Völkermord

Ein Völkermord oder Genozid ist seit der Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes von 1948 ein Straftatbestand im Völkerstrafrecht, der durch die Absicht gekennzeichnet ist, auf direkte oder indirekte Weise „eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören“; er unterliegt nicht der Verjährung. Die auf Raphael Lemkin zurückgehende rechtliche Definition dient auch in der Wissenschaft als Definition des Begriffs Völkermord.

Völkermord wird oft als besonders negativ bewertet und etwa als „Verbrechen der Verbrechen“ (englisch „crime of crimes“)[1] oder „das schlimmste Verbrechen im Völkerstrafrecht“[2] umschrieben. Seit dem Beschluss durch die Generalversammlung der Vereinten Nationen 1948 wurde die Bestrafung für Völkermord in verschiedenen nationalen Rechtsordnungen ausdrücklich verankert.

UN-Konvention gegen Völkermord

Am 9. Dezember 1948 beschloss die Generalversammlung der Vereinten Nationen in der Resolution 260 die „Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes(Convention pour la prévention et la répression du crime de génocide, Convention on the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide), die am 12. Januar 1951 in Kraft trat. Die Bundesrepublik Deutschland ratifizierte die Konvention im Februar 1955, Österreich hinterlegte die Beitrittsurkunde am 19. März 1958 und die Schweiz am 7. September 2000. Nach der Konvention ist Völkermord ein Verbrechen gemäß internationalem Recht, „das von der zivilisierten Welt verurteilt wird“.

Grundlage war die Resolution 180 der UN-Vollversammlung vom 21. November 1947, in der festgestellt wurde, dass „Völkermord ein internationales Verbrechen [ist], das nationale und internationale Verantwortung von Menschen und Staaten erfordert“, um der völkerrechtlichen Verbrechen im Zweiten Weltkrieg zu gedenken.

Die Konvention definiert Völkermord in Artikel II als „eine der folgenden Handlungen, begangen in der Absicht, eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören:

a) das Töten eines Angehörigen der Gruppe
b) das Zufügen von schweren körperlichen oder seelischen Schäden bei Angehörigen der Gruppe
c) die absichtliche Unterwerfung unter Lebensbedingungen, die auf die völlige oder teilweise physische Zerstörung der Gruppe abzielen
d) die Anordnung von Maßnahmen zur Geburtenverhinderung
e) die zwangsweise Überführung von Kindern der Gruppe in eine andere Gruppe“

In § 6 des deutschen Völkerstrafgesetzbuches wie auch im schweizerischen Strafgesetzbuch[3] ist die Tat entsprechend der Konvention definiert.

Entstehungsgeschichte

Der Begriff Genozid (Völkermord) wurde 1944 von dem Juristen Raphael Lemkin geprägt. Lemkin befürwortete eine erweiterte Definition des Genozid-Begriffs, die auch Verbrechen gegen soziale, ökonomische und politische Gruppen einschließt. In den frühen Entwürfen der UN-Völkermordkonvention wurde eine solche weitere Definition eingearbeitet die auch Verbrechen gegen soziale und politische Gruppen mit einschloss. Allerdings sorgte die damals stalinistische Sowjetunion und ihre Verbündeten dafür, dass die Endfassung der UN-Völkermordkonvention so eng gefasst wurde, dass stalinistische Verbrechen nicht mehr darunter fielen.[4]

Abgrenzung

„Verbrechen gegen die Menschlichkeit“, „Kriegsverbrechen“, „Völkermord“ und „Holocaust“ werden häufig fälschlicherweise als Synonyme verwendet. Bei den ersten drei Begriffen handelt es sich um Rechtsbegriffe, die zugleich wissenschaftliche Kategorien sind.[5]

  • Verbrechen gegen die Menschlichkeit sind breit angelegte oder systematische Übergriffe auf die Zivilbevölkerung. Im Völkerrecht stellen sie einen Oberbegriff dar, unter den sowohl „Kriegsverbrechen“, „Verbrechen gegen den Frieden“, als auch „Völkermord“ fallen.
  • Kriegsverbrechen sind kriminelle Handlungen, die während eines bewaffneten Konflikts begangen werden und die vor allem gegen die Genfer Konventionen verstoßen.
  • Als Holocaust wird das Vorhaben der Nationalsozialisten im Zweiten Weltkrieg bezeichnet, alle europäischen Juden zu ermorden.

Kennzeichnende Merkmale der Straftatbestände

Zu beachten ist, dass nur die Absicht zur Vernichtung der Gruppe erforderlich ist, nicht aber auch die vollständige Ausführung der Absicht. Es muss eine über den Tatvorsatz hinausgehende Absicht vorliegen, eine nationale, ethnische, rassische, religiöse oder soziale Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören.

