Kalifat
Als Kalifat (arabisch خلافة, DMG ḫilāfa „Nachfolge“) bezeichnet man die Herrschaft, das Amt oder das Reich eines Kalifen, also eines „Nachfolgers“ oder „Stellvertreters des Gesandten Gottes“ (خليفة رسول الله, ḫalīfat rasūl Allāh). Es stellt somit eine islamische Regierungsform dar, bei der die weltliche und die geistliche Führerschaft in der Person des Kalifen vereint sind. Bereits Mohammeds Staat in Medina basierte auf einem theokratischen Modell: Mohammed, der Religionsstifter des Islam, war sowohl der Führer der religiösen Bewegung als auch der Herrscher über den Machtbereich, in dem diese Religion ausgelebt wurde.
In der Form خليفة الله (ḫalīfat Allāh), also „Stellvertreter Gottes [auf Erden]“ existiert der Kalifen-Titel seit den ab 661 regierenden Umayyaden.[1] Da gemäß Sure 112 (al-Ichlās) jedoch kein Mensch Gott gleich sein könne – nicht einmal das Oberhaupt aller Muslime –, steht diese Interpretation des Kalifats nach Ansicht vieler Muslime im Widerspruch zur Lehre Mohammeds.
Kalifat der vier „rechtgeleiteten Kalifen“
Mohammed hatte keine männlichen Nachkommen – einer oder mehrere leibliche Söhne waren im Kindesalter gestorben, ein Adoptivsohn fiel in der Schlacht. Nur seine Tochter Fatima und möglicherweise einige weitere Töchter (die Überlieferung ist hier nicht eindeutig) überlebten ihren Vater, hatten aber selbst zum Zeitpunkt von Mohammeds Tod noch keine Söhne im ausreichenden Alter, um eine Führungsrolle zu übernehmen. Der Prophet hatte weder einen Nachfolger bestimmt noch eine Prozedur zu dessen Wahl festgelegt. Nach seinem Tod 632 trafen sich die muslimischen Führer der Gemeinden. Ein Teil von ihnen vertrat die Meinung, Mohammed habe seinen Vetter ʿAlī ibn Abī Tālib zu seinem Nachfolger auserkoren. Der Großteil der Muslime war davon nicht überzeugt und legte erste Richtlinien für eine Nachfolge fest. Demnach musste der Nachfolger des Propheten ein Araber aus dem Stamme Mohammeds, der Quraisch, sein, der zum einen für die Einhaltung der Regeln des islamischen Glaubens und zum anderen für die Verbreitung des Islam verantwortlich war. Die Mehrheit der muslimischen Führer wählte Abū Bakr, den Vater von Mohammeds Lieblingsfrau Aischa, zum Nachfolger des Propheten. Er nahm den Titel chalifat rasuli llah an.
634 wurde ʿUmar ibn al-Chattāb zum zweiten Kalifen gewählt und führte zudem den Kalifentitel Amīr al-Mu'minīn (أمير المؤمنين, „Befehlshaber der Gläubigen“) ein. In seiner Amtszeit setzte die islamische Expansion ein, und den Muslimen gelang es, ihren Einfluss auf Syrien (635–636), Mesopotamien (636) und Ägypten (639–642) auszudehnen. Nach ihrem Sieg bei Nihawand südlich von Hamadan brach das Reich der Sassaniden im Iran endgültig auseinander.
ʿUthmān ibn ʿAffān, ein Schwiegersohn Mohammeds, wurde 644 zum dritten Kalifen gewählt. Bedeutung erlangte seine Regierungszeit vor allem durch die endgültige Abfassung des Koran. Er setzte aber auch die Expansionen seines Vorgängers fort. So wurden 647 Tripolitanien (heute Libyen) und weitere Teile des Iran erobert sowie erste Vorstöße nach Anatolien unternommen. Mit der Zeit machte sich Uthman durch die Bevorzugung seiner umayyadischen Sippe bei der Ämter- und Beuteverteilung etliche Feinde, insbesondere unter den Heerführern und den Muslimen der eroberten Gebiete. 656 wurde er von aufständischen Muslimen aus Ägypten und dem Irak in Medina ermordet.
