Türkische Gemeinde in Deutschland
Die Türkische Gemeinde in Deutschland e. V. (TGD; türkisch Almanya Türk Toplumu) mit Sitz in Berlin-Kreuzberg ist eine Interessenvertretung türkischstämmiger Deutscher und in Deutschland lebender Türken gegenüber staatlichen Instanzen und zur Information der Öffentlichkeit.[1] Sie wurde am 2. Dezember 1995 in Hamburg gegründet.[2]
Organisation
Struktur
Der eingetragene Verein ist eine „bundesweite Dachorganisation von juristischen Personen“. Auf Bundes- und Landesebene sowie in Berufs- und Fachverbänden vertritt die TGD insgesamt 260 Einzelvereine mit rund 60000 Mitgliedern.[3] 21 Mitglieder aus den Landesverbänden bilden den Bundesvorstand.
Vorsitz
Die Bundesvorsitzenden der Türkischen Gemeinde in Deutschland waren:
- 20. März 1994 – 2. Dezember 1995 Ertekin Özcan
- Dezember 1995 – Oktober 2005 Hakkı Keskin
- Oktober 2005 – Mai 2014 Kenan Kolat
- Mai 2014 – Juni 2015 Safter Çinar und Gökay Sofuoglu
- Juni 2015 – Juni 2017 Gökay Sofuoglu und Aysun Aydemir
- Seit Juni 2017 Gökay Sofuoglu und Atila Karabörklü
Ziele
Die Ziele der türkischen Gemeinde sind die rechtliche, soziale und politische Gleichstellung und Gleichbehandlung von türkischen und anderen ethnischen Gruppen in Deutschland[4] sowie der Abbau von Türken- und Fremdenfeindlichkeit, Islamophobie, Rassismus und Diskriminierungen jedweder Art.
Zudem unterstützt sie einer Politik der Integration der kulturellen Minderheiten in die deutsche Gesellschaft bei gleichzeitiger Fortentwicklung ihrer kulturellen Identität, setzt sich für das friedlich-solidarisches Zusammenlebens aller Menschen in Deutschland ein sowie für die Anerkennung eingewanderter Nichtdeutscher als gleichberechtigt in der deutschen Gesellschaft.
Selbstverständnis und Rezeption
Die pluralistisch ausgelegte TGD hat sich den freiheitlichen, demokratischen, sozialen und rechtsstaatlichen Prinzipien der Bundesrepublik Deutschland verpflichtet und will „unabhängig von der politischen und religiösen Überzeugung unterschiedliche Vereine von konservativer, liberaler, sozialdemokratischer und religiöser Orientierung, von Arbeitern und Akademikern bis zu Selbständigen und Unternehmensverbänden“ erfassen. Von Kritikern wurde der TGD eine Nähe zum türkischen Nationalstaat vorgeworfen.[5]
2006/2007 erhielt die TGD im Zusammenhang mit der Bildungsoffensive „Bildung für die Zukunft“ zur Erhöhung der Bildungschancen türkischstämmiger Kinder in Deutschland in deutschen wie türkischen Medien höhere Aufmerksamkeit.