Die Handlungen nach Artikel II Buchstaben a) bis e) der Konvention (in Deutschland umgesetzt durch § 6 Abs. 1 Nr. 1 bis 5 VStGB) hingegen müssen tatsächlich (und willentlich) begangen werden. Dies bedeutet insbesondere, dass es nicht vieler Opfer bedarf, damit die Täter sich des Völkermordes schuldig machen. Bloß ihre Vernichtungsabsicht muss sich auf die ganze Gruppe oder einen maßgeblichen Teil von ihr richten. Die Täter erfüllen den Straftatbestand beispielsweise, wenn sie – in dieser besonderen Absicht – einzelnen Gruppenmitgliedern ernsthafte körperliche oder geistige Schäden zufügen oder den Fortbestand der Gruppe verhindern wollen, etwa durch Zwangskastration. Eine Anklage wegen Völkermordes bedarf daher nicht der Ermordung auch nur eines Menschen.

Umgekehrt gilt: Handlungen nach Artikel II Buchstaben a) bis e) der Konvention sind kein Völkermord, wenn ihr Ziel nicht darin besteht, eine Gruppe ganz oder teilweise zu vernichten, egal wie viele Mitglieder getötet oder sonst wie beeinträchtigt werden. Solche Maßnahmen sind ebenfalls kein Völkermord, wenn ihr Ziel darin besteht, eine Gruppe auszurotten, die nicht durch nationale, ethnische, rassische oder religiöse Eigenschaften definiert ist.

Ob auch die tatsächliche Gefahr der Zerstörung einer geschützten (Teil-)Gruppe bestehen muss, ist rechtlich umstritten.[6] Von der Beantwortung dieser Frage hängt ab, ob auf einen isoliert handelnder Einzeltäter, der in der Hoffnung auf eine teilweise oder vollständige Zerstörung der Gruppe handelt, Völkerstrafrecht anzuwenden ist.[7]

Strafverfolgung

Die praktische Bedeutung der Konvention war bis zu den Jugoslawienkriegen sehr gering. Bis dahin gab es nur sehr wenige Anklagen wegen Völkermords. Die erste Verurteilung durch ein internationales Gericht auf der Basis der Konvention erfolgte im September 1998 durch das Akayesu-Urteil des Internationalen Strafgerichtshofs für Ruanda.

Artikel 6 der Konvention geht grundsätzlich vom Territorialitätsprinzip aus, wonach Völkermord vor den Gerichten in den Ländern verfolgt wird, in denen die Tat begangen worden ist. Darüber ist die Zuständigkeit von internationalen Gerichtshöfen vorgesehen, soweit die Vertragsstaaten sich dieser Gerichtsbarkeit unterworfen haben.

In Deutschland ist der Straftatbestand des Völkermordes in § 6 des Völkerstrafgesetzbuches niedergelegt. Gemäß § 1 VStGB gilt für Völkermord das Weltrechtsprinzip, d. h. Taten können auch dann in Deutschland verfolgt werden, wenn sie weder in Deutschland begangen sind noch ein Deutscher beteiligt ist.

Auch nach Schweizer Strafgesetzbuch gilt das Weltrechtsprinzip (Art 264m StGB). Eine parlamentarische Immunität oder ähnliche Schutzklauseln sind nicht anwendbar und schützen vor einer Verurteilung nicht (Art 264n). Selbst die normalerweise angewendete Regel, dass in der Schweiz nicht mehr verfolgt wird, wessen Tat im Ausland verjährt ist oder der dort freigesprochen wurde, ist nur insofern anwendbar, als nicht offensichtlich die ausländischen Gerichte die Tat bewusst verharmlosen. Einen „Freispruch“ durch ein Regime, das Völkermord und ähnliche Verbrechen offensichtlich billigt oder selber begeht, soll damit nicht als abschließendes Urteil anerkannt werden (Art 265m Abschnitt 3).

2011 wurde Pauline Nyiramasuhuko, ehemalige Familien- und Frauenministerin Ruandas, als erste Frau wegen Völkermord und Vergewaltigung als Verbrechen gegen die Menschlichkeit verurteilt.[8][9]

Im Mai 2013 wurde Efraín Ríos Montt, Präsident Guatemalas von 1982 bis 1983, wegen Völkermord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit von einem Gericht in Guatemala zu 80 Jahren Gefängnis verurteilt.[10] Zwar würde er damit als erstes Staatsoberhaupt gelten, das wegen eines Völkermords im eigenen Land von einem einheimischen Gericht verurteilt worden wäre, jedoch wurde das Urteil wenige Tage später vom obersten Gerichtshof Guatemalas aufgrund von Formfehlern aufgehoben. Der neuerliche Prozess wurde im April 2018 eingestellt, da Montt verstorben war.