Uthmans Gegner waren vor allem die Anhänger des Ali ibn Abi Talib, die späteren Schiiten. Diese und die aufständischen Führer wählten Ali nun zum Kalifen. Doch Muawiya, der Statthalter von Syrien aus der Sippe der Umayyaden und damit ein Verwandter Uthmans, verweigerte die Gefolgschaft. Es kam zum Ausbruch von Kämpfen. Nach der Schlacht von Siffin einigte man sich auf Verhandlungen. Eine Gruppe von Muslimen, die späteren Charidschiten, sah darin eine Postenschacherei und eine große Schande und verließ das Lager Alis. 661 fiel Ali einem Attentat dieser Gruppe zum Opfer. Sein Sohn Hasan verzichtete auf seinen Herrschaftsanspruch, als er die Übermacht der Umayyaden erkannte.
Ali war der letzte gewählte Kalif. Muawiya führte während seiner Herrschaft die Erbfolge ein und begründete somit die erste Kalifen-Dynastie (die der Umayyaden in Damaskus). Seither wurden die proklamierten Nachfolger zum neuen Kalifen, oder der Titel ging durch Kriege auf andere Herrscher über. Hasans Bruder Husain erhob zwar nach Muawiyas Tod Anspruch auf das Kalifat, wurde aber in der Schlacht von Kerbela (680) geschlagen.
Siehe auch Die Ära der rechtgeleiteten Kalifen
Kalifat der Umayyaden
Nach der Machtübernahme der Umayyaden unter Muawiya mussten diese sich auch in der Folgezeit immer wieder gegenüber Oppositionsbewegungen behaupten. Umstritten war dabei die Legitimation der Umayyaden, denen unter anderem vorgeworfen wurde, in der Anfangszeit des Islam zu den heftigsten Gegnern des Propheten Mohammed gezählt zu haben. Nach der Befriedung des Kalifats konnten die Muslime ihre Expansion wieder aufnehmen. So wurden unter Abd al-Malik und al-Walid I. zu Beginn des 8. Jahrhunderts der Maghreb, die Iberische Halbinsel, Transoxanien und das Industal erobert. Damit erreichte das Kalifat seine größte Ausdehnung. Trotz dieser Erfolge dauerte die Opposition vieler Muslime an. Die Schwächung der Umayyaden-Herrschaft durch interne Machtkämpfe ab 744 wurde durch den Aufstand des Abū Muslim verstärkt. Im Jahre 749 übernahm die Dynastie der Abbasiden gewaltsam die Macht.
Kalifat der Abbasiden
Nach dem Sturz der Umayyaden durch die Abbasiden entwickelte sich der Irak mit der neuen Hauptstadt Bagdad zum politischen Zentrum des Kalifats. Zugleich wurde Bagdad, vor allem unter Harun ar-Raschid (786–809), zu einer vor Prunk und Reichtum strotzenden Metropole, wie es in den Geschichten Scheherazades in Tausendundeine Nacht beschrieben wird, und zu einem Zentrum der Kultur und Naturwissenschaften. Im 9. Jahrhundert hatte das Kalifat seine Blütezeit erreicht. Doch die Ausdehnung und die Bürokratie verlangten ihren Preis: Mehr und mehr gaben die Kalifen die politische Macht an Staatsminister, die Wesire und mittlere Beamte ab. Sie selbst sanken schon bald zu bloßen nominellen Herrschern herab, während die faktische Herrschaft bei sich abwechselnden Heerführern in der Hauptstadt oder bei Lokalherrschern lag.