Positionen
Kritik an der Regierung Erdoğan
Im Juli 2013 kritisierte der damalige Vorsitzende der Türkischen Gemeinde Kenan Kolat das gewaltsame Vorgehen der türkischen Regierung gegenüber den Demonstranten bei den Protesten in der Türkei 2013 und forderte einen Aufschub der Beitrittsverhandlungen der Republik Türkei mit der Europäischen Union.[6] Das Verhalten des türkischen Ministerpräsidenten Erdoğan im Zuge der Proteste der Bevölkerung gegen ihn bezeichnete Kolat als „faschistoid“ und „Willkür-Politik“. Faschistoid sei die Durchsetzung Erdoğans eigener Interessen mit Gewalt.[7]
Positionierung zur Anerkennung des Völkermordes an den Armeniern
Die Türkische Gemeinde in Deutschland protestierte 2010 gegen den mit dem Deutschen Fernsehpreis als beste Dokumentation 2010 ausgezeichneten deutschen Dokumentarfilm Aghet – Ein Völkermord, der den Völkermord an den Armeniern anhand von Zeitzeugenaussagen und historischen Dokumenten beschreibt.[8] Der damalige ARD-Vorsitzende, Peter Boudgoust, wies in einer öffentlichen Stellungnahme darauf hin, dass die Kritik der TGD an der Darstellung keineswegs von allen Türken geteilt werde, wie die Solidaritätsdemonstration von mehr als 200.000 Menschen in Istanbul nach der Ermordung des türkisch-armenischen Journalisten Hrant Dink im Jahr 2007 gezeigt habe. Die internationale Geschichtswissenschaft sähe den Genozid an den Armeniern als erwiesen an. Der Genozid an den Armeniern hätte zur Entwicklung der Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes der Generalversammlung der Vereinten Nationen im Jahr 1948 geführt.[9]
Die am 2. Juni 2016 vom Bundestag verabschiedete Resolution zur Anerkennung des Völkermords an den Armeniern wurde von der TGD als „Politshow“ kritisiert. Nach Meinung des TGD-Bundesvorsitzenden Gökay Sofuoglu werde die Bundestagsresolution zum Völkermord von 80 % der in Deutschland lebenden Türken abgelehnt.[10][11][12]
Im Rahmen der Debatte zur Resolution äußerte sich der Verband kritisch zu Aussagen des türkischen Staatspräsidenten. Erdoğan hatte türkischstämmige Mitglieder des Deutschen Bundestages in die Nähe von in der Türkei operierenden, terroristischen Organisation gerückt und einen Bluttest zum Beweis ihrer türkischen Abstammung gefordert. Der Vorsitzende der TGD, Gökay Sofuoglu distanzierte sich scharf von solchen Äußerungen. Er bezeichnete die Äußerungen als „deplaziert“ und betonte, dass die Definition von „Leuten nach ihrem Blut 1945 aufgehört hat“.[13]
Urteil des Bundesverwaltungsgerichts zum gemeinsamen Sportunterricht
Im September 2013 begrüßte der Bundesvorsitzende Kenan Kolat das Burkini-Urteil des Bundesverwaltungsgerichts als „weise“. Kolat sagte unter anderem: „Ich finde, das Gericht hat einen hinnehmbaren Ausgleich zwischen Religionsfreiheit und Bildungsauftrag gefunden.“ Es sei wichtig, dass muslimische Kinder am gesellschaftlichen Leben teilhaben könnten. Dazu gehöre auch der Schwimm- und Sportunterricht. Das Bundesverwaltungsgericht hatte entschieden, dass muslimischen Schülerinnen die Teilnahme am gemeinsamen Schwimmunterricht von Jungen und Mädchen zugemutet werden kann.[14]
Verfassungsreferendum in der Türkei 2017
In ihrer Vertreterratssitzung beschloss die TGD einstimmig sich bei der Volksabstimmung in der Türkei 2017 gegen die vorgeschlagene Verfassungsänderung zu positionieren. Der Bundesvorsitzende Gökay Sofuoglu kritisierte zudem den aggressiven Umgang der Regierung mit Reformgegnern sowie die religiöse Aufladung der Abstimmung.[3]
Aussagen zur sozialen Situation
Anlässlich des 60. Jahrestags des Anwerbeabkommens zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Türkei bedauerte der TGD-Bundesvorsitzende Gökay Sofuoğlu, dass die „Leistung der ersten Generation“ türkischstämmiger Menschen werde in Deutschland weiterhin nicht wertgeschätzt werde und dass Defizite bei der Integration weiterhin Wirkung zeigten.[15]
Einzelnachweise
- Türkische Gemeinde in Deutschland: Über uns Abgerufen am 27. Mai 2012
- Türkische Gemeinde in Deutschland: Faktenblatt (PDF; 432 kB) Abgerufen am 27. Mai 2012
- dpa: Erdogan-Gegner in Deutschland haben Angst. In: FAZ.net. 21. März 2017, abgerufen am 13. April 2020.
- Deutscher Engagementpreis – Initiatoren Abgerufen am 21. März 2017
- Heinemann/Schobert/Wahjudi: Handbuch Antirassismus, Essen 2002, S. 96
- Kenan Kolat fordert Aufschub der Verhandlungen. Stern.de, abgerufen am 2. Juli 2013
- Kolat geißelt Erdoğan als "faschistoid" Die Welt, 3. