Islam in Deutschland
Der Islam ist in Deutschland die Religion mit den nach dem Christentum meisten Gläubigen. Er etablierte sich in Deutschland vor allem durch Einwanderung aus Vorderasien, dem Balkan und Nordafrika seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Der sunnitische Zweig bildet die Mehrheit, doch liegt der nichtsunnitische Anteil (Aleviten, Bektaschi und Schiiten) in Deutschland über dem Weltdurchschnitt.
Nach Hochrechnungen des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge aus dem Jahr 2021 lebten 2019 zwischen 5,3 und 5,6 Millionen Muslime in Deutschland. Ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung lag zwischen 6,4 Prozent und 6,7 Prozent. Im Vergleich zur letzten Schätzung im Jahr 2015 ist die Zahl der muslimischen Religionsangehörigen in Deutschland um rund 900.000 Personen gestiegen. Muslime mit türkischer Abstammung in Deutschland bildeten mit 2,5 Millionen Personen (45 Prozent aller Muslime in Deutschland) die größte Herkunftsgruppe.[1][2]
Geschichte
17. und 18. Jahrhundert
Im Laufe der frühen Neuzeit ergaben sich erste Berührungspunkte innerhalb Deutschlands mit dem Islam; so ließ der Theologe Abraham Hinckelmann im Jahr 1694 in Hamburg den Koran auf Arabisch drucken. Diese Koranausgabe war nach der aus Venedig von ca. 1537/38 die zweite gedruckte Ausgabe dieses Buches (in der islamischen Welt war der Buchdruck mit arabischen Lettern bis ins 19. Jahrhundert verboten).[3][4] Dem deutschen Journalisten Muhammad Salim Abdullah zufolge sei von dem preußischen König Friedrich Wilhelm I. mit dem Dekret zu Potsdam 1731 für muslimische Infanteristen, die er als Geschenk erhielt, am Langen Stall (erbaut 1734 als Reit- und Exerzierhaus) in Potsdam ein Saal als Gebetsraum nutzen, überwiegend wurde der Langer Stall als griechisch-orthodoxe Kirche für die Russen im Regiment der Langen Kerls genutzt[5]; im Jahr 1739 sei zudem die erste islamische Gemeindegründung auf deutschem Boden erfolgt. Dem widerspricht der katholische Theologe Thomas Lemmen: Aus einer zeitgenössischen Quelle gehe hervor, jene Muslime hätten sich nur vorübergehend dort aufgehalten. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wohnten hunderte muslimisch-tatarische Familien innerhalb der preußischen Grenzen. In den 1790er-Jahren dienten bereits um die 2000 Tataren als Lanzenreiter unter dem Preußenkönig.[6] Im Jahr 1798 verstarb der osmanische Gesandte Ali Aziz Efendi, daraufhin stellte der preußische König Friedrich Wilhelm III. zu seiner Bestattung ein Gelände zur Verfügung. Es folgte noch ein Tausch des Geländes. Dieses neue Gelände bildete den Grundstein des 1866 errichteten und bis heute benutzten Türkischen Friedhofs am Columbiadamm in Berlin-Neukölln.
Mehrere Bauwerke in Deutschland wurden im Stil einer Moschee erbaut, hatten aber nie die Funktion einer Gebetsstätte, darunter das 1792/93 errichtete Bauwerk im Schlossgarten von Schwetzingen, das 1841 bis 1843 errichtete Dampfmaschinenhaus für Sanssouci in Potsdam sowie die Tabakmoschee (Yenidze) in Dresden. Alle drei Bauwerke haben eine Kuppel und Minarette.
Bis 1947
Auf Betreiben der Nachrichtenstelle für den Orient wurde seit Beginn des Ersten Weltkrieges das Halbmondlager in Wünsdorf bei Zossen in der Nähe von Berlin errichtet, in dem bis zu 30.000 meist muslimische Kriegsgefangene interniert waren. Am 13. Juli 1915 wurde in diesem Kriegsgefangenenlager Halbmondlager während des Ersten Weltkrieges eine Moschee für die in diesem Lager festgehaltenen muslimischen Kriegsgefangenen eingeweiht. Sie ist die erste Moschee auf deutschem Boden, die auch als Gebetsstätte von Muslimen genutzt wurde. Die Moschee wurde vom Deutschen Kaiserreich finanziert und in Auftrag gegeben.[7] Diese Moschee wurde hauptsächlich zu Propagandazwecken aus Holz innerhalb von fünf Wochen erbaut.[8] Nach Kriegsende gab es kein Interesse mehr an der Moschee. Aufgrund von Baufälligkeit wurde die Holzmoschee 1924 geschlossen und 1925/26 abgerissen. Allein die „Moscheestraße“ und einige Soldatengräber erinnern noch an sie.[9]
1922 erreichte, der von der Ahmadiyya-Bewegung aus dem heutigen Indien entsendete Sadr ud-Din, als einer der ersten Missionare in Deutschland Berlin und gründete mit Konvertiten aus 41 Nationen den ersten Moscheeverein nach dem Vorbild der Woking Muslim Mission in England. 1924 wurde in Berlin-Wilmersdorf von der islamischen Ahmadiyya-Glaubensgemeinschaft eine erstmals aus Stein errichtete Moschee in der Brienner Straße gebaut und am 23. März 1928 eröffnet. Die Wilmersdorfer Moschee, früher auch Berliner Moschee genannt, ist heute die älteste erhaltene Moschee Deutschlands. Die Moschee war erstmals für die Bürger Berlins offen. Viele bekannte deutsche Persönlichkeiten besuchten Veranstaltungen in dieser, darunter Albert Einstein, Martin Buber, Martin Niemöller, Thomas Mann und Hermann Hesse.[10] Der Imam Sadr ud-Din verfasste 1939 in Zusammenarbeit mit Konvertiten die erste von Muslimen herausgegebene deutsche Koranübersetzung. Während der Zeit des Nationalsozialismus wurde die Moschee für Propagandaauftritte mit Mohammed Amin al-Husseini, auch bekannt als „Großmufti von Jerusalem“, genutzt.
Seit den 1950er Jahren
Erst in den 1950er-Jahren organisierten sich die Muslime wieder neu. Missionare der Ahmadiyya bildeten wieder die Ahmadiyya-Gemeinden neu. Die ältesten Moscheen Hamburgs und Frankfurts wurden erbaut. Zahlenmäßig waren es nur sehr kleine Moscheengemeinden. Zeitgleich erreichten auch Kaufleute aus anderen muslimisch geprägten Ländern Deutschland und gründeten Moscheengemeinden. Muslime der islamisch-schiitischen Glaubensgemeinschaft der Zwölfer-Schiiten erbauten 1960 als fünftälteste Moschee Deutschlands die Imam-Ali-Moschee in Hamburg. Sie steht auch unter Denkmalschutz.
Der hauptsächliche Grund für die Zunahme des Islams in Deutschlands in den darauffolgenden Jahren ist die Zuwanderung ausländischer Arbeitskräfte, bedingt durch Anwerbeabkommen mit muslimischen Staaten und den anschließenden dauerhaften Aufenthalt mit Familienzusammenführung, die von der Bundesrepublik Deutschland von 1961 (Abkommen mit der Türkei, Jugoslawien, mit Tunesien und mit Marokko über Anwerbung von Gastarbeitern) bis 1973 betrieben wurde. Der Aufenthalt in Deutschland war dabei ursprünglich als zeitlich begrenzt vorgesehen, bei Muslimen gab es bis in die 1960er-Jahre vermehrt die Absicht einer Rückkehr in das Heimatland.
In den 1980er- und 1990er-Jahren kamen schließlich auch vielfach Muslime aus anderen Staaten, wobei es sich dabei zum Teil um Flucht bzw. Asylsuche handelte. Unter derartigen Gruppen befanden sich beispielsweise die Iraner, die im Zuge der Islamischen Revolution 1979 in die Bundesrepublik flüchteten, oder die Afghanen, die infolge des Bürgerkrieges bzw. des Sowjetisch-Afghanischen Krieges in Westdeutschland Zuflucht suchten. Auch die Ahmadiyya-Anhänger erreichten wegen blutiger Verfolgung in Pakistan Deutschland. Auch bei Libanesen, Bosniern und Kosovo-Albanern war Krieg im Heimatland der Grund für die Emigration. Da eine Rückkehr bei vielen Muslimen immer mehr in den Hintergrund trat, entstand allmählich eine religiöse Infrastruktur. In den 1970ern wurden die ersten Moscheevereine gegründet, ab den 1990ern wurden vermehrt repräsentative Moscheen errichtet.[11]
Im Jahr 2006 fand in Berlin die erste Deutsche Islamkonferenz statt, die einberufen wurde, um einen Dialog zwischen dem deutschen Staat und den Muslimen in der Bundesrepublik herzustellen.
„Der Islam ist Teil Deutschlands und Teil Europas, er ist Teil unserer Gegenwart und er ist Teil unserer Zukunft. Muslime sind in Deutschland willkommen. Sie sollen ihre Talente entfalten und sie sollen unser Land mit weiter voranbringen.“
2013 erhielt die Organisation Ahmadiyya-Muslim-Gemeinschaft (AMJ) in Hessen als erster islamischer Verein den Körperschaftsstatus in Deutschland und ist dadurch den beiden größten und mitgliederstärksten Kirchen (Römisch-katholische Kirche in Deutschland sowie Evangelische Kirche in Deutschland) rechtlich gleichgestellt.
Durch die in den Jahren um 2015 geschehene Europäische Flüchtlingskrise wurden syrischstämmige Muslime spätestens im Jahr 2019 zur zweitgrößten Herkunftsgruppe (13,3 %) der Muslime in Deutschland.[2]
Verteilung und Herkunft der Muslime in Deutschland
Anzahl und räumliche Verteilung der in Deutschland lebenden Muslime
Anzahl der
Muslime in Deutschland | Bevölkerungs- anteil in % | Stand (Jahr) |
---|---|---|
3.800.000 - 4.300.000 | 4,6 - 5,2 | 2008[13] |
4.400.000 - 4.700.000 | 5,4 - 5,7 | 2015[14] |
5.400.000 - 5.700.000 | 6,4 - 6,7 | 2020[2] |
Da viele islamische Gemeinden keine Mitgliedslisten führen oder Mitgliedsbeiträge erheben, existieren keine genauen Zahlen. Die Mehrheit der Muslime ist bei muslimischen Vereinen nicht als Mitglied registriert und besucht auch nicht regelmäßig die Moschee, sodass eine genaue Zählung schwer ist. Im Jahre 2005 hatten laut Statistischem Bundesamt 9,2 % der Neugeborenen in Deutschland muslimische Eltern und bei zusätzlich 0,9 % war die Mutter muslimisch erfasst. Der Vater war hingegen bei der freiwilligen Angabe vermerkt mit „ohne Religionszugehörigkeit“ oder mit „andere Religionszugehörigkeit“ (z. B. römisch-katholisch, evangelisch etc.).[15]
Eine amtliche Statistik wurde im Zuge der Volkszählung 2011 erstellt. Nur 1,9 % der Befragten gaben an, muslimischen Glaubens zu sein. Dagegen schätzte Andreas Zick 2012 den Prozentsatz der Muslime an der Gesamtbevölkerung in Deutschland auf etwa 7 %,[16] das wären rund 5,6 Millionen Menschen. Darunter befinden sich auch Personen, die zum Islam konvertiert waren. Keine Einigkeit besteht darüber, ob Muslime, die ihre Religion nicht praktizieren, zu den Konfessionslosen gezählt werden müssen oder als sogenannte Kulturmuslime gelten sollen.
Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge hat im Auftrag der Deutschen Islamkonferenz für das Jahr 2015 eine Hochrechnung erstellt. Demnach lebten Ende 2015 zwischen 4,4 und 4,7 Millionen Muslime in Deutschland. Dies entspricht rund 5,4 bis 5,7 Prozent der Gesamtbevölkerung. Davon sind 1,2 Millionen (rund 27 Prozent) seit 2014 neu zugewandert.[17]
Im Jahr 2008 waren rund 1,8 Millionen Muslime deutsche Staatsangehörige. Zugleich hatten rund 63 % der in Deutschland lebenden Muslime einen türkischen Migrationshintergrund,[18] was auf die Anwerbung von Arbeitsmigranten, damals Gastarbeiter genannt, aus der Türkei in den 1960er und 1970er Jahren zurückzuführen ist. Andere Muslime sind vor allem Einwanderer aus Albanien, Bosnien und Herzegowina, dem Kosovo, dem Irak, dem Iran, Marokko, Afghanistan, dem Libanon, Pakistan, Syrien und Tunesien oder deutsche Konvertiten.
Nach der Studie „Muslimisches Leben in Deutschland“ des BAMF aus dem Jahr 2009 lebten im Jahr 2008 98,4 Prozent der Muslime in der Bundesrepublik in den alten Bundesländern (einschließlich Berlin). Für die westdeutschen Flächenländer ergaben sich Bevölkerungsanteile muslimischer Migranten zwischen rund 3 Prozent in Schleswig-Holstein und 7,5 Prozent in Nordrhein-Westfalen.[13] Nur 1,6 Prozent der Muslime in der Bundesrepublik lebten in den neuen Bundesländern Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen.[13] Was die Landkreise und kreisfreien Städte betrifft, so wurden auf Grundlage der Zahlen des Zensus zu den Personen mit Migrationshintergrund für 2011 die höchsten Bevölkerungsanteile muslimischer Migranten in Offenbach am Main, Duisburg und Gelsenkirchen festgestellt.[19] Hier bestehen erhebliche Unterschiede zwischen den Schwerpunkten muslimischer Zuwanderung in der Rhein-Ruhr-Region, dem Rhein-Main-Gebiet und dem Württembergischen Kernraum einerseits und Regionen besonders im Osten und Nordosten der Republik. Im Jahr 2009 wurde geschätzt, dass eine Mehrheit von 55 % der Muslime in Deutschland über eine ausländische Nationalität verfügen und nur 45 % der Muslime in Deutschland die deutsche Staatsangehörige besitzen.[13]
Im Jahr 2015 wurde die Anzahl der Muslime in Deutschland auf etwa 4,4 bis 4,7 Millionen Menschen geschätzt, was 5,4 bis 5,7 % der Bevölkerung entspricht.[14] Die Angaben aus dem Jahr 2015 variieren allerdings stark von 1,9 % (Zensus 2011: freiwillige Angabe) bis 7 %.[16]
Staatsangehörigkeit
Deutsche und nichtdeutsche Muslime
im Jahr 2020 in Deutschland (Schätzung des BAMF) | Anzahl | Relativer Anteil in % | Stand (Jahr) |
---|---|---|---|
Gesamt (gemittelt zwischen 5,3 und 5,6 Millionen) | 5.450.000 | 2020 | |
davon Deutsche
(einschließlich Deutsche mit doppelter Staatsbürgerschaft) | 2.190.900 – 2.615.000 | 40,2 %[2] – 47 %[1] | 2020 |
davon Ausländer | 2.888.500 – 3.259.100 | 53 %[1] – 59,8 %[2] | 2020 |
Strömungen
Verteilung (ungefähre Angabe) der verschiedenen islamischen Glaubensgemeinschaften in Deutschland:[2][20]
Konfession | Anzahl | Anteil unter Muslimen
in DE in % (Stand 2020) |
Stand (Jahr) |
---|---|---|---|
Sunniten | 71,7 | 2020 | |
Aleviten | 9,5 | 2020 | |
Zwölfer-Schiiten | 4,4 | 2020 | |
Alawiten | 70.000 | 2010 | |
Ahmadiyya-Muslim-Gemeinschaft | 1,3 | 2020 | |
Sufis | 10.000 | 2015 | |
Ismailiten | 1.900 | 2005 | |
Zaiditen | 800 | 2007 | |
Ibaditen | 270 | 2013 | |
Lahore-Ahmadiyya-Bewegung[21] | 60 | 2001 | |
Spezifische Konfession unbekannt | 11,6 | 2020 | |
Gesamt | 2001-2020 | ||
Im Jahr 2008 waren 74,1 % der in Deutschland lebenden Muslime Sunniten; die Aleviten machten 12,7 % aus, die Zwölfer-Schiiten 7,1 %, die Ahmadiyya 1,7 %, die Ibaditen 0,3 % und die Sufis 0,1 %. Die restlichen 4 Prozent bildeten andere muslimische Strömungen wie beispielsweise die Zaiditen, Ismailiten oder die Alawiten.[22]
Ahmadiyya
Die Ahmadiyya, eine ursprünglich aus Indien stammende islamische Glaubensrichtung, die allerdings von vielen anderen Muslimen als unislamisch angesehen wird, hat rund 40.000 Mitglieder in Deutschland, die sich auf 50 Moscheegemeinden bzw. 225 lokale Gemeinden verteilen.[23] Die beiden Untergruppen Ahmadiyya-Muslim-Gemeinschaft (AMJ) und Lahore-Ahmadiyya-Bewegung für die Verbreitung des Islams (AAIIL, deutsch für Ahmadiyya Anjuman Ischat-i-Islam Lahore) traten in den 1920er-Jahren ungefähr zeitgleich missionarisch in Deutschland auf. Ausdruck hierfür ist etwa die Wilmersdorfer Moschee in Berlin von 1928. Am 9. August 1955 gründete die AMJ in Hamburg den Verein Ahmadiyya-Bewegung in der Bundesrepublik Deutschland, 1969 wurde der Vereinssitz nach Frankfurt am Main verlegt. Im Jahr 1989 wurde von der Ahmadiyya-Muslim-Gemeinde der 100-Moscheen-Plan ausgerufen, demzufolge in Deutschland 100 Moscheen für die Ahmadiyya entstehen sollen, wovon bislang die Hälfte realisiert wurde.[23] Im April 2013 verlieh das Bundesland Hessen der AMJ als erster islamischer Religionsgemeinschaft nach Art. 140 GG i. V. m. Art. 137 Abs. 5 WRV den Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts,[24] im Mai 2014 zog die Freie und Hansestadt Hamburg nach.
Aleviten
Die Türken in Deutschland, die zumeist aus den östlichen Innenprovinzen der Türkei stammen, gehören teilweise der Religionsgemeinschaft der Aleviten an. Diese von Zentralasien nach Kleinasien (Anatolien) verbreitete Richtung wird ähnlich wie die Ahmadiyya von vielen als nicht islamisch verstanden, die Aleviten selber sehen sich teilweise als Strömung innerhalb der Schia, teilweise als „eigenständige Religionsgemeinschaft aus dem islamischen Kulturraum“, wie es der alevitische Grünen-Politiker Ali Ertan Toprak formulierte.[25] Der Grund für den in Deutschland verhältnismäßig großen prozentualen Anteil der Aleviten bei Muslimen mit Herkunft aus der Türkei ist, dass viele Einwanderer aus alevitischen Regionen in der Türkei stammten; zudem gab es in den 1980er-Jahren eine verstärkte Einwanderungswelle als Asylbewerber, da viele Aleviten vor dem Militärputsch 1980 Oppositionelle waren. Im Jahr 1986 wurde die Alevitische Gemeinde Deutschland (türkisch: Almanya Alevi Birlikleri Federasyonu, AABF) als Dachverband für die alevitischen Gemeinden gegründet, von denen mittlerweile 111 existieren.[25] Der eingangs zitierte Toprak, der Generalsekretär der AABF war, betonte die weltliche Ausrichtung des alevitischen Glaubens; so gelte für die Aleviten nicht die Scharia, auch das tägliche fünfmalige Gebet sei nicht relevant.[25] Darüber hinaus besuchen Aleviten keine Moscheen; sie verrichten ihre Gebete in einem Cem-Haus, wo auch allgemeine Gemeindeversammlungen abgehalten werden. Religiöser Leiter einer Gemeinde ist auch kein Imam, sondern ein Dede.
Im Jahr 2020 wurde der AABF in Nordrhein-Westfalen nach Art. 140 GG i. V. m. Art. 137 Abs. 5 WRV der Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts verliehen.
Ibaditen
Der überwiegende Teil der in Deutschland lebenden Ibaditen stammt ursprünglich aus dem Oman. Die Ibaditen stellen allerdings zahlenmäßig nur eine relativ kleine Minderheit (rund 270 Anhänger[26]) der in Deutschland lebenden Muslime dar.
Schiiten
In Deutschland stellen die Schiiten nach den Sunniten und den Aleviten die drittgrößte islamische Glaubensgemeinschaft. Die Schiiten teilen sich in die Richtungen Zwölferschiiten, Siebenerschiiten und Fünferschiiten auf.
Zwölferschiiten
Die überwiegende Mehrheit der Schiiten in Deutschland gehört der Glaubensgemeinschaft der Zwölfer-Schiiten an (ungefähr 225.500 Anhänger[27]). Die in Deutschland lebenden Zwölferschiiten stammen zumeist aus dem Iran, die im Zuge der Islamischen Revolution und des Ersten Golfkriegs in den 1980er-Jahren vermehrt einwanderten; andere Herkunftsländer sind Aserbaidschan, der Irak, Afghanistan und der Libanon. Mittelpunkt des Zwölferschiitentums in Deutschland ist das Islamische Zentrum Hamburg (IZH) mit der dazugehörigen Imam-Ali-Moschee. Leiter des IZH ist derzeit Ajatollah Reza Ramezani; das IZH ist direkt dem „Führer und obersten Rechtsgelehrten“ der Islamischen Republik Iran unterstellt.
Siebenerschiiten (Ismailiten)
Die Ismailiten stellen eine religiöse Minderheit (rund 1.900 Anhänger[28]) der in Deutschland lebenden Muslime dar. Die meisten Angehörigen dieser Glaubensgemeinschaft, die in Deutschland leben, stammen vor allem aus Pakistan, Indien, Afghanistan und Syrien.
