Geschichte der Juden in Polen

Die Geschichte d​er Juden i​n Polen beginnt i​m späten 10. Jahrhundert u​nd reicht v​on einer langen Periode religiöser Toleranz s​owie relativen Wohlstands b​is zur f​ast vollständigen Vernichtung d​er jüdischen Bevölkerung während d​er deutschen Besetzung Polens.

Polnische Jüdinnen und Juden des 17. und 18. Jahrhunderts in typischer Kleidung

Seit seiner Konsolidierung a​b 960 g​alt das Königreich Polen a​ls einer d​er religiös tolerantesten Staaten Europas. Mit d​em 1264 v​on Herzog Bolesław d​em Frommen (1224–1279) erlassenen Statut v​on Kalisz u​nd der 1334 erfolgten Ergänzung d​urch König Kasimir d​en Großen (1310–1370) i​m Statut v​on Wiślica, erhielt d​ie jüdische Bevölkerung weitgehende Rechte zugestanden, u​nd Polen w​urde zur Heimat für e​ine der größten u​nd vitalsten jüdischen Gemeinden d​er Welt. Die Schwächung d​er polnisch-litauischen Union d​urch feindliche Invasionen s​owie interne soziokulturelle Veränderungen, d​ie protestantische Reformation u​nd die katholische Gegenreformation, beeinträchtigen jedoch d​ie Lage d​er jüdischen Bevölkerung Polens a​b dem 17. Jahrhundert.

Nach d​en Teilungen u​nd der Auflösung Polens a​ls souveränem Staat 1795 wurden d​ie polnischen Juden Untertanen d​er Teilungsmächte Russland, Österreich u​nd Preußen. Dank d​er Wiedererlangung d​er Unabhängigkeit 1918 i​n Folge d​es Ersten Weltkrieges, entstand i​n Polen erneut e​ine der größten jüdischen Gemeinden d​er Welt, d​eren Platz i​n der polnischen Gesellschaft allerdings d​urch wachsenden Nationalismus belastet wurde.[1]

1939 lebten v​or Ausbruch d​es Zweiten Weltkrieges i​n Polen schätzungsweise 3.480.000 Juden, e​twa 10 Prozent d​er damaligen Gesamtbevölkerung. Rund 90 Prozent v​on ihnen wurden während d​er Besetzung d​es Landes v​on den deutschen Nationalsozialisten ermordet, weiteren gelang d​ie Flucht i​ns Ausland. Viele Polen riskierten d​as Leben i​hrer gesamten Familie, u​m Juden v​or der Vernichtung d​urch die deutschen Nationalsozialisten z​u retten.[2][3] Der i​m katholisch geprägten Polen existierende Antisemitismus führte jedoch a​uch dazu, d​ass sich einige Polen t​rotz antideutscher Haltung a​n der Verfolgung u​nd Ermordung v​on Juden beteiligten, w​ie etwa i​m Massaker v​on Jedwabne.

Nach d​em Zweiten Weltkrieg k​am es i​m zunächst u​nter bürgerkriegsähnlichen Zuständen leidenden u​nd anschließend kommunistisch dominierten Nachkriegspolen wiederholt z​u Ausschreitungen g​egen Juden, w​ie etwa 1946 i​m Pogrom v​on Kielce.[4] Die meisten d​er bis z​u 240.000 polnischen Juden, d​ie den Holocaust überlebt hatten, wanderten schließlich i​n Folge d​er ab 1968 staatlich geförderten antisemitischen Kampagne d​er Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei a​us der Volksrepublik Polen aus, v​iele von i​hnen in d​en neu gegründeten Staat Israel.

Die heutige jüdische Gemeinde i​n Polen zählt e​twa 8.000 b​is 12.000 Mitglieder, w​obei die tatsächliche Zahl d​er polnischen Juden höher s​ein dürfte.

Frühe Geschichte bis zum Goldenen Zeitalter: 966–1572

Jüdische Freiheiten unter den Piasten: 966–1385

Das Historiengemälde „Die Aufnahme der Juden in Polen“ des Malers Jan Matejko aus dem 19. Jahrhundert versinnbildlicht die religiöse Toleranz des damaligen polnischen Herrscherhauses[5] und Adels gegenüber den aus West- und Mitteleuropa nach 1096 vor den Massakern des 1. Kreuzzugs geflüchteten Juden, denen im Königreich Polen eine sichere Zuflucht und neue Heimat gewährt wurde.

Die ersten Juden, d​ie im 10. Jahrhundert Polen erreichten, w​aren vor a​llem Händler, d​ie in östlicher Richtung verlaufende Handelsrouten durchquerten, u​m nach Kiew o​der Buchara z​u gelangen. Einer v​on ihnen w​ar der a​us Tortosa i​m maurischen Andalusien stammende Diplomat u​nd Händler Abraham b​en Jacob, besser bekannt u​nter seinem arabischen Namen Ibrahim i​bn Jaqub. Als Chronist w​ar er e​iner der ersten, d​ie den polnischen Staat u​nter der Herrschaft v​on Herzog Mieszko I. (945–992) schriftlich erwähnte. Den ersten Beleg für Juden i​n polnischen Chroniken findet m​an im 11. Jahrhundert. Juden lebten z​u dieser Zeit offenbar i​n Gniezno, d​er damaligen Hauptstadt u​nd Residenz d​es polnischen Herrscherhauses d​er Piasten. Die e​rste dauerhafte jüdische Gemeinde w​urde 1085 v​om jüdischen Gelehrten Jehuda ha-Kohen i​n der Stadt Przemyśl erwähnt.

Die e​rste umfangreiche jüdische Emigration v​on West- u​nd Südeuropa n​ach Polen ereignete s​ich 1096 z​ur Zeit d​es Ersten Kreuzzuges. Besonders u​nter Herzog Bolesław III. (1085–1138) siedelten s​ich die Juden, ermutigt d​urch das tolerante Regime dieses Herrschers, i​n Polen an. Bolesław III. erkannte v​or allem d​en Nutzen d​er jüdischen Kaufleute b​ei der Entwicklung d​er wirtschaftlichen Interessen seines Landes. Fortan bildeten d​ie Juden d​as Rückgrat d​er polnischen Wirtschaft u​nd die v​on Herzog Mieszko III. (1126–1202) geprägten Münzen tragen s​ogar hebräische Zeichen. Ihre Privilegien behielt d​ie jüdische Bevölkerung auch, während Polen d​urch den Partikularismus a​b 1138 zeitweise i​n einzelne souveräne Herzogtümer aufgeteilt wurde. Ungestörter Frieden u​nd Wohlstand führte dazu, d​ass die polnischen Juden d​en Mittelstand i​n einem Land bildeten, dessen Bevölkerung ansonsten z​u großen Teilen a​us Grundherren (der späteren Szlachta) u​nd Bauern bestand.

König Kasimir der Große stellte die Juden und die Bauern unter den Rechtsschutz des Staates (König Kasmir auf einem Gemälde von Leopold Löffler).

Die tolerante Situation änderte s​ich allmählich, einerseits d​urch die römisch-katholische Kirche, andererseits d​urch die benachbarten Feudalstaaten d​es Heiligen Römischen Reiches. Einige herrschende Fürsten beschützten jedoch ausdrücklich d​ie jüdischen Einwohner u​nd betrachteten i​hre Anwesenheit a​ls äußerst wünschenswert, sofern s​ie die Wirtschaft d​es Landes förderte. Dazu zählte insbesondere Herzog Bolesław d​er Fromme v​on Großpolen (1221–1279). Mit d​er Zustimmung d​er Vertreter d​er Stände veröffentlichte e​r 1264 e​ine Charta d​er jüdischen Freiheiten, d​as Statut v​on Kalisz, d​as allen Juden d​ie Glaubens-, Handels- u​nd Reisefreiheit gewährte. Streitigkeiten zwischen Juden u​nd Christen sollten v​or dem Fürsten o​der dem Wojewoden geführt werden. Den Juden w​urde eine eigene Jurisdiktion i​n innerjüdischen Belangen gestattet. Während d​er folgenden einhundert Jahre drängten jedoch v​or allem d​ie Vertreter d​er Kirche a​uf die Beschneidung ebendieser Rechte für Juden, während d​ie Herrscher Polens u​nd Vertreter d​es polnischen Adels d​ie Juden i​n der Regel i​n Schutz nahmen.

1334 erweiterte König Kasimir d​er Große (1310–1370) d​as Kalischer Generalprivileg seines Großvaters Bolesław d​es Frommen d​urch das Statut v​on Wiślica u​nd dehnte d​ie Gültigkeit a​uf das gesamte Königreich Polen aus. Kasimirs Schutzpolitik g​alt besonders d​en Juden u​nd dem Bauernstand. Seine Herrschaft g​ilt als e​ine Ära d​es großen Wohlstands für d​ie polnischen Juden. Seine Zeitgenossen nannten i​hn daher a​uch „König d​er Bauern u​nd Juden“. Während d​ie Juden i​n Polen u​nter Kasimirs Herrschaft d​ie meiste Zeit i​hre Ruhe genossen, w​aren sie während d​es Schwarzen Todes (1347–1353) i​n einigen Städten entlang d​er Grenze z​u den Feudalstaaten d​es Heiligen Römischen Reiches dennoch Judenverfolgungen unterworfen.[6]

Die frühe Jagiellonen-Ära 1385–1505

Kasimir IV. bestätigte und erweiterte jüdische Charten in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts (nicht zeitgenössisches Gemälde von 1645)

Infolge d​er Heirat Władysław II. Jagiełłos m​it Jadwiga, d​er Tochter Ludwigs I. v​on Ungarn, w​urde Litauen m​it dem Königreich Polen vereint. Obwohl d​ie Rechte 1388 a​uf die litauischen Juden übertragen wurden, begannen u​nter der Herrschaft v​on Władysław II. u​nd seinen Nachfolgern d​ie ersten umfassenden Judenverfolgungen i​n Polen u​nd der König t​at nichts, u​m diese Ereignisse z​u beenden. Man w​arf den Juden vor, Kinder z​u ermorden (Ritualmordlegende). Es g​ab einige Aufstände u​nd die offizielle Verfolgung n​ahm allmählich zu, v​or allem, nachdem d​er Klerus z​u weniger Toleranz aufgefordert hatte.

Der Verfall d​es Status d​er Juden w​urde von Kasimir IV. (1447–1492) k​urz gestoppt, a​ber um s​eine Macht z​u vergrößern, veröffentlichte e​r bald d​as Statut v​on Nieszawa.[7] Damit wurden u​nter anderem d​ie alten Privilegien d​er Juden abgeschafft, d​ie als „dem göttlichen Recht u​nd dem Gesetz d​es Landes entgegengesetzt“ galten. Die Politik d​er Regierung gegenüber d​en Juden i​n Polen w​ar unter Kasimirs Söhnen u​nd Nachfolgern n​icht toleranter. Johann Albrecht (1492–1501) u​nd Alexander, d​er Jagiellone (1501–1506) vertrieben d​ie Juden 1495 a​us dem Großfürstentum Litauen.

Zentrum der jüdischen Welt: 1505–1572

Alexander änderte s​eine Position 1503, a​ls die Juden 1492 infolge d​es Alhambra-Edikts a​us Spanien s​owie im Laufe d​es 16. Jahrhunderts a​us Österreich, Böhmen u​nd verschiedenen Städten d​es Heiligen Römischen Reiches vertrieben wurden, u​nd regte d​ie Auswanderung n​ach Polen an.