Laufende Verfahren vor dem Internationalen Strafgerichtshof

Nur der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen kann den Internationalen Strafgerichtshof beauftragen, Ermittlungen und Verfahren wegen Verstößen gegen die Genozid-Konvention aufzunehmen.[11]

Aktuell (2018) ist seit 2005 beim Internationalen Strafgerichtshof lediglich ein Verfahren wegen Völkermord (Genozid) im Darfur-Konflikt (Darfur Sudan) hängig.[12] Haftbefehle zur Festnahme von Omar Hassan Ahmad Al-Bashir, dem Präsidenten der Republik Sudan, wurden 2009 und 2010 verhängt. Die Verhandlung ist ausgesetzt, da der Verdächtige weiterhin flüchtig ist.[13] 2020 gab die sudanesische Übergangsregierung bekannt, Al-Bashir an den IStGH ausliefern zu wollen.[14]

Begriffsgeschichte

19. Jahrhundert

Der Ausdruck Völkermord taucht zum ersten Mal bei dem deutschen Lyriker August Graf von Platen (1796–1835) in seinen „Polenliedern“ auf, und zwar in der 1831 entstandenen Ode Der künftige Held. Er wendet sich gegen die Auflösung des polnischen Staates, den Österreich, Preußen und Russland sich untereinander aufgeteilt haben, und wirbt mit anderen westdeutschen Demokraten, die beim „Hambacher Fest“ 1832 die polnische Nationalfahne neben der deutschen aufgezogen haben, für das Wiedererstehen des polnischen Staates. Im Besonderen geißelt er die Unterdrückungspolitik Russlands, indem er nach der Bestrafung der Dschingiskhane ruft, „Die nur des Mords noch pflegen, und nicht der Schlacht,/ Des Völkermords![15] Für den liberalen ostpreußischen Abgeordneten Carl Friedrich Wilhelm Jordan ist der Ausdruck in Bezug auf die Polen so geläufig, dass er ihn in der Frankfurter Paulskirche am 24. Juli 1848 bei der Diskussion der Polenfrage verwendet, und zwar steigert er ihn noch:

„Der letzte Act dieser Eroberung, die viel verschrieene Theilung Polens, war nicht, wie man sie genannt hat, ein Völkermord, sondern weiter nichts als die Proclamation eines bereits erfolgten Todes, nichts als die Bestattung einer längst in der Auflösung begriffenen Leiche, die nicht mehr geduldet werden durfte unter den Lebendigen.“

Zitiert bei Michael Imhof[16]

Der Historiker Heinrich von Treitschke äußert sich in „Politik. Vorlesungen, 1897–1898“ zum Untergang der Prußen als Urbevölkerung Preußens und sagt:

„Es war ein Völkermord, das lässt sich nicht leugnen; aber nachdem die Vernichtung vollendet war, ist er ein Segen geworden. Was hätten die Preußen [gemeint sind die Prußen] in der Geschichte leisten können? Die Überlegenheit über die Preußen war so groß, daß es ein Glück für diese wie für die Wenden war, wenn sie germanisiert wurden.“

Zitiert bei Wolfgang Wippermann[17]

20. Jahrhundert

Die Bezeichnung Genozid (Neubildung zu altgriechisch genos „Geschlecht, Stamm, Nachkomme, Volksstamm, Volk“[18] und lateinisch caedere in der Bedeutung „töten, morden“)[19][20] hatte bereits eine durch die imperialistische Diskussion des 19. Jahrhunderts geprägte Geschichte, als der polnisch-jüdische Anwalt Raphael Lemkin sie 1943 in einem Gesetzentwurf für die polnische Exilregierung zur Bestrafung der deutschen Vernichtungsaktionen in Polen verwendete als Übersetzung des polnischen ludobójstwo (von lud „Volk“ und zabójstwo „Mord“).