Fünferschiiten (Zaiditen)
In Deutschland gibt es verhältnismäßig wenige Zaiditen. Die meisten der in Deutschland lebenden Zaiditen stammen ursprünglich aus dem Jemen. Bekanntester Vertreter dieser Glaubensgemeinschaft in Deutschland war Sven Kalisch (ehemals Muhammad Sven Kalisch), der zeitweise Inhaber des ersten Lehrstuhls für die Ausbildung islamischer Religionslehrer in Deutschland war.
Alawiten
Die meisten der in Deutschland lebenden Alawiten (schätzungsweise 70.000 Anhänger[29]) stammen ursprünglich aus der Türkei, dem Libanon, Syrien sowie aus Jordanien.
Sufismus
Erste Sufi-Gemeinschaften und Sufi-Orden in Deutschland wurden in den 1920er-Jahren gegründet, größtenteils jedoch erst in den 1970ern.[30] Der Sufi-Orden, dem die meisten in Deutschland lebenden Sufis angehören, ist der Naqschbandi-Orden, welcher nach den Lehren Scheichs Nazim al-Haqqani arbeitet.
Derzeit aktive sufistische Organisationen sind beispielsweise das Sufi Zentrum Rabbaniyya in Köln und Eigeltingen (Bodensee), der Haqqani Trust – Verein für neue deutsche Muslime in Mönchengladbach und die Tarriqa-as-safinah um Scheich Bashir Ahmad Dultz.
Sunniten
Die Sunniten bilden weltweit die größte islamische Glaubensrichtung, allerdings ist deren Anteil in Deutschland etwas geringer als im weltweiten Durchschnitt. Sunniten stellen in Deutschland keine einheitliche Gemeinde dar, da sich deutsche Sunniten je nach besuchter Moschee in der Glaubenslehre unterscheiden.[31]
Rechtsschulen
Fast alle Sunniten lassen sich in 4 verschiedene theologische Richtungsschulen einteilen:[32] Oft werden daher Moscheen von Muslimen einer Nation besucht und finanziert, sodass man sunnitische Moscheenvereine auch nach diesen Rechtsschulen einteilen kann:
- Hanefiten: Türkische Muslime organisiert in der Ditib oder der radikaleren Milli Görüsch, aber auch albanische und bosnische Moscheevereine[33]
- Hanbaliten: Imame aus Saudi-Arabien, darunter Wahhabiten bzw. Salafisten[34]
- Malikiten: Nordwestafrikanische Muslime. Viele marokkanischen Moscheevereine folgen dieser Rechtsschule
- Schāfiʿiten: Kurden und Muslime aus Südostasien
Salafisten
Die Anhänger des radikal-puritanischen Salafismus, der von den ölreichen Golfstaaten finanziert wird, stellen innerhalb der sunnitischen Gemeinde eine relativ kleine Minderheit dar, dennoch finden sie besonders unter jüngeren in Deutschland lebenden Sunniten Zuspruch, was unter anderem auf eine starke Internetpräsenz zurückzuführen ist. Konvertiten wie Pierre Vogel spielen hier eine wichtige Rolle, da sie im Gegensatz zu vielen nichtsalafistischen Imamen, von denen eine große Anzahl nur für wenige Jahre nach Deutschland entsendet werden, die deutsche Kultur kennen und fließend Deutsch sprechen.[35]
Organisationen
In Deutschland existieren viele islamische Verbände und Vereine. Einzig die Ahmadiyya-Muslim-Gemeinschaft (AMJ) ist in Deutschland als Körperschaft öffentlichen Rechts anerkannt und den christlichen Kirchen gleichgestellt.[36]
Eine der mitgliederstärksten sunnitischen Organisation, insbesondere wegen der großen Anzahl von türkischen Einwanderern, stellt die DITIB dar, die Türkisch-Islamische Union der Anstalt für Religion e.V. (türk. Diyanet İşleri Türk İslam Birliği). Sie untersteht dem türkischen staatlichen Präsidium für Religiöse Angelegenheiten und hat mit fast 350 selbstständigen Moscheegemeinden wohl den größten Einfluss.[37] Zusammen mit weiteren Dachverbänden wie dem Islamrat für die Bundesrepublik Deutschland (IRD), dem Zentralrat der Muslime in Deutschland (ZMD) und dem Verband der Islamischen Kulturzentren (VIKZ) gründete sie im Jahr 2007 auf der Deutschen Islamkonferenz den Koordinationsrat der Muslime in Deutschland. Insgesamt sind ungefähr 20 % der in Deutschland lebenden Sunniten Mitglieder in religiösen Vereinen oder Gemeinden.[38] 2010 gründete sich der Liberal-Islamische Bund; erste Vorsitzende wurde Lamya Kaddor. Unter anderem befürwortet sie (Stand 2011) die gleichgeschlechtliche Ehe und lehnt eine religiöse Verpflichtung zum Tragen des Kopftuches ab.[39]
Einzelne Organisationen, die Mitglied in einem der genannten Verbände sind, sind unter anderem:
- Deutsche Muslim-Liga
- Islamische Gemeinschaft in Deutschland
- Alevitische Gemeinde Deutschland
- Islamische Gemeinschaft Millî Görüş
- Muslimische Akademie in Deutschland
- Muslimische Jugend in Deutschland (MJD)
Daneben gibt es in vielen Städten einen Deutschsprachigen Muslimkreis (DMK), so zum Beispiel in Berlin, Hannover, Braunschweig, Karlsruhe, Stuttgart und Darmstadt.
Islam im Bildungssystem
Islamunterricht als Sachunterricht
Im Jahr 1978 wurde in Deutschland erstmals ein Antrag auf islamischen Religionsunterricht gestellt.[40] In den 1980er-Jahren führten die Bundesländer Bayern und Nordrhein-Westfalen großflächig „religiöse Unterweisung“ für muslimische Schüler ein, allerdings nur als Bestandteil des muttersprachlichen Unterrichtes Türkisch (die Lehrpläne in Bayern wurden dabei vom türkischen Unterrichtsministerium zur Verfügung gestellt). Seit ca. Anfang der 2000er-Jahre bieten beide Länder „Islamische Unterweisung“ in deutscher Sprache an.[41]
Nach den Lehrplänen ist der Islamunterricht vielerorts jedoch kein Religionsunterricht nach konfessionellem Verständnis, sondern nur informierender Sachunterricht. Probleme bei der Umsetzung islamischen Religionsunterrichts stellen u. a. der schwierige Dialog mit den islamischen Verbänden sowie fehlende Unterrichtsmaterialien und Mangel an (deutschsprachigem) qualifiziertem Personal (siehe Abschnitt „Islamische Theologie“) dar.
Der Islamischen Föderation Berlin (IFB), die seit 2001 Religionsunterricht an 31 Berliner Grundschulen erteilt, wurde von der Islamwissenschaftlerin Irka Mohr vorgeworfen, der Unterrichtsschwerpunkt liege dort in der Verkündung des Islams und der Einübung in die Glaubenspraxis; somit würde die IFB das staatliche Bildungsziel der „Mündigkeit“ des Schülers verfehlen.[42]
Islamischer Religionsunterricht als Schulfach
Das Bundesland Hessen hat seit 2013 als erstes Bundesland den bekenntnisorientierten islamischen Religionsunterricht in Zusammenarbeit mit den Religionsgemeinschaften und gemäß Grundgesetzes eingeführt. Dafür wurden Lehrer an Grundschulen weitergebildet. Als Partner für den Unterricht an Grundschulen im Bundesland wurde die DITIB und Ahmadiyya-Islam-Gemeinde ausgewählt.[43][44]
Als erstes Bundesland wollte Niedersachsen ab 2012 islamischen Religionsunterricht als reguläres Fach einführen, wurde aber von Hessen überholt; zuvor war dort ab 2003 das Fach als Modellversuch gestartet.[45]
Theologie
Zu Beginn des Jahres 2010 beschloss der Wissenschaftsrat, „Islamische Zentren“ an deutschen Universitäten einzurichten. Damals waren anfänglich zwei oder drei Standorte geplant, an denen eine bekenntnisorientierte islamische Forschung bzw. eine Ausbildung für Imame stattfinden solle.[46] Die Universität Osnabrück bot im selben Jahr Imamen Weiterbildungskurse an, in denen sich die muslimischen Geistlichen mit der deutschen Sprache, Landeskunde und pädagogischen Grundlagen auseinandersetzen; die Universität Osnabrück war die erste deutsche Hochschule mit einem solchen Angebot.[47]
An den Universitäten von Tübingen sowie Münster/Osnabrück (in einem Kooperationsmodell) wurden ab dem Wintersemester 2010/2011 dann erstmals Studiengänge für islamische Theologie angeboten, welche vom Bund gefördert werden.[48]
Im Wintersemester 2011/2012 nahm schließlich das Zentrum für Islamische Theologie der Universität Tübingen seine Tätigkeit auf, welches am 16. Januar 2012 eingeweiht wurde und das neben Islamwissenschaftlern eben auch Imame und islamische Religionslehrer ausbilden soll. Das Bundesbildungsministerium fördert insgesamt vier Zentren mit rund 20 Millionen Euro.[49] Der erste Leiter des Tübinger Zentrums ist der israelische Koranwissenschaftler Omar Hamdan.[50]
Die dort ausgebildeten Imame sollen langfristig die in der Türkei und arabischen Ländern ausgebildeten Imame ersetzen, die oftmals nicht deutsch sprechen und nicht mit den Lebensumständen der Muslime in Deutschland vertraut sind. Eine Problematik stellt allerdings bislang die Finanzierung und Akzeptanz von den Moscheengemeinden dar: Da Muslime keine Kirchensteuer bzw. eine äquivalente Abgabe zahlen, können sich die Gemeinden auch keine Gehaltszahlungen leisten bzw. ist davon auszugehen, dass viele Imame weiterhin aus dem Ausland gesendet werden.[51]
Um 2010 gründet die Ahmadiyya-Gemeinde eine erste Imamschule in Deutschland. 2012 wurde eine Islamische Schule in Riedstadt erbaut. Erstmals werden deutsche Studenten zu islamischen Geistlichen in Deutschland ausgebildet. Das Institut wird durch Spendengelder finanziert. Absolventen sollen nach der Ausbildung auch als Imame in den Gemeinden zum Einsatz kommen.[52][53]
Religiöse Praxis
In einer im Jahr 2020 durchgeführten repräsentativen Studie zu Muslimen in Deutschland gaben 82 Prozent der befragten Muslimen an, stark oder eher gläubig zu sein. Etwa 70 Prozent aller Muslime in Deutschland halten sich an Getränke- und Speisevorschriften des Islam. 39 Prozent beten laut der Studie täglich.[2]
Moscheen
Von den ungefähr vier Millionen in Deutschland lebenden Muslimen sind 600 000 bis 700 000 regelmäßige Moscheebesucher.[54]
In Deutschland gibt es 159 Moscheen mit Kuppel und Minarett (Stand 2011). Die Mehrheit davon ist von der Türkisch-Islamischen Union der Anstalt für Religion (indirekt dem türkischen Staat zugehörig) oder von anderen türkischen Sunniten erbaut; über 40 gehören der Ahmadiyya, mehr als 12 Moscheen sind anderen sunnitischen Gruppierungen (Araber, Nordafrikaner) zugehörig. Stand 2006 gab es mindestens eine in Deutschland errichtete Moschee der Schiiten.[55] Viele muslimische Gruppierungen haben keine repräsentativen Bauten errichtet und verrichten die Gebete in Hinterhofmoscheen, die genaue Anzahl ist nicht bekannt, da es kein Register oder Verzeichnis für Moscheen in Deutschland gibt. Die von einer Privatperson betriebene Homepage moscheesuche.de führte im Februar 2017 insgesamt 2284 Moscheen auf. Moscheen von verschiedenen Richtungen, welche der Betreiber als Ungläubige oder Ablehner bezeichnet, wie Schiiten und Ahmadiyya Muslim Jamaat, fehlen dort. Zudem ist die Liste dort nicht aktuell. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge schätzte 2012 die Anzahl auf 2342 Moschee bzw. Gebetsräumlichkeiten.[56] Seit einigen Jahren fordern CDU-Politiker die Einführung eines Moscheeregisters. Ein Register wäre jedoch verfassungsrechtlich problematisch, da es ein derartiges nicht auch für andere Religionen gibt.[57][58]
Der Bau von Moscheen stieß wiederholt auf Protest in Teilen der Bevölkerung. So formierten sich in Berlin, Dortmund und Aachen Bürgerinitiativen, die sich gegen den Bau eines islamischen Gotteshauses in ihren Ortschaften richteten. Von den Gegnern werden häufig Bedenken bezüglich der Architektur ins Feld geführt. In Mönchengladbach und Köln-Ehrenfeld war beispielsweise die Höhe der Minarette Stein des Anstoßes.[59] Bei den Protesten klangen jedoch ebenso häufig fremdenfeindliche Töne mit, wie etwa bei den Protesten gegen die Chadidscha-Moschee in Berlin-Heinersdorf. Gegen deren Errichtung im Jahr 2008 durch die Ahmadiyya gab es bereits im Vorfeld massiven Widerstand mit Unterschriftensammlungen und es kam zu der Gründung eines eigenen Vereins, der sich gegen die Errichtung stellt.[60] Im Zuge des Baus der DITIB-Zentralmoschee Köln tat sich beim Protest besonders die Bürgerinitiative Pro Köln hervor, auch sie sammelte Unterschriften, veranstaltete Mahnwachen und Protestzüge und organisierte einen so genannten „Anti-Islamisierungskongress“. In Einzelfällen wurden Kirchen zu Moscheen umgebaut wie die Kapernaumkirche in Hamburg-Horn.[61]
Bestattungen
Für gläubige Muslime ist die Erdbestattung die einzig mögliche Bestattungsform. Bei einer islamischen Bestattung sind mehrere Regeln zu beachten. Die Feuerbestattung ist im Islam verboten.[62] Da das Bestattungsrecht in Deutschland Sache der Länder ist, unterscheiden sich die Bestattungsgesetze in den verschiedenen Bundesländern.
