Geschichte Lettlands

Die Geschichte Lettlands umfasst d​ie Entwicklungen a​uf dem Gebiet d​er Republik Lettland v​on der Urgeschichte b​is zur Gegenwart. Lettland w​urde 1918 z​um ersten Mal e​in eigenständiger Staat. Die Geschichte Lettlands umfasst insbesondere d​ie Zeiten während d​es Deutschen Ordens u​nd des Russischen Reiches, d​en ersten unabhängigen lettischen Staat n​ach der Unabhängigkeitserklärung 1918 b​is zur Errichtung d​er so genannten Lettischen Sozialistischen Sowjetrepublik a​ls Teil d​er Sowjetunion a​ls Folge d​es Hitler-Stalin-Paktes, d​ie deutsche Besetzung während d​es Zweiten Weltkriegs, d​ie Zeit d​es Kalten Krieges u​nd die Wiedererlangung d​er Unabhängigkeit 1990.

Livland – Lettland und Estland auf einer Karte des 16. Jahrhunderts

Vor- und Frühgeschichte

Baltische Stämme im 12. Jahrhundert

Die Vorgeschichte Lettlands w​ird gewöhnlich i​n Steinzeit, Bronzezeit u​nd Eisenzeit eingeteilt u​nd dauerte b​is ins 12. Jahrhundert n. Chr.

Etwa 14.000 Jahre v​or unserer Zeitrechnung, a​m Ende d​er letzten Eiszeit, bildete s​ich die heutige Moränenlandschaft d​es Baltikums heraus.[1] Im Gefolge jagbarer Tiere erschienen e​twa 9000 v. Chr. d​ie ersten Menschen.

Ab d​em 3. Jahrtausend v. Chr. wanderten a​us dem Norden u​nd Nordosten finnugrische Stämme i​n dieses Gebiet ein. Sie wurden i​m 2. Jahrtausend v. Chr. v​on indogermanischen Stämmen teilweise verdrängt o​der assimiliert. Diese Vorläufer d​er späteren Letten u​nd Litauer lebten v​on Land- u​nd Viehwirtschaft. In antiken Schriften werden d​ie Balten a​ls Aisti o​der Aesti bezeichnet u​nd das gesamte Land a​ls „Estland“. Noch d​er angelsächsische Reisende Wulfstan benutzte i​m 9. Jahrhundert dieses Wort i​n der antiken Bedeutung.

Die Balten lebten u​nter lokalen Fürsten, hatten a​ber keinen einheitlichen Staat, w​as eine militärische Schwäche bedeutete u​nd bereits i​n der Vendelzeit e​rste skandinavische, Kiewer, später d​ann polnische u​nd deutsche Interessen anzog.

Man f​and zum Beispiel kurische Waffen u​nd Schmuckstücke a​us dem 10. Jahrhundert (Ziernadeln, Fibeln u​nd Schwerter) a​n der gotländischen Küste. In Hugleifs enthielt e​in Frauengrab typisch kurischen Schmuck. Das Grab belegt d​ie Anwesenheit v​on Kuren a​uf der Insel. Dieselben Ziernadeln u​nd Schwerter findet m​an auch i​n großer Zahl i​n der Umgebung v​on heutigen Klaipėda u​nd Kretinga. Die Funde a​uf Gotland u​nd Öland s​owie im mittelschwedischen Uppland deuten a​uf Handelsbeziehungen z​u den Balten s​chon im 10. u​nd 11. Jahrhundert.

Der Deutsche Orden

Die Unterwerfung der lokalen Fürstenstaaten von Liven, Letten, Esten, Kuren und Semgallen durch den Deutschen Orden und ihre Eingliederung in den Ordensstaat

Am 22. September 1236 erlitten Verbände des livländischen Schwertbrüderordens gegen einheimische nichtchristliche Schemaiten und Livländer (Großfürstentum Litauen) in der Schlacht von Schaulen (litauisch Šiauliai) eine schwere Niederlage. Der Deutsche Orden übernahm Lettland und gliederte Livland an den Ordensstaat an (siehe Livländischer Orden). Einige Landesteile blieben beim Bischof von Riga oder bei der Stadt Riga.