Bereits im 8. Jahrhundert war ein Umayyade nach al-Andalus entkommen, wo er das Emirat von Córdoba begründete. Seit Beginn des 9. Jahrhunderts kam es zur Gründung weiterer Emirate (unter anderem Aghlabiden, Tuluniden, Tahiriden und Samaniden), die nur noch formal der Herrschaft der Kalifen in Bagdad unterstanden. Mitte des 10. Jahrhunderts wurden die Abbasiden auch in Bagdad politisch entmachtet und unterstanden in der Folgezeit der Kontrolle der persischen Buyiden.
Kalifat der Fatimiden
Auseinandersetzung mit den Kalifaten des Westens
Anfang des 10. Jahrhunderts kam es im Westen der islamischen Welt zudem zur Gründung von zwei Gegenkalifaten. Im Jahre 910 ließ sich Abdallah al-Mahdi, der damalige Großmeister der Ismailiten, in Kairuan zum Kalifen ausrufen[2] und begründete damit das Kalifat der Fatimiden. Hierdurch sah sich der damalige umayyadische Emir von Córdoba Abd ar-Rahman III. veranlasst, 929 ebenfalls den Kalifentitel anzunehmen.[3] Damit gab es nun in den Ländern des Islams drei rivalisierende Kalifate. Das umayyadische Kalifat von Córdoba zerfiel allerdings schon 1031 in mehrere Einzelreiche und erlosch schließlich.
Wesentlich gefährlicher wurde den Abbasiden das Kalifat der Fatimiden, die sich selbst als Nachfahren von Ali ibn Abi Talib und dessen Frau Fatima, die der Dynastie auch den Namen gab, darstellten. Sie dehnten ihren Machtbereich bald auf ganz Nordafrika, Syrien/Palästina, Sizilien und Westarabien aus und konnten im 11. Jahrhundert sogar kurzzeitig die Kontrolle über Bagdad erringen.
Die ismailitische Propaganda der Fatimiden und die Bevormundung durch die buyidischen Herrscher unterminierten in der zweiten Hälfte des 10. Jahrhunderts immer stärker die Autorität des abbasidischen Kalifats. Der abbasidische Kalif al-Qādir (reg. 991–1031) startete daraufhin ein ambitioniertes politisches Programm zur Stärkung seiner Autorität. Er ließ keine Gelegenheit aus, um öffentlich die ismailitische Lehre als Ketzerei zu verurteilen und die Fatimiden als Feinde des Islams zu brandmarken. Dadurch, dass sich Anfang des 11. Jahrhunderts zwei aufstrebende türkische Dynastien im Osten, die Ghaznawiden und die Karachaniden, formal in seinen Dienst stellten, gewann das abbasidische Kalifat in dieser Zeit neues Prestige. Eine weitere Macht, die die Abbasiden formal als Oberhaupt anerkannten, waren die türkischen Seldschuken. Sie eroberten in den Jahren nach 1035 vom Nordosten her den Iran und drangen 1055 bis nach Bagdad vor, wo sie die Buyiden verdrängten.