Der Landtag von Baden-Württemberg hatte im März 2014 mit den Stimmen aller Fraktionen die Änderung des Bestattungsgesetzes beschlossen. Danach besteht auch in diesem Bundesland keine Sargpflicht mehr. Dadurch sind auch Begräbnisse nach islamischen Ritus möglich. Ebenso fiel auch die Vorgabe eines frühesten Bestattungszeitpunkts – nach 48 Stunden nach dem Tod – weg.[63]
Bayern hält als eines der letzten Bundesländer an der Sargpflicht fest. Neben Bayern verbieten bislang lediglich die beiden anderen Bundesländer Sachsen und Sachsen-Anhalt eine nach islamischen Vorschriften sarglose Bestattung.[64] Im November 2015 blockierte die CSU (ungeachtet einer ungewöhnlich eindeutigen Expertenanhörung) eine Abschaffung der Sargpflicht bei Beerdigungen – auch wenn dafür religiöse Gründe geltend gemacht werden. Ein entsprechender Antrag der Grünen, die damit den in Bayern lebenden Muslimen entgegenkommen wollten, wurde von der CSU-Mehrheit im Innenausschuss des Landtags abgelehnt.[65] In einer Anhörung des Innenausschusses hatten sich nicht nur Vertreter der Muslime für die Abschaffung der Sargpflicht ausgesprochen, sondern auch die katholische und die evangelische Kirche sowie Vertreter der Kommunalverbände. Auch das Landesamt für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit (LGL) hatte keine Bedenken.[66]
In Sachsen-Anhalt lehnten CDU und SPD nach einem Jahr Debatte 2015 jegliche Änderung des Bestattungsgesetzes im Land ab. Grüne und Die Linke hatten entsprechende Gesetzentwürfe ausgearbeitet und vorgelegt.[67]
Friedhöfe
Im Oktober 2014 trat im bevölkerungsreichsten Bundesland Nordrhein-Westfalen ein neues Gesetz in Kraft, wonach die Errichtung und der Betrieb von Friedhöfen mittels einer Beleihung auf gemeinnützige Religionsgemeinschaften oder religiöse Vereine übertragen werden kann, wenn diese den dauerhaften Betrieb sicherstellen können.[68][69][70] Dadurch können Muslime auch in Deutschland islamische Friedhöfe errichten. Außerdem wurde mit dem neuen Gesetz die Frist für die frühestmögliche Erdbestattung auf 24 Stunden heruntergestuft. Durch diese Gesetzesänderung wollte die Landesregierung vor allem für die hier geborenen Kinder aus eingewanderten Familien die Möglichkeit bieten, dass sich ihre Eltern ortsnah und nach muslimischem Brauchtum bestatten lassen können.[71]
In Wuppertal sollte 2018[72] der erste muslimische Friedhof in Deutschland entstehen.[73][74] Es handelt sich um ein Gelände in evangelischer Trägerschaft. 2009 hatte die evangelische Kirche 20.000 m² an die Jüdische Kultusgemeinde verschenkt, weitere 20.000 m² sollen nun an die Wuppertaler Muslime verkauft werden.[75] Bis 2020 war der Friedhof noch nicht in Betrieb, es werden Spendengelder für ihn gesammelt.[76]
Feiertage
In Deutschland gibt es keine gesetzlichen islamischen Feiertage; allerdings ist es geregelt, dass muslimische Schüler an ihren Feiertagen wie dem Zuckerfest oder dem Opferfest nicht zur Schule kommen müssen – in den Lehrerkalendern sind auch muslimische Feiertage eingetragen. Der Vorsitzende der Zentralrat der Muslime Aiman Mazyek fordert zudem, islamische Feiertage offiziell als „deutsche Feiertage“ aufzunehmen – was aber nicht bedeuten solle, diese allgemein zu schul- und arbeitsfreien Tagen zu machen. Dies betrachtete 2009 allerdings der Vorsitzende der Türkischen Gemeinde in Deutschland (TGD) Kenan Kolat als wünschenswert: An wichtigen muslimischen Tagen sollten alle Kinder frei haben.[77] Bereits im Jahr 2004 regte der Grünen-Politiker Hans-Christian Ströbele im Bundestag eine Debatte über einen muslimischen Feiertag an. Dort stieß der Vorschlag allerdings auf starke Ablehnung.[78] Die konkrete Forderung nach zumindest einem einzigen freien islamischen Tag, auch für nichtmuslimische Kinder, stieß auf Kritik von Seiten des Zentralrats der Muslime; der Zentralrat der Juden hingegen empfand den Vorschlag als begrüßenswert und schlug im Zuge dessen auch einen jüdischen arbeitsfreien Feiertag vor.[79]
Scharia
Einige religiöse Vorschriften, die in der Scharia enthalten sind, lassen sich auch in Deutschland umsetzen, vorausgesetzt, sie widersprechen weder dem deutschen Grundgesetz noch dem Ordre public[80]
Erlaubt ist zum Beispiel das Schächten, also das Ausbluten von Tieren bei der Schlachtung; allerdings schreibt das deutsche Recht eine Betäubung vor. Grundgesetzwidrig sind zum Beispiel die Ungleichbehandlung der Geschlechter und Religionen (Dhimmi und Harbī) sowie Körper- und Todesstrafen für Diebstahl und Ehebruch.[81]
Anders als etwa in Großbritannien gibt es in Deutschland keine islamischen Schiedsgerichte, die nach der Scharia, also den islamischen Gesetzen, Recht sprechen. Laut Rechtsexperten werden aber auch ohne eigene Schiedsgerichte in Deutschland durch deutsche Richter nach dem islamischen Gesetz Urteile gesprochen – so im Familien- und Erbschaftsrecht.[82] Wenn beispielsweise ein Muslim im Ausland polygam geheiratet hat, dann gilt diese Ehe auch in Deutschland.[81] Dies ist möglich, da seit dem Jahr 1900 bei privaten Rechtsbeziehungen (Verträge, Familienfragen, Erbrechtsfragen) ausländisches Recht angewandt werden darf; so kann das islamische Recht genau wie das französische (Code civil) zum Zuge kommen.
