Russifizierung
Als Russifizierung werden in der russischen und später sowjetischen Innenpolitik alle Maßnahmen bezeichnet, den Einflussbereich der russischen Sprache und der russischen Kultur zulasten der anderen Sprachen und Kulturen im Sinne eines Transkulturationsprozesses auszuweiten.
Kyrillisch (Russisch) | |
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Русификация | |
Transl.: | Rusifikacija |
Transkr.: | Russifikazija |
Geschichte
Im Russischen Reich gab es Sprach- und Schulgesetze, mit deren Hilfe andere Sprachen verdrängt werden sollten. In der Sowjetunion gab es eine sanftere, aber nachhaltigere Russifizierungspolitik.
Im Russischen Kaiserreich
Im Russischen Reich stand die Russifizierung in Verbindung mit dem Panslawismus, der den slawischen Charakter Russlands betonte und dessen Führungsrolle in der slawischsprachigen Welt bekräftigte. Diese Bemühungen sind im gesamten 19. Jahrhundert zu beobachten, intensivierten sich aber etwa um 1890 parallel zum Nationalismus in Südost-, Mittel- und Westeuropa. Unter den Zaren Alexander III. und Nikolaus II. stützte sich die Russifizierung wirksam auf Militär und Verwaltung.
Besonders betroffen waren die Gegenden am westlichen und südlichen Rand des Reiches: die Ostseegouvernements (Estland, Livland, Kurland) und Litauen, der Osten Finnlands, große Teile Polens („Kongresspolen“, wo diese Bemühungen schon nach der Niederschlagung des Aufstandes von 1831 einsetzten), Bessarabien, Ukraine, Belarus (Gouvernements Minsk, Witebsk und Mogiljow), sowie die im Kaukasus eroberten Gebiete (Georgien, Aserbaidschan, Armenien) und in Zentralasien.
Als frühe konkrete Maßnahme der Russifizierung kann das Verbot des öffentlichen Gebrauchs der polnischen, litauischen und ukrainischen Sprache im Jahre 1863 genannt werden. In den deutschen Kolonistendörfern im Wolga- und Schwarzmeergebiet wurde 1871 das Russische zur Amtssprache. Die russische Sprache ersetzte 1887 im Baltikum die deutsche als Unterrichtssprache in den höheren Lehranstalten und an der Universität Dorpat (Tartu), die wie die Stadt in Kaiserliche Universität Jurjew umbenannt wurde. Im Großfürstentum Finnland begann die aktive Russifizierungspolitik 1881 mit dem Regierungsantritt von Zar Alexander III. und verstärkte sich ab 1894 unter Zar Nikolaus II., wo sie in den Jahren 1899/1900 mit dem Februarmanifest, dem Sprachenpatent und dem Konskriptionsgesetz, das die jungen Finnen in die russische Armee eingliederte, einen Höhepunkt erreichte. Der ostentative Bau monumentaler orthodoxer Kathedralen in mehrheitlich katholischen oder lutherischen Städten wie jener der Alexander-Newski-Kathedrale in Warschau (1894–1912) oder der gleichnamigen Kathedrale in Tallinn (1894–1900) belegte in den Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg die Verknüpfung von orthodoxem Staatskirchentum und Russifizierung.
Eine Folge war auch die Umgestaltung nichtrussischer Namen in russisch klingende, zum Beispiel Sankt Petersburg in „Petrograd“ während des Ersten Weltkrieges. Sie erfasste auch viele Familiennamen, wie bis heute in der Namensstatistik von Kasachstan oder Usbekistan zu bemerken ist, sowie unzählige Straßennamen.
In der Sowjetunion
In der Sowjetunion war Russisch Amtssprache. Außerdem wurden russische Wörter über Kinofilme, Fernsehen und Rundfunk verbreitet und fanden oft Eingang in die Umgangssprache.
1940 wurden die drei baltischen Länder Estland, Lettland und Litauen nach zwanzig Jahren Unabhängigkeit durch die Sowjetunion völkerrechtswidrig annektiert. Massendeportationen und Hinrichtungen schwächten in der Folge die lokalen wirtschaftlichen und kulturellen Eliten.
Ferner wurde die Ansiedlung ethnischer Russen dazu genutzt, kulturelle Autonomieforderungen und Nationalbewusstsein zu brechen. So sank in der Estnischen SSR die Zahl der Esten von 88 % vor dem Beginn des Zweiten Weltkrieges auf 61,5 % im Jahre 1989, während die Zahl der Bürger mit ostslawischem kulturellen Hintergrund im gleichen Zeitraum von 8,2 % auf 35,2 % stieg.[1]
1945 hatte die Rote Armee das nördliche Ostpreußen erobert. Es wurde von der Sowjetunion annektiert. Während die nicht geflüchteten oder umgekommenen Einwohner bis 1949 vertrieben oder zu Tausenden zur Zwangsarbeit in die Sowjetunion deportiert wurden, erfolgte eine systematische Besiedlung der Oblast Kaliningrad mit Russen. Nahezu alle an die Deutschen erinnernden Kulturgüter (z. B. Kirchen, Burgen, Schlösser, Denkmäler, Bestände von Bibliotheken, Be- und Entwässerungssysteme usw.) wurden beseitigt oder dem Verfall preisgegeben und sämtliche Orte, Gewässer und Wälder erhielten Namen in russischer Sprache. Das nördliche Ostpreußen wurde vollständig russifiziert.[2]
Eine erhebliche, folgenreiche Akkulturation bzw. Assimilation bewirkte die Russifizierung bei den indigenen Völkern. Kulturelle Eigenarten – wie zum Beispiel der Schamanismus – wurden verboten und verfolgt. Die Wirkung auf die Indigenen kann bereits als Ethnozid gewertet werden.
Ein klassisches Beispiel sind die Sámi der russischen Kola-Halbinsel: Ab 1868 siedelte die zaristische russische Regierung bereits russifizierte Komi und Nenzen aus Westsibirien in dem bislang ausschließlich von Samen bewohnten Gebiet an. Dies bewirkte eine soziale Überlagerung, sich verändernde Gewohnheiten und eine Annäherung an die Kultur der Russen. Dies ist heute noch in der Folklore der russischen Samen erkennbar. In den 1920er Jahren wurden im Samen-Gebiet erstmals Schulen durch die Sowjetmacht eingerichtet. Die samische Sprache wurde verschriftlicht und eine Kampagne gegen den Analphabetismus geführt. Die Schule war ein bedeutendes „Vehikel“ für die Russifizierung.[3]
In Zentralasien war der Hirtennomadismus seit der Zarenzeit durch die Bauernkolonisation gefährdet, sein völliger Niedergang in den ehemaligen Sowjetrepubliken wurde durch die sozialistische Zwangskollektivierung unter Stalin bewirkt. Die Nomadengemeinschaften wurden enteignet, zwangsweise sesshaft gemacht, die Herden den Kolchosen zugeschlagen und die Menschen zu russifizierten, abhängigen Hirten gemacht.[4]
Literatur
- Zaur Gasimov (Hrsg.): Kampf um Wort und Schrift. Russifizierung in Osteuropa im 19.-20. Jahrhundert. Göttingen 2012.
- Michael H. Haltzel: Der Abbau der deutschen ständischen Selbstverwaltung in den Ostseeprovinzen Russlands. Ein Beitrag zur Geschichte der russischen Unifizierungspolitik 1855–1905. Marburg 1977.
- Gert von Pistohlkors: Ritterschaftliche Reformpolitik zwischen Russifizierung und Revolution: historische Studien zum Problem der politischen Selbsteinschäetzung der deutschen Oberschicht in den Ostseeprovinzen Rußlands im Krisenjahr 1905. (= Göttinger Bausteine zur Geschichtswissenschaft. Band 48). Musterschmidt, Göttingen/ Frankfurt am Main/ Zürich 1978, ISBN 3-7881-1050-3.
- Darius Staliunas: Making Russians. Meaning and Practice of Russification in Lithuania and Belarus After 1863. Rodopi, Amsterdam 2007, ISBN 978-90-420-2267-6.
- Edward C. Thaden (Hrsg.): Russification in the Baltic Provinces and Finland, 1855–1914. Princeton University Press, Princeton 1981, ISBN 0-691-05314-6.
- Theodore R. Weeks: Nation and state in late Imperial Russia: nationalism and Russification on the western frontier, 1863–1914. Northern Illinois University Press, DeKalb 1996, ISBN 0-87580-216-8.
- Theodore R. Weeks: Russifizierung / Sowjetisierung. In: Europäische Geschichte Online. hrsg. vom Institut für Europäische Geschichte (Mainz). 2011, Zugriff am: 11. November 2011.
- Paul Robert Magocsi: A History of Ukraine. University of Toronto Press, Toronto 1996, ISBN 0-8020-0830-5, S. 369–370. (contain a translation)
- Ulrich Hofmeister: Civilization and Russification in Tsarist Central Asia, 1860–1917. In: Journal of World History 27/3 (2016), S. 411–442.
Weblinks
Einzelnachweise
- Ralph Tuchtenhagen: Geschichte der baltischen Länder. C.H. Beck, München 2005.
- Zum Prozess der Sowjetisierung/Russifizierung siehe Andreas Kossert: Ostpreußen: Geschichte und Mythos. Siedler, München 2005, ISBN 3-88680-808-4, S. 331–348.
- Wolf-Dieter Seiwert (Hrsg.): Die Saami. Indigenes Volk am Anfang Europas. Deutsch-Russisches Zentrum, Leipzig 2000.
- Fred Scholz: Nomadismus ist tot. In: Geographische Rundschau. Heft 5, 1999, S. 248–255.