Staatstheoretische Fundierung des Kalifats durch al-Māwardī
In den Rahmen der Anstrengungen der abbasidischen Kalifen um Rückgewinnung ihrer Autorität gehört auch die staatstheoretische Abhandlung, die der schafiitische Gelehrte al-Māwardī (972–1058) für den Kalifen al-Qāʾim abfasste. In dieser Abhandlung mit dem Titel al-Aḥkām as-sulṭāniyya („Die herrschaftlichen Bestimmungen“) wird zum ersten Mal eine umfassende Theorie vom Kalifat entwickelt. Ein zentraler Gedanke ist dabei die Ämterdelegation. Der Kalif, der zu den Quraisch gehören muss, ist als Imam Vorsteher der islamischen Gemeinschaft, dessen Aufgaben sich in allumfassender Weise auf die Bewahrung der Religion (dīn) und die Führung (siyāsa) der weltlichen Angelegenheiten erstrecken. Er kann diese Aufgaben jedoch an verschiedene Amtsträger delegieren, an den Wesir, der eine allgemeine Amtsbefugnis in allen Angelegenheiten hat, den Emir, der als Statthalter in einer Provinz fungiert oder den Dschihad führt, den Qādī, den Stammbaumwächter, den Imam, der für die Durchführung des Ritualgebets verantwortlich ist, den Leiter der Wallfahrt, den Steuerbeamten und den Muhtasib, der von Amts wegen für das „Gebieten des Rechten und Verbieten des Unrechten“ verantwortlich ist. Der Fiktion der Souveränität des Kalifen wird durch eine formelle Anerkennung der Oberhoheit des Kalifen und durch die Erwähnung seines Namens im Freitagsgebet Genüge getan. Das, was in diesem Werk, das von großer Bedeutung für die Folgezeit war, als Emire bezeichnet wird, waren in der Realität die Herrscher der Ghaznawiden und Seldschuken, die die wirkliche Macht in der Hand hatten, aber die formale Oberhoheit des Kalifats anerkannten.[4]
Al-Māwardī knüpfte die Delegation der Macht noch an eine Herrschaft nach der Schari’a. Weil spätere islamische Theoretiker überzeugt waren, dass jede Form von Herrschaft besser sei als Anarchie, legitimierten sie auch reine Gewaltherrschaft, solange die nominelle Oberherrschaft des Kalifen dabei aufrechterhalten werde.
Al-Ghazālī (1058–1111) gab zur Zeit der Seldschukenherrschaft viele der Erfordernisse auf, die al-Māwardī noch für nötig gehalten hatte. Der Kalif solle nicht mehr über die Fähigkeit verfügen müssen, den Dschihad anzuführen, auch Regierungskompetenz (kifāya) sei nicht erforderlich, solange ihm ein kompetenter Wesir zur Seite stehe. Anstelle der Fähigkeit zum idschtihād, das heißt der eigenständigen Interpretation des Rechts, müsse der Kalif lediglich waraʿ, Gottesfurcht, besitzen. Kalif ist in seiner Theorie derjenige, dem der Inhaber der realen Macht (šauka) den Treueid leistet. Umgekehrt ist derjenige, der die reale Macht besitzt und sich dem Kalifen unterstellt, indem er ihn in der Chutba und auf den eigenen Münzen nennt, herrschender Sultan.[5] Mit dieser Theorie legitimierte al-Ghazālī die zu seiner Zeit übliche Praxis.
Die Fatimiden-Dynastie wurde 1171 durch Saladin beseitigt, der Ägypten gleichzeitig in die staatsrechtliche Sphäre des abbasidischen Kalifats zurückführte. Im 12. bzw. 13. Jahrhundert beanspruchten zwar im Maghreb auch die Almohaden und (als Reaktion auf deren Niedergang) die Hafsiden das Kalifat, doch waren die abbasidischen Kalifen die einzigen, deren Stellung als Oberhaupt der islamischen Gemeinschaft auch außerhalb ihres eigenen Herrschaftsgebietes anerkannt wurden. Mehrere Herrscher ließen sich von abbasidischen Kalifen Einsetzungsschreiben geben, um als Sultane anerkannt zu werden, so unter anderem im Jemen der Rasūlide ʿUmar, der sich 1232 von den ägyptischen Ayyubiden unabhängig machte.
