Geschichte der Juden in der Ukraine
Die Geschichte der Juden in der Ukraine beschreibt die Entwicklung jüdischen Lebens und Kultur im Gebiet der heutigen Ukraine.
Antike
Zu hellenistischer Zeit sind jüdische Siedlungen in den Städten Chersones und Pantikapaion am Schwarzen Meer bezeugt. Auf der Krim existieren bis in die Gegenwart mit den rabbinischen Krimtschaken und den oppositionellen Karäern kleine gesonderte jüdische Gruppierungen.
Kiewer Rus
In Kiew gab es wahrscheinlich bereits im 10. Jahrhundert eine jüdische Gemeinde, die zum großen Teil chasarischer Herkunft war.[1] Sie standen unter fürstlichem Schutz. Es gab ein jüdisches Stadtviertel und ein „Tor der Juden“. 1113 wurden bei einem Aufstand gegen die Oberschicht viele Juden getötet. Ein Rabbi Moses von Kiew wird in hebräischen Texten für das 12. Jahrhundert erwähnt.
Auch in Tschernihiw und Wolodymyr gab es jüdische Gemeinden.
Königreich Polen
Seit 1340 gehörte der westliche Teil der Ukraine zum Königreich Polen. Dort galten Glaubens- und Handelsfreiheit für Juden, in einem in Europa einmaligen Umfang. Seit 1348 kamen viele Juden aus Mitteleuropa nach Polen und Galizien nach Pogromen.
1352 wurde eine jüdische Gemeinde in einer Vorstadt von Lemberg erwähnt, 1387 eine Judenstraße, 1457 eine Karäergemeinde in der Vorstadt.
Ab 1506 begann eine Blütezeit für Juden in Polen unter Sigismund I. Es entwickelte sich der Rat der vier Länder als Entscheidungsorgan der Juden in Polen mit weitgehenden Entscheidungsfreiheiten. In Lemberg gab es eine Jeschiwa, deren Schüler aus ganz Europa kamen.
In der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts kamen zahlreiche Juden aus Polen nach Wolhynien und Podolien. Seit dem 17. Jahrhundert wurden die Restriktionen für Juden strenger.
Juden hatten als Händler und Steuereintreiber eine Mittelstellung zwischen polnischem Adel und der ukrainischen bäuerlichen Bevölkerung. Bei den Kosaken-Aufständen unter Bohdan Chmelnyzkyj kamen 1648 und 1649 Zehntausende Juden bei Massakern um. Im 18. Jahrhundert wurden die Juden Opfer von Angriffen der Hajdamaken unter Führung von Saporoger Kosaken. Hierbei ist insbesondere das Massaker von Uman während des Kolijiwschtschyna-Aufstandes der Hajdamaken 1768 unter Iwan Gonta und Maksym Salisnjak zu nennen.
Um 1740 entstand in Medschybisch in Podolien durch Rabbi Baal Schem Tow die religiöse Bewegung des Chassidismus. Diese breitete sich bald über ganz Ostmitteleuropa aus. Zentren in der Ukraine waren unter anderem Bels, Berdytschiw, Brody, Jampil, Lemberg, Mesritsch, Solotschiw, Tjatschiw.
Kaiserreiche Russland und Österreich
1772 wurde die Ukraine geteilt, der nördliche Teil mit Wolhynien und Podolien kam zu Russland, der Süden mit Galizien zu Österreich. In beiden Teilen gab es zeitweise verhältnismäßig gute Lebensmöglichkeiten. Die jüdische Bevölkerung lebte in eigenen Stadtteilen, den sogenannten Schtetl. Im Russischen Kaiserreich war die jüdische Ansiedlung auf den Ansiedlungsrayon beschränkt, der unter anderem Teile der heutigen Ukraine umfasste.
Die Haskala, die jüdische Aufklärung, war wenig verbreitet, das wichtigste Zentrum war ab etwa 1800 Brody mit den Gelehrten Nachman Krochmal und Menachem Mendel Lefin.