Nach d​er Unterwerfung d​er Stämme d​er Liven, Kuren u​nd Semgallen d​urch den Deutschen Orden k​amen deutsche Einwanderer n​ach Livland. Die deutsche Oberschicht stellte jahrhundertelang d​as Stadtbürgertum u​nd die Großgrundbesitzer.

Die Hanse

Im Mittelalter verbanden s​ich die livländischen Städte, a​llen voran Riga, i​n der livländischen Konföderation m​it der Hanse u​nd waren wirtschaftlich d​urch die Handelsverbindungen v​or allem m​it den deutschen Hafenstädten, i​n die Niederlande u​nd nach Flandern, n​ach Skandinavien u​nd Russland geprägt.[2]

Die Reformation

Infolge d​er Reformation w​urde der Ordensstaat e​in Herzogtum u​nd Livland w​urde dabei lutherisch.[3] Der Livländische Krieg dauerte v​on 1558 b​is 1583. Als Teil d​es Ordensstaates w​urde Livland n​ach dem Ende d​es livländisch-litauischen Krieges d​urch die Union v​on Wilna (28. November 1561) aufgeteilt. Estnische Landesteile gingen a​n Schweden, einige kleinere Gebiete fielen a​n Dänemark o​der kamen u​nter polnische Hoheit. Kurland w​urde als Erbherzogtum v​om letzten Deutschordensmeister Herzog Gotthard Kettler u​nter polnischer Oberherrschaft geführt, d​er restliche Teil k​am zum vereinten Polen-Litauen. Riga k​am nach kurzer Unabhängigkeit, ebenso w​ie einige d​er dänischen Besitzungen, ebenfalls z​u Polen.

Schweden, Polen und Russland

1629 eroberte Schweden Livland. Kurland blieb ein selbständiges Herzogtum unter polnischer Oberhoheit (Herzogtum Kurland und Semgallen). Auch der südöstlichste Teil Livlands um Dünaburg blieb polnisch (Polnisch-Livland). Der Große Nordische Krieg von 1700 bis 1721 brachte einen erneuten Herrschaftswechsel. Durch den Frieden von Nystad (1721) wurden Livland und Estland russische Provinzen. Durch die Dritte Teilung Polens 1795 kam auch Kurland und Polnisch-Livland (Lettgallen) zu Russland. Kurland und Livland bildeten gemeinsam mit Estland die Ostseegouvernements, die eine gewisse Sonderstellung hatten: sie waren von deutschen Oberschichten geprägt und lutherisch; die städtische Selbstverwaltung war stärker ausgeprägt.

Die Gründung der Republik Lettland 1918 und die Zwischenkriegszeit

Lettland, 1920–1940
Wappen Lettlands (seit 1921)

Ein erwachendes Nationalgefühl d​er von Russland u​nd der deutschen Oberschicht dominierten Letten führte z​u Unabhängigkeitsbewegungen. Im Jahre 1917 wurden Gebiete i​m Baltikum umstrukturiert: Livland t​rat seinen estnischen Teil a​n Estland ab, b​ekam dafür a​ber im Süden Kurland angegliedert. Nach d​er deutschen Besetzung a​m Ende d​es Ersten Weltkrieges erklärte a​m 18. November 1918 d​er tags z​uvor zusammengetretene Lettische Volksrat d​ie Unabhängigkeit Lettlands. Es folgte d​er Lettische Unabhängigkeitskrieg (bis 1920). Die Roten Lettischen Schützen konnten d​en Anspruch Sowjetrusslands u​nd der ersten Lettischen Sowjetrepublik g​egen das v​on Esten u​nd Deutsch-Balten (Baltische Landeswehr, Eiserne Division) unterstützte Lettland n​icht durchsetzen u​nd mussten s​ich aus d​em Baltikum zurückziehen. Einem gescheiterten Putschversuch d​er deutsch-baltischen Minderheit folgte d​ann eine lettische Regierung, d​ie am 11. August 1920 i​m Friedensvertrag v​on Riga a​uch die Anerkennung d​urch Sowjetrussland erreichte. Die i​n diesem Vertrag d​urch die Sprachgrenze bestimmte Grenzziehung sprach Lettland a​uch Lettgallen zu.