Abbasidisches Schattenkalifat von Kairo
Zwar konnten die Kalifen während des 12. Jahrhunderts ihre politische Macht zumindest im Irak zurückgewinnen, doch wurde das Kalifat der Abbasiden 1258 mit der Eroberung Bagdads durch die Mongolen unter Hülegü zerschlagen. Zwei Abbasidenabkömmlingen gelang aber die Flucht nach Ägypten. Mit Hilfe der Mamluken, die über Ägypten herrschten, versuchten sie, Bagdad zurückzuerobern. Nachdem dieser Versuch misslungen war, erhob der az-Zahir Baibars, der nun unangefochtene Anführer der Mamluken in Ägypten, den einzig noch verbliebenen Abbasiden zum Kalifen und ließ sich umgekehrt von ihm den Sultanstitel verleihen. Auf diese Weise erhielt er die religiös-politische Legitimation, die ihm aufgrund seiner Herkunft als Militärsklave noch fehlte.[6]
Die Abbasidenprinzen aus dieser Linie versahen in den folgenden Jahrhunderten ihr weitgehend formales Amt, ein Kalifat ohne herrscherliche Machtbefugnisse, das den Mamlukensultanen jedoch jeweils die notwendige islamische Legitimität verlieh. Dieses abbasidische Schattenkalifat gewann aber immerhin so viel Prestige, dass auch außerhalb des Mamlukenreiches einige Herrscher dem Kalifen in Kairo ihre Huldigung (baiʿa) übermittelten und sich dafür Einsetzungsschreiben von ihm geben ließen. So erkannte zum Beispiel 1283 die Goldene Horde den abbasidischen Schattenkalifen von Kairo als Führer der islamischen Gemeinschaft an.[7] 1497 erkannten auch die Herrscher des Reiches Songhay in Westafrika den Kairiner Kalifen an.
Innerhalb des Mamlukenreiches hatten die abbasidischen Kalifen aber die meiste Zeit nur wenig zu sagen, hier gaben Sultane und Emire der Mamluken den Ton an. Einzelne abbasidische Kalifen wie zum Beispiel al-Mustaʿīn bi-Llāh (amtierte 1404–1416) gelangten allerdings zu solchem Ansehen, dass in ihrem Namen Münzen geprägt wurden.
Auch die Hafsiden sahen sich als Erben der 1258 gestürzten Abbasiden von Bagdad und wurden vorübergehend sogar von den Scherifen von Mekka und dem ägyptischen Mamlukensultan anerkannt.
Kalifat der Osmanen
Anders als die Mamluken setzten unter anderem die Osmanen im 16. Jahrhundert nicht mehr auf eine Legitimation durch die abbasidischen Kalifen. Der letzte abbasidische Kalif wurde 1517 nach der osmanischen Eroberung Kairos nach Konstantinopel verschleppt und dort inhaftiert. Zwar trat in den 1530er Jahren der osmanische Großwesir Lutfī Pascha mit der Behauptung auf, der letzte Abbaside habe den Kalifentitel nach der Eroberung Ägyptens auf den osmanischen Sultan Selīm übertragen, doch haben die Osmanen diesen Anspruch auf das Kalifat nicht weiter verfolgt, weil von islamischen Gelehrten der Einwand kam, dass sie aufgrund ihrer Nicht-Zugehörigkeit zu den Quraisch eine der Voraussetzungen für die Übernahme des Kalifats nicht erfüllten.[8]
Wiederbelebung der Kalifatsidee
Erst in den 1770er Jahren begannen die osmanischen Sultane wieder den Titel des Kalifen für sich zu verwenden. Dies geschah im Rahmen der Verhandlungen zum Frieden von Küçük Kaynarca 1774. Sultan Abdülhamid I. bezeichnete sich bei dieser Gelegenheit als „Imam der Gläubigen und Kalif der Einheitsbekenner“. Auf diese Weise wollte er erreichen, dass er von russischer Seite als Schutzherr der auf russischem Territorium lebenden Muslime anerkannt würde, so wie umgekehrt Russland sich als Schutzmacht der auf osmanischem Territorium lebenden orthodoxen Christen begriff.[9]