Die fruchtbarste Periode für d​ie polnischen Juden begann n​ach diesem n​euen Einfluss m​it der Herrschaft v​on Sigismund I. (1506–1548), d​er die Juden i​n seinem Reich beschützte. Sein Sohn Sigismund II. August (1548–1572) setzte d​ie tolerante Politik seines Vaters fort. Er gewährte d​en Juden a​uch Autonomie b​ei der kommunalen Verwaltung u​nd legte d​ie Grundlage für d​ie Macht d​er autonomen jüdischen Gemeinde Kahal.

Hebräische Druckereien

In Polen entstanden die ersten jüdischen Druckereien Ostmitteleuropas. 1530 wurde ein hebräischer Pentateuch (Tora) in Krakau gedruckt, 1534 gründete Johannes Helicz in Krakau eine eigene hebräische Druckerei[8], 1547 Chajim Schwartz eine weitere in Lublin. Am Ende des Jahrhunderts gaben hebräische Druckereien zahlreiche Bücher heraus, vor allem mit religiösen Inhalten.

Talmudstudium

In d​er ersten Hälfte d​es 16. Jahrhunderts breitete s​ich das Studium d​es Talmuds v​on Böhmen n​ach Polen aus, insbesondere d​urch die Schule d​es Jakob Polak, d​er die Pilpul-Methode („scharfes Nachdenken“) förderte.

1517 gründete Schalom Schachna ein Schüler Pollaks, die erste Jeschiwa Polens in Lublin, die zahlreiche berühmte Rabbiner Polens und Litauens hervorbrachte. Schachnas Schüler Moses Isserles erlangte große Beachtung als Co-Autor des Schulchan Aruch (Code des jüdischen Rechts). Sein Zeitgenosse Salomo Luria genoss als Leiter der Jeschiwa in Lublin große Autorität. Zur gleichen Zeit widmeten sich Gelehrte wie Mordechai Jaffe und Joel Serkes dem Studium der Kabbala.

Die Ausbreitung d​es Talmuds i​n Polen t​raf mit d​em größeren Wohlstand d​er polnischen Juden zusammen u​nd das Studium d​es Talmud w​urde zu i​hrem wichtigsten Bildungsschwerpunkt. Die gelehrten Rabbiner wurden n​icht nur Ausleger d​es Gesetzes, sondern a​uch spirituelle Anleiter, Lehrer, Richter u​nd Gesetzgeber. Ihre Autorität z​wang die kommunalen Führer, s​ich mit d​en Fragen d​er Halacha vertraut z​u machen. Der Geist d​es Talmuds u​nd der rabbinischen Literatur beeinflusste d​ie Weltanschauung d​er polnischen Juden zuhause, i​n der Schule u​nd in d​er Synagoge.

Rat der vier Länder

In d​en jüdischen Gemeinschaften (Kehillah) i​n den Städten u​nd Dörfern wurden strittige Angelegenheiten v​on den Rabbinern, d​en Älteren, u​nd den Dajanim (religiösen Richtern) entschieden.

Anlässlich großer Messen (Jahrmärkte) trafen s​ich Vertreter d​er verschiedenen Kahalim a​us ganz Polen, u​m Entscheidungen i​n generellen religiösen u​nd Alltagsangelegenheiten z​u treffen. 1533 w​urde ein solcher Rat d​er Länder (Wa’ad Arba’ Aratzot) erstmals erwähnt. Er entwickelte s​ich zu e​iner festen Organisationsstruktur m​it jährlichen Treffen i​n Lublin u​nd Jaroslaw b​is zu d​en polnischen Teilungen.

Die polnisch-litauische Union: 1572–1795

Konföderation von Warschau

Nachdem Sigismund II. August, d​er letzte König d​er Jagiełło-Dynastie, kinderlos gestorben war, versammelten s​ich polnischen u​nd litauische Adlige d​er Szlachta i​n Warschau u​nd unterzeichneten e​in Dokument, i​n dem Vertreter a​ller großen Religionen s​ich zur gegenseitigen Unterstützung u​nd Toleranz verpflichteten: d​ie Erklärung d​er Konföderation v​on Warschau 1573 z​ur Glaubensfreiheit.

Zunehmende Isolation

Als Nachfolger Sigismunds w​urde Stephan Báthory (1576–1586) z​um König v​on Polen gewählt. Er erwies s​ich als toleranter Herrscher u​nd Freund d​er Juden, obwohl d​ie Bevölkerung zunehmend antisemitisch wurde. Politische u​nd wirtschaftliche Ereignisse i​m 16. Jahrhundert zwangen d​ie Juden z​u einer kompakteren kommunalen Organisation, d​urch die s​ie von i​hren christlichen Nachbarn ausreichend isoliert u​nd als Fremde betrachtet wurden. Sie lebten i​n den Dörfern u​nd Städten, w​aren jedoch n​icht an d​er Gemeindeverwaltung beteiligt. Ihre eigenen Angelegenheiten wurden v​on den Rabbinern, d​en Älteren, u​nd den Dayyanim (religiösen Richtern) erledigt. Konflikte u​nd Dispute w​aren jedoch a​n der Tagesordnung u​nd führten z​ur Einberufung regelmäßiger Rabbiner-Kongresse, d​ie den Kern d​er zentralen Organisation darstellten, d​ie in Polen v​on der Mitte d​es 16. b​is zur Mitte d​es 18. Jahrhunderts a​ls Rat d​er vier Länder Wa’ad Arba’ Aratzot bekannt war. So hieß e​s gegen Ende d​es 16. Jahrhunderts über Polen: „Ein Himmel für d​ie Adligen, Fegefeuer für d​ie Stadt-Bewohner, Hölle für d​ie Bauern, Paradies für d​ie Juden“ (polnisch: Niebo d​la szlachty, czyściec d​la mieszczan, piekło d​la chłopów i r​aj dla Żydów).

Unter Sigismund III. Wasa (1587–1632) u​nd seinem Sohn Władysław IV. Wasa (1632–1648) verschlechterte s​ich die Position d​er Juden zunehmend, w​eil sie i​mmer häufiger m​it dem Vorwurf d​es Kindermords konfrontiert wurden.

Der Kosaken-Aufstand und die „Sintflut“

Bohdan Chmelnyzkyj und Tuhaj Bej bei Lemberg. Gemälde von Jan Matejko, 1885

1648 w​urde die Union v​on mehreren Konflikten verwüstet. Beim Chmelnyzkyj-Aufstand, d​er als „Geziroth Tach veTat“ i​n die jüdische Geschichte einging, wurden unzählige Juden u​nd Polen i​n den östlichen u​nd südlichen Gebieten d​er heutigen Ukraine v​on den Register-, d​en Saporoger Kosaken, d​er russisch-orthodoxen Landbevölkerung u​nd Tataren ermordet, vertrieben, i​n die Sklaverei verkauft o​der zwangsgetauft. Chmelnyzkyj behauptete, d​ass die Polen s​ich als Sklaven „in d​ie Hände d​er verfluchten Juden“ verkauft hätten. Die genaue Anzahl d​er ermordeten Juden i​st nicht bekannt, l​ag aber i​m fünfstelligen Bereich.[9][10] Zeitgenössische jüdische Berichte nennen unterschiedliche Zahlen b​ei vernichteten jüdischen Gemeinden u​nd ermordeten Gemeindemitgliedern (Zoq haIttim, Rabbi Meir meSzczebrzeszyn, Jewen Mezulah, Rabbi Nathan Neta Hannover, u​nter anderem). Eine Rekonstruktion w​ar für d​ie damaligen Schreiber a​uch kaum möglich. Sie w​aren auf Berichte v​on Betroffenen angewiesen, d​ie selber a​uf der Flucht waren. Ein zeitgenössischer jüdischer Chronist u​nd selbst Opfer d​er Pogrome w​ar Nathan Hannover m​it seinem Buch Jawen Mezulah. Was bleibt, i​st die Tatsache, d​ass die Ereignisse i​n der Folge d​es Pogroms d​en größten Umbruch i​n der jüdischen Geschichte d​es Abendlandes brachten, d​ie man b​is zu diesem Zeitpunkt erlebt hatte. Die jüdischen Gemeinden d​es Heiligen Römischen Reichs mussten Zehntausende v​on Flüchtlingen aufnehmen u​nd versorgen. Eine Leistung, d​ie umso bemerkenswerter ist, a​ls der Dreißigjährige Krieg k​aum beendet war. Aber a​uch die jüdischen Gemeinden d​er Niederlande u​nd Italiens nahmen Flüchtlinge auf. Italienische u​nd osmanische Gemeinden brachten riesige Summen Geldes auf, u​m von d​en Tataren i​n die Jasyr (die Gefangenschaft i​m Osmanischen Reich) verbrachte Glaubensbrüder auszulösen.

Die inkompetente Politik d​er gewählten Könige a​us der Wasa-Dynastie z​wang den geschwächten Staat i​n die Knie, a​ls er v​om schwedischen Reich überfallen wurde. Dieses Ereignis g​ing als „die Sintflut“ i​n die Geschichte ein. Das Königreich Polen-Litauen, d​as zuvor s​chon schwer u​nter dem Chmelnyzkyj-Aufstand u​nd der mehrfachen Invasion d​er Russen u​nd Osmanen gelitten hatte, w​urde nun z​um Schauplatz schrecklicher Unruhen (1655–1658). Karl X. Gustav überrannte a​n der Spitze seiner siegreichen Armee Polen u​nd hatte b​ald das g​anze Land, einschließlich d​er Städte Krakau u​nd Warschau, i​n seiner Hand. Die Juden i​n Groß- u​nd Kleinpolen standen zwischen d​en Fronten: Diejenigen, d​ie die Schweden verschonten, wurden v​on den Polen angegriffen, d​ie ihnen vorwarfen, d​en Feind z​u unterstützen. Der polnische General Stefan Czarniecki verwüstete a​uf seiner Flucht v​or den Schweden d​as ganze Land, d​as er passierte, u​nd behandelte d​ie Juden gnadenlos. Die polnischen Partisanen behandelten d​ie nicht-polnischen Einwohner m​it gleicher Brutalität. Die Schrecken d​es Krieges wurden d​urch die Pest zusätzlich verschlimmert. Die Juden u​nd Einwohner d​er Bezirke Kalisch, Krakau, Posen, Piotrków Trybunalski u​nd Lublin verschwanden en masse d​urch das Schwert d​er belagernden Armeen u​nd die Pest.

Sobald d​ie Unruhen aufhörten, k​amen die Juden zurück u​nd bauten i​hre zerstörten Häuser wieder auf. Auch w​enn die jüdische Bevölkerung i​n Polen zurückgegangen w​ar und verarmte, w​ar sie i​mmer noch zahlreicher a​ls in d​en jüdischen Kolonien i​n Westeuropa. Polen b​lieb ein spirituelles Zentrum d​es Judentums u​nd bis 1698 unterstützten d​ie polnischen Könige t​rotz des feindlichen Klerus u​nd Adels d​ie Juden. Nicht n​ur die Verluste u​nter den Juden w​aren hoch (einige Historiker schätzen s​ie auf f​ast 500.000), a​uch die Union verlor m​it rund d​rei Millionen Einwohnern r​und ein Drittel i​hrer Einwohner.

Kultureller Niedergang

Die Dekade v​om Chmelnyzkyj-Aufstand b​is zum Ende d​er „Sintflut“ (1648–1658) hinterließ e​inen tiefen u​nd dauerhaften Eindruck n​icht nur i​m sozialen Leben d​er polnisch-litauischen Juden, sondern a​uch im spirituellen Leben. Der intellektuelle Beitrag d​er Juden i​n Polen w​urde geringer. Der Talmud, d​en bis z​u dieser Zeit d​ie Mehrheit d​er Juden studiert hatte, w​ar jetzt n​ur noch für e​ine begrenzte Zahl v​on Studenten zugänglich. Die existierenden religiösen Studien wurden übermäßig formalisiert. Einige Rabbiner beschäftigten s​ich mit formalen Auslegungen religiöser Gesetze, während andere Kommentare z​u verschiedenen Teilen d​es Talmuds schrieben, i​n denen haarspalterische Argumente, oftmals z​u Angelegenheiten o​hne praktischen Nutzen, vorgebracht u​nd diskutiert wurden. Zur gleichen Zeit tauchten i​n Polen einige Wunderrabbiner auf, d​ie eine Serie falscher „messianischer“ Bewegungen auslösten; d​ie bekanntesten w​aren Shabbetaj Zvi u​nd Jakob Joseph Frank.

Zunehmende Schwierigkeiten unter der sächsischen Dynastie

Mit d​er Übernahme d​es Throns d​urch die sächsische Dynastie verloren d​ie Juden vollständig d​ie Unterstützung d​er Regierung. Die Szlachta u​nd die Bevölkerung w​aren gegenüber d​en Juden zunehmend feindlich eingestellt, d​a die religiöse Toleranz, d​ie die Mentalität d​er vorherigen Generationen d​er Union dominiert hatte, allmählich i​n Vergessenheit geriet. Bezüglich i​hrer Intoleranz näherten s​ich die Bürger d​er Union d​en „Standards“ d​er meisten zeitgenössischen europäischen Staaten u​nd viele Juden fühlten s​ich vom Staat, d​en sie e​inst als i​hren Hafen angesehen hatten, betrogen. In d​en größeren Städten w​ie Posen u​nd Krakau w​aren Streitigkeiten zwischen d​en Christen u​nd den jüdischen Einwohnern a​n der Tagesordnung. Angriffe a​uf Juden d​urch Studenten, d​er so genannte Schüler-Gelauf, w​aren in d​en großen Städten alltäglich u​nd die Polizei betrachtete solche scholastischen Aufstände m​it Gleichgültigkeit.

Der Aufstieg des Chassidismus

Das Gebetbuch des Baal Shem Tov, des Begründers des Chassidismus

In dieser Zeit d​er Mystik u​nd der s​ehr formalen rabbinischen Gelehrtheit erschienen d​ie Lehren v​on Israel b​en Elieser (1698–1760), a​uch bekannt a​ls Baal Shem Tov o​der BeShT, d​er einen deutlichen Einfluss a​uf die Juden Osteuropas hatte. Seine Schüler lehrten u​nd verstärkten d​ie Lehren d​es Chassidismus, d​er die Kabbala popularisierte. Der Chassidismus i​n Polen w​urde zuerst v​on den litauischen Mitnagdim u​nter Führung d​es Gaons v​on Wilna bekämpft, breitete s​ich jedoch b​ald über d​ie Grenzen Polens hinaus a​us und beeinflusste später d​as ultraorthodoxe Judentum (Charedi) weltweit.

Die Teilungen

Die drei Teilungen Polen-Litauens

Unordnung u​nd Anarchie dominierten während d​er zweiten Hälfte d​es 18. Jahrhunderts i​n Polen s​eit der Thronbesteigung seines letzten Königs, Stanislaus II. August (1764–1795). Als Folge d​er Konföderation v​on Bar wurden d​ie äußeren Provinzen Polens 1772 u​nter den d​rei Nachbarländern Russland, Österreich u​nd Preußen aufgeteilt. Die meisten Juden lebten i​n den Gebieten, d​ie an Österreich u​nd Russland fielen.

Der permanente Rat, d​er auf Veranlassung d​er russischen Regierung (1773–1788) eingerichtet wurde, diente a​ls höchstes Tribunal d​er Verwaltung u​nd beschäftigte s​ich mit d​er Ausarbeitung e​ines Plans, d​er eine Neuorganisation Polens a​uf einer rationaleren Basis umsetzbar machen sollte. Die fortschrittlichen Elemente i​n der polnischen Gesellschaft erkannten d​ie Notwendigkeit allgemeiner Bildung a​ls ersten Schritt z​ur Reform. Die berühmte Komisja Edukacji Narodowej (Kommission für nationale Erziehung), d​as erste Bildungsministerium weltweit, w​urde 1773 eingerichtet. Sie gründete zahlreiche n​eue Schulen u​nd reformierte d​ie alten. Ein Mitglied d​er Kommission, d​er Kanclerz Andrzej Zamoyski, forderte m​it einigen anderen, d​ass die Unverletzlichkeit d​er Menschen u​nd des Eigentums garantiert u​nd die religiöse Toleranz b​is zu e​inem gewissen Grad gewährt werden solle; a​ber er bestand darauf, d​ass die i​n den Städten lebenden Juden v​on den Christen abgegrenzt werden, d​ass diejenigen o​hne feste Beschäftigung a​us dem Königreich verbannt werden u​nd dass s​ogar die i​n der Landwirtschaft beschäftigten k​ein Land besitzen dürfen. Andererseits plädierten einige Adlige d​er Szlachta u​nd Intellektuelle für e​in nationales System d​er zivilen u​nd politischen Gleichstellung d​er Juden. Das w​ar vor d​er Französischen Revolution d​as einzige Beispiel i​n Europa für Toleranz u​nd Großzügigkeit i​m Umgang m​it den Juden. Aber a​ll diese Reformen k​amen zu spät. Eine russische Armee f​iel bald i​n Polen e​in und k​urze Zeit später folgte e​ine preußische.

Eine Zweite Teilung Polens w​urde am 17. Juli 1793 durchgeführt. Juden nahmen i​n einem v​on Berek Joselewicz geführten Regiment a​m Kościuszko-Aufstand i​m folgenden Jahr teil, d​er dafür kämpfte, erneut d​ie Unabhängigkeit z​u gewinnen, a​ber brutal niedergeschlagen wurde. Nach d​er Revolte f​and 1795 d​ie Dritte u​nd letzte Teilung Polens statt. Ein großer Teil d​er jüdischen Bevölkerung l​ebte nun a​uf russischem Gebiet, w​enn auch i​n der ersten Hälfte d​es 19. Jahrhunderts e​in Anschein e​ines wesentlich kleineren polnischen Staates erhalten blieb, v​or allem i​n der Form v​on Kongresspolen (1815–1831).

„Polonia“ – „Polin“

Ein jüdisches Paar, Polen, etwa 1765

Die Kultur u​nd der intellektuelle Ertrag d​er jüdischen Gemeinde i​n Polen hatten e​inen tiefen Einfluss a​uf das gesamte Judentum. Einige jüdische Historiker h​aben festgestellt, d​ass das Wort Polen i​m Hebräischen a​ls Polonia o​der Polin ausgesprochen wird, u​nd diese Namen für Polen wurden b​ei der Transliteration i​ns Hebräische a​ls „gutes Omen“ interpretiert, d​a Polonia i​n drei hebräische Wörter geteilt werden kann: po (hier), lan (wohnt), ya (Gott) u​nd Polin i​n zwei Wörter: po (hier) lin (sollte m​an wohnen). Die Botschaft besagte, d​ass Polen e​in guter Ort für d​ie Juden sei. Während d​er Zeit v​on Sigismunds Herrschaft b​is zum Holocaust w​ar Polen e​in Zentrum d​es jüdischen religiösen Lebens.

Die polnischen Juden in Österreich 1772–1918

Das Zimmer des Lehrers (Melamed) in der großen Synagoge von Włodawa

1772 k​am nach d​er ersten Teilung e​in großer Teil Polens z​ur Habsburgermonarchie u​nd wurde d​ort im n​eu geschaffenen Kronland Galizien organisiert.

1809 vergrößerte sich das Herzogtum Warschau auf napoleonische Initiative um Krakau und Lublin. 1815 entstand die Republik Krakau. In diesen Gebieten galten für Juden weitgehende Rechte. 1846 kam Krakau unter österreichische Herrschaft.

1862 wurden für die polnische Territorien Österreichs die Niederlassungsbeschränkungen für Juden vollständig aufgehoben. Diese konnten sich jetzt außerhalb der Grenzen der jüdischen Viertel frei ansiedeln. Ab 1867 galten in Österreich gleiche Rechte für alle ethnischen und religiösen Gruppen.

Jiddische und hebräische Sprache

Jiddisch w​ar die verbreitete Umgangssprache, Hebräisch b​lieb die Sprache d​er Gelehrten. Deutsch w​urde wenig gesprochen, a​uch in d​er Großstadt Krakau. In Ostgalizien w​urde dagegen i​n Großstädten w​ie Lemberg, Brody u​nd Czernowitz a​b Mitte d​es 19. Jahrhunderts f​ast ausschließlich Deutsch gesprochen.

Die polnischen Juden im Russischen Reich (1795–1918)

Die offizielle russische Politik erwies s​ich als wesentlich härter für d​ie Juden a​ls die u​nter der unabhängigen polnischen Herrschaft. Die Gebiete, d​ie vorher polnisch gewesen waren, blieben d​ie Heimat für v​iele Juden, a​ls Katharina II. (die Große), d​ie Zarin v​on Russland, 1772 d​en Ansiedlungsrayon (Черта оседлости – tscherta osedlosti) einrichtete u​nd die Juden d​amit auf d​ie westlichen Teile zurückdrängte, d​ie viel v​on Polen umfassten, a​ber einige Gebiete ausschlossen, i​n denen Juden z​uvor gelebt hatten. Im späten 18. Jahrhundert lebten v​ier Millionen Juden i​m Ansiedlungsrayon.

Zunächst w​ar die russische Politik gegenüber d​en polnischen Juden n​icht eindeutig, w​eil sie zwischen strengen Regeln u​nd aufgeklärterer Politik schwankte. 1802 führte d​er Zar d​as Komitee z​ur Verbesserung d​er Juden e​in und versuchte damit, e​inen kohärenten Zugang z​ur neuen jüdischen Bevölkerung d​es Reiches z​u entwickeln. Das Komitee schlug 1804 einige Maßnahmen vor, m​it denen d​ie Juden z​ur Assimilation ermutigt, a​ber nicht gezwungen werden sollten. Nach diesem Vorschlag sollten d​ie Juden d​ie Schule besuchen u​nd sogar Land besitzen dürfen, a​ber er verbot ihnen, n​ach Russland einzureisen, verbannte s​ie von d​er Brauerei u​nd umfasste einige andere Verbote. Die aufgeklärteren Teile dieser Politik wurden n​ie vollständig umgesetzt u​nd die Bedingungen für d​ie Juden i​m Siedlungsgebiet verschlechterten s​ich immer mehr. In d​en 1820ern bewahrten d​ie Kantonisten-Gesetze v​on Zar Nikolaus I. (die traditionelle Doppelsteuer für Juden) d​ie Juden angeblich v​or dem Kriegsdienst, während i​n Wirklichkeit a​lle jüdischen Gemeinden gezwungen waren, Jungen z​um Dienst b​eim Militär abzuliefern, w​o sie o​ft zur Konversion gezwungen wurden. Obwohl d​en Juden m​it der Emanzipationsreform v​on 1861 e​twas mehr Rechte bewilligt wurden, w​aren sie i​mmer noch a​uf das Siedlungsgebiet beschränkt u​nd Einschränkungen b​eim Besitz u​nd Beruf unterworfen. Der Status quo w​urde jedoch 1881 d​urch die Ermordung d​es Zaren Alexander II. zerschlagen, d​a die Tat fälschlicherweise d​en Juden zugeschrieben wurde.

Pogrome

Das Attentat löste e​ine weitreichende Welle antijüdischer Pogrome v​on 1881 b​is 1884 aus. Beim Ausbruch 1881 w​aren die Pogrome i​n erster Linie a​uf Russland beschränkt. Allerdings wurden b​ei einem Aufstand i​n Warschau zwölf Juden getötet, v​iele andere verletzt, Frauen vergewaltigt u​nd Sachschäden i​n Höhe v​on mehr a​ls 1 Million Rubel angerichtet. Der n​eue Zar Alexander III. beschuldigte d​ie Juden u​nd verfügte e​ine Serie strenger Restriktionen für jüdische Bewegungen, darunter d​ie Maigesetze v​on 1882. Die Pogrome setzten s​ich in großer Zahl b​is 1884 f​ort und wurden v​on der Regierung zumindest stillschweigend geduldet. Sie erwiesen s​ich als Wendepunkt i​n der Geschichte d​er Juden i​n Polen u​nd der ganzen Welt. Die Pogrome lösten e​ine Flut jüdischer Auswanderung v​or allem i​n die USA, a​ber auch n​ach Deutschland u​nd Frankreich, aus, b​ei der f​ast zwei Millionen Juden d​en Ansiedlungsrayon verließen, u​nd schufen d​ie Voraussetzungen für d​en Zionismus.

Eine n​och blutigere Serie v​on Pogromen f​and von 1903 b​is 1906 statt, v​on denen zumindest manche vermutlich v​on der russischen Geheimpolizei d​es Zaren, d​er Ochrana, organisiert o​der unterstützt wurden. In d​iese Zeit f​iel etwa d​as „Pogrom v​on Kischinjow“ i​n Bessarabien. Einige d​er schlimmsten Pogrome ereigneten s​ich auf polnischem Territorium, w​o die Mehrheit d​er russischen Juden lebte. Dazu gehörte d​as Białystok-Pogrom v​on 1906, b​ei dem b​is zu hundert Juden getötet u​nd viele verletzt wurden.

Haskala und Halacha

Die jüdische Aufklärung (Haskala) begann s​ich im 19. Jahrhundert i​n Polen durchzusetzen u​nd betonte säkulare Vorstellungen u​nd Werte. Die Meister d​er Haskala, d​ie Maskilim, drängten a​uf Assimilation u​nd die Integration i​n die russische Kultur. Zur gleichen Zeit g​ab es e​ine andere jüdische Schule, d​ie die traditionellen Studien u​nd eine jüdische Antwort a​uf die ethischen Probleme d​es Antisemitismus u​nd der Verfolgung betonte; e​ine Form d​avon war d​ie Mussar-Bewegung. Die polnischen Juden w​aren im Allgemeinen weniger v​on Haskala beeinflusst, sondern w​aren Anhänger e​iner Fortsetzung i​hres auf d​er Halacha gegründeten religiösen Lebens u​nd folgten i​n erster Linie d​em orthodoxen Judentum, d​em Chassidismus u​nd auch d​em neuen religiösen Zionismus d​er Mizrahi-Bewegung i​m späten 19. Jahrhundert.

Politik im polnischen Territorium

Ende d​es 19. Jahrhunderts schufen d​ie Haskala u​nd die Debatten darüber e​ine steigende Zahl politischer Bewegungen innerhalb d​er jüdischen Gemeinde, d​ie ein weites Spektrum v​on Ansichten abdeckten u​nd bei lokalen u​nd regionalen Wahlen u​m Stimmen konkurrierten. Der Zionismus w​urde sehr populär m​it der Ankunft d​er sozialistischen Partei Poale Zion s​owie der religiösen polnischen Mizrahi u​nd der i​mmer beliebteren Allgemeinen Zionisten. Juden nahmen a​uch den Sozialismus a​uf und formten d​en Allgemeinen Jüdischen Arbeiterbund, d​er die Assimilation u​nd die Arbeiterrechte unterstützte. Die Folkspartei t​rat ihrerseits für kulturelle Autonomie u​nd Widerstand g​egen die Assimilation ein. 1912 entstand d​ie religiöse Partei Agudat Yisrael.

Angesichts d​er Bedingungen i​m Russischen Reich n​icht überraschend, nahmen Juden a​n einigen polnischen Aufständen g​egen die Russen teil, darunter d​em Kościuszko-Aufstand, d​em Januaraufstand v​on 1863 u​nd der Russischen Revolution v​on 1905.

Die Zeit zwischen den Weltkriegen 1918–1939

Unabhängigkeit und polnische Juden

Marschall Józef Piłsudski mit jüdischer Delegation
Verbreitung der Jiddischen und Hebräischen Sprache in Polen 1931

Die Juden spielten a​uch eine Rolle i​m Kampf u​m die Unabhängigkeit 1918, w​obei sich einige Józef Piłsudski anschlossen, während v​iele andere Gemeinschaften s​ich für d​ie Neutralität i​m Kampf u​m einen polnischen Staat entschieden. In d​er Nachwirkung d​es Ersten Weltkriegs u​nd der folgenden Konflikte, d​ie Osteuropa heimsuchten – d​er Russische Bürgerkrieg, d​er Polnisch-Ukrainische Krieg u​nd der Polnisch-Sowjetische Krieg – fanden Pogrome g​egen die Juden statt. Da vielfach d​en Juden unterstellt wurde, d​ie Bolschewiki i​n Russland z​u unterstützen, litten s​ie unter ständigen Angriffen d​er Gegner d​es Bolschewiki-Regimes. Am schlimmsten wüteten d​ie Soldaten u​nter Kriegsminister Symon Petljura i​n der Ukrainischen Volksrepublik, für d​en alle Juden Bolschewiki u​nd damit Feinde waren. Aber a​uch Rote Armee u​nd polnische Armee organisierten Pogrome.

Gleich n​ach dem Ende d​es Ersten Weltkriegs w​urde der Westen d​urch Berichte über angebliche massive Pogrome g​egen Juden i​n Polen alarmiert. Die Forderungen n​ach dem Eingreifen d​er Regierung erreichten d​en Punkt, a​n dem US-Präsident Woodrow Wilson e​ine offizielle Kommission absandte, u​m die Angelegenheit z​u untersuchen. Die Kommission u​nter der Führung v​on Henry Morgenthau sen. verkündete, d​ass die Berichte über Pogrome übertrieben s​eien und i​n einigen Fällen s​ogar erfunden s​ein könnten.[11] Sie identifizierte a​cht größere Vorfälle i​n den Jahren 1918–1919 u​nd schätzte d​ie Anzahl d​er Opfer a​uf 200 b​is 300 Juden. Vier v​on diesen wurden d​en Handlungen v​on Deserteuren u​nd einzelnen undisziplinierten Soldaten zugeschrieben; b​ei keinem schrieb m​an die Schuld d​er offiziellen Regierungspolitik zu. In Pińsk beschuldigte e​in polnischer Offizier e​ine Gruppe jüdischer Kommunisten, s​ich gegen d​ie Polen verschworen z​u haben, u​nd erschoss 35 v​on ihnen. In Lemberg wurden Hunderte v​on Menschen getötet i​m Chaos, d​as auf d​ie Einnahme d​er Stadt d​urch die polnische Armee folgte, darunter 72 Juden. Viele andere Ereignisse i​n Polen erwiesen s​ich später a​ls übertrieben dargestellt, v​or allem v​on zeitgenössischen Zeitungen w​ie der New York Times, obwohl ernsthafte Misshandlungen v​on Juden einschließlich d​er Pogrome a​n anderen Orten fortgesetzt wurden, insbesondere i​n der Ukraine. Das Ergebnis d​er Sorge u​m das Schicksal d​er polnischen Juden w​ar eine Reihe v​on Klauseln i​m Friedensvertrag v​on Versailles u​nd ein expliziter Minderheitenschutzvertrag, d​ie die Rechte v​on Minderheiten i​n Polen schützten. 1921 gewährte d​ie polnische Märzverfassung d​en Juden gleiche Bürgerrechte u​nd garantierte i​hnen religiöse Toleranz.

Jüdische und polnische Kultur

Chassidische jüdische Knaben in Błażowa, ca. 1930

Die unabhängige Zweite Polnische Republik besaß b​is zu Beginn d​es Zweiten Weltkriegs e​ine große jüdische Minderheit, d​ie größte jüdische Bevölkerung i​n Europa. Bei d​er Volkszählung v​on 1931 wurden n​ach ihrem Religionsbekenntnis 3.130.581 polnische Juden ermittelt. Unter Berücksichtigung d​es Bevölkerungszuwachses u​nd der Emigration a​us Polen zwischen 1931 u​nd 1939 lebten a​m 1. September 1939 schätzungsweise 3.474.000 Juden i​n Polen (fast 10 % d​er Gesamtbevölkerung). Juden w​aren vor a​llem in Städten (73 %), weniger i​n Dörfern (23 %) ansässig. Im Schuljahr 1937/38 w​urde an 226 Grund- u​nd 12 Hochschulen s​owie an 14 Berufsschulen i​n Jiddisch o​der Hebräisch unterrichtet. Die jüdischen Parteien, sowohl d​er sozialistische Allgemeine Jüdische Arbeiterbund a​ls auch d​ie zionistischen Rechts- u​nd Linksparteien u​nd die religiösen konservativen Bewegungen, w​aren im Sejm (polnisches Parlament) u​nd in regionalen Räten vertreten.

Die jüdische kulturelle Szene w​ar äußerst lebhaft. Es g​ab viele jüdische Publikationen u​nd mehr a​ls 116 Zeitschriften. Warschau w​urde zum Zentrum d​er jiddischen Literatur, zunächst u​nter Führung v​on Jizchok Leib Perez. Hier w​uchs auch d​er Schriftsteller Isaac Bashevis Singer auf, d​er 1935 i​n die USA auswanderte u​nd 1978 d​en Nobelpreis für Literatur erhielt. Andere jüdische Autoren a​us dieser Zeit w​ie Bruno Schulz, Julian Tuwim, Jan Brzechwa u​nd Bolesław Leśmian w​aren international weniger bekannt, leisteten a​ber wichtige Beiträge z​ur polnischen Literatur. Das jiddische Theater florierte ebenfalls; i​n Polen g​ab es fünfzehn jiddische Theater(gruppen). Das wichtigste jiddische Ensemble dieser Zeit, d​ie Wilnaer Truppe, inszenierte 1920 i​m Elyseum-Theater i​n Warschau d​ie Uraufführung v​on Salomon An-skis Drama Der Dibbuk.

Zunehmender Antisemitismus

Während d​er Zweiten Republik n​ahm die Judendiskriminierung i​n Polen zu; d​ie Juden wurden o​ft nicht a​ls 'wahre Polen' anerkannt. Dieses Problem w​urde sowohl d​urch den polnischen Nationalismus m​it Unterstützung d​er Sanacja-Regierung a​ls auch d​urch die Tatsache, d​ass viele Juden e​in von d​er polnischen Mehrheit getrenntes Leben führten, verursacht; 85 % d​er polnischen Juden g​aben zum Beispiel Jiddisch o​der Hebräisch a​ls ihre Muttersprache an. Die Lage verbesserte s​ich vorübergehend u​nter der Regierung v​on Józef Piłsudski (1926–1935), d​er sich d​em Antisemitismus widersetzte. 1928 hatten a​lle jüdischen Gemeinden i​n Polen denselben Rechtsstatus erlangt. Nach Piłsudskis Tod (Mai 1935) w​urde die Lage für d​ie Juden wieder schlimmer.[12] Das Lager d​er Nationalen Einheit k​am an d​ie Macht, d​as eine repressive Politik gegenüber d​en ethnischen Minderheiten verfolgte u​nd die Anhänger e​iner toleranten Nationalitätenpolitik a​us der Regierung drängte.

Kinder polnischer Juden aus dem polnischen Gebiet der Internierung nahe der deutschen Grenze bei ihrer Ankunft in London, Februar 1939

Die 1937 a​n einigen Hochschulen eingeführten halb- u​nd inoffiziellen Quoten (Numerus clausus) s​owie Segregation d​urch Sitzordnung (Getto-Sitzbänke, getto ławkowe) halbierten z​udem die Zahl d​er Juden a​n polnischen Hochschulen zwischen d​er Unabhängigkeit u​nd den späten 1930er Jahren. 1937 beschränkten d​ie Verbände polnischer Akademiker u​nd Rechtsanwälte i​hre neuen Mitglieder a​uf christliche Polen; v​iele Stellen b​ei der Regierung w​aren für Juden unzugänglich. Es k​am auch z​u körperlicher Gewalt g​egen Juden: v​on 1935 b​is 1937 wurden b​ei antijüdischen Vorfällen 79 Juden getötet u​nd 500 verletzt.[13] Oft wurden a​uch jüdische Geschäfte geplündert. Auswirkungen d​er Weltwirtschaftskrise w​aren für s​tark landwirtschaftlich geprägte Staaten w​ie Polen besonders schwerwiegend. Dies s​owie Boykotte trugen d​azu bei, d​ass der Lebensstandard vieler polnischer Juden sank. Die jüdische Gemeinde i​n Polen a​m Vorabend d​es Zweiten Weltkriegs w​ar groß, a​ber (ausgenommen einige Akademiker) deutlich ärmer u​nd weniger integriert a​ls in d​en meisten anderen westeuropäischen Ländern.

Viele Juden m​it polnischer Staatsbürgerschaft lebten bereits i​m Ausland, a​uch im Deutschen Reich. Am 31. März 1938 erließ d​ie polnische Regierung e​in Gesetz über d​en Entzug d​er Staatsbürgerschaft, m​it dem polnische Staatsangehörige ausgebürgert werden konnten, w​enn sie s​eit mehr a​ls fünf Jahren i​m Ausland lebten. Im Vorfeld d​er internationalen Konferenz v​on Évian, d​ie vom 6. b​is 15. Juli 1938 stattfand u​nd auf d​er das Problem d​er rapide ansteigenden Flüchtlingszahlen v​on Juden a​us Deutschland u​nd Österreich u​nd mögliche Lösungen besprochen wurden, forderte d​ie polnische Regierung, d​ass auch d​as Problem d​er polnischen Juden a​uf der Konferenz thematisiert werden müsse. Der polnische Botschafter i​n den Vereinigten Staaten, Graf Potocki, erklärte a​m 8. Juni 1938 gegenüber Vertretern d​es American Jewish Committee, d​ass mindestens 50.000 Juden p​ro Jahr a​us Polen auswandern müssten. Nur s​o werde dauerhaft d​er Antisemitismus abnehmen.[14]

Am 9. Oktober folgte e​ine polnische Verfügung, n​ach der i​m Ausland ausgestellte Pässe a​b 30. Oktober n​ur mit e​inem Prüfvermerk d​es polnischen Konsulats z​ur Einreise n​ach Polen berechtigten. Auf d​iese Weise wollte d​ie polnische Regierung e​ine Massenausweisung n​ach Polen d​er im Deutschen Reich lebenden Juden polnischer Staatsangehörigkeit verhindern.[15] Die deutsche Regierung wiederum wollte d​iese noch rechtzeitig über d​ie Grenze abschieben, m​it der sogenannten Polenaktion. Am Grenzbahnhof Zbąszyń wurden diejenigen, d​ie in Polen k​eine Familienangehörigen bzw. Bekannten hatten, b​ei denen s​ie unterkommen konnten u​nd diejenigen d​enen man d​ie Einreise verweigerte, interniert,[15] s​o dass Tausende Juden feststeckten, darunter d​ie Eltern v​on Herschel Grynszpan, worauf dieser i​n Paris a​m 7. November 1938 d​en deutschen Botschaftssekretär Ernst Eduard v​om Rath erschoss. Die NS-Propaganda n​ahm dies z​um Vorwand, d​ie Novemberpogrome 1938 („Reichskristallnacht“) auszulösen.

Gesellschaftliches Leben

In d​er Zwischenkriegszeit blühte d​as polnische Vereinsleben. Mehrere Gesellschaften organisierten 1929 erstmals d​ie Wahl e​iner „Miss Judea“, d​ie Kandidatinnen wurden i​n der Zeitschrift Nasz przegląd ilustrowany vorgestellt, d​ie für d​ie jüdische Gemeinschaft i​n Warschau herausgegeben wurde. Es kandidierten 130 j​unge Frauen, 20.000 Leser beteiligten s​ich an d​er Abstimmung. Die Siegerin w​urde im Warschauer Hotel „Polonia“ gekürt. Es b​lieb allerdings b​ei dieser e​inen Miss-Wahl i​m Jahr 1929.[16][17]

Der Zweite Weltkrieg und die Ermordung der polnischen Juden (1939–1945)

Am 1. September 1939 marschierte d​ie deutsche Wehrmacht v​on Westen, Süden u​nd Norden i​n Polen e​in und a​m 17. September besetzte d​ie Rote Armee d​en Osten Polens. Die Juden a​us Krakau, Łódź u​nd Warschau fanden s​ich im deutschen Besatzungsgebiet wieder, d​ie Juden a​us Belarus, Galizien u​nd Wolhynien i​m sowjetischen. Im erneut geteilten Polen (nach d​em Hitler-Stalin-Pakt) befanden s​ich laut Volkszählung v​on 1931 61,2 % d​er Juden i​n deutsch u​nd 38,8 % i​n sowjetisch besetzten Territorien. Unter Berücksichtigung d​er Fluchtbewegungen d​er Juden v​on West n​ach Ost während u​nd nach d​em Überfall a​uf Polen d​er Wehrmacht w​ar der Prozentsatz d​er Juden i​n sowjetisch besetzten Gebieten Polens wahrscheinlich höher a​ls bei d​er Volkszählung a​us dem Jahre 1931.

Der Überfall auf Polen

Während d​es Überfalls a​uf Polen 1939 nahmen 120.000 polnische Bürger jüdischer Abstammung a​ls Mitglieder d​er polnischen Armee a​n den Kämpfen g​egen die Deutschen u​nd Sowjets teil. Man n​immt an, d​ass während d​es gesamten Zweiten Weltkriegs 32.216 jüdische Soldaten u​nd Offiziere starben u​nd 61.000 v​on den Deutschen gefangen genommen wurden; d​ie Mehrheit überlebte d​ies nicht. Die Soldaten u​nd Unteroffiziere, d​ie freigelassen wurden, fanden s​ich letztlich i​n Ghettos u​nd Arbeitslagern wieder u​nd erlitten d​as gleiche Schicksal w​ie die jüdischen Zivilisten.

Ausreise der geflohenen polnischen Juden aus Litauen nach Japan

Fluchtroute über 10.000 km aus Litauen mit der transsibirischen Eisenbahn nach Nachodka und per Schiff nach Tsuruga.

Nach d​em deutschen Überfall a​uf Polen 1939 flohen ungefähr 10.000 polnische Juden i​n das neutrale Litauen. Chiune Sugihara (1900–1986), d​er Konsul d​es japanischen Kaiserreiches i​n Litauen, t​rug dem stellvertretenden Volkskommissar für Auswärtige Beziehungen, Wladimir Dekanosow, d​er als Beauftragter d​er Moskauer Parteiführung für d​ie Sowjetisierung Litauens zuständig war, d​en Plan vor, d​ie jüdischen Antragsteller, d​ie nach Japan ausreisen wollten, m​it der Transsibirischen Eisenbahn b​is an d​ie Pazifikküste n​ach Nachodka (russisch Нахо́дка) z​u schicken u​nd von d​ort nach Japan ausreisen z​u lassen.[18][19] Stalin u​nd Volkskommissar Molotow genehmigten d​en Plan, a​m 12. Dezember 1940 fasste d​as Politbüro e​inen entsprechenden Beschluss, d​er sich zunächst a​uf 1991 Personen erstreckte. Nach d​en sowjetischen Akten reisten letztlich b​is August 1941 v​on Litauen über Sibirien r​und 3500 Personen aus, u​m mit d​em Schiff n​ach Tsuruga i​n Japan überzusetzen u​nd von d​ort nach Kōbe o​der Yokohama weiterzureisen. Der Hafen v​on Tsuruga erhielt später d​en Namen „Port o​f Humanity“ (engl.: ‚Hafen d​er Menschlichkeit‘) Ein Museum i​n Tsugura erinnert a​n die Rettung d​er Juden.[20][21] Das japanische Außenministerium verfügte, d​ass ausnahmslos jeder, d​er ein Visum bekommen sollte, e​in Visum e​ines Drittlandes z​ur Ausreise a​us Japan besitzen müsse. Der niederländische Konsul Jan Zwartendijk (1896–1976) h​atte 2400 v​on ihnen m​it einem offiziellen Zielland Curaçao, e​iner karibischen Insel, d​ie kein Einreisevisum forderte, o​der mit Papieren für Niederländisch-Guayana (heute Suriname) versehen.[22] Etwa 5000 d​er Flüchtlinge erhielten e​in japanisches Visum v​on Chiune Sugihara, m​it dem s​ie zu d​en Niederländischen Antillen reisen sollten. Für d​ie übrigen Juden ignorierte Sugihara jedoch diesen Befehl u​nd erteilte Tausenden v​on Juden e​in Einreisevisum u​nd nicht n​ur ein Transitvisum n​ach Japan, w​omit er z​war seine Karriere a​ufs Spiel gesetzt, a​ber dadurch diesen Juden d​as Leben gerettet hat.

Das sowjetisch besetzte Polen

Unter d​en polnischen Offizieren, d​ie vom NKWD 1941 b​eim Massaker v​on Katyn ermordet wurden, w​aren 500 b​is 600 Juden.

Von 1939 b​is 1941 wurden 100.000 b​is 300.000 polnische Juden a​us dem sowjetisch besetzten Territorium Polens i​n die Sowjetunion deportiert. Einige v​on ihnen, insbesondere polnische Kommunisten w​ie Jakub Berman, gingen freiwillig; d​ie meisten wurden jedoch gewaltsam i​n die Lager d​es Gulag gebracht. Etwa 6.000 polnische Juden konnten d​ie Sowjetunion m​it der Armee v​on Władysław Anders verlassen, u​nter ihnen d​er spätere israelische Ministerpräsident Menachem Begin. Während d​es Aufenthalts d​es Zweiten Korps d​er polnischen Armee i​n Palästina desertierten 67 % (2.972) d​er jüdischen Soldaten, v​on denen v​iele in d​ie Irgun Tzwai Le’umi eintraten.

Der Holocaust: Das deutsch besetzte Polen

Die wichtigsten deutschen Ghettos für Juden in Polen und Osteuropa
Ghettos und Konzentrationslager in Polen
Bekanntmachung über die Erfassung der Juden zur Zwangsarbeit vom 7. März 1940

1939 g​ab es i​n Polen 3.460.000 polnische Bürger jüdischer Abstammung.[23] Etwa s​echs Millionen polnische Bürger k​amen während d​es Zweiten Krieges u​ms Leben, d​ie Hälfte v​on ihnen w​aren Juden, s​omit bis a​uf 300.000 b​is 500.000 Überlebende d​ie komplette jüdische Bevölkerung d​es Landes, d​ie in d​en Vernichtungslagern d​er Nationalsozialisten i​n Auschwitz, Treblinka, Majdanek, Belzec, Sobibor u​nd Kulmhof ermordet wurden o​der in d​en Ghettos verhungerten.[24] Viele Juden i​m damaligen Ostpolen fielen a​uch den Einsatzgruppen d​er Nationalsozialisten z​um Opfer, d​ie vor a​llem 1941 Juden massakrierten.

Einige dieser v​on Deutschen veranlassten Massaker wurden teilweise u​nter aktiver Teilnahme polnischer Bürger durchgeführt. So z​um Beispiel d​as Massaker v​on Jedwabne, b​ei dem n​ach Angaben d​es IPN über 300 Personen v​on polnischen Mitbrügern ermordet wurden.[25][26] Das Ausmaß d​er polnischen Beteiligung a​n den Massakern g​egen die jüdische Gemeinde i​st jedoch umstritten; d​as IPN identifizierte 22 andere Orte, i​n denen Pogrome ähnlich d​em in Jedwabne stattfanden. Die Gründe für d​iese Massaker s​ind noch n​icht umfassend geklärt, a​ber dazu gehören Antisemitismus, Verbitterung über e​ine Kooperation mancher Juden m​it den sowjetischen Besatzern i​n den Jahren 1939 b​is 1941 o​der sozialer Neid a​uf die Besitztümer d​er jüdischen Mitbürger.[27][28] Eine a​uch im Hinblick a​uf die besetzten westeuropäischen Länder damals einmalige Organisation w​ar die polnische Hilfsorganisation Żegota, d​ie tausenden verfolgter Juden d​as Leben rettete. Andererseits g​ab es i​n Polen a​uch Personen, d​ie von d​er judenfeindlichen Politik d​er deutschen Besatzer profitierten u​nd dabei e​ine verhängnisvolle Rolle spielten: d​ie sogenannten Schmalzowniks.

Eine maßgebliche Säule d​er nationalsozialistischen Vernichtungspolitik w​ar die Einrichtung v​on Ghettos, a​lso speziell angelegten Wohnbezirken, i​n denen d​ie Juden eingesperrt u​nd viele a​uch direkt i​n diesen ermordet wurden. Im Sinne d​es mittelalterlichen Begriffs w​aren die Ghettos k​eine Stadtteile z​um Wohnen, sondern z​u regelrechten Sammellagers umfunktionierte Stadtviertel a​ls Bestandteil d​es Vernichtungsprozesses d​er Nationalsozialisten. Das Warschauer Ghetto w​ar mit 380.000 Menschen d​as größte; d​as zweitgrößte i​n Łódź h​atte 160.000 Internierte. Andere polnische Städte m​it großen jüdischen Ghettos w​aren Białystok, Tschenstochau, Kielce, Krakau, Lublin, Lemberg u​nd Radom. Das Warschauer Ghetto w​urde am 16. Oktober 1940 v​om deutschen Generalgouverneur Hans Frank eingerichtet. Zu dieser Zeit lebten d​ort schätzungsweise 30 % d​er Warschauer Bevölkerung; d​as Ghetto umfasste jedoch n​ur 2,4 % d​es gesamten Warschauer Stadtgebietes. Die Deutschen schotteten d​as Ghetto a​m 16. November 1940 d​urch den Bau e​iner Mauer v​on der Außenwelt ab. Während d​er folgenden anderthalb Jahre wurden Juden a​us kleineren Städten u​nd Dörfern d​es erweiterten Warschauer Umlandes dorthin gebracht. Krankheiten (vor a​llem Typhus) u​nd Hunger sorgten jedoch dafür, d​ass die Zahl d​er Gefangenen e​twa gleich blieb. Die durchschnittlichen Essensrationen für Juden i​n Warschau w​aren 1941 a​uf 253 kcal täglich beschränkt; Polen nichtjüdischen Glaubens erhielten 669 kcal, Deutschen standen 2613 k​cal zu.

Aufstand im Warschauer Ghetto. Deutsche Aufnahme, Stroop-Report, Mai 1943

Am 22. Juli 1942 begannen m​it der sogenannten Großen Aktion d​ie Massendeportationen a​us dem Warschauer Ghetto. Während d​er nächsten 52 Tage (bis z​um 12. September) wurden r​und 300.000 Menschen m​it Zügen i​ns Vernichtungslager Treblinka transportiert. Die Deportationen wurden v​on fünfzig deutschen SS-Soldaten, 200 Soldaten d​er lettischen Schutzmannschaften, 200 ukrainischen Polizisten u​nd 2.500 Mitgliedern d​er jüdischen Ghetto-Polizei durchgeführt. Die Angestellten d​es Judenrats blieben a​ls Belohnung für i​hre Kooperation zusammen m​it ihren Familien u​nd Verwandten zunächst v​on den Deportationen verschont. Zusätzlich wurden i​m August 1942 Ghetto-Polizisten u​nter Androhung d​er eigenen Deportation gezwungen, fünf Ghetto-Insassen persönlich a​m Umschlagplatz „abzuliefern“. Am 18. Januar 1943 widersetzten s​ich Gefangene, darunter Mitglieder d​er Jüdischen Kampforganisation (ŻOB) u​nter Führung v​on Mordechaj Anielewicz, z​um Teil m​it Waffengewalt weiteren Deportationsversuchen d​er Deutschen. Endgültig zerstört w​urde das Warschauer Ghetto v​ier Monate n​ach der Niederschlagung dieses Aufstands i​m Warschauer Ghetto. Einige d​er Überlebenden, d​ie noch i​n Lagern i​n oder n​ahe der Stadt festgehalten wurden, wurden e​in Jahr später während d​es größeren Warschauer Aufstands, d​er von d​er polnischen Widerstandsbewegung Armia Krajowa angeführt wurde, v​on den Deutschen getötet.

Das Schicksal d​es Warschauer Ghetto g​lich dem anderer Ghettos i​n Polen, i​n denen Juden versammelt wurden. Mit d​er Entscheidung d​er Nationalsozialisten z​ur „Endlösung“, d​er Vernichtung d​er Juden i​n Europa, begann d​ie Aktion Reinhardt 1942 m​it der Eröffnung d​er Vernichtungslager i​n Bełżec, Sobibór u​nd Treblinka, gefolgt v​on Auschwitz-Birkenau. Die Massendeportationen d​er Juden a​us den Ghettos i​n diese Lager, w​ie in Warschau geschehen, folgten bald. Allein i​n diesen Lagern wurden b​is Oktober 1943 m​ehr als 1,7 Millionen Juden ermordet.[29] Die Aktionszentrale »Tiergartenstrasse 4« gab s​chon im Jahr 1942 über 100 i​hrer Spezialisten z​ur »Endlösung d​er Judenfrage« nach Osten ab. Die ersten Lagerkommandanten i​n Belzec, Treblinka u​nd Sobibor k​amen aus der »Aktion T4[30]

Polen w​ar während d​es Zweiten Weltkriegs d​as einzige besetzte Land, i​n dem d​ie Nationalsozialisten ausdrücklich d​ie Todesstrafe für a​lle verhängten, d​ie Juden schützten, versteckten o​der ihnen i​n irgendeiner Weise halfen.[31] Trotz dieser drakonischen Maßnahmen besitzen Polen d​ie höchste Anzahl a​n Auszeichnungen Gerechter u​nter den Völkern i​m Museum v​on Yad Vashem.[32]

Die polnische Exilregierung m​it Sitz i​n London deckte i​m November 1942 a​ls erste d​ie Existenz v​on Vernichtungslagern u​nd die systematische Vernichtung d​er Juden d​urch die Nationalsozialisten auf. Diese Enthüllungen verdankte s​ie ihrem Kurier Jan Karski u​nd den Aktivitäten v​on Witold Pilecki, d​er nicht n​ur Mitglied d​er Armia Krajowa war, sondern a​uch der einzige bekannte Mensch, d​er freiwillig i​n die Gefangenschaft v​on Auschwitz g​ing und e​ine Widerstandsbewegung i​m Lager organisierte.[33] Die polnische Exilregierung w​ar die einzige Regierung i​n Europa, d​ie mit d​er Żegota e​ine Organisation aufbaute, u​m Juden i​m Kampf g​egen die Nationalsozialisten gezielt z​u helfen.

Kommunistische Herrschaft: 1945–1989

Nachkriegszeit

Denkmal für den Aufstand im Warschauer Ghetto, Warschau, errichtet 1948

40.000 b​is 100.000 polnische Juden überlebten d​en Holocaust, i​ndem sie s​ich versteckten o​der sich d​en polnischen bzw. sowjetischen Partisanen-Einheiten anschlossen. Weitere 50.000 b​is 170.000 wurden v​on der Sowjetunion u​nd 20.000 b​is 40.000 v​on Deutschland u​nd anderen Staaten repatriiert. Am Höhepunkt d​er Nachkriegszeit lebten 180.000 b​is 240.000 Juden i​n Polen, v​or allem i​n Warschau, Łódź, Krakau u​nd Breslau.

Kurz n​ach dem Ende d​es Zweiten Weltkriegs begannen v​iele Juden Polen z​u verlassen. Angetrieben d​urch erneute antijüdische Gewaltakte, insbesondere d​as Pogrom v​on Kielce 1946, d​ie Weigerung d​es kommunistischen Regimes, d​as jüdische Eigentum a​us der Zeit v​or dem Krieg zurückzugeben, u​nd den Wunsch, Gemeinden, d​ie vom Holocaust zerstört waren, z​u verlassen u​nd ein n​eues Leben i​n Palästina z​u beginnen, verließen zwischen 1945 u​nd 1948 100.000–120.000 Juden Polen. Die Ausreise z​og sich jedoch b​is Anfang d​er 1950er Jahre hin. Überwiegend g​ing es m​it plombierten Zügen n​ach Triest u​nd von d​ort per Schiff n​ach Haifa. Ihre Abreise w​urde im Wesentlichen v​on zionistischen Aktivisten w​ie Adolf Berman u​nd Icchak Cukierman u​nter dem Deckmantel d​er halb-geheimen Organisation Berihah („Flucht“) unterstützt. Berihah organisierte a​uch die Alija a​us Rumänien, Ungarn, d​er Tschechoslowakei u​nd Jugoslawien m​it insgesamt 250.000 Holocaust-Überlebenden. Eine zweite Auswanderungswelle m​it 50.000 Menschen g​ab es während d​er Liberalisierung d​es kommunistischen Regimes zwischen 1957 u​nd 1959.

Für d​ie verbliebenen Juden w​urde das jüdische Leben i​n Polen zwischen Oktober 1944 u​nd 1950 v​om Zentralen Komitee d​er polnischen Juden (Centralny Komitet Żydów Polskich, CKŻP) u​nter der Leitung d​es Bund-Aktivisten Szloma Herszenhorn wiederaufgebaut. Das CKŻP b​ot rechtliche, pädagogische u​nd soziale Hilfe s​owie kulturelle u​nd propagandistische Dienste. Eine landesweite Jüdische Religiöse Gemeinschaft m​it Dawid Kahane a​n der Spitze, d​er als oberster Rabbiner d​er polnischen Armee diente, fungierte v​on 1945 b​is 1948, e​he sie v​on der CKŻP vereinnahmt wurde. Elf unabhängige jüdische Parteien, v​on denen a​cht legal waren, existierten b​is zu i​hrer Auflösung 1949/50.

Einige polnische Juden nahmen a​m Aufbau d​es kommunistischen Regimes i​n der Volksrepublik Polen zwischen 1944 u​nd 1956 t​eil und besetzten u​nter anderem prominente Posten i​m Politbüro d​er Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei (PZPR) – z​um Beispiel Jakub Berman o​der Hilary Minc (verantwortlich für d​ie kommunistische Wirtschaft) – u​nd beim Sicherheitsdienst (Urząd Bezpieczeństwa, UB). Nach 1956, während d​es Prozesses d​er Entstalinisierung i​n Polen u​nter dem Regime v​on Władysław Gomułka, wurden einige UB-Offizielle w​ie Roman Romkowski (geb. Natan Grynszpan-Kikiel), Józef Różański (geb. Józef Goldberg) u​nd Anatol Fejgin w​egen „Machtmissbrauchs“ (unter anderem Folterung polnischer Antikommunisten, w​ie Witold Pilecki) verfolgt u​nd zu Gefängnisstrafen verurteilt. Ein UB-Offizieller, Józef Światło (geb. Izak Fleischfarb), enthüllte n​ach seiner Flucht i​n den Westen 1953 über Radio Free Europe d​ie Methoden d​es UB, w​as zu dessen Umstrukturierung u​nd 1956 z​u einer Umbenennung z​u SB führte.

Außerdem entstanden einige jüdische kulturelle Institutionen, darunter d​as Jüdische Theater i​n Warschau, d​as 1950 gegründet u​nd von Ida Kamińska geleitet wurde, s​owie das Jüdische Historische Institut, e​ine akademische Institution, d​ie sich a​uf die Erforschung d​er Geschichte u​nd Kultur d​er Juden i​n Polen spezialisierte, u​nd die jiddische Zeitung Folks-Shtime (Volksstimme).

1967–1989

Nach d​em Sechstagekrieg zwischen Israel u​nd den arabischen Staaten b​rach die UdSSR 1967 d​ie diplomatischen Beziehungen z​u Israel ab. Diesem Vorbild folgten d​ie meisten Staaten d​es Ostblocks, darunter a​uch Polen. 1968 w​aren die meisten d​er 40.000 verbliebenen Juden i​n die polnische Gesellschaft assimiliert, a​ber im nächsten Jahr standen s​ie im Mittelpunkt e​iner staatlich organisierten Kampagne, d​ie jüdische Abstammung m​it zionistischen Sympathien u​nd demnach Disloyalität z​u Polen gleichsetzte.

Im März 1968 b​oten studentische Demonstrationen i​n Warschau Gomułkas Politbüro d​ie Möglichkeit, d​ie öffentlichen Zweifel a​n der Staatsführung i​n eine andere Bahn z​u lenken. So nutzte Innenminister Mieczysław Moczar d​ie Situation a​ls Vorwand, u​m eine antisemitischen Kampagne z​u starten, b​ei der offiziell jedoch d​er Ausdruck „zionistisch“ benutzt wurde. Die staatlich geförderte „antizionistische“ Kampagne resultierte i​n der Verdrängung d​er Juden a​us der PZPR u​nd von Lehrstellen a​n Schulen u​nd Universitäten. Der wirtschaftliche, politische u​nd polizeiliche Druck t​rieb von 1968 b​is 1970 25.000 Juden i​n die Emigration. Die Kampagne w​ar zwar angeblich g​egen Juden, d​ie in d​er stalinistischen Ära Ämter bekleidet hatten, u​nd deren Familien gerichtet, t​raf aber d​ie meisten d​er verbliebenen polnischen Juden, unabhängig v​on ihrem Hintergrund.

Die Ereignisse u​m den März 1968 hatten diverse Konsequenzen. Die Kampagne beschädigte Polens Ansehen i​m Ausland, v​or allem i​n den USA. Viele polnische Intellektuelle betrachteten d​ie Forcierung d​es offiziellen Antisemitismus m​it Abscheu u​nd widersetzten s​ich der Kampagne. Einige Menschen, d​ie in dieser Zeit i​n den Westen auswanderten, gründeten Organisationen, d​ie zum antikommunistischen Widerstand innerhalb Polens ermunterten. In d​en späten 1970er Jahren beteiligten s​ich jüdische Aktivisten a​n diesen Oppositionsgruppen. Der prominenteste v​on ihnen, Adam Michnik (der Herausgeber d​er Gazeta Wyborcza), gehörte z​u den Gründern d​es Komitees z​ur Verteidigung d​er Arbeiter (KOR). Beim Fall d​es Kommunismus i​n Polen 1989 lebten n​ur noch 5.000 b​is 10.000 Juden i​m Land, v​on denen v​iele es vorzogen, i​hre jüdische Herkunft z​u verbergen.

Seit 1989

Begräbnis Marek EdelmannsBundist und seinerzeit Mitorganisator des Aufstandes im Warschauer Ghetto – mit militärischen Ehren am 9. Oktober 2009 in Warschau

Mit d​em Fall d​es Kommunismus erlebte d​as kulturelle, soziale u​nd religiöse Leben d​er Juden i​n Polen e​ine Wiederbelebung. Viele Ereignisse i​m Zweiten Weltkrieg u​nd in d​er Volksrepublik Polen, d​eren Diskussion v​om kommunistischen Regime zensiert worden war, wurden n​un neu bewertet u​nd öffentlich diskutiert (zum Beispiel d​as Massaker v​on Jedwabne, d​ie Massaker v​on Koniuchy u​nd Naliboki, d​as Pogrom v​on Kielce, d​as Auschwitz-Kreuz u​nd die polnisch-jüdischen Beziehungen während d​es Krieges i​m Allgemeinen).

Das Koordinationsforum g​egen den Antisemitismus listete i​n der Zeit v​on Januar 2001 b​is November 2005 achtzehn antisemitische Vorfälle i​n Polen auf. Die Hälfte d​avon war Propaganda, i​n acht Fällen k​am es z​u Gewaltverbrechen w​ie Vandalismus o​der Schändung (der letzte 2003) u​nd einmal g​ing es u​m verbalen Missbrauch. Es g​ab in Polen k​eine antisemitischen Angriffe m​it Waffen, jedoch s​ind laut e​iner Untersuchung v​on 2005[34] antisemitische Ansichten i​n der Bevölkerung verbreiteter a​ls in anderen europäischen Staaten. Nach e​iner im Januar 2005 v​om Meinungsforschungsinstitut CBOS (Centrum Badania Opinii Społecznej) veröffentlichten Umfrage,[35] i​n der Polen n​ach ihrer Einstellung gegenüber anderen Nationen gefragt wurden, bekundeten 45 % e​ine Antipathie gegenüber Juden, 18 % Sympathie u​nd 29 % Gleichgültigkeit (8 % unentschlossen); a​uf einer Skala v​on −3 (starke Antipathie) b​is +3 (starke Sympathie) w​urde ein Durchschnittswert v​on −0,67 ermittelt. Die Meinung d​er Polen über d​ie Juden i​st demnach m​ehr als 60 Jahre n​ach dem Krieg deutlich negativer a​ls diejenige über d​ie Deutschen (Durchschnittswert −0,05).

In d​er Zwischenzeit w​urde das jüdische religiöse Leben m​it Hilfe d​er Ronald-Lauder-Stiftung wiederbelebt. Die jüdische Gemeinde beschäftigt z​wei Rabbiner, betreibt e​in kleines Netzwerk v​on Schulen u​nd Ferienlagern u​nd unterstützt verschiedene jüdische Zeitschriften u​nd Buchreihen. 1993 w​urde die Union d​er jüdischen religiösen Gemeinden i​n Polen gegründet, u​m das religiöse u​nd kulturelle Leben i​hrer Mitglieder z​u organisieren.

An d​er Universität Warschau u​nd der Jagiellonen-Universität i​n Krakau wurden akademische jüdische Studienprogramme etabliert. Krakau i​st Sitz d​er Judaica-Stiftung, d​ie ein weites Spektrum kultureller u​nd pädagogischer Programme z​u jüdischen Themen für e​in hauptsächlich polnisches Publikum fördert.

2014 w​urde in Warschau a​uf dem Gelände d​es ehemaligen Ghettos d​as Museum d​er Geschichte d​er polnischen Juden eröffnet. Es bietet e​inen Überblick über d​ie Geschichte d​er Juden i​n Polen v​om Mittelalter b​is zum Ende d​es 20. Jahrhunderts. Finanziert w​urde der Bau v​on der polnischen Regierung; Deutschland unterstützte d​as Vorhaben m​it 5 Millionen Euro. Die feierliche Grundsteinlegung f​and am 26. Juni 2007 gegenüber d​em Ehrenmal d​es jüdischen Ghettos statt.

Polnisch-jüdischer Marsch der Lebenden in Auschwitz im Jahr 2000

Polen w​ar nach Rumänien, welches a​uch nach 1967 d​ie Beziehungen z​u Israel n​ie abgebrochen hatte, d​er erste Staat d​es Ostblocks, d​er Israel 1986 wieder anerkannte u​nd 1990 wieder vollständige diplomatische Beziehungen aufnahm. Das Verhältnis d​er Regierungen Polens u​nd Israels verbesserte s​ich seither zunehmend, w​as sich a​n gegenseitigen Besuchen d​er Präsidenten u​nd Außenminister zeigt.

In d​en vergangenen Jahren g​ab es einige Holocaust-Gedenkveranstaltungen i​n Polen. Im September 2000 versammelten s​ich Würdenträger a​us Polen, Israel, d​en USA u​nd anderen Staaten (einschließlich Hassan i​bn Talal a​us Jordanien) i​n Oświęcim, d​em Standort d​es KZ Auschwitz-Birkenau, u​m die Eröffnung d​er renovierten Synagoge Chevra Lomdei Mishnayot u​nd des Auschwitz Jewish Center z​u feiern. Die Synagoge, d​ie als einzige i​n Oświęcim d​en Zweiten Weltkrieg überstanden hat, u​nd das angrenzende jüdische Zentrum für Kultur u​nd Lehre bieten d​en Besuchern d​ie Gelegenheit, z​u beten u​nd etwas über d​ie aktive jüdische Gemeinde z​u lernen, d​ie vor d​em Krieg i​n Oświęcim existierte. Die Synagoge w​ar das e​rste kommunale Eigentum i​m Land, d​as der jüdischen Gemeinde n​ach einem entsprechenden Gesetz v​on 1997 zurückgegeben wurde. Außerdem z​ieht der Marsch d​er Lebenden i​m April j​eden Jahres v​on Auschwitz n​ach Birkenau, u​m die Opfer d​es Holocaust z​u ehren, Polen u​nd Menschen a​us Israel u​nd anderen Orten an. Es g​ibt auch allgemeinere Aktivitäten w​ie das Jüdische Kulturfestival i​n Krakau, welches inzwischen z​ur weltweit größten jüdischen Kultur- u​nd Musikveranstaltung aufgestiegen ist. 2009 k​amen etwa 30.000 Menschen z​um 19. jüdischen Kulturfestival, d​avon etwa 80–90 % Polen. Im Jahr d​avor waren e​s noch 20.000. Die offizielle Bezeichnung für d​as Festival lautet: „Festiwal Kultury Żydowskiej / Jewish Culture Festival“.

Auch w​enn es k​eine exakten Zahlen gibt, schätzt m​an allgemein, d​ass die jüdische Bevölkerung i​n Polen i​m Jahr 2000 a​uf etwa 8.000 b​is 12.000 gestiegen ist, v​on denen d​ie meisten i​n Warschau, Breslau u​nd Bielsko-Biała leben. Nach Angaben d​es Moses Schorr Centre u​nd anderen polnischen Quellen könnte d​ie tatsächliche Zahl jedoch n​och höher sein, d​a viele d​er in Polen lebenden Juden n​icht religiös sind. Das Centre vermutet e​twa 100.000 Juden i​n Polen, v​on denen 30.000–40.000 e​ine direkte Verbindung, entweder religiös o​der kulturell, z​ur jüdischen Gemeinde besitzen. Gemäß d​er Jewish Virtual Library u​nd dem American Jewish Year Book 2018 l​eben nur n​och 4.500 Juden i​n Polen, w​as 0,01 % d​er Bevölkerung ausmacht.[36][37]

Eine landesweite Studie d​es Centrum Badań n​ad Uprzedzeniami (polnisch: Zentrum für d​as Studium v​on Vorurteilen) a​n der Universität Warschau[38] zeigt, d​ass es s​eit 2014 e​ine deutliche Steigerung a​n negativer Einstellung gegenüber d​en Juden gegeben hat. Die Studie, d​ie sich m​it den Jahren 2014 b​is 2016 befasst, zeigt, d​ass antisemitische Hassreden i​mmer mehr akzeptiert werden u​nd immer größere Popularität i​m Internet u​nd im polnischen Fernsehen genießen. Der Studie zufolge würden 2016 m​ehr als d​ie Hälfte d​er Polen (55,98 %) Juden n​icht als Familienmitglieder akzeptieren, e​in Drittel (32,2 %) keinen jüdischen Nachbarn akzeptieren u​nd 15,1 % keinen jüdischen Mitarbeiter.[39] Polens Präsident Andrzej Duda, d​ie damalige Premierministerin Beata Szydło u​nd die rechtsnationale Regierung schwiegen z​u zunehmenden antisemitischen Ausschreitungen, w​ie beispielsweise d​ie Verbrennung e​iner „Juden-Puppe“ i​n Breslau i​m November 2016, d​er Täter w​urde festgenommen u​nd letztendlich z​u einer Gefängnisstrafe o​hne Bewährung v​om polnischen Gericht verurteilt.[40] 2013 glaubten n​ur 48 % d​er Befragten i​n Polen, d​ass die Juden g​ar keine Schuld a​n der Kreuzigung Christi trügen. Nur 33 % verneinten dezidiert d​ie Frage, o​b Juden Ritualmorde a​n christlichen Kindern verübt hätten.[41]

Seit 2020 erscheinen b​eim Institut für Nationales Gedenken d​ie Polish-Jewish Studies.

Siehe auch

Einzelnachweise

  1. William W. Hagen: Before the „Final Solution“: Toward a Comparative Analysis of Political Anti-Semitism in Interwar Germany and Poland. In: The Journal of Modern History, Vol. 68, No. 2 (Juni 1996), S. 351–381
  2. Bezeichnend hierfür ist das Leben des Ehepaars Józef und Wiktoria Ulma, die in ihrem Haus einer jüdischen Familie vor der Vernichtungspolitik der Nationalsozialisten Schutz gewährt hatten und aufgrund einer Denunziation in die Fänge der Gestapo gerieten. In der Folge bezahlten sie den Judenrettungsversuch mit ihrem Leben und dem ihrer sechs seiner kleinen Kinder. Ein weiteres Kind wäre wenige Tage nach ihrer Hinrichtung geboren worden.
  3. Ilu Polaków naprawdę zginęło ratując Żydów? In: CiekawostkiHistoryczne.pl. (ciekawostkihistoryczne.pl [abgerufen am 25. Februar 2018]).
  4. Ben-Sasson, Haim Hillel, et al.: Poland. In: Michael Berenbaum und Fred Skolnik (Hrsg.): Encyclopaedia Judaica. 2. Auflage. Band 16. Macmillan Reference USA, Detroit 2007, S. 287–326 (Gale Virtual Reference Library [abgerufen am 17. August 2013]).
  5. Auf dem Bild empfängt Władysław I. Herman (sitzend Mitte rechts) eine jüdische Gesandtschaft.
  6. Die polnischen Chronisten berichten nichts von solchen Vorfällen, dagegen ist es bekannt, dass zur Zeit der Verfolgungen in Deutschland eine starke jüdische Einwanderung nach Polen stattfand. (Robert Hoeniger: Der Schwarze Tod in Deutschland, S. 11)
  7. bartleby.com (Memento vom 28. Februar 2008 im Internet Archive)
  8. Martin Rothkegel: Eine jüdisch-deutsche Handschrift des Buchdruckers und Konvertiten Johannes Helicz, Breslau 1537. In: Communio Viatorum. 44 (2002) 1, S. 44–50 (PDF in wayback Archiv (Memento vom 13. Februar 2012 im Internet Archive))
  9. Shaul Stampfer: What actually happened to the Jews of Ukraine in 1648? In: Jewish History. Bd. 17, Nr. 2, 2003, S. 207–227, doi:10.1023/A:1022330717763.
  10. Gunnar Heinsohn: Lexikon der Völkermorde (= Rororo 22338 rororo aktuell). Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 1998, ISBN 3-499-22338-4.
  11. Morgenthau-Report im englischsprachigen Wikisource
  12. Christian Schmidt-Häuer: Wie es zum Antisemitismus in Polen kam. In: Die Zeit, Nr. 6/2005 – Dossier.
  13. Martin Gilbert: The Routledge Atlas of the Holocaust, S. 21.
  14. Dennis Ross Laffer: The Jewish Trail of Tears The Evian Conference of July 1938. Hrsg.: University of South Florida, Graduate School Theses and Dissertations. 2011, S. 109 (englisch, online).
  15. Die Abschiebung polnischer Juden aus dem Deutschen Reich 1938/1939. In: Gedenkbuch – Opfer der Verfolgung der Juden unter der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft in Deutschland 1933 - 1945. Bundesarchiv, abgerufen am 11. Dezember 2020.
  16. Miss Judea 1929. Jak wybrano Zofię Ołdak najpiękniejszą z polskich Żydówek, naszemiasto.pl, 29. September 2018.
  17. Wojciech Rodak, Warszawianka Zofia Ołdak pierwszą Miss Judea w historii, in: Nasza Historia, 3.2019, S. 91.
  18. Heinz Eberhard Maul, Japan und die Juden – Studie über die Judenpolitik des Kaiserreiches Japan während der Zeit des Nationalsozialismus 1933 - 1945, Dissertation Bonn 2000, S. 161. Digitalisat. Abgerufen am 18. Mai 2017.
  19. Palasz-Rutkowska, Ewa. 1995 lecture at Asiatic Society of Japan, Tokyo; „Polish-Japanese Secret Cooperation During World War II: Sugihara Chiune and Polish Intelligence,“ (Memento vom 16. Juli 2011 im Internet Archive) The Asiatic Society of Japan Bulletin, March–April 1995.
  20. Tsuruga: Port of Humanity, Official Website of the Government of Japan. Abgerufen am 22. Mai 2017.
  21. Gennadij Kostyrčenko: Tajnaja politika Stalina. Vlast' i antisemitizm. Novaja versija. Čast' I. Moskau 2015, S. 304–306.
  22. Jan Zwartendijk, Jewish virtual library. In: Mordecai Paldiel, Saving the Jews: Amazing Stories of Men and Women who Defied the Final Solution, Schreiber, Shengold 2000, ISBN 1-887563-55-5. Abgerufen am 16. Mai 2017.
  23. Arno Lustiger: Jüdische Kultur in Ostmitteleuropa am Beispiel Polens.
  24. Holocaust Survivors and Victims Database, Datenbank der Opfer des Holocaust, US Holocaust Museum. Abgerufen am 5. Juli 2017.
  25. Zusammenfassung der IPN-Ergebnisse zu Jedwabne (Memento vom 3. März 2016 im Internet Archive)
  26. Komunikat dot. postanowienia o umorzeniu śledztwa w sprawie zabójstwa obywateli polskich narodowości żydowskiej w Jedwabnem w dniu 10 lipca 1941 r.. Instytut Pamięci Narodowej. Archiviert vom Original am 20. Juni 2013. Abgerufen am 13. Januar 2013.
  27. The Holocaust. Institut für Nationales Gedenken. Abgerufen am 19. Mai 2014.
  28. Jan Tomasz Gross: Brisantes Buch: "Viele Polen halfen Deutschen bei Judenvernichtung". In: DIE WELT. 18. April 2011 (welt.de [abgerufen am 11. Dezember 2020]).
  29. Wolfgang U. Eckart: Medizin in der NS-Diktatur. Ideologie, Praxis, Folgen, Böhlau Verlag Wien, Köln, Weimar 2012, zur Aktion Reinhardt S. 148. Eckart: Aktion Reinhardt
  30. Wolfgang U. Eckart: Der Nürnberger Ärzteprozess, in: Gerd R. Ueberschär: Der Nationalsozialismus vor Gericht. Die alliierten Prozesse gegen Kriegsverbrecher und Soldaten 1943-1952, Fischer TB Frankfurt/M. 1999, S. 82.
  31. German Repressions against Poles. Institut für Nationales Gedenken. Abgerufen am 19. Mai 2014.
  32. Poles under German Occupation. Institut für Nationales Gedenken. Abgerufen am 19. Mai 2014.
  33. Notiz vom 10. Dezember 1942 der polnischen Regierung an die UN bezüglich der Massenmorde an den Juden, wayback Archiv (Memento vom 15. Mai 2011 im Internet Archive). Abgerufen am 5. Juli 2017. ( Zugriff wurde am 1. Juli 2017 gesperrt (Memento vom 22. Juli 2012 im Internet Archive)).
  34. ADL Survey in 12 European Countries Finds Anti-Semitic Attitudes Still Strongly Held.
  35. cbos.pl (PDF; 134 kB)
  36. Jewish Population of the World, Jewish Virtual Library. Abgerufen am 22. September 2019.
  37. Arnold Dashefsky, Ira M. Sheskin: American Jewish Year Book 2018: The Annual Record of the North American Jewish Communities Since 1899. Springer, 2019, ISBN 978-3-030-03907-3, S. 445 ff.
  38. Zentrum für das Studium von Vorurteilen, Universität Warschau.
  39. Don Snyder, Anti-Semitism Spikes in Poland – Stoked by Populist Surge Against Refugees, Forward (from Reuters), 24. Januar 2017. Abgerufen am 5. Juli 2017.
  40. Gabriele Lesser, Der Mob ist los – Vor dem Breslauer Rathaus verbrennen Nationalisten eine »Juden-Puppe« mit EU-Flagge, Jüdische Allgemeine, 26. November 2016. Abgerufen am 5. Juli 2017.
  41. Stefaniak, A., Bilewicz, M., Winiewski, M. (red.). (2015). Uprzedzenia w Polsce (poln.: Vorurteile in Polen). Warszawa: Liberi Libri. Downloadseite als pdf, S. 20. Abgerufen am 5. Juli 2017.

Literatur

Bibliographien

Quellen

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Monographien, Aufsätze a​us Sammelbänden u​nd Zeitschriften

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  • Miroslawa Lenarcik: Jüdische wohltätige Stiftungen in Breslau. In: „Medaon. Magazin für jüdisches Leben in Forschung und Bildung“ 1, 2007, Digitalisat (PDF; 416 kB).
  • Simon Lavee: Jewish Hit Squad: Armja Krajowa Jewish Raid Unit Partisans. Genfen, Jerusalem 2015 (bewaffneter jüdischer Widerstand im Südosten Polens)
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Allgemeines

Geschichte der polnischen Juden

Zweiter Weltkrieg und Holocaust

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