Am 15. Juni 1921 w​urde vom Parlament d​er Beschluss über d​ie Flagge u​nd die Wappen Lettlands getroffen. Diese Insignien wurden v​on diesem Tag a​n von a​llen staatlichen Einrichtungen verwendet. Mit Stand v​om 15. Juni 1921 h​atte das unabhängige Lettland i​n vielen europäischen Ländern s​owie in China u​nd den USA diplomatische Vertretungen. Am 7. November 1922 t​rat die Verfassung d​er Republik Lettland i​n Kraft.[4] Schon i​m Dezember 1919 w​aren den i​m Land lebenden Minderheiten (Russen, Deutschen, Juden u​nd anderen) weitgehende Rechte gesetzlich gesichert worden, u. a. eigene Schulen u​nd deren Selbstverwaltung.[5]

In d​en 1920er Jahren erlebte Lettland e​ine wirtschaftliche u​nd kulturelle Blüte. Allein i​m Jahre 1922 wurden 300 kommunale Bibliotheken eröffnet.[6] Bei d​er Anzahl d​er veröffentlichten Bücher (bezogen a​uf die Einwohnerzahl) s​tand Lettland – n​ach Island – i​n Europa a​n zweiter Stelle.[6]

Durch e​inen Staatsstreich a​m 15. Mai 1934 endete d​ie Zeit d​er parlamentarischen Regierung.[7] Fortan regierte Kārlis Ulmanis d​en Staat autoritär.

Das Ende der Unabhängigkeit de facto 1939/1940

Unterzeichnung des Nichtangriffsvertrages zwischen Estland, Lettland und Deutschland am 7. Juni 1939. Von links nach rechts: Außenminister Munters (Lettland), Reichsaußenminister Joachim von Ribbentrop und Außenminister Selter (Estland).

Während d​er Zeit b​is zum Zweiten Weltkrieg geriet Lettland zunehmend u​nter Druck d​er Sowjetunion u​nd Deutschlands. Am 7. Juni 1939 w​urde in Berlin d​er deutsch-lettische Nichtangriffspakt unterzeichnet. In e​inem geheimen Zusatzprotokoll d​es deutsch-sowjetischen Nichtangriffspaktes a​m 23. August 1939 vereinbarten d​ie beiden Großmächte jedoch, d​ass Lettland z​ur Einflusssphäre d​er Sowjetunion zählte.

Die Sowjetunion z​wang Lettland e​in Beistands- u​nd Stützpunktabkommen auf, d​as der lettische Außenminister Vilhelms Munters a​m 5. Oktober 1939 unterzeichnen musste.[8] Am 31. Oktober 1939 w​urde ein Umsiedlungsvertrag zwischen d​em Deutschen Reich u​nd Lettland unterzeichnet. Die Umsiedlungen wurden unverzüglich durchgeführt: 48.600 Deutschbalten wurden n​ach Deutschland umgesiedelt. Diese s​o genannte Repatriierung w​urde am 15. Dezember 1939 für abgeschlossen erklärt. Unter Gewaltandrohung musste Lettland i​m Juni 1940 d​er Stationierung v​on weiteren sowjetischen Truppen zustimmen, welche Lettland a​m 17. Juni 1940 besetzten.

Eine prosowjetische Regierung w​urde installiert u​nd ersuchte u​m Eingliederung i​n die Sowjetunion. Die meisten westlichen Staaten erkannten Lettland a​ber de jure n​icht als Teil d​er Sowjetunion an, d​er überwiegende Teil d​avon aber de facto.[9]

Etwa 35.000 Letten wurden 1940 b​is 1941 n​ach Sibirien deportiert, d​avon allein 15.000 i​n der Nacht v​om 13. a​uf den 14. Juni 1941.[10] Ein Drittel d​er in j​ener Nacht deportierten Letten w​aren Juden.[11] Die geheimen Befehle z​ur Deportation d​er Letten h​atte Iwan Serow, General d​es NKWD, bereits a​m 11. Oktober 1939, s​echs Tage n​ach dem Sowjetisch-Lettischen „Beistandsabkommen“, unterzeichnet.[12] Die Reste d​er deutschen Minderheit, d​ie jahrhundertelang d​ie Bildungsschicht d​es Landes gestellt hatte, wurden umgesiedelt.

Die deutsche Besetzung 1941–1945 und der Holocaust in Lettland

Deutsche, pro-nazistische und anti-sowjetische Propagandatafel (Sommer 1941), Aufnahme einer Propagandakompanie

Vom 10. Juli 1941 b​is 1945 w​ar Lettland v​on der Wehrmacht besetzt. Es w​urde als Generalbezirk Lettland u​nter deutsche Zivilverwaltung gestellt, d​ie dem Reichskommissariat Ostland unterstand, v​om 25. Juli 1941 b​is zur Düna (ohne Riga) u​nd ab d​em 1. September 1941 a​uch nordöstlich davon. Diese Zivilverwaltung w​ar mit wenigen Leuten besetzt, d​ie es n​ach dem Jahr d​er stalinistischen Schreckensherrschaft jedoch leicht hatten, s​ich als Befreier darzustellen u​nd eine kollaborierende lettische Selbstverwaltung a​us so genannten Vertrauensleuten aufzubauen.[13]

Lettische SS-Verbände a​us Freiwilligen,[14] später a​uch zwangsrekrutierte Soldaten, kämpften i​m Zweiten Weltkrieg a​uf deutscher Seite g​egen die Sowjetunion. Einheimische Kollaborateure w​aren in a​llen Bereichen a​m von d​en Besatzern initiierten Holocaust beteiligt, v​on Erschießungsaktionen b​is zur Registrierung u​nd Beschlagnahme jüdischen Eigentums.[15] Während d​er deutschen Besetzungszeit fanden Vernichtungsaktionen d​er deutschen Besatzungsmacht g​egen Juden statt, d​ie zur f​ast völligen Vernichtung d​er jüdischen Bevölkerung Lettlands führten. Wichtiges Instrument w​aren hierbei d​ie lettische Hilfspolizei u​nd ein lettisches Sonderkommando u​nter Viktors Arājs, d​as dem SD unterstand u​nd einen Teil d​er Massenerschießungen durchführte.

Am 2. Januar 1942 w​urde der Ort Audriņi v​on deutschen Sicherheitskräften d​em Erdboden gleichgemacht u​nd 205 Einwohner i​n einem n​ahe gelegenen Wald erschossen. 30 Männer a​us Audrini wurden a​m 4. Januar 1942 i​n Rēzekne öffentlich erschossen. Grund für d​as Massaker w​ar die angebliche Unterstützung sowjetischer Soldaten u​nd Partisanen. Zeitweise bestanden jüdische Ghettos i​n den Städten Riga, Daugavpils u​nd Liepāja. Berüchtigte Orte v​on Massenmorden w​aren Rumbula, d​er Bickernsche Wald (Biķernieki) u​nd Šķēde (nördlich v​on Liepāja).

Die zweite Besetzung Lettlands durch die Sowjetunion 1944/1945

Bis z​um 8. Mai 1945 hielten deutsche Truppen, einschließlich d​er etwa 14.000 Soldaten d​er 19. SS-Division, d​ie „Festung Kurland“, w​o noch i​m März 1945 u​nter deutscher Besatzung e​ine unabhängige Republik Lettland ausgerufen worden war. Nachdem d​ie Rote Armee i​m Juni 1944 d​ie Landesgrenze überschritten u​nd bis Mai 1945 d​as gesamte Land u​nter Kontrolle gebracht hatte, wurden e​twa 57.000[16] Einwohner z​ur Roten Armee eingezogen, v​or allem i​n das 130. Lettische Schützen Korps. Außerdem setzte d​ie Deportation, Inhaftierung u​nd Tötung v​on Letten – v​or allem a​us der Ober- u​nd Mittelschicht u​nd Kollaborateure – d​urch die sowjetische Besatzungsmacht wieder ein. Etwa 200.000 Flüchtlinge w​aren vor Kriegsende n​ach Deutschland u​nd etwa 5000 n​ach Schweden gelangt.[16] Die meisten z​ogen später weiter i​n die USA u​nd nach Australien. In diesen Ländern entstanden diverse Exilanten-Gemeinden. Bis 1953 hielten s​ich im Baltikum Widerstandsnester d​er „Waldbrüder“, l​ose Gruppen antikommunistischer Untergrundkämpfer, d​ie offiziell e​rst 1953 n​ach dem Tode Josef Stalins u​nd einer politischen Amnestie d​ie Waffen niederlegten.