Um die Mitte des 19. Jahrhunderts begannen die osmanischen Sultane den Kalifentitel stärker zu betonen, um dadurch die Unterstützung der Muslime außerhalb ihres Machtbereiches zu erlangen. Da es in Indien nach der Mutiny 1857 kein islamisches Staatsoberhaupt mehr gab, fiel dort die Idee eines osmanischen Kalifen als politischem und spirituellem Führer der islamischen Welt auf besonders fruchtbaren Boden. Der Name des herrschenden osmanischen Sultans wurde in den indischen Moscheen nun oftmals in die Freitagspredigt aufgenommen.[10] Der osmanische Sultan Abdülhamid II., der 1876 den Thron bestieg, war ein begeisterter Anhänger des Kalifatsgedankens. Bereits in der unmittelbar nach seiner Thronbesteigung verabschiedeten Verfassung des Osmanischen Reiches heißt es in Artikel 4: „Der Sultan in seiner Eigenschaft als Kalif ist der Schutzherr für die muslimische Religion“. Auch die Muslime in Daghestan erkannten diesen religiös-politischen Anspruch. Als sie während des russisch-osmanischen Krieges von 1877/78 einen Dschihad gegen Russland führten, taten sie dies im Namen des Kalifen.[11]
Als Reaktion auf die Besetzung Anatoliens und Istanbuls durch alliierte Truppen am Ende des Ersten Weltkriegs entstand 1919 in Indien die sogenannte Kalifatsbewegung, die gegenüber den Briten mit der Forderung auftrat, sich für die Erhaltung des osmanischen Kalifats einsetzen zu müssen. Zu ihrem Theoretiker wurde der Gelehrte Abū l-Kalām Āzād. Er forderte entsprechend der klassischen Lehre ein monarchisches Kalifat als spirituelles Zentrum der islamischen Welt mit von ihm eingesetzten islamischen Herrschern in verschiedenen Ländern; der osmanische Kalif sollte allerdings auch politische Macht besitzen.[12]
Umdeutung und Abschaffung des Kalifats
Die Forderungen der indischen Kalifatsbewegung wurden allerdings von den realen Entwicklungen überholt. In dem neuen Nationalstaat Türkei begann Mustafa Kemal Pascha, der Sieger des türkischen Befreiungskampfes, ein umfassendes politisches Reformprogramm. Im Zuge dessen wurde 1922 das osmanische Sultanat durch die Große Nationalversammlung der Türkei abgeschafft und mit Abdülmecit II. ein neuer Kalif eingesetzt, dessen Amt rein auf den repräsentativen Bereich beschränkt wurde. In einem von der Nationalversammlung herausgegebenen Traktat mit dem Titel „Das Kalifat und die nationale Souveränität“ (Hilafet ve Hakimiyet-i Milliye) wurde die Umwandlung damit begründet, dass angesichts der Tatsache, dass der Prophet seine Nachfolge nicht klar geregelt habe, die Muslime die Freiheit hätten, das Kalifat so zu organisieren, wie sie dies für richtig hielten.[13]
Diese Entwicklungen lösten in den arabischen Ländern des Nahen Ostens heftige Diskussionen aus. Raschīd Ridā fasste 1923 ein Traktat zur Kalifatsfrage ab, in dem er die Auffassung vertrat, dass die islamische Gesellschaft unbedingt eines Kalifen bedürfe. Neben der Verteidigung der Muslime sollte dessen Hauptaufgabe darin bestehen, durch Idschtihād die Gesetzgebung auszuüben. Dies sollte er nach Absprache mit einer Körperschaft erfahrener Männer tun, Hütern und Auslegern der Scharia. Das osmanische Kalifat war nach Raschīd Ridās Ansicht nur ein „Not-Kalifat“ gewesen, denn der osmanische Sultan, der kein Arabisch konnte, war für den Idschtihād nicht geeignet. Außerdem stammte er nicht von der Sippe der Quraisch ab, was nach allgemeiner Auffassung eine notwendige Voraussetzung für das Kalifenamt war. Er hatte aber geduldet werden müssen, da es niemanden gab, der besser geeignet gewesen wäre, denn immerhin konnte er die Muslime schützen. Angesichts der Tatsache, dass das osmanische Kalifat vor der Auslöschung stehe, forderte Raschīd Ridā die Gründung eines neuen arabischen Kalifats. Der zukünftige Kalif sollte sich allerdings nicht aus dem Kreise der arabischen Herrscher, sondern der Religionsgelehrten rekrutieren.[14]
Schon zwei Jahre später, im März 1924, schaffte die türkische Regierung das Kalifat mit dem Gesetz Nr. 431[15] vollständig ab. Abdülmecit II. und alle Mitglieder der osmanischen Dynastie wurden des Landes verwiesen.