Lemkin suchte spätestens seit 1941 nach einem Wort, das Untaten wie die des Osmanischen Reiches gegen die Armenier und des NS-Regimes treffend umschreibt. Dass er 1933 mit seinem Entwurf das Völkerbund-Gremium auf der Madrider Tagung nicht hatte überzeugen können, führte er auch darauf zurück, dass Worte wie Barbarei und Vandalismus, die er damals gebraucht hatte, solche Taten letztlich beschönigten. Es sollte ein Wort sein, das alle Aspekte gezielter Angriffe auf eine Bevölkerungsgruppe greifbar machen sollte, darunter Maßnahmen wie Massendeportationen, die erzwungene Senkung der Geburtenrate, wirtschaftliche Ausbeutung und die gezielte Unterdrückung der Intelligenzija. Ein Begriff wie „Massenmord“ umfasste all diese Aspekte nicht.[21] Es sollte auch keine Bezeichnung sein, die wie Barbarei und Vandalismus bereits in anderen Zusammenhängen benutzt wurde. Lemkin entwickelte den Begriff „Genozid“, wobei für ihn eine Rolle spielte, dass er sich (anders als Völkermord) in zahlreichen Sprachen in entsprechend abgewandelter Form verwenden ließ. In seinem Buch Axis Rule in Occupied Europe gab er auch eine erste Definition des Begriffes (hier übersetzt): Genozid sei

„ein koordinierter Plan verschiedener Aktionen, der auf die Zerstörung essentieller Grundlagen des Lebens einer Bevölkerungsgruppe gerichtet ist mit dem Ziel, die Gruppe zu vernichten. […] Genozid hat zwei Phasen: Eine erste, bei der die typischen Eigenschaften und Lebensweisen der unterdrückten Gruppe zerstört werden, und eine zweite, bei der die Eigenschaften und Lebensweise der unterdrückenden Bevölkerungsgruppe der unterdrückten aufgezwungen werden. Diese Aufzwingung wiederum kann erfolgen, indem die unterdrückte Bevölkerungsgruppe bleiben darf, oder sie wird sogar nur dem Gebiet allein aufgezwungen, indem die Bevölkerung beseitigt wird und eine Kolonisierung dieses Gebiets durch die unterdrückende Bevölkerungsgruppe folgt.“

Die Bezeichnung genocide wurde im englischen Sprachraum schnell gebräuchlich, nachdem mehrere US-amerikanische Zeitungen ihn verwendet hatten, als sie gegen Ende des Jahres 1944 begannen, ausführlich über die nationalsozialistischen Massenverbrechen in Europa zu berichten. Das ist zum Teil auf das direkte Einwirken von Lemkin zurückzuführen. So überzeugte er Eugene Meyer, den Herausgeber der Washington Post, dass allein diese Bezeichnung passend für diese Untaten sei. Tatsächlich erschien im Dezember 1944 in der Washington Post ein Leitartikel, in dem genocide als einziges passende Wort bezeichnet wurde, mit dem beschrieben werden könne, dass zwischen April 1942 und April 1944 insgesamt 1.765.000 Juden in Auschwitz-Birkenau durch Gas getötet und verbrannt worden waren. Es wäre falsch, führte der Artikel weiter aus, dafür die Bezeichnung atrocity („Gräueltat“) zu verwenden, denn darin schwinge auch immer ein Unterton von Ungerichtetheit und Zufälligkeit mit. Der entscheidende Punkt aber sei, dass diese Taten systematisch und gezielt gewesen seien. Gaskammer und Krematorien seien keine Improvisationen, sondern gezielt entwickelte Instrumente für die Auslöschung einer ethnischen Gruppe.[23]

Das Webster’s New International Dictionary nahm vergleichsweise schnell die Bezeichnung auf. Die französische Encyclopédie Larousse verwendete sie in ihrer Ausgabe von 1953, und im Oxford English Dictionary wurde sie als 1955er-Update zur dritten Edition gelistet.[24]

Eine Vielzahl von Autoren hat versucht, den Begriff zu definieren, wie Vahakn N. Dadrian, Irving Louis Horowitz, Yehuda Bauer, Isidor Wallimann, Michael N. Dobkowski oder Steven T. Katz.[25]

Kritik am Begriff

Die rechtliche Definition des Genozids ist häufig als unzureichend kritisiert worden. Der amerikanische Politikwissenschaftler Rudolph Joseph Rummel entwickelte daher das weitergespannte Konzept des Demozids, das in seiner Definition alle tödlichen Genozide einschließt.[26] In seiner Tabelle Demozide des 20. Jahrhunderts[27] kommt er auf 262 Millionen Tote.

Nicht tödliche Handlungen einer Regierung, die auf die Vernichtung einer Kultur abzielen, werden hingegen häufig als Ethnozid bezeichnet.

Völkermorde in der Geschichte

Gedenkstätte in Potočari anlässlich des Massakers von Srebrenica.

Es ist nicht bekannt, wann die ersten Völkermorde stattfanden. Die Genozidforschung geht davon aus, dass Genozide in allen Epochen in nahezu allen von Menschen besiedelten Regionen vorkamen.[28] Überliefert sind Völkermorde aus der Antike.