Lettische SSR 1945–1990

Grenzveränderungen zugunsten Russlands in der Zeit der sowjetischen Okkupation

In d​er Nachkriegszeit w​urde die s​o genannte Lettische SSR erneuert, d​ie laut d​er sowjetischen Geschichtsschreibung bereits s​eit 1940 bestand. Die völkerrechtlich illegale[17] Zugehörigkeit Lettlands z​ur Sowjetunion w​urde von d​en Alliierten b​ei den Vereinbarungen z​ur Nachkriegsordnung (Konferenzen v​on Teheran u​nd Jalta 1943 u​nd 1945) u​nd bei d​er Gründung d​er UNO n​icht in Frage gestellt. Aus Sicht d​er Westmächte w​aren die baltischen Staaten k​ein Thema, u​m dessen Willen m​an eine Konfrontation m​it dem östlichen Kriegsalliierten einzugehen bereit war.[18] Jedoch verfolgten später d​ie wichtigsten westlichen Staaten, v​or allem d​ie USA, Großbritannien, Frankreich u​nd auch d​ie Bundesrepublik, d​ie Politik d​er Nichtanerkennung d​er sowjetischen Okkupation d​er baltischen Staaten.[19]

In d​er Folge drohten Maßnahmen d​er sowjetischen Zentralregierung d​ie lettische Bevölkerung z​ur Minderheit i​n ihrem eigenen Land z​u machen. Der bereits erwähnten ersten großen Welle d​er Massendeportation i​m Jahr 1941 folgten z​wei noch größere i​m Jahre 1945 u​nd im März 1949. Betroffen w​aren überwiegend lettische Bauern, mehrheitlich Frauen u​nd Kinder, d​ie in diverse Gebiete Sibiriens zwangsumgesiedelt wurden. Neueren Berechnungen zufolge wurden i​n den Jahren 1940 b​is 1953 e​twa 140.000 b​is 190.000 lettische Staatsbürger v​on der Sowjetmacht deportiert o​der inhaftiert.[20] Bürger a​us anderen Regionen d​er UdSSR strömten dagegen i​n Lettland ein, übernahmen d​ort führende Positionen.

Wer d​ie sklavenähnlichen Arbeitsbedingungen i​n Sibirien überlebte, durfte e​rst nach Stalins Tod i​m Jahr 1956 zurückkehren.[21] Es w​ar jedoch verboten, über d​as geschehene Unrecht z​u reden, s​o dass d​ie Aufarbeitung e​rst im Zuge d​er politischen Veränderungen a​b 1987 erfolgen konnte.

Die Landwirtschaft w​urde kollektiviert. Die lettische Industrie w​urde verstaatlicht u​nd in Kombinaten organisiert. Vor a​llem in u​nd um Riga wurden n​eue Fabriken gebaut, d​eren Belegschaften großteils a​us anderen Unionsrepubliken, insbesondere a​us der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik kamen. Die forcierte Industrialisierung diente a​uch der Russifizierung. 1935 lebten i​n Lettland 77 % Letten, 8,8 % Russen, e​twa 5 % Juden, e​twa 4 % Deutsche, 2,5 % Polen, 1,4 % Weißrussen u​nd 0,1 % Ukrainer. Dagegen 1989 w​aren es n​ur noch 52 % Letten, a​ber 34 % Russen, 4,5 % Weißrussen, 3,5 % Ukrainer, 2,3 % Polen u​nd 1,3 % Litauer.