Nach 1924
Nach Abschaffung des osmanischen Kalifats am 3. März 1924 riefen führende Gelehrte der Azhar-Universität in Ägypten zu einem internationalen Kongress auf, auf dem ein neuer Kalif gewählt werden sollte. Die Initiatoren der Konferenz beabsichtigten, auf der Konferenz den ägyptischen König Fu’ad I. als Kalifen auszurufen.[16] Dem kam jedoch der haschimitische König Husain ibn Ali von Hedschas zuvor: Im März 1924 ließ er sich in Transjordanien von einer Gruppe von ʿUlamā' zum neuen Kalifen ausrufen.[17] Außerhalb der haschimitischen Gebiete (Hedschas, Transjordanien, Irak) wurde sein Kalifat kaum irgendwo anerkannt. Die Ambitionen König Husains zerschlugen sich gänzlich, als der Hedschas im Herbst 1924 von den wahhabitischen Ichwān des saudischen Herrschers Abd al-Aziz ibn Saud überrannt wurde. Husain musste abdanken und verließ das Königreich. Sein Anspruch auf das Kalifat hatte damit keine Grundlage mehr.
Ein Jahr später kam es in Ägypten zu einer heftigen Debatte, als der ägyptische Richter ʿAlī ʿAbd ar-Rāziq ein Buch veröffentlichte, in dem er die Notwendigkeit eines neuen Kalifen in Frage stellte. Er erklärte, weder der Koran noch der Hadith hätten das Kalifat als notwendige Einrichtung bezeichnet, da die Aufgabe Mohammeds eine rein geistliche gewesen sei, während seine politischen Handlungen lediglich für die Umstände seiner Zeit von Bedeutung gewesen seien und nicht in Form des Kalifats fortgeführt werden müssten. Der Widerstand gegen diese Position führte dazu, dass Abd ar-Raziq aus seinem Richteramt entlassen wurde. Als der internationale Kalifatskongress, zu dem die Azhar eingeladen hatte, im Mai 1926 schließlich stattfand, konnten sich die Teilnehmer nicht über den staatsrechtlichen Charakter des Kalifats einigen, und nach diesem Kongress befasste sich keine weitere übernationale Konferenz mehr mit der Kalifatsfrage.[18]
Ein Kalifat existiert seitdem nur noch in verschiedenen islamischen Sondergemeinschaften wie der Ahmadiyya, der Muridiyya und der senegalesischen Tidschaniyya. Nachträglich wird seit den 1960er Jahren[19] auch der Anfang des 19. Jahrhunderts von Usman dan Fodio gegründete Fulani-Staat in Westafrika als Kalifat bezeichnet, nämlich als Kalifat von Sokoto.
Siehe auch
Literatur
- Patricia Crone, Martin Hinds: God's Caliph. Religious Authority in the First Centuries of Islam. 2003, ISBN 0-521-54111-5.
- Bawar Bammarny: The Caliphate State in Theory and Practice. In: Arab Law Quarterly (Brill). Band 31, 2017, Nr. 2, S. 163–186.
- Hamilton A.R. Gibb: Luṭfī-Paşa on the Ottoman Caliphate. In: Oriens. 15, 1962, S. 287–295.
- Mikel de Epalza: Fonction du califat dans la communauté islamique: cas d'Al-Andalus. In: Simon Jargy (Hrsg.): Islam communautaire (al-Umma). Concept et réalités. Labor et Fides, Genf 1984. S. 47–66.
- Yves Thoraval, Ludwig Hagemann, Oliver Lellek (Hrsg.): Lexikon der islamischen Kultur. Nikol, Hamburg 2005, ISBN 3-937872-05-1.