Völkermorde durch Kolonialmächte

Die Völkermorde in der Neuzeit fanden vor allem in Kolonien statt: zunächst bei der Kolonisierung durch europäische Mächte (z. B. an Indianern während der Indianerkriege); dann teilweise erneut bei der Entkolonisation. Dabei prallten nach Abzug einer Kolonialmacht gelegentlich verschiedene ethnische Gruppen aufeinander, welche durch die Grenzziehungen ihrer Kolonialmacht nun in einem Staat lebten (wie etwa in Biafra und Bangladesch).

20. Jahrhundert, Auswahl allgemein anerkannter Völkermorde

An den Schädeln der Opfer sind erhebliche Verletzungen als Folge von massiver Gewalt zu erkennen, herrührend aus dem Völkermord in Ruanda. Aufnahme im Murambi-Genozid-Erinnerungszentrum (2001)

Sonderfälle

Die Kongogräuel in den Jahren 1888 bis 1908 waren Taten unter Verantwortung des belgischen Königs Leopold II., die zur Dezimierung der Bevölkerung des Kongo-Freistaats durch Sklaverei, Zwangsarbeit und massenhafte Geiselnahmen und Tötungen führten und schätzungsweise acht bis zehn Millionen Tote (etwa die Hälfte der damaligen Bevölkerung) forderten.[29][30][31][32] Ob der Massenmord im Kongo, trotz seiner genozidalen Ausmaße, ein Völkermord war, ist umstritten. Denn es wurde nicht planmäßig versucht, eine bestimmte ethnische Gruppe zu vernichten, sondern der Massenmord war die Folge extremer Ausbeutung.[33]

Ähnlich zu betrachten sind die Völkermorde an Ureinwohnern, beispielsweise die Indianerkriege Nordamerikas, der Genozid an der Urbevölkerung in Australien (siehe History Wars#Genozid-Debatte), Tasmanien (siehe Tasmanien#Genozid an der Urbevölkerung und Tasmanier), Brasilien (siehe Transamazônica#Völkermorde), Argentinien (siehe Julio Popper#Genozid an den Sel’knam) oder bei der Besiedlung karibischer Inseln (siehe Kalinago-Genozid 1626).

Der Holodomor bezeichnet eine schwere, partiell anthropogene Hungersnot in der Ukraine in den Jahren 1932 und 1933, dem mehrere Millionen Menschen zum Opfer fielen. Ursachen waren die Zwangskollektivierung Stalins, um den Widerstand der Ukrainer zu brechen, die Entkulakisierung und auch wetterbedingte Missernten. Die Schätzungen der Opferzahlen in der Ukraine gehen weit auseinander, sie reichen von 2,4 Millionen bis 14,5 Millionen Hungertoten.[34] Die Ukraine bemüht sich seit der Unabhängigkeit im Jahr 1991 um eine internationale Anerkennung des Holodomors als Völkermord.

Der Große Terror (1936–1938) in der Sowjetunion richtete sich gegen politisch „unzuverlässige“ und oppositionelle Personen in Kadern und Eliten, gegen „sozial schädliche“ und „sozial gefährliche Elemente“ wie die Kulaken, gegen so genannte Volksfeinde und gegen ethnische Minderheiten wie Wolgadeutsche, Krimtataren, oder einige Völker der Kaukasusregion. Die in der Forschung angegebenen Opferzahlen variieren zwischen 400.000[35] und 22 Millionen Toten.[36] Wissenschaftler wie Robert Conquest, Norman Naimark und andere bezeichnen den Terror und namentlich die Aktionen gegen die ethnischen Minderheiten als Völkermord.[37] Andere Genozidforscher und Osteuropa-Historiker lehnen die Anwendung des Begriffs auf den Großen Terror ausdrücklich ab.[38] Der amerikanische Politikwissenschaftler Rudolph Joseph Rummel bezeichnet die Geschehnisse als Demozid.[26]

Auch der Massenmord an den Kommunisten Indonesiens 1965 und 1966 stellt einen Sonderfall dar, bei dem je nach Schätzung zwischen 500.000 und 3 Mio. Menschen ermordet wurden. Zwar wurde hier keine religiöse, ethnische oder nationale Gruppe gezielt ermordet, aber es war dennoch das Ziel, eine klar definierte (nämlich politische) Bevölkerungsgruppe gesamthaft zu ermorden. Deswegen und weil die chinesische Bevölkerungsminderheit Opfer dieser Massenmorde wurde, sprechen sich einigen Autoren, darunter Yves Ternon, dafür aus, ihn als Völkermord zu betrachten.[39] Der Begriff eines Autogenozids ließe sich in diesem Fall auch anwenden.