In der Mitte des 19. Jahrhunderts waren die Juden in vielen Städten die größte Bevölkerungsgruppe, in Brody waren es 1869 über 80 % der Bevölkerung.
Nach den Pogromen in Russland in den 1880er Jahren wanderten viele Juden nach Mittel- und Westeuropa und nach Amerika aus. Auch nach 1905 gab es wieder eine große Auswanderungswelle nach Westen.
Sowjetunion
Lenins Nationalitätenpolitik bot in den 1920er und 1930er Jahren einige Betätigungsmöglichkeiten. Es entstanden jiddische Theater, Zeitungen erschienen. Serafyma Gopner (ukrainisch auch Hopner) wurde zur ersten jüdischen Parteichefin der Sowjet-Ukraine (Erster Sekretär der Kommunistischen Partei der Ukrainischen SSR) gewählt.
Deutsche Besetzung
Nach dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion im Juni 1941 fanden in vielen Gebieten der Ukraine Massaker und Pogrome an Juden durch Ukrainer statt. Mit dem Vorrücken der SS-Einsatzgruppen begannen die massenhaften Erschießungen von Juden durch diese Einsatzgruppen. Das bekannteste dieser Massaker fand am 29. und 30. September 1941 in Babi Jar bei Kiew statt, wo mehr als 33.000 jüdische Kiewer ermordet wurden, gefolgt von weiteren regelmäßigen Massenerschießungen mit weiteren etwa 70.000 Toten. Weitere Massaker gab es in Charkow, in Berditschew, in Kamenez-Podolsk und an vielen anderen Orten.
Von 1941 bis 1943 wurde in der Ukraine der größte Teil der jüdischen Bevölkerung ermordet.
Sowjetunion
Nach der Rückeroberung der Ukraine durch die Rote Armee 1944 gab es zunächst relativ unbehinderte Lebensmöglichkeiten für die verbliebenen Juden. Ende der 1940er Jahre kam es in der stalinistischen Sowjetunion zu einer judenfeindlichen Kampagne. Später hielt vor allem der sogenannte Antizionismus die Benachteiligungen und Vorbehalte gegenüber Juden aufrecht. Viele ukrainische Juden emigrierten seit der Zeit des Kalten Krieges nach Israel, in die USA oder Westeuropa.
Ukraine
Seit 1992 wanderten weiterhin Juden aus. Es gibt heute eine kleine, aber aktive Minderheit besonders in größeren Städten wie Kiew, Lwiw, Odessa und anderen Städten. Im Jahre 2016 wurde mit Wolodymyr Hrojsman erstmals eine Person jüdischer Herkunft zum Ministerpräsidenten des Landes gewählt, 2019 mit Wolodymyr Selenskyj erstmals ein jüdischer Präsident der Ukraine. Fraglos verhieß eine demokratische Ukraine den Aschkenasim eine Rückkehr in ihren angestammten Kulturkreis. Diese Aussicht wird nun zerschlagen.
Siehe auch Russischer Überfall auf die Ukraine 2022.
Bevölkerung
In der Ukraine lebten[2]
- 1650: 40.000
- 1765: 300.000
- 1897: 2680.000
- 1926: 2720.000
- 1941: 2700.000
- 1959: 840.446
- 1970: 777.406
- 1979: 634.420
- 1989: 487.555
- 2002: 100.000
- 2010: 71.500
- 2014: 67.000
Siehe auch
Weblinks
Literatur
- Alexander Solschenizyn, Zweihundert Jahre zusammen., Bd. 1: Die russisch-jüdische Geschichte 1795–1916, Herbig, München 2002, ISBN 978-3776623567
- Ray Brandon, Wendy Lower (Hrsg.), The Shoah in Ukraine. History, Testimony, Memorialization, Bloomington 2008, ISBN 978-0-253-35084-8
Anmerkungen
- vgl. Kiewer Brief
- Zahlen teilweise geschätzt YIVO Encyclopedia