- Stefan Heidemann: Das Aleppiner Kalifat (A.D. 1261). Vom Ende des Kalifates in Bagdad über Aleppo zu den Restaurationen in Kairo. Brill, Leiden 1994, ISBN 90-04-10031-8.
- Elie Kedourie: Egypt and the Caliphate. In: Kedourie (Hrsg.): The Chatham House Version and other Middle Eastern Studies. Praeger, New York 1970.
- Hugh N. Kennedy: The Prophet and the Age of the Caliphates. 2. Auflage. London 2004.
- Hugh N. Kennedy: The Caliphate. A pelican Introduction. Penguin, London, ISBN 978-0-14-198140-6.
- Hugh N. Kennedy: Das Kalifat. Von Mohammed bis zum «Islamischen Staat». Beck, München 2017, ISBN 978-3-406-71354-5.
- Tilman Nagel: Staat und Glaubensgemeinschaft im Islam. Geschichte der politischen Ordnungsvorstellungen der Muslime. 2 Bände. Artemis, Zürich/ München 1981, ISBN 3-7608-4529-0 und ISBN 3-7608-4531-2.
- Janina Safran: The second Umayyad caliphate: the articulation of caliphal legitimacy in al-Andalus. Cambridge, Mass. 2000, ISBN 0-932885-24-1.
- Reza Pankhurst: The Inevitable Caliphate? A History of the Struggle for Global Islamic Union, 1924 to the Present. Oxford University Press, New York 2013, ISBN 978-0-19-932799-7.
Weblinks
Einzelnachweise
- Patricia Crone, Martin Hinds: God's Caliph. Religious Authority in the First Centuries of Islam. 2003.
- Heinz Halm: Das Reich des Mahdi. Der Aufstieg der Fatimiden. München 1991.
- Janina Safran: The second Umayyad caliphate: the articulation of caliphal legitimacy in al-Andalus.. 2000.
- Tilman Nagel: Staat und Glaubensgemeinschaft im Islam. Band I, S. 345–397.
- Hamilton A.R. Gibb: „Constitutional Organization“ in Majid Khadduri and Herbert J. Liebesny (Hrsg.): Origin and Development of Islamic Law Bd. I von Law in the Middle East. Middle East Institute, Washington, DC: 1955. S. 3–27. Hier S. 19.
- zu dieser Episode das Buch von Heidemann.
- Bertold Spuler: Die goldene Horde. Die Mongolen in Rußland, 1223–1502. Harrassowitz, 1943, S. 69.
- Hamilton A.R. Gibb: Luṭfī-Paşa on the Ottoman Caliphate. 1962.
- Tilman Nagel: Staat und Glaubensgemeinschaft im Islam. Band II, S. 177.
- Azmi Özcan: Pan-Islamism. Indian Muslims, the Ottomans and Britain (1877–1924). Leiden 1997.
- Kemal Karpat: The politicization of Islam. Reconstructing identity, state, faith, and community in the late Ottoman state. Oxford 2001, S. 86.
- Gail Minault: The Khilafat movement: religious symbolism and political mobilization in India. New York 1982.
- die französische Übersetzung des Traktats in Revue du Monde Musulman. 59, 1925, S. 5–81.
- Hamid Enayat: Modern Islamic Political Thought. The Response of the Shīʿī and Sunnī Muslims to the Twentieth Century. London 2005, S. 69–83.
- Gesetz Nr. 431 vom 3. März 1924 In: RG. Nr. 63 vom 6. März 1924.
- Martin Kramer: Islam assembled. The Advent of the Muslim Congress. New York 1986, S. 86–105.
- Martin Kramer: Islam assembled. The Advent of the Muslim Congress. New York 1986, S. 83.
- Kramer S. 99ff.
- D. M. Last: Sokoto. In: Encyclopaedia of Islam. 2. Auflage. Band IX, S. 711b.