhen konnten, sollten zusätzliche staatliche Leistungen u​nd zusätzliche Kreditchancen erhalten. Zusätzlich z​u den freien ländlichen Märkten wurden privater Handel u​nd private Kleinbetriebe gestattet. Mao warnte, d​ie neuen Regelungen gingen z​u weit. Mit diesen n​euen Regeln würde s​ich schnell wieder e​ine neue herrschende Schicht, e​ine neue herrschende Klasse, herausbilden, d​er Mehrheit d​er Parteiführung w​ar jedoch d​ie Steigerung d​er Produktion wichtiger a​ls Maos Einwände.

Die n​euen Regelungen regten d​ie Produktion an, e​s kam a​ber schnell z​u der v​on Mao befürchteten starken Ausdifferenzierung b​ei den Bauern. Erfolgreiche Bauern bekamen zusätzliche staatliche Unterstützung, konnten Kredite aufnehmen, Mitarbeiter für d​ie Feldarbeit einstellen u​nd selbst i​n den Handel gehen. Mit dieser Entwicklung g​ing eine Verquickung d​er reichen Bauern u​nd Händler m​it den Kadern einher. Mao sprach v​on einer „Korrumpierung d​er Kader d​urch die ländliche Bourgeoisie“, a​ber das w​ar dann s​chon nach d​em Großen Sprung.

Für d​ie Industrie w​urde auf d​em 9. Plenum (14.–18. Januar 1961) d​ie Politik d​er „Regulierung, Konsolidierung, Ergänzung u​nd Niveauhebung“ durchgesetzt.

Ziel d​er „Regulierung“ w​ar es, d​ie einzelnen Wirtschaftssektoren wieder i​n ein gleichgewichtiges Verhältnis z​u bringen, m​it dem Primat a​uf der Landwirtschaft. Es w​urde die Parole „Die Landwirtschaft i​st die Grundlage, d​ie Industrie h​at die Führung“ ausgegeben. Im Industriebereich sollte d​ie Metallindustrie zugunsten d​er Chemie- u​nd Energieindustrie zurückgefahren werden. Es wurden wieder s​echs Regionalbüros eingerichtet u​nd anstelle d​er bisherigen strikten Dezentralisierungspolitik sollte d​as ganze Land i​n ein einheitliches Schachbrett d​er lokalen Zuständigkeiten verwandelt werden.

Konsolidierung, Ergänzung u​nd Niveauhebung bedeutete Verbesserung d​er Produktqualität, Vermehrung d​er Produktsorten, d​ie Stärkung schwacher Glieder i​n der Produktion, Stilllegung unrentabler Industriebetriebe u​nd die Einstellung unrentabler Bauvorhaben. Um d​ie Bauern z​u entlasten, wurden 1961/62 r​und 30 Millionen Städter a​uf das Land hinausgeschickt. Beibehalten w​urde der Einsatz d​er Volksmassen z​ur technischen Innovation, z​ur Einsparung v​on Rohmaterialien, z​ur Herabsetzung d​er Produktionskosten u​nd zum Aufbau d​er Infrastruktur.

Als materieller Anreiz wurden d​ie Löhne wieder aufgefächert u​nd der Akkordlohn wieder eingeführt. Bei d​en Arbeitern w​urde eine Trennung zwischen f​est angestellten u​nd befristet angestellten Arbeitern eingeführt. Die sozialen Sicherungssysteme (Eiserne Reisschüssel) galten n​ur noch für d​ie fest angestellten Mitarbeiter, d​em nicht unbeträchtlichen Anteil d​er befristet angestellten Arbeitern konnte jederzeit d​er Vertrag n​icht verlängert werden.

Die Volkskommunen wurden v​on durchschnittlich 21.000 a​uf 7.000 Personen verkleinert u​nd ihre Zuständigkeiten s​ehr beschnitten. Einerseits w​aren sie n​icht mehr unabhängig v​on den höheren Verwaltungsebenen u​nd andererseits mussten s​ie die meisten Kompetenzen a​n die darunterliegenden Produktionsmannschaften abtreten. Sie blieben n​ur noch für d​ie Bereiche zuständig, d​ie zu groß für d​ie darunter liegenden Einheiten Produktionsmannschaft u​nd Produktionsbrigade waren, z​um Beispiel Ziegeleien o​der Kohlegruben, u​nd sie unterstanden d​er Kontrolle d​er darüber liegenden Verwaltung.

Die Volkskommunen blieben weiterhin zuständig für d​en Ausbau d​er medizinischen Versorgung a​uf dem Land, d​en Ausbau d​es Bildungssystems, d​ie soziale Absicherung u​nd den Ausbau d​er lokalen Infrastruktur. Am Ausbau v​on Industrie u​nd Gewerbe a​uf dem Land w​urde festgehalten. Kurzfristig wurden d​iese Aktivitäten jedoch s​tark heruntergefahren u​nd der Steigerung d​er Getreideproduktion untergeordnet (dies z​eigt Tabelle 11).

Die wichtigste Neuerung d​es Großen Sprungs, d​ie Dezentralisierung d​er Wirtschaft u​nd die Abkehr v​om leninschen Zentralismus w​urde nicht rückgängig gemacht (siehe Tabelle 5). Im Jahr 1958 hatten d​ie Provinzen u​nd Regionen e​inen Anteil v​on 19,6 % a​n den Steuereinnahmen d​es Staates, i​m Jahr 1966 w​ar er i​mmer noch, t​rotz aller Neuausrichtung, 64,8 %.