Muezzinrufe
Traditionell ruft ein Muezzin die Muslime der Umgebung fünfmal am Tag von einem Minarett herab zum Gebet auf (Adhān). In Deutschland wird diese Praxis von Ort zu Ort unterschiedlich gehandhabt. Im Jahr 1995 wurde bei der Duisburger Stadtverwaltung von zwei muslimischen Gemeinden eine Genehmigung beantragt, den Gebetsruf einmal in der Woche verstärkt durch eine Lautsprecheranlage zu verkünden. Der Antrag löste eine landesweite Diskussion aus, und insbesondere die Evangelische Kirchengemeinde Duisburg-Laar lehnte, theologisch argumentierend, den öffentlichen Gebetsruf ab.[83] Allerdings durften in anderen Städten Nordrhein-Westfalens zu der Zeit bereits Gebetsrufe durchgeführt werden: Nach einer erfolgreichen Klage im Jahr 1985 war die Dürener Fatih-Moschee die erste in der Bundesrepublik, in der ein Muezzin zum Gebet auffordern konnte.[84] Dies darf dort fünfmal täglich erfolgen;[83] in Siegen dreimal pro Tag,[85] in Bochum einmal täglich und in Bergkamen einmal pro Woche.[83] Auch in Dortmund, Hamm und Oldenburg wurden Anträge für Gebetsrufe von Moscheevereinen ohne Protest der Anwohner genehmigt.[85] Im Jahr 2009 wehrten sich Bürger der Stadt Rendsburg in Schleswig-Holstein gegen die Pläne der dortigen Moschee, Lautsprecher an ihren zwei Minaretten anzubringen. Schließlich wurde 2010 dennoch der Antrag im Rathaus genehmigt, die Gebetsrufe dürfen fünfmal am Tag in der Zeit zwischen 6 und 22 Uhr ertönen; Rendsburg war damit nach Schleswig und Neumünster die dritte Stadt Schleswig-Holsteins, in der dies erlaubt wurde.[86]
Grundsätzlich sind islamische Gebetsrufe in Deutschland durch die Religionsfreiheit geschützt. Sie können aber nach dem Bundes-Immissionsschutzgesetz untersagt werden, wenn die Lautstärke für Nachbarschaft oder Straßenverkehr zu hoch ist.[83]
Halāl-Lebensmittel
In Deutschland bieten verschiedene Lebensmittelhersteller Produkte an, die halāl sind, also als islamkonform gelten. Das bedeutet, dass die Tiere, deren Stoffe in einem solchen Produkt enthalten sind, geschächtet worden sein müssen; darüber hinaus dürfen diese Produkte kein Schweinefleisch enthalten. Das deutsch-niederländische Unternehmen Mekkafood beispielsweise hat sich auf die Herstellung halāl-zertifizierter Lebensmittel spezialisiert. Andere Hersteller haben solche in ihr Sortiment aufgenommen, so zum Beispiel Wiesenhof, Dr. Oetker, Müller, Nestlé Deutschland, Westfleisch, Nordmilch oder die Supermarktketten Aldi, Edeka und Rewe.[87] Gekennzeichnet bzw. zertifiziert werden diese Produkte mit einem „Halāl-Zeichen“, zuständig für die Zertifizierung ist unter anderem das Europäische Halal Zertifizierungsinstitut (EHZ), das seinen Sitz in der Centrum-Moschee in Hamburg hat.[88]
Bankenwesen
2015 hat die Finanzaufsichtsbehörde Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (Abkürzung: BaFin) erstmals einer islamischen Bank eine Lizenz als Universalbank erteilt. Die Kuveyt Türk Bank AG, deren Geschäfte nach den Regeln des islamischen Finanzwesens ablaufen, will Filialen in Berlin, Köln und Frankfurt eröffnen.[89]
Konversion zum Islam
Über die Zahl der Menschen, die in Deutschland zum Islam konvertieren, gibt es keine regelmäßig erhobenen Angaben. Aus einer vom Bundesinnenministerium geförderten und vom Islam-Archiv in Soest durchgeführten Studie Mitte der 2000er-Jahre wurde anscheinend ersichtlich, dass es 2004/05 1152 Konvertiten gab, zwischen August 2005 und Juli 2006 vervierfachte sich die Zahl demnach schließlich auf rund 4000 – so hoch wie seit 1920 nicht mehr: In den Jahren vor den Anschlägen vom 11. September 2001 waren es nach Angaben des Islam-Archivs nur 250 bis 300.[90] Diese vom Islam-Archiv erhobenen Zahlen seien allerdings nach Ansicht einiger Muslime und Islamwissenschaftler nicht repräsentativ und nicht stichhaltig; Vertreter von DITIB und Milli Görüş haben nach eigenen Aussagen nicht mit dem Islam-Archiv zusammengearbeitet. Der Leiter des Archivs, Muhammad Salim Abdullah, sprach hingegen von einer „Vollerhebung bei allen islamischen Verbänden sowie ausgewählten Moscheen“. Allerdings zweifeln auch ehemalige Mitarbeiter des Islam-Archivs an der Aussagekraft der Studie.[91]
Die Gründe für einen Übertritt seien nach der Religionspädagogin Monika Wohlrab-Sahr vielschichtig: Während früher größtenteils Frauen den Glauben annahmen, die einen Muslim geheiratet haben, konvertieren nun Menschen vermehrt aus „freien Stücken“. Dabei handelt es sich sowohl um Christen, die an ihrer Konfession zu zweifeln begannen, als auch um Menschen, die sich durch das „Andersartige“ von der Masse abheben wollen.[92]
Konvertierte Deutsche wurden dabei unter anderem recht kritisch betrachtet, da einige von ihnen dazu neigen, sich radikale Ansichten anzueignen, also zum Islamismus tendieren. Nach einer Analyse des Bundeskriminalamtes von 2010 stuften deutsche Polizeibehörden elf Konvertiten als „Gefährder“ sowie 26 als „relevante Personen“ ein. Sie stehen unter Verdacht, islamistisch motivierte Terroranschläge zu planen.[93]
Laut der Anthropologin Esra Özyürek[94] nehmen deutsche Konvertiten eine wichtige Brückenfunktion ein: Sie seien Vermittler zwischen den muslimischen Migranten und nicht-muslimischen Deutschen. Durch ihre Arbeit in ihren muslimischen Gemeinden seien sie ein Gewinn für die Integration, so geben sie dort Deutschunterricht und hinterfragen patriarchalische Strukturen. Die wenigsten Konvertiten würden radikal werden.[95]
Muslime in der Politik
Mit Cem Özdemir und Leyla Onur waren 1994 erstmals Abgeordnete mit muslimischem Hintergrund im Bundestag vertreten. Ihnen folgten Ekin Deligöz (1998), Lale Akgün (2002), Hüseyin Kenan Aydın, Sevim Dağdelen und Hakkı Keskin (2005), Omid Nouripour (2006), Bijan Djir-Sarai (2009) und Aydan Özoğuz (2009).
Im November 2008 wählten Bündnis 90/Die Grünen den türkischstämmigen Politiker Cem Özdemir zu ihrem Parteivorsitzenden. Er war in Deutschland der erste Muslim in einer solchen Position. Özdemir bezeichnete sich im Jahr 2008 in einem in englischer Sprache geführten Interview als „säkularen Muslim“ (englischer Originaltext: „secular Muslim“).[96]
Der damalige niedersächsische Ministerpräsident Christian Wulff (CDU) berief im April 2010 mit Aygül Özkan erstmals eine Muslima als Ministerin in ein Landesministerium, nämlich das Ministerium für Soziales, Frauen, Familie, Gesundheit und Integration. Innerhalb der CDU gibt es außerdem seit 1997 das Deutsch-Türkische Forum. Derzeitiger Vorsitzender ist Bülent Arslan. In Nordrhein-Westfalen war Zülfiye Kaykin (SPD) von 2010 bis 2013 Staatssekretärin für Integration.[97]
Bilkay Öney war von 2011 bis 2016 in Baden-Württemberg im Kabinett Kretschmann I Landesministerin für Integration. In Berlin ist die in der Türkei geborene Dilek Kolat (SPD) seit Dezember 2011 in verschiedenen Funktionen Mitglied des Berliner Senates. Von 2014 bis 2016 war sie zusätzlich als Bürgermeisterin Stellvertreterin des Regierenden Bürgermeisters. Seit 2011 ist der bekennende Muslim Raed Saleh Fraktionsvorsitzender der SPD-Fraktion im Abgeordnetenhaus.[98] Seit dem Jahr 2019 ist mit Belit Onay (Grüne) das erste Mal ein "liberaler Muslim" (Eigenbezeichnung) Oberbürgermeister einer Landeshauptstadt (Hannover).[99]
Mit Amira Mohamed Ali, deren Vater aus Ägypten stammt, wurde 2019 erstmals eine gläubige Muslimin Fraktionsvorsitzende der Linken.
Mit der Bundestagswahl 2021 wurden mindestens 38 Abgeordnete mit Migrationshintergrund aus mehrheitlich muslimischen Ländern in den 20. Bundestag gewählt. Das entspricht einem Anteil von 5,3 %. Die meisten davon stellte die SPD auf, gefolgt von Bündnis 90/Die Grünen und Die Linke. Die Hälfte dieser Abgeordneten hat Wurzeln in der Türkei (Aydan Özoğuz, Hakan Demir, Metin Hakverdi, Macit Karaahmetoǧlu, Derya Türk-Nachbaur, Mahmut Özdemir, Cansel Kızıltepe, Gülistan Yüksel, Takis Mehmet Ali, Nezahat Baradari, Cem Özdemir, Ekin Deligöz, Canan Bayram, Filiz Polat, Melis Sekmen, Ateş Gürpınar, Sevim Dağdelen und Gökay Akbulut und Serap Güler). Neun Abgeordnete stammen aus arabischen Ländern (Sanae Abdi, Ali Al-Dailami, Muhanad Al-Halak, Lamya Kaddor, Kassem Taher Saleh, Rasha Nasr, Alexander Radwan, Reem Alabali-Radovan, Amira Mohamed Ali). Fünf Abgeordnete mit Familienhintergrund aus dem Iran (Sahra Wagenknecht, Kaweh Mansoori, Yasmin Fahimi, Bijan Djir-Sarai, Parsa Marvi). Schahina Gambir stammt aus Afghanistan, Misbah Khan aus Pakistan, Adis Ahmetovic wurde als bosnischer Staatsbürger (in Deutschland) geboren, und Awet Tesfaiesus stammt aus Eritrea.
Islamische Partei Deutschlands
Am 19. November 1998 wurde die Islamische Partei Deutschlands (IPD) in München gegründet. Zum Vorstand der IPD konnte nach einiger Zeit seitens des Bundeswahlleiters kein Kontakt mehr hergestellt werden, weshalb sie am 26. Juli 2002 wieder aus seiner Unterlagensammlung herausgenommen wurde. Da es bisher keinen Auflösungsbeschluss gegeben hat, besteht die Partei formell noch heute.[100][101][102]
Bündnis für Innovation und Gerechtigkeit
Das Bonner Bündnis für Frieden & Fairness (BFF) wurde am 30. Juni 2009 in Bonn gegründet. Im März 2010 fusionierte die Wählervereinigung[103] mit den beiden anderen Initiativen Alternative Bürgerinitiative Köln (ABI Köln)[104] sowie Bürgerinitiative Gelsenkirchen in Köln zur Partei Bündnis für Innovation und Gerechtigkeit (BIG). Sie ist eine von Muslimen gegründete Partei und beabsichtigt, sich insbesondere für die Interessen von Muslimen und ihre gesellschaftliche Integration in Deutschland einzusetzen.[105]
Die deutsche BIG-Politikerin Hülya Dogan[106] war ab 2009 die erste kopftuchtragende Frau, die in einem deutschen Stadtrat saß. Spiegel Online schrieb dazu: „Das vielleicht deutlichste Statement des Bündnisses ist die Kopfbedeckung von Hülya Dogan. ‚Ich sitze nicht nur als Hülya Dogan im Stadtrat, sondern stellvertretend für alle Frauen mit Kopftuch‘, sagt die Neu-Politikerin. ‚Das war eine bewusste Entscheidung, und uns war klar, dass das auch eine Belastung ist.‘“[107] Die Politikerin wurde damals angefeindet und im Internet offen beschimpft.[108]
Muslimisch-Demokratische Union
Die im Jahre 2010 gegründete islamische Partei Muslimisch-Demokratische Union (MDU) schloss sich im März 2014 der Partei Bündnis für Innovation und Gerechtigkeit (BIG) an.[109][110][111][112]
Liberaler Islam
Der liberale Islam wird in Deutschland durch Einzelpersonen wie z. B. Mouhanad Khorchide, Lamya Kaddor oder Bassam Tibi repräsentiert, aber auch durch eine Reihe von Organisationen wie z. B.: Liberal-Islamischer Bund LIB, Muslimisches Forum Deutschland MFD, Verband Demokratisch-Europäischer Muslime VDEM, das Zentrum für Islamische Frauenforschung und -förderung oder den Ibn-Ruschd-Preis.