Die Ereignisse während der Herrschaft der Roten Khmer in Kambodscha von 1975 bis 1979 stellen einen Sonderfall dar. Da sich der Genozid in Kambodscha gegen die Bevölkerung des eigenen Landes richtete, ist hier auch der Begriff „Autogenozid“ (wörtlich „Völkerselbstmord“) angewandt worden. Beim Vorgehen der Roten Khmer gegenüber abgrenzbaren Gruppen wie den muslimischen Cham jedoch greift die Definition des Völkermordes.

Siehe auch

Literatur

  • Jörg Baberowski, Mihran Dabag, Christian Gerlach, Birthe Kundrus, Eric D. Weitz: Debatte: NS-Forschung und Genozidforschung. In: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History 5 (2008), S. 413–437.
  • Boris Barth: Genozid. Völkermord im 20. Jahrhundert. Geschichte, Theorien, Kontroversen. Beck, München 2006 (Beck’sche Reihe, Bd. 1672), ISBN 3-406-52865-1.
  • Wolfgang Benz: Ausgrenzung Vertreibung Völkermord. Genozid im 20. Jahrhundert. dtv, München 2006, ISBN 978-3-423-34370-1.
  • Donald Bloxham & A. Dirk Moses [Hrsg]: The Oxford Handbook of Genocide Studies. [interdisziplinäre Beiträge über Genozide in der Antike bis zur Jetztzeit]. Oxford University Press, second edition 2013, ISBN 978-0-19-967791-7.
  • Mihran Dabag, Kristin Platt: Genozid und Moderne. Leske+Budrich, Opladen 1998, ISBN 3-8100-1822-8.
  • Daniel Jonah Goldhagen: Schlimmer als Krieg – Wie Völkermord entsteht und wie er zu vermeiden ist. Siedler, München 2009, ISBN 978-3-88680-698-0.
  • Gunnar Heinsohn: Lexikon der Völkermorde. Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 1998, ISBN 3-499-22338-4.
  • Irving L. Horowitz, Taking Lives: Genocide and State Power. Transaction Books, News Brunswick (N.J.)-London 1980, xvi/199 p.; 5th, revised ed. (Foreword Anselm L. Strauss), 2002, ivx/447 p., ISBN 0-7658-0094-2.
  • Karl Jaspers: Die Schuldfrage. Für Völkermord gibt es keine Verjährung, München 1979.
  • Ben Kiernan: Erde und Blut. Völkermord und Vernichtung von der Antike bis heute. Deutsche Verlags-Anstalt (DVA), München 2009, gebunden, 911 Seiten, ISBN 3-421-05876-8.
  • Norman M. Naimark: Genozid. Menschheitsverbrechen in der Geschichte. Theiss, Darmstadt 2018, ISBN 978-3-8062-3664-4 (englisch: Genocide. A World History. New York 2017. Übersetzt von Claudia Kotte).
  • Samantha Power: A Problem from Hell – America and the Age of Genocide. 2003, ISBN 0-06-054164-4.
  • William A. Schabas: Der Genozid im Völkerrecht. Hamburger Edition, Hamburg 2003, ISBN 3-930908-88-3 (englisch: Genocide in international law. Übersetzt von Holger Fliessbach).
  • Frank Selbmann: Der Tatbestand des Genozids im Völkerstrafrecht. In: Schriftenreihe zum Völkerstrafrecht. Band 1. Leipziger Universitätsverlag, Leipzig 2003, ISBN 3-936522-33-2 (Dissertation [Zugelassen 2002, Universität Leipzig]).
  • Jacques Sémelin: Säubern und Vernichten. Die Politik der Massaker und Völkermorde. Hamburger Edition, Hamburg 2007, ISBN 978-3-936096-82-8 (französisch: Purifier et détruire. Übersetzt von Thomas Laugstien).
  • Dinah L. Shelton (Hrsg.): Encyclopedia of genocide and crimes against humanity. 3 Bände, Thomson Gale Macmillan Reference, Detroit 2005.
  • Christian J. Tams, Lars Berster, Björn Schiffbauer: Convention on the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide: A Commentary. Beck, München 2014, ISBN 978-3-406-60317-4.
  • Yves Ternon: Der verbrecherische Staat. Völkermord im 20. Jahrhundert. Hamburger Edition, Hamburg 1996, ISBN 3-930908-27-1 (französisch: L’état criminel. Übersetzt von Cornelia Langendorf).
  • Gerhard Werle (Hrsg.), Völkerstrafrecht, 3. Auflage 2012, Dritter Teil: Völkermord (Rn. 745 ff.), ISBN 978-3-16-151837-9.
Wiktionary: Völkermord – Bedeutungserklärungen, Wortherkunft, Synonyme, Übersetzungen
Wiktionary: Genozid – Bedeutungserklärungen, Wortherkunft, Synonyme, Übersetzungen