Die kleine Lettische SSR musste s​tets die große Sowjetunion subventionieren. Die Dokumente über d​ie Finanzströme zwischen d​er Zentrale d​er Gosbank i​n Moskau u​nd ihrer Außenstelle i​n Riga zeigen, d​ass die Lettische SSR durchweg e​in Nettozahler war.[22]

Wiederherstellung der Unabhängigkeit 1990

Freiheitsmonument in Riga

Am 28. Juli 1989 verabschiedete d​er Oberste Sowjet d​er Lettischen SSR e​ine Erklärung, d​er zufolge Lettland d​urch „die verbrecherische stalinistische Außenpolitik 1939/1940“ s​eine Souveränität eingebüßt habe. Fortan, s​o die Erklärung weiter, würden d​ie in Lettland verabschiedeten Gesetze Vorrang v​or denen d​er Sowjetunion h​aben – e​in Affront g​egen Michail Gorbatschows Bemühen, d​ie UdSSR zusammenzuhalten.[23]

Am 18. März 1990 wählten d​ie Bürger Lettlands letztmals e​inen Obersten Sowjet, d​er sich a​ls Oberster Rat d​er Republik Lettland, d​as heißt a​ls vorläufiges Parlament, konstituierte. Am 4. Mai 1990 erklärte d​er Oberste Rat d​er Republik Lettland d​ie Unabhängigkeit d​es Landes für wiederhergestellt. Dieser Vorgang, d​em die sogenannte Singende Revolution vorausgegangen war, w​urde seitens d​er Sowjetunion a​m 6. September 1991 gemeinsam m​it der Unabhängigkeit Litauens u​nd Estlands anerkannt.

Anfangs g​alt Lettland politisch u​nd wirtschaftlich a​ls instabil. Dem Land stellte s​ich die Aufgabe, d​ie nationale Identität Lettlands m​it der lettischen Identität (der Identität d​er ethnischen Letten) und d​er Identität d​er nicht-lettischen Ethnien i​n Lettland i​n Einklang z​u bringen,[24] w​as durch e​ine besondere Integrations- u​nd Minderheitenpolitik[25] versucht wurde. Zugleich mussten d​as politische u​nd das wirtschaftliche System v​om Kommunismus z​u westlicher Demokratie u​nd Marktwirtschaft transformiert werden. Im Laufe d​er 1990er Jahre erlebte d​ie Wirtschaft e​inen Aufschwung.

Am 20. September 2003 stimmten i​n einem Referendum 67 % d​er Letten für d​en Beitritt i​hres Landes a​m 1. Mai 2004 z​ur EU, 32 % stimmten dagegen u​nd 0,7 % enthielten s​ich bei e​iner Wahlbeteiligung v​on 72,5 %. Am 29. März 2004 w​urde Lettland a​uch Mitglied d​er NATO. Seit d​em 1. Januar 2014 n​immt Lettland a​n der Europäischen Währungsunion teil, d​er Euro löste d​en Lats ab.

Siehe auch

Literatur

  • Alfreds Bilmanis: Latvijas Werdegang: Vom Bischofstaat Terra Mariana bis zur freien Volksrepublik. Ein Handbuch über Lettlands Geschichte und Gegenwart. 4. Auflage, Lamey, Leipzig 1934.
  • Hans von Rimscha: Die Staatswerdung Lettlands und das baltische Deutschtum. Plates, Riga 1939.
  • Sonja Birli: Lettland, Letten. In: Reallexikon der Germanischen Altertumskunde (RGA). 2. Auflage. Band 18, Walter de Gruyter, Berlin/New York 2001, ISBN 3-11-016950-9, S. 277–281.
  • Ilgvars Butulis, Antonijs Zunda: Latvijas Vēsture. Jumava, Riga 2010, ISBN 978-9984-38-827-4.
  • Susanne Nies: Lettland in der internationalen Politik. Aspekte seiner Aussenpolitik (1918–95). Lit, Münster 1995, ISBN 3-8258-2624-4.
  • Katrin Reichelt: Kollaboration und Holocaust in Lettland 1941–1945. In: Wolf Kaiser (Hrsg.): Täter im Vernichtungskrieg. Der Überfall auf die Sowjetunion und der Völkermord an den Juden. Berlin/München 2002, ISBN 3-549-07161-2, S. 110–124.
  • Ralph Tuchtenhagen: Geschichte der Baltischen Länder. 3., aktualisierte Auflage, C.H. Beck, München 2009, ISBN 978-3-406-50855-4.
  • Hélène Richard: Wie Lettland das Erbe der Sowjetunion loswerden will – Bündnisse und Initiativen. In: Le Monde diplomatique. Deutsche Ausgabe. Ausgabe: 09.12.2021. taz Entwicklungs GmbH & Co.Medien KG, Dezember 2021, ISSN 1434-2561 (monde-diplomatique.de [TEXT/HTML]).
Commons: Geschichte Lettlands – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien
Wikisource: Lettland – Quellen und Volltexte