Islamismus und Kriminalität
Ein Charakteristikum des Islamismus ist die Priorisierung der Scharia gegenüber dem staatlichen Recht, wobei dies in Deutschland insbesondere beim im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland verankerten Grundrechtskatalog deutlich wird, der mit der islamistischen Rechtsauffassung als nicht vereinbar gilt und von Islamisten daher nicht anerkannt ist. Bei zu klärenden Rechtsfällen werden in islamischen Parallelgesellschaften in Deutschland islamische Rechtsgelehrte konsultiert, was wiederum eine Paralleljustiz darstellt.
Laut einem Bericht des Verfassungsschutzes aus dem Jahr 2011 hat sich ca. ein Prozent der in Deutschland lebenden Muslime islamistischen, d. h. islam-politischen Organisationen mit radikalen Ansichten angeschlossen. Das entspricht ca. 34.720 Personen, die im Jahre 2008 Anhänger islamistischer Gruppierungen waren.[113] Deutschland galt vor allem als Ruheraum für potenzielle islamische Terroristen; so lebten beispielsweise die mutmaßlichen Attentäter der Terroranschläge am 11. September 2001 (Mohammed Atta, Marwan al-Shehhi – „Hamburger Zelle“) einige Zeit in der Bundesrepublik. Islamistische Anlaufstellen waren in der Vergangenheit das 2005 verbotene Multikulturhaus in Neu-Ulm sowie das in der Nachbarstadt Ulm beheimatete Islamische Informationszentrum (IIZ), das sich 2007 auflöste.
Deutsche Dschihadisten, also militante Islamisten, suchten oft Anschluss an international agierende Gruppierungen wie die Islamische Dschihad-Union (die bis 2007 bestehende Sauerland-Gruppe bspw. war eine Zelle der IDU) oder reisen in das Ausland, um direkt an Konflikten teilzunehmen, wie die Deutschen Taliban-Mudschahidin in Afghanistan/Pakistan.
Unter den radikalisierten Muslimen befinden sich vermehrt deutsche Konvertiten (man spricht vom so genannten „Homegrown-Terrorismus“). Die vom radikalen Islamismus ideologisierten Personen rekrutieren sich oftmals selbst über das Internet, wie der Fall des Kosovaren Arid Uka zeigt, der zwei US-Soldaten im März 2011 am Frankfurter Flughafen erschoss, um sie an der Einreise nach Afghanistan zu hindern.
2011 wurde durch Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich die Initiative Sicherheitspartnerschaft – Gemeinsam mit Muslimen für Sicherheit eingeleitet, um einer Radikalisierung einzelner junger deutscher Muslime entgegenzusteuern.[114] Teil dieser Initiative ist die Beratungsstelle Radikalisierung.
Eine Besonderheit stellt auch das oft islamische Milieu der in Deutschland existierenden Clan-Kriminalität dar, dessen Merkmal die gemeinsame Straftatbegehung von miteinander verwandten Kriminellen ist.
2021 wurde der in Deutschland gegründete Verein Ansaar International verboten. Ihm war vorgeworfen worden, Spendengelder für militante islamistische Gruppen gesammelt zu haben.
Siehe auch: Islamismus#Deutschland, Salafismus in Deutschland, Islamistischer Terrorismus in Deutschland
Islamfeindlichkeit
Der Mord an der Ägypterin Marwa El-Sherbini in Dresden im Jahr 2009 wurde von einigen Muslimen als ein krasser Ausdruck einer allgemeinen Islamfeindlichkeit in Deutschland angesehen; bei anschließenden Protesten machten Muslime auf Diskriminierungen ihnen gegenüber aufmerksam.[115][116] Ihr Mörder, ein arbeitsloser Russlanddeutscher, beschimpfte sie als Islamistin und erstach sie bei einer späteren Verhandlung im Gerichtssaal.
Seit den 2000er-Jahren kommt es in Deutschland vermehrt zu Brandanschlägen auf Moscheen. Betroffen waren unter anderem eine Moschee in Wolfenbüttel (2002),[117] die Fatih-Moschee in Sinsheim (2004),[118] eine Moschee der Ahmadiyya in Usingen (2004),[119] die Fatih-Moschee in Stadtallendorf (2009),[120] in Berlin allein im zweiten Halbjahr 2010 die al-Nur-Moschee sowie viermal die Sehitlik-Moschee,[121] im Januar 2011 dort die kaum genutzte Wilmersdorfer Moschee der Lahore-Ahmadiyya;[122] einen versuchten Anschlag gab es in Korbach (2010).[123] Bei einem Brand in der Berliner Mevlana-Moschee 2014 wird ebenfalls ein Anschlag vermutet.[124], im selben Jahr gab es in Bielefeld ebenfalls Brandanschläge auf zwei Moscheen.[125] Die Angriffe waren dabei oftmals rechtsextrem motiviert. Bislang kam es nur zu Sachschäden.
Eine Befragung aus dem Jahr 2005 im Rahmen des Langzeitprojektes „Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit“ (GMF) ergab, dass 24 % der deutschen Bevölkerung der Meinung sind, dass Muslimen die Zuwanderung nach Deutschland untersagt werden sollte, 34 % fühlten sich durch Muslime wie Fremde im eigenen Land.[126]
Kleinparteien wie die 2005 in Köln gegründete Bürgerbewegung pro Deutschland und die 2010 in Berlin gegründete Partei Die Freiheit und Blogs wie Politically Incorrect werden von Medien und Politikwissenschaftlern als Hinweis auf eine in Teilen der deutschen Bevölkerung manifeste Islamfeindlichkeit eingeordnet.[127][128][129]
Islamkritik
Zahlreiche deutsche Autoren, auch solche mit muslimischem Hintergrund und muslimischen Glaubens, vertreten eine kritische Haltung gegenüber dem Islam. So wendet sich Necla Kelek gegen die Unterdrückung der Frauen in der muslimischen Gesellschaft bzw. das muslimische Geschlechterbild. Eine ähnliche Meinung vertrat Seyran Ateş, die gegen Zwangsheiraten und sogenannte Ehrenmorde kämpfte, die im muslimischen Milieu in Deutschland bekannt wurden.[130] Ateş zog sich 2009 nach mehreren Morddrohungen aus der Öffentlichkeit zurück. Die vormalige Bundestagsabgeordnete Lale Akgün kritisiert die „unheilvolle Islamisierung zu vieler Lebensbereiche, in denen Religion nichts zu suchen hat“, gleichzeitig würden die großen Islamverbände ausschließlich konservative Positionen vertreten – deren Akteure seien „in ihrem Denken oft im Mittelalter verhaftet“.[131] Der aus Ägypten stammende Politikwissenschaftler Hamed Abdel-Samad fordert einen „Islam Light“ und wendet sich gegen die Praktizierung der Scharia, Geschlechtertrennung und Missionierung. Auch Abdel-Samad erhielt für seine Thesen Morddrohungen und stand zeitweise unter Polizeischutz.[132]
Der deutsche Autor Henryk M. Broder warnte vor einer Appeasement-Politik gegenüber dem radikalen Islam. Die Frauenrechtlerin Alice Schwarzer bezeichnete das muslimische Kopftuch als „Flagge der islamistischen Kreuzzügler“, es sei kein religiöses, sondern ein politisches Symbol. Der ehemalige Berliner Finanzsenator und Autor Thilo Sarrazin macht die Kultur des Islam verantwortlich für eine vorgeblich schlechte Integration türkisch- und arabischstämmiger Migranten in die deutsche Gesellschaft. Der Publizist Udo Ulfkotte polemisierte in seinen Büchern von einer Islamisierung Europas durch ein seiner Ansicht nach drohendes „Eurabien“ und gründete 2007 die antiislamische Bürgerbewegung Pax Europa.
Im Jahr 2007 wurde in Deutschland der Zentralrat der Ex-Muslime gegründet, der die fehlende Religions- und Meinungsfreiheit im islamischen Rechtssystem kritisiert und auf säkularen Humanismus von vormals muslimischen Apostaten aufmerksam machen will.[133]
Abdel-Hakim Ourghi beobachtet, dass die in den muslimischen Gemeinden vermittelte, von ihm „nicht zukunftsfähige“ bezeichnete Religion die Mitglieder von deren westlicher Lebenswirklichkeit isoliere. Viele Freitagsgebete endeten mit einem Bittgebet um einen Sieg über Andersgläubige. Ourghi wünscht sich, dass Predigten auf Deutsch gehalten würden.[134]
Das im Jahr 2010 veröffentlichte Buch Deutschland schafft sich ab von Thilo Sarrazin, das zu einem der meistverkauften Sachbücher in Deutschland wurde, kritisiert den Islam in Deutschland insbesondere hinsichtlich „niedriger Bildungsstandards“, „hoher Geburtenjahrgänge“, der Beanspruchung des Sozialstaats und der Bildung von Parallelgesellschaften.
