Orthodoxes Judentum
Das orthodoxe Judentum (von altgriechisch ὀρθός orthós, „richtig“ und δόξα dóxa, „Lehre“ – das heißt „der rechten Lehre angehörend“) ist eine der Hauptströmungen des heutigen Judentums neben dem konservativen Judentum, dem liberalen Judentum (bekannt auch als Reformjudentum) und dem Rekonstruktionismus. Das heutige orthodoxe Judentum wird meist in die beiden Hauptrichtungen modern-orthodoxes Judentum und ultraorthodoxes Judentum unterteilt; inwieweit bestimmte historische Gruppen Vorläufer bestimmter heutiger Gruppen sind, ist teilweise umstritten. So wird Rabbiner Samson Raphael Hirsch, dessen Bewegung im 19. Jahrhundert meist als neo-orthodox bezeichnet wird, sowohl von modern-orthodoxen als auch von ultraorthodoxen Juden für sich beansprucht.
Die Bezeichnung „orthodoxes Judentum“ entstand im 19. Jahrhundert als Abgrenzung zum damals neu entstehenden Reformjudentum.
Definitionen
Der Begriff orthodox wurde wahrscheinlich als abwertend gemeinte Assoziation der christlichen Orthodoxie von Seiten des liberalen Judentums eingeführt. Schon im 19. Jahrhundert wurde darauf hingewiesen, dass der Begriff orthopraxes Judentum (von griechisch ὀρθός orthós, „richtig“, und πρᾶξις prāxis, „Tun“, „Handeln“) treffender ist.[1] Gelegentlich werden auch die Bezeichnungen „toratreues“, „gesetzestreues“ oder „Torah-observantes Judentum“ verwendet. Der gängige Begriff ist aber heute „orthodox“; diese Bezeichnung wird auch als Eigenbezeichnung verwendet.
Als Jude gilt im orthodoxen Judentum nur, wer entweder von einer jüdischen Mutter geboren wurde, oder dessen Übertritt zum Judentum von einem orthodoxen Rabbinatsgericht bestätigt wurde.
Basis des orthodoxen Judentums
Das orthodoxe Judentum orientiert sich an der schriftlich und mündlich überlieferten Lehre, die in der Tora und dem Talmud niedergeschrieben ist. Es entwickelt diese Grundlagen in den nachfolgenden Werken des rabbinischen Judentums bis heute weiter. Die ganze Tora gilt im orthodoxen Judentum als maßgebendes Wort Gottes, das aber in der Zeit in seiner Auslegung entwickelt und zunehmend entfaltet wird. Die Autorität der Tora ist prägend für das orthodoxe jüdische Leben, welches als ein ganzheitlicher Gottesdienst verstanden wird.[1]
Ausrichtungen und Bewegungen
Es gibt im orthodoxen Judentum viele verschiedene Gruppierungen, die sich durch unterschiedliche Orientierungen (z. B. eher mystisch oder eher rational) oder durch unterschiedliche Bräuche (geprägt in Herkunftsregionen wie Osteuropa, Deutschland, Jemen, Äthiopien usw.) unterscheiden. Diese Gruppierungen sind heute häufig unabhängig von ihrer Herkunftsregion über viele Länder verteilt und in ihrer Herkunftsregion teilweise kaum noch vertreten. Besonders aus muslimischen Ländern ist ein Großteil der einheimischen Juden in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts nach Israel ausgewandert.
Der Chassidismus ist eine in Osteuropa entstandene Bewegung, die heute viele verschiedene und voneinander unabhängige Gruppierungen umfasst. Mit der gleichnamigen Bewegung in Deutschland im Mittelalter (Chasside Aschkenas) hat er sachlich nicht viel gemeinsam.
Die Mizrachim und Sephardim richten sich in der religiösen Praxis sehr stark nach dem Schulchan Aruch, einem Kodex halachischen Rechts aus dem 16. Jahrhundert. Für aschkenasische Juden ist zumeist ein späterer Kommentar auf den Schulchan Aruch, die Mischna Brura, maßgeblich.
Lebensweise
Orthodoxe Juden richten ihr Leben nach der Halacha, die zum Beispiel in traditionellen Werken wie dem Schulchan Aruch festgelegt wurde. Neuerungen werden anhand dieser Halacha von den Rabbinern interpretiert. Das orthodoxe Judentum ist dadurch in der Lage, auf Änderungen zu reagieren, ohne an den schriftlich überlieferten Vorschriften selbst etwas zu ändern.
Eine besondere Bedeutung haben die konsequente Begehung des Sabbat, die koschere Ernährung, die täglichen Gebete und die Regeln über eheliche Beziehungen (Nidda). Seit dem späten 19. Jahrhundert, unter dem Einfluss der deutschen modernen Orthodoxie, werden die Gesetze zur Niddah auch mit hebräisch טהרת המשפחה taharat hamishpacha, deutsch ‚Familienreinheit‘ bezeichnet. Nicht-orthodoxe Juden halten diese Gebote dagegen teils in abgewandelter Form, teils gar nicht.
Orthodoxe jüdische Männer tragen stets eine Kopfbedeckung, als Zeichen der Ehrfurcht vor Gott. In der Regel wird hierfür eine Kippa verwendet; bei den Ultra-Orthodoxen über der Kippa zusätzlich ein Hut. Orthodoxe jüdische Frauen kleiden sich sittsam („tzniusdik“); sie tragen meist einen langen Rock. Verheiratete orthodoxe jüdische Frauen bedecken zudem in der Öffentlichkeit ihre Haare (mit einem Kopftuch, einem Turban, einer Haube, einem Haarnetz, einem Hut, einer Mütze oder einer Perücke).
Literatur
- Mordechai Breuer: Jüdische Orthodoxie im Deutschen Reich 1871–1918. Sozialgeschichte einer religiösen Minderheit. Jüdischer Verlag bei Athenäum, Frankfurt am Main 1986, ISBN 3-76-100397-8.
Siehe auch
- Orthodoxe Rabbinerkonferenz Deutschland (ORD) – ein eigenständiges Organ innerhalb des Zentralrats der Juden in Deutschland
- Orthodox Union
- Orthodoxer jüdischer Feminismus
Weblinks
- Judentum Online – Ein Portal zum Thema Orthodoxes Judentum in deutscher Sprache
Einzelnachweise
- „Das Wort ‚orthodox‘ bedeutet ‚rechtgläubig‘. Mit ihm werden diejenigen Juden bezeichnet, die trotz der Aufklärung und der gesellschaftlichen Veränderungen nach der Emanzipation ihren Glauben und ihre Bräuche nicht änderten. […] Der Begriff kam im 19. Jahrhundert auf und wurde vermutlich in polemischer Weise von den Anhängern der Reform-Bewegung verwendet […] Es wird mit Recht darauf hingewiesen, daß für orthodoxe Juden weniger die ‚Rechtgläubigkeit‘ im Mittelpunkt steht als die richtige Weise der Befolgung der Mitzwot. Deswegen sollte man besser von ‚Orthopraxie‘ oder der ‚Bewegung der richtig Praktizierenden‘ sprechen.“ Gilbert S. Rosenthal, Walter Homolka „Das Judentum hat viele Gesichter – Die religiösen Strömungen der Gegenwart“, Seite 144ff.; Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh, 2000.