Einzelnachweise

  1. Internationaler Strafgerichtshof für Ruanda (ICTR): Prosecutor v. Jean Kambanda, Urteil vom 4. September 1998 (Memento vom 21. Januar 2012 im Internet Archive) (PDF; 110 kB), Case No. 97-23-S, § 16: “The crime of genocide is unique because of its element of dolus specialis (special intent) which requires that the crime be committed with the intent to destroy in whole or in part, a national, ethnic, racial or religious group as such, as stipulated in Article 2 of the Statute; hence the Chamber is of the opinion that genocide constitutes the crime of crimes, which must be taken into account when deciding the sentence”
  2. Christoph J. M. Safferling: Wider die Feinde der Humanität – Der Tatbestand des Völkermordes nach der Römischen Konferenz. In: Juristische Schulung. 2001, S. 735–739 (736).
  3. Art. 264 StGB
  4. Norman Naimark, Stalin und der Genozid, Übersetzt von Kurt Baudisch, Verlag Suhrkamp Verlag, 2010, ISBN 9783518744406
  5. Holocaust und andere Völkermorde, International Holocaust Remembrance Alliance. Abgerufen am 20. November 2018.
  6. Claus Kreß, in: Münchener Kommentar zum StGB, 2. Auflage 2013, § 6 VStGB, Rn. 14.
  7. Claus Kreß, in: Münchener Kommentar zum StGB, 2. Auflage 2013, § 6 VStGB, Rn. 14.
  8. Ruanda: Erste Frau muss wegen Völkermords lebenslänglich hinter Gitter. In: Spiegel Online. 24. Juni 2011, abgerufen am 18. April 2014.
  9. Dominic Johnson: Ministerin für Vergewaltigung. In: taz. 25. Juni 2011, ISSN 0931-9085, S. 2 (online [abgerufen am 18. April 2014]).
  10. Guatemala: Rios Montt Convicted of Genocide. Human Rights Watch, Mai 2013, abgerufen am 25. Mai 2017 (englisch).
  11. Listing of genocide cases pending at the ICC. In: International Criminal Court (ICC). Abgerufen am 11. August 2018 (britisches Englisch).
  12. Situations under investigation. In: Internationaler Gerichtshof / engl.: International Criminal Court (ICC). Abgerufen am 11. August 2018 (britisches Englisch, Abschnitt: Darfur, Sudan).
  13. Situation in Darfur, Sudan; The Prosecutor v. Omar Hassan Ahmad Al Bashir; ICC-02/05-01/09. (PDF) In: International Criminal Court (ICC). Archiviert vom Original am 3. August 2018; abgerufen am 11. August 2018 (englisch).
  14. AfricaNews: Sudan will surrender Bashir to ICC for war crimes - Transitional Council. 11. Februar 2020, abgerufen am 24. Februar 2022 (englisch).
  15. Kurt Böttcher, Karl Heinz Berger, Kurt Krolop, Christa Zimmermann (Hrsg.): Geflügelte Worte. 4., durchgesehene Auflage, Leipzig 1985, S. 466.
  16. Polen 1772 bis 1945. S. 183. In: Wochenschau Nr. 5, Sept./Okt. 1996, Frankfurt a. M., S. 177–193.
  17. Der Deutsche Drang nach Osten. Ideologie und Wirklichkeit eines politischen Schlagwortes. Darmstadt 1981, S. 93.
  18. Wilhelm Pape, Max Sengebusch (Bearbeitung): Handwörterbuch der griechischen Sprache. 3. Auflage, 6. Abdruck. Vieweg & Sohn, Braunschweig 1914 (Scan bei zeno.org).
  19. Karl Ernst Georges: Ausführliches lateinisch-deutsches Handwörterbuch. 8., verbesserte und vermehrte Auflage. Hahnsche Buchhandlung, Hannover 1918 (zeno.org im Wörterbuch steht nicht die Angabe des Infinitivs, sondern wie im Lateinischen üblich der ersten Person Singular Indikativ Präsens Aktiv).
  20. Gerhard Werle (Hrsg.): Völkerstrafrecht. 3. Auflage. 2012, ISBN 978-3-16-151837-9, Randnummer 751, m.w.N.
  21. Power: A Problem from Hell. S. 40.