Kontroversen
Anerkennung und Gleichstellung mit anderen Glaubensgemeinschaften
Zur Zugehörigkeit des Islams zu Deutschland sagte Bundespräsident Wulff:
„Das Christentum gehört zweifelsfrei zu Deutschland. Das Judentum gehört zweifelsfrei zu Deutschland. Das ist unsere christlich-jüdische Geschichte. Aber der Islam gehört inzwischen auch zu Deutschland. Vor fast 200 Jahren hat es Johann Wolfgang von Goethe in seinem West-östlichen Divan zum Ausdruck gebracht: ‚Wer sich selbst und andere kennt, wird auch hier erkennen: Orient und Okzident sind nicht mehr zu trennen.‘“
Die Reaktion auf die Wulff-Rede war wie folgt:
„Der Islam ist nicht Teil unserer Tradition und Identität in Deutschland und gehört somit nicht zu Deutschland.“
„Ich hätte einfach gesagt, die Muslime, die hier leben, gehören zu Deutschland.“
„Der frühere Bundespräsident Christian Wulff hat gesagt: Der Islam gehört zu Deutschland. Und das ist so. Dieser Meinung bin ich auch.“
„Ich teile diese Auffassung nicht. Muslime sind in Deutschland willkommen und können ihre Religion ausüben. Das bedeutet aber nicht, dass der Islam zu Sachsen gehört.“
Die SPD-nahe Friedrich-Ebert-Stiftung kritisierte im Mai 2015, dass die größte Minderheit in Deutschland noch immer benachteiligt werde. In einer von ihr veröffentlichten Studie über die rechtliche Anerkennung des Islam in Deutschland wird beschrieben, welche Schritte Deutschland auf dem Weg zu einer Gleichstellung des Islam machen muss. Der Herausgeber Dietmar Molthagen schrieb in dem Gutachten, das den Titel „Die rechtliche Anerkennung des Islam in Deutschland“ trägt, es sei „unbestreitbar, dass islamische Gemeinschaften im Moment eben nicht gleichberechtigt sind zu etwa christlichen oder jüdischen“. Molthagen, Historiker der Friedrich-Ebert-Stiftung und Projektleiter des Bereiches „Religion und Politik“, befand: „Insofern besteht Handlungsbedarf, um den Gleichbehandlungsgrundsatz des religiös neutralen Staats zu erfüllen“.[140] Aus der Studie lassen sich folgende Punkte ableiten, um „eine Gleichstellung mit den christlichen Kirchen und der jüdischen Gemeinde zu ermöglichen“. Demnach solle der Staat:[140]
- islamischen Religionsunterricht fördern
- muslimische Feiertage gestatten
- staatliche Fördergelder bereitstellen
- Bestattungen nach moslemischem Ritus, gegebenenfalls auf islamischen Friedhöfen, gestatten
- Kopftuchverbote für Lehrerinnen, wie sie in mehreren Bundesländern herrschen, überdenken.[140]
Kopftuchdebatte
Das Tragen eines Kopftuches bzw. Verschleierung durch muslimische Frauen in der Öffentlichkeit löste immer wieder Diskussionen aus. Die religiös motivierte Bedeckung der Haare empfinden viele Deutsche als fremdartig und abgrenzend, vor allem aber auch als Symbol der Unterdrückung der Frau. Besonders kopftuchtragende Frauen in Bildungseinrichtungen und öffentlichen Ämtern sind dabei ein Streitthema. In zahlreichen Bundesländern Deutschlands ist für Lehrerinnen (auch anderer Religionen) das Tragen des Kopftuchs mit religiösem Hintergrund verboten.
Ende Januar 2015 befand das Bundesverfassungsgericht ein pauschales Kopftuchverbot in öffentlichen Schulen nach einem Grundsatzbeschluss[141] als nicht mit dem Grundrecht auf Glaubens- und Bekenntnisfreiheit vereinbar,[142] so dass mit Gesetzesänderungen neben dem Schulgesetz für das Land Nordrhein-Westfalen in den Schulgesetzen weiterer Bundesländern gerechnet wird. Ein Verbot sei nur dann gerechtfertigt, wenn durch das Tragen eine „hinreichend konkrete Gefahr“ für den Schulfrieden oder die staatliche Neutralität ausgehe. Eine abstrakte Gefahr reiche jedoch nicht aus.[143]
Deutlich über zwei Drittel (70 Prozent) der muslimischen Mädchen und Frauen in Deutschland tragen laut einer repräsentativen Studie aus dem Jahr 2020 kein Kopftuch.[1] Ob Musliminnen in Deutschland ein Kopftuch tragen, hängt laut der Studie stark vom Alter ab. Von den Mädchen im Kindergarten- oder Grundschulalter (bis 10 Jahre) sind es weniger als ein Prozent. Mit Eintritt der Pubertät erhöht sich der Anteil auff 11, 5 Prozent. Im Alter von 16 bis 25 Jahren tragen 26 Prozent der muslimische Frauen ein Kopftuch. 40 % aller Muslimische Frauen im Alter von 26 bis 65 tragen ein Kopftuch. Von den über 65-Jährigen tragen 62 Prozent ein Kopftuch.[2]
Antisemitismus
Seit Beginn der zweiten Intifada im Herbst 2000 zeigte sich, dass antisemitische Stereotype und Propaganda unter arabischstämmigen, nordafrikanischen und türkischen Migranten virulent sind. Diese richten sich insbesondere in einer antizionistischen Variante gegen Israel, aber auch gegen Juden an sich. Vor dem Hintergrund der Anschläge des 11. September und des Kriegs gegen den Terror haben sich diese antizionistischen Motive mit antiamerikanischen verbunden. In Deutschland sind es vor allem Teile der türkisch-muslimischen männlichen Jugendlichen, bei denen eine Solidarisierung im Sinne einer Verbrüderung der Muslime mit den Palästinensern erfolgte, die ausschließlich als Opfer wahrgenommen werden. Ein Beispiel für die Gefahr einer Radikalisierung ist der auf der Buchmesse der türkisch-islamistischen Organisation Millî Görüş gezeigte antisemitische Film Zahras blaue Augen. Ein anderes Beispiel ist der vor allem bei türkischstämmigen Jugendlichen in Deutschland auf große Begeisterung gestoßene Film Tal der Wölfe. Auf der Buchmesse konnten auch antisemitische Schriften wie Die Protokolle der Weisen von Zion, Der internationale Jude und Werke von Harun Yahya frei erworben werden. Weitere Verbreitungsmedien sind Radio und Internet.[144]
Nach einer Studie im Auftrag des Bundesinnenministeriums aus dem Jahr 2007 tendieren muslimische Jugendliche überdurchschnittlich stark zu antisemitischen Vorurteilen. Eine Rolle spielen dabei auch türkische und arabische Fernsehsender, deren Programme per Satellit auch in Deutschland empfangbar sind und die antisemitische Ressentiments verbreiten. In der Vergangenheit wurden in Deutschland bereits Metin Kaplans „Kalifatstaat“ (2001), die panislamische Hizb ut-Tahrir (2003) sowie 2006 der Verlag der türkischen Zeitung Anadolu'da Vakit unter anderem auch wegen antijüdischer Hetze verboten. Die türkische und die palästinensische Gemeinde in Berlin warnten jedoch davor, derartige Vorfälle hochzuspielen und stattdessen vom eigentlichen Problem des Rechtsextremismus abzulenken. Laut Stephan Kramer, Generalsekretär des Zentralrats der Juden, ist die Gewaltbereitschaft im muslimischen Lager vergleichbar mit der im rechtsextremen Lager.[145]
Verwandtenheirat
Im islamischen Kulturkreis sind Ehen zwischen Blutsverwandten verbreitet, vor allem zwischen Cousin und Cousine; hierbei wird vorrangig eine Heirat mit der Tochter des vaterseitigen Onkels angestrebt. Diese Sitte wird vielfach von in Deutschland lebenden Migranten aus muslimisch-geprägten Ländern beibehalten. So ist nach einer Studie der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) aus dem Jahr 2010 etwa jede vierte türkischstämmige Frau in Deutschland mit einem leiblichen Verwandten verheiratet.[146]
Beschneidung von Jungen
Die religiös motivierte Beschneidung der Penisvorhaut (tahāra) von Männern ist Bestandteil in der islamischen Tradition und wird traditionell vom Sünnetçi durchgeführt.[147] Die Beschneidung (medizinischer Fachbegriff: Zirkumzision) wird zunehmend von Ärzten durchgeführt; sie impliziert durchaus Risiken (Näheres hier).
Ein Urteil am Landgericht Köln vom 7. Mai 2012 sieht in der Beschneidung der Penisvorhaut eines minderjährigen Jungen eine strafbare Körperverletzung, auch wenn die Einwilligung der Eltern religiös motiviert ist.[148] Der Zentralrat der Muslime in Deutschland (ZMD) kritisierte dieses Urteil als einen eklatanten und unzulässigen Eingriff in das Selbstbestimmungsrecht der Religionsgemeinschaften und in das Elternrecht;[149] auch einige Repräsentanten jüdischer Organisationen äußerten sich dergestalt.[150] Der Deutsche Ethikrat tagte 2012 zu dem Thema; er empfahl, rechtliche Standards für eine Beschneidung minderjähriger Jungen aus religiösen oder weltanschaulichen Gründen zu etablieren, mit Mindestanforderungen (z. B. umfassende Aufklärung und Einwilligung der Sorgeberechtigten, qualifizierte Schmerzbehandlung, fachgerechte Durchführung des Eingriffs); zudem empfahl er, ein entwicklungsabhängiges Vetorecht des betroffenen Jungen anzuerkennen.[151] Der Bundestag beschloss am 12. Dezember 2012 in einem Gesetz, dass Beschneidungen von Jungen grundsätzlich zulässig sind. Vertreter der Deutschen Kinderhilfe, des Berufsverbands der Kinder- und Jugendärzte und von Terre des Femmes appellierten zuvor im September 2012 an Bundesregierung und Bundestag, rituelle Beschneidungen von Jungen nicht vorschnell per Gesetz zu erlauben und forderten ein zweijähriges Moratorium und die Einrichtung eines Runden Tisches, um das Thema Beschneidung in Deutschland wissenschaftlich fundiert zu diskutieren. Der Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte bekräftigte noch einmal seine ablehnende Haltung zur Beschneidung aus religiösen Gründen. Gleichzeitig wurde die Forderung nach einem Moratorium in einer Petition an den Bundestag eingereicht.[152]
Schächten
Zwar ist das Schächten in Deutschland bislang nicht erlaubt, allerdings sind aus religiösen Gründen Ausnahmegenehmigungen möglich. Diese können Angehörige von Glaubensgemeinschaften in Anspruch nehmen, sofern ihnen ihre Religion zwingend vorschreibt, dass nur Fleisch gegessen werden darf, wenn das Tier ohne Betäubung durch einen Kehlschnitt getötet wurde und vollständig ausgeblutet ist. Genau dies sehen muslimische sowie jüdische Speisevorschriften vor. Das derart gewonnene Fleisch wird bei Muslimen als „halal“ (zulässig, erlaubt) und bei Juden als „koscher“ (tauglich, rein) bezeichnet.[153]
Tierschutzorganisationen sehen das betäubungslose Schlachten kritisch und fordern ein Verbot. Anlässlich des Islamischen Opferfestes im Jahre 2011 wünschte die Tierrechtsorganisation PETA Deutschland e.V. allen Muslimen besinnliche und gesegnete Feiertage. Gleichzeitig führte sie aus: „Vor dem Hintergrund, dass die rituellen Speisegesetze ursprünglich in der Tradition des Tierschutzes stehen, bitten wir alle Muslime, eine tierfreundliche Ernährung in Betracht zu ziehen. Opferfest bedeutet nicht gleich Fleischverzehr. Allen Tierfreunden sei ein Fest, basierend auf rein pflanzlicher Nahrung, ans Herz gelegt.“[154] PETA ist allerdings nicht nur gegen die religiöse Schächtung von Tieren durch Muslime und Juden, sondern kämpft entschlossen gegen jede Art der Tötung von Tieren. Sie vertritt die Meinung: „Es gibt keinen ethisch korrekten Fleischkonsum und eine vegane Ernährung erübrigt die Debatten um die richtige Betäubungs- und Tötungsweise fühlender Tiere.“[155]
Demoskopische Umfragen zur Wahrnehmung der Muslime in Deutschland
Im Laufe der Jahre wurden diverse Umfragen zur Thematik "Islam bzw. Muslime in Deutschland" erstellt, die ein unklares Bild ergeben, sich teilweise widersprechen und daher umstritten sind.