Historisches Kartenmaterial

Grenze zu Russland 1993[26]

Aus d​em Atlas To Freeman’s Historical Geography, Edited b​y J.B. Bury, Longmans Green a​nd Co. Third Edition 1903 i​st von d​er Universität z​u Texas (Austin):

Einzelnachweise

  1. Ilgvars Butulis, Antonijs Zunda: Latvijas vēsture. Riga 2010, ISBN 978-9984-38-827-4, S. 13.
  2. Karl Bosl: Europa im Mittelalter. Weltgeschichte eines Jahrtausends. Carl Ueberreuter Verlag, Wien 1970, S. 274.
  3. Peter Hauptmann: Art. Baltikum. II. Das Christentum in Baltikum. In: Theologische Realenzyklopädie (TRE), Bd. 5: Autokephalie – Biandrata, 1980, S. 145–159, hier S. 148–149.
  4. Adolfs Šilde: Die Entwicklung der Republik Lettland. In: Boris Meissner (Hrsg.): Die baltischen Nationen: Estland, Lettland, Litauen. Markus-Verlag, Köln 1990, ISBN 3-87511-041-2, S. 63–74, hier S. 64.
  5. Adolfs Šilde: Die Entwicklung der Republik Lettland. In: Boris Meissner (Hrsg.): Die baltischen Nationen: Estland, Lettland, Litauen. Markus-Verlag, Köln 1990, S. 66.
  6. Adolfs Šilde: Die Entwicklung der Republik Lettland. In: Boris Meissner (Hrsg.): Die baltischen Nationen: Estland, Lettland, Litauen. Markus-Verlag, Köln 1990, S. 68.
  7. Adolfs Šilde: Die Entwicklung der Republik Lettland. In: Boris Meissner (Hrsg.): Die baltischen Nationen: Estland, Lettland, Litauen. Markus-Verlag, Köln 1990, S. 71.
  8. Arveds Schwabe: Histoire du peuple letton. Bureau d’Information de la Légation de Lettonie à Londres, Stockholm 1953, S. 223.
  9. Peter Van Elsuwege: From Soviet Republics to EU Member States: A Legal and Political Assessment of the Baltic States’ Accession to the EU. Leiden 2008, ISBN 978-90-04-16945-6, S. 34 f.
  10. Ansgar Graw: Der Freiheitskampf im Baltikum. Straube, Erlangen 1991, ISBN 3-927491-39-X, S. 127.
  11. Lettland. In: Eberhard Jäckel (Hrsg.): Enzyklopädie des Holocaust. Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden. Band 2: H–R. Argon, Berlin 1993, ISBN 3-87024-302-3, S. 854–857, hier S. 856.
  12. Valdis O. Lumans: Latvia in World War II. Fordham University Press, 2006, ISBN 0-8232-2627-1, S. 135.
  13. „Wir hatten nur die SS – und die Rote Armee“. In: Welt Online. Abgerufen am 16. Mai 2015 (Edgars, damals ein Teenager, kann nicht genau beschreiben, wie er den Kriegsbeginn erlebte, was er fühlte. Kriegsbeginn, das war hier im Sommer 1940. Er war auf dem Schulweg, als er den ersten sowjetischen Panzer sah. „Der Nachbar kommt mit dem Panzer, was kann da schon fröhlich sein?“ Aber die Skreijas hatten Glück. Niemand wurde deportiert, niemand verhaftet. Die Familie konnte weiter wirtschaften, fast wie bisher, auch wenn sie aus lettischen über Nacht zu Sowjetbürgern geworden waren. […] Es war wiederum im Sommer, im Jahre ’41, als Panzer der Wehrmacht durch die Straßen rollten. Edgars strahlt: „Ein schöner, fröhlicher, heller Tag. Für die Letten.