  22. Power: A Problem from Hell. S. 43, Zitat: „a coordinated plan of different actions aiming at the destruction of essential foundations of the life of national groups, with the aim of annihilating the groups themselves. […] Genocide has two phases: one, destruction of the national pattern of the oppressed group; the other, the imposition of the national pattern of the oppressor. This imposition, in turn, may be made upon the oppressed population which is allowed to remain, or upon the territory alone, after removal of the population and colonisation of the area by the oppressor’s own nationals.“
  23. Power: A Problem from Hell. S. 44; im Original heißt es in dem Leitartikel: It is a mistake, perhaps, to call these killings atrocities. An atrocity is a wanton brutality […] But the point about these killings ist that they were systematic und purposeful. The gas chambers and furnaces were not improvisations; they were scientifically designed instruments for the extermination of an entire ethnic group.
  24. Power: A Problem from Hell. S. 44.
  25. International Holocaust Remembrance Alliance: Holocaust und andere Völkermorde. In: holocaustremembrance.com. Ohne Datum, abgerufen am 25. November 2020.
  26. R. J. Rummel: Democide versus Genocide: Which is what?
  27. Rudolph Rummel: 20th Century Democide. hawaii.edu, abgerufen am 11. August 2018 (englisch).
  28. Michael Puritscher: Bewusst sein. Entwicklung und Strategien des menschlichen Geistes. Böhlau, Wien 2008, ISBN 978-3-205-77732-8, S. 374.
  29. Matthew White verzeichnet auf Death Tolls (Statistiken zu Opferzahlen) im Abschnitt Congo Free State (1886–1908) verschiedene Schätzungen, deren Durchschnittswert bei 8 Millionen liegt. Die Ereignisse können nach der UN-Konvention als Genozid bezeichnet werden.
  30. Dieter H. Kollmer: Die belgische Kolonialherrschaft 1908 bis 1960. In: Bernhard Chiari, Dieter H. Kollmer (Hrsg.): Wegweiser zur Geschichte Demokratische Republik Kongo. Paderborn u. a. 2006, S. 45.
  31. Informationen zum Film Weißer König, Roter Kautschuk, Schwarzer Tod (Memento vom 2. April 2015 im Internet Archive) (Peter Pater, Belgien 2004) beim Sender arte.
  32. Robert G. Weisbord in Journal of Genocide Research Volume 5, Issue 1, 2003 The King, the Cardinal and the Pope: Leopold II’s genocide in the Congo and the Vatican
  33. Adam Hochschild: Schatten über dem Kongo. Die Geschichte eines der großen, fast vergessenen Menschheitsverbrechen. Klett-Cotta, Stuttgart 2000, ISBN 3-608-91973-2, S. 320 f.
    Boris Barth: Genozid. Völkermord im 20. Jahrhundert. Geschichte, Theorien, Kontroversen. Beck, München 2006, ISBN 978-3-406-52865-1, S. 314.
  34. Die Zeit: Stalinismus. Stille Vernichtung. 20. November 2008
  35. Dimitri Wolkogonow: Stalin. Triumph und Tragödie. Ein politisches Porträt, Econ, 1993, ISBN 3-612-26011-1, S. 400.
  36. Gunnar Heinsohn: Lexikon der Völkermorde. Reinbek 1998, ISBN 3-499-22338-4.
  37. Robert Conquest: Stalins Völkermord. Wolgadeutsche, Krimtataren, Kaukasier. Europa-Verlag, Wien 1974; Norman Naimark: Stalin und der Genozid. Suhrkamp, Berlin 2010, S. 113 u. ö.; mit Einschränkung auch Eric Weitz: A Century of Genocide. Utopias of Race and Nation. Updated Edition. Princeton University Press, Princeton 2015, ISBN 978-1-4008-6622-9, S. 100 f. (abgerufen über De Gruyter Online).
  38. Boris Barth: Genozid. Völkermord im 20. Jahrhundert. Geschichte, Theorien, Kontroversen (= Beck’sche Reihe 1672), C.H. Beck, München 2006. ISBN 3-406-52865-1, S. 136–148; Bernd Bonwetsch: Der GULAG und die Frage des Völkermords. In: Jörg Baberowski (Hrsg.): Moderne Zeiten? Krieg, Revolution und Gewalt im 20. Jahrhundert. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2006, ISBN 3-525-36735-X, S. 111–144.
  39. Boris Barth: Genozid. Völkermord im 20. Jahrhundert. Geschichte, Theorien, Kontroversen. Beck, München 2006 (Beck’sche Reihe, Bd. 1672), ISBN 3-406-52865-1.

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