Einer Umfrage des Instituts Forsa zufolge stimmten im Jahr 2004 35 % der Befragten der Aussage zu: „Der Islam ist etwas, das einem Angst macht.“ Im Jahr 2006 stimmten der Aussage 38 % und 2018 28 % zu.[156][157]
Laut einer im Auftrag der Bild-Zeitung im Mai 2016 durchgeführten Umfrage des Meinungsforschungsinstituts INSA fürchten sich 46 % der Deutschen vor einer Islamisierung Deutschlands, 39 % haben hingegen keine Angst davor. Dass die hier lebenden Muslime "dazugehören", befürworten 49 % der Befragten, während es 21,2 % ablehnen.[158]
Gemäß einer repräsentativen Umfrage von Infratest dimap von Mai 2016 gehört der Islam für 60 % der Bundesbürger nicht zu Deutschland, während 34 % das Gegenteil empfinden. Damit habe laut dieser Umfrage die Skepsis gegenüber dem Islam in den letzten Jahren deutlich zugenommen.[159] Eine repräsentative Umfrage des Forsa-Instituts vom März 2018 kommt jedoch zu einem anderen Ergebnis: Der Umfrage zufolge geben 47 % der Deutschen an, dass der Islam zu Deutschland gehöre, was 46 % verneinen.[156]
In den Medien
Rundfunk
Seit dem 20. April 2007 gibt es vom Südwestrundfunk (SWR) das Islamische Wort, welches im Internet gehört und gelesen werden kann, seit dem 6. Juli die ZDF-Sendung Forum am Freitag im Internet und auf ZDFinfo (freitags um 8:00 Uhr). Diese Internetangebote sind tatsächlich aber keine Verkündigungssendungen wie das christliche Pendant: Der bundesdeutsche Rundfunkstaatsvertrag gesteht solche nur in Deutschland anerkannten Religionsgemeinschaften zu.
Der Deutschlandfunk hat am 6. März 2015 die Sendereihe Koran erklärt gestartet. Jeweils am Freitag um 9 Uhr 55 wird von einem Sprecher ein Koran-Vers vorgetragen und im Anschluss von einem anerkannten Islamwissenschaftler interpretiert. Die neue Sendung wolle damit in der zunehmend intensiver werdenden Diskussion in der Öffentlichkeit und in den Medien um den Islam einen Beitrag zur Aufklärung leisten.[160]
Islamische Zeitung
Die Islamische Zeitung wurde 1995 in Weimar von dem Konvertiten Andreas Abu Bakr Rieger ins Leben gerufen. Sie wird der Murabitun-Bewegung zugeordnet und sieht sich als unabhängiges muslimisches Medium, das sich an Muslime wie Nicht-Muslime richtet. Sie hat nach eigenen Angaben eine Auflage von 6000 bis 8000 Stück (Stand: 2008).
Siehe auch
- Islamic Relief, deutsche humanitäre Nichtregierungsorganisation
- Muslim-Markt, schiitisch-islamistisches Internetportal
- Liste von Moscheen in Deutschland
- Islamischer Feminismus in Deutschland
- Islamische Bestattung in Deutschland
Literatur
- Sonja Haug, Stephanie Müssig, Anja Stichs: Muslimisches Leben in Deutschland. Im Auftrag der Deutschen Islam Konferenz, Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Hg.), Nürnberg 2009, ISBN 978-3-9812115-1-1
- Wilhelm Heitmeyer, Joachim Müller, Helmut Schröder: Verlockender Fundamentalismus: Türkische Jugendliche in Deutschland, Suhrkamp, Frankfurt 1997, ISBN 978-3-518-11767-5
- Gerdien Jonker: Eine Wellenlänge zu Gott: der „Verband der Islamischen Kulturzentren“ in Europa, Transcript, Bielefeld 2002, ISBN 978-3-933127-99-0
- Stefan Meining: Eine Moschee in Deutschland. Nazis, Geheimdienste und der Aufstieg des politischen Islam im Westen, Verlag C.H. Beck, München 2011, ISBN 978-3-406-61411-8
- Mathias Rohe (Hrsg.): Handbuch Christentum und Islam in Deutschland. Grundlagen, Erfahrungen und Perspektiven des Zusammenlebens. Herder, Freiburg 2014, ISBN 978-3-451-31188-8.
- Mathias Rohe: Der Islam in Deutschland. Eine Bestandsaufnahme. Beck, München 2016, ISBN 978-3-406-69807-1.
- Ufuk Olgun: Islamische Religionsgemeinschaften als politische Akteure in Deutschland-Eine Analyse zur politischen Strategiefähigkeit, Springer-VS Verlag, Wiesbaden 2015, ISBN 978-3-658-08169-0, doi:10.1007/978-3-658-08170-6
- Werner Schiffauer: Die Gottesmänner. Türkische Islamisten in Deutschland. Suhrkamp, Frankfurt am Main 2000, ISBN 978-3-518-39577-6.
- Bassam Tibi: Der Islam und Deutschland. Muslime in Deutschland. Deutsche Verlagsanstalt, Stuttgart/München 2000, ISBN 3-421-05385-5.
- Michael Klöcker, Udo Tworuschka: Handbuch der Religionen. Kirchen und andere Glaubensgemeinschaften in Deutschland, München 1997ff., jährlich 4 Ergänzungslieferungen, z. Zt. EL 48 (Juni 2016) mit Grundlageartikel "Islam in Deutschland" und aktuellen Fachbeiträgen über Islam
- Monika Wohlrab-Sahr: Konversion zum Islam in Deutschland und den USA. Campus, Frankfurt am Main/New York 1999, ISBN 3-593-36316-X
- Faruk Şen, Hayrettin Aydın: Islam in Deutschland, C.H. Beck Verlag, ISBN 3-406-47606-6
- Muhammad Salim Abdullah: Geschichte des Islams in Deutschland. Verlag Styria, Graz-Wien-Köln 1981, ISBN 3-222-11352-1
- Ludwig Schleßmann: Sufismus in Deutschland. Deutsche auf dem Weg des mystischen Islam. Böhlau, ISBN 3-412-11503-7
- Muhammad Sameer Murtaza: Muslime in Deutschland von 1683 bis 1945 – Eine Prise Geschichte. In: Muslim 2: 8-10.
- Stephan Theilig: Türken, Mohren und Tataren. Muslimische (Lebens-)Welten in Brandenburg-Preußen im 18. Jahrhundert. Frank&Timme, Berlin 2013, ISBN 978-3-86596-525-7.
- François Maher Presley: Islam und Deutschland: Tor des Islamismus in die westliche Welt?, in-Cultura.com, Hamburg 2015, ISBN 978-3-930727-27-8.
- Monika Tworuschka: Grundwissen Islam. Religion, Politik, Gesellschaft. Münster 4. aktualisierte und erweiterte Aufl. 2016, ISBN 978-3-402-03424-8.
- Mathias Rohe: Der Islam in Deutschland. Eine Bestandsaufnahme. Beck, München 2016, ISBN 978-3-406-69807-1.
- Alfred Schlicht: Gehört der Islam zu Deutschland? Anmerkungen zu einem schwierigen Verhältnis. Orell Füssli, Zürich 2017, ISBN 978-3-280-05644-8.
- Monika und Udo Tworuschka: Der Islam: Feind oder Freund? 38 Thesen gegen eine Hysterie. Freiburg i. Br. 2019, ISBN 978-3-946905-69-1.
- Dirk Halm: Der Islam Als Diskursfeld. 2. Aufl. ed. Wiesbaden: VS Verlag Für Sozialwissenschaften (GWV), 2008, ISBN 9783531161563.
- Nina Wiedl: Zeitgenössische Rufe Zum Islam. Baden-Baden: Nomos Verlagsgesellschaft, 2017, ISBN 978-3-8452-8173-5.
- Susanne Schröter: Politischer Islam : Stresstest Für Deutschland. 1. Auflage. ed. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus, 2019, ISBN 978-3-579-08299-8.
Weblinks
- Muslimisches Leben in Deutschland 2020, Forschungsbericht, BAMF
Einzelnachweise
- BAMF-Forschungszentrum: Neue Studie Muslimisches Leben in Deutschland 2020 zeigt mehr Vielfalt. Abgerufen am 28. April 2021.
- Muslimisches Leben in Deutschland 2020. Abgerufen am 28. April 2021.
- Ralf Elger (Hrsg.): Kleines Islam-Lexikon: Geschichte, Alltag, Kultur, C. H. Beck, München 2008 (5. Auflage 2008), S. 73.
- Hartmut Bobzin: Der Koran – Eine Einführung. Verlag C.H. Beck, S. 105, 107.
- Friedrich Mielke: Potsdamer Baukunst. Berlin 1998, ISBN 3-549-05668-0, S. 34
- Zu Muslimen in der preußischen Armee siehe: Theilig, Stephan: Türken, Mohren und Tataren. Muslimische (Lebens-)Welten in Brandenburg-Preußen im 18. Jahrhundert. Berlin: Frank&Timme, 2013.
- Des Kaisers Dschihadisten, Spiegel Online vom 28. September 2010, abgerufen am 1. Oktober 2015
- René Schlott: Deutschlands erste Moschee: Als das Deutsche Reich zum Dschihad rief. In: Spiegel Online. 15. Juli 2015, abgerufen am 9. Juni 2018.
- Eine Holzmoschee für die kaiserliche Kriegspropaganda (Memento vom 12. August 2015 im Internet Archive), Rundfunk Berlin-Brandenburg vom 13. Juli 2015, abgerufen am 1. Oktober 2015
- Wie ein Muslim eine Jüdin vor den Nazis rettete. In: sueddeutsche.de. 9. Januar 2015, abgerufen am 19. März 2018.
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- Haug/Müssig/Stichs: Muslimisches Leben in Deutschland, hrsg. vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Forschungsbericht 6, 1. Auflage, Juni 2009, S. 107.
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- Mitgliederzahlen: Islam, in: Religionswissenschaftlicher Medien- und Informationsdienst e. V. (Abkürzung: REMID), abgerufen am 26. März 2016
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- Ist im Islam die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Rechtsschule notwendig? antikezukunft.de, 16. August 2013
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- Die Vielfalt islamischer "Konfessionen", theologischer Schulen und Gruppen
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- Erneut Brandanschlag auf Bielefelder Moschee, Zeit Online, 19. August 2014
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- Kopftuchverbot für Lehrerinnen gekippt, tagesschau.de vom 13. März 2015
- Thorsten Gerald Schneiders (Hrsg.): Islamverherrlichung: Wenn die Kritik zum Tabu wird. VS Verlag, 2010. S. 379 ff. ISBN 3-531-16258-6.
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- 60 Prozent glauben, dass der Islam nicht zu Deutschland gehört, Süddeutsche Zeitung, abgerufen am 4. Juni 2016.
- "Neue Reihe im Deutschlandfunk „Koran erklärt“", in: Der Tagesspiegel, vom 5. März 2015, abgerufen am 6. April 2015