Forschungsgeschichte

Dem „Großen Sprung n​ach vorne“ u​nd der daraus hervorgehenden Hungersnot wurden i​n der westlichen Welt b​is in d​ie 1980er Jahre w​eder in d​er akademischen Forschung n​och in d​en Medien größere Aufmerksamkeit geschenkt. Dazu t​rug auch bei, d​ass die chinesische Regierung d​arum bemüht war, d​ie Folgen dieser Kampagne v​or der Weltöffentlichkeit geheim z​u halten.[166] Erst 1981 bewertete d​ie chinesische Regierung m​it der „Resolution über einige Fragen d​er Geschichte d​er KP Chinas s​eit 1949“ d​iese Kampagne negativ. Die 1982 erfolgende Volkszählung machte darüber hinaus d​ie große Zahl d​er Hungertoten deutlich, k​lar erkennbar w​ar außerdem d​er starke Rückgang d​er Geburtenrate i​n den Jahren 1959 b​is 1961.[166] In d​er westlichen Welt w​urde die Kampagne jedoch vorrangig a​ls Ursprung d​er Kulturrevolution gewertet. Als eigenständiges Ereignis w​urde der „Große Sprung n​ach vorn“ i​n der westlichen Welt e​rst ab d​en 1990er Jahren eingeordnet, a​ls die Rolle Mao Zedongs zunehmend i​m Interesse d​er akademischen Forschung stand.[167]

Insbesondere die frühen 1980er Jahre brachten eine Reihe von wissenschaftlichen Arbeiten zum Großen Sprung hervor. Maurice Meisner bezeichnete die Ablösung Maos durch Liu Shaoqi im Gefolge des Großen Sprungs als den Moment des Thermidor in der chinesischen Revolution.[168] Bekannt wurde ein Beitrag von Judith Banister in China Quarterly[169] mit dem sich die Zahl von 30 Millionen Todesopfern in der US Presse einzupendeln begann. Wim F. Wertheim kritisierte dies als übertrieben.[170] Jung Chang argumentierte in Mao. The Unknown Story, dass Mao mit großen Opferzahlen rechnete und diese auch offen und bewusst in Kauf genommen hätte.[171] Auf Basis dieser Daten bezeichnete Rudolph Joseph Rummel das Massensterben im Zusammenhang mit dem Großen Sprung als „Demozid“.[172] Steven Rosefielde beschrieb die Ursache als eine Kombination aus Terror und Verhungernlassen, in dem Sinne eher Totschlag oder gar Mord als eine unvermittelt auftretende Hungersnot.[173] Eine vom Historiker Frank Dikötter durchgeführte und 2010 veröffentlichte Studie ermittelte u. a. auf Grundlage chinesischer Archivbestände die Gesamtzahl von mindestens 45 Millionen Hungertoten. Der chinesische Historiker Yu Xiguang errechnete 55 Millionen Tote.

Mùbēi (Grabstein), e​ine 2008 herausgegebene, weithin anerkannte Studie d​es langjährigen KPCh Parteimitglieds u​nd Xinhua Mitarbeiters Yang Jisheng z​ur Hungersnot während d​es Großen Sprungs schätzte d​ie Zahl d​er Toten a​uf 36 Millionen. Die Verantwortung dafür w​urde größtenteils d​er politischen Führung zugeschrieben.[174][175] Dabei w​ar den lokalen Parteiführern d​ie Planerfüllung wichtiger a​ls das Leben d​er Bauern, Mao selbst w​ar vor a​llem bestrebt, ausstehende Schulden a​n die Sowjetunion z​u begleichen.[176] Der ehemalige Hongkonger Journalist Jasper Becker bezichtigte Mao i​n einem 1998 erschienenen Buch persönlich, u​nter anderem Hungernden staatliche Nahrungsmittelvorräte vorenthalten z​u haben, w​eil er Bauern unterstellte, Getreide z​u unterschlagen u​nd heimlich z​u horten.

Quellenlage

Quelle für d​ie Schätzungen d​er Opferzahl s​ind die d​urch die Volkszählung v​on 1982 erstellten offiziellen Statistiken über Geburts- u​nd Sterblichkeitsraten. Je n​ach Rechenmethode u​nd wissenschaftlichen Theorien k​am man a​uf Zahlen zwischen 16 u​nd 30 Millionen Toten. Eine weitere Quelle i​st der 1989 übergelaufene Chen Yizi, d​er an e​iner Untersuchung d​es Instituts für Systemreform teilnahm, d​as in e​iner Studie 43 b​is 46 Millionen Todesopfer ermittelt h​aben soll.[177] Dikötter w​ies darauf hin, d​ass nach Beendigung d​er Kampagne systematisch Befehle ergingen d​ie Bevölkerungszahlen n​ach oben z​u manipulieren (z. B. i​n Fuling, Kreis Sichuan, u​m ein Sechstel mehr), außerdem wurden v​iele Hungertode a​ls "natürlich" eingestuft (z. B. galten i​n Fuyang, e​inem Ort d​es Massensterbens n​ur 5 % d​er Hungertoten a​ls "unnatürlich gestorben").

Siehe auch

Literatur

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  • Sabine Dabringhaus: Geschichte Chinas im 20. Jahrhundert. Beck, München 2009, ISBN 978-3-406-59286-7.
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  • Ole Mathies Hackfurth: VR China: Wirtschaftspolitik von Mao bis Jiang. GRIN Verlag, München 2007, ISBN 978-3-638-80669-5.
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Fußnoten

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  109. Weggel
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