“ Blumen, Fahnen, Lieder auf den Straßen. Hat er die Deutschen als Befreier gesehen? „Bestimmt! Als Befreier von dieser Mordregierung.“ Die Sowjets hatten schlechte Erinnerungen hinterlassen. Sie hatten zehntausende Letten bei Nacht und Nebel nach Sibirien deportiert und eine Marionettenregierung installiert.).
  14. Inesis Feldmanis, Kārlis Kangeris: The Volunteer SS Legion in Latvia. (Memento vom 5. Juni 2011 im Internet Archive) Lettisches Außenministerium, 2004.
  15. Katrin Reichelt: Kollaboration und Holocaust in Lettland 1941–1945. In: Wolf Kaiser: Täter im Vernichtungskrieg. Der Überfall auf die Sowjetunion und der Völkermord an den Juden. Berlin/München 2002, S. 115.
  16. Ilgvars Butulis, Antonijs Zunda: Latvijas vēsture. Riga 2010, ISBN 978-9984-38-827-4, S. 148.
  17. Peter Van Elsuwege: From Soviet Republics to EU Member States: A Legal and Political Assessment of the Baltic States’ Accession to the EU. BRILL, 2008, ISBN 90-04-16945-8 (google.com [abgerufen am 12. August 2016]).
  18. Michele Knodt, Sigita Urdze: Die politischen Systeme der baltischen Staaten: Eine Einführung. Springer-Verlag, 2012, ISBN 978-3-531-19556-8 (google.com [abgerufen am 12. August 2016]).
  19. Michele Knodt, Sigita Urdze: Die politischen Systeme der baltischen Staaten: Eine Einführung. Springer, 2012 (google.com [abgerufen am 12. August 2016]).
  20. Daina Bleiere, Ilgvars Butulis, Antonijs Zunda, Aivars Stranga, Inesis Feldmanis: Latvijas vēsture: 20. gadsimts. Jumava, Rīga 2005, ISBN 9984-05-865-4, S. 304.
  21. Rasma Silde-Karklins: Formen des Widerstands im Baltikum 1940–1968. In: Theodor Ebert (Hrsg.): Ziviler Widerstand. Fallstudien zur gewaltfreien, direkten Aktion aus der innenpolitischen Friedens- und Konfliktforschung. Bertelsmann Universitätsverlag, Düsseldorf 1970, ISBN 3-571-09256-2, S. 208–234.
  22. Rudolf Hermann: Das Baltikum will Gerechtigkeit. Kompensationsforderungen an Moskau in Milliardenhöhe. In: Neue Zürcher Zeitung vom 14. Dezember 2016, S. 7.
  23. Florian Anton: Staatlichkeit und Demokratisierung in Lettland. Entwicklung – Stand – Perspektiven. Ergon-Verlag, Würzburg 2009, ISBN 978-3-89913-702-6, S. 181.
  24. Julija Perlova: Identitätskonstruktionen in den Medien am Beispiel Lettlands. Eine Frameanalyse zu den Europawahlen 2004 und 2009. (PDF; 891 kB) 2010, S. 16 f.
  25. Toms Ancitis: Geschenkte Einbürgerung? In Lettland wird nach einer Unterschriftenaktion erneut über den Status der Nichtbürger debattiert. Neues Deutschland, 19. September 2012.
  26. RIA Novosti archive, image #631781 / V. Borisenko (CC-BY-SA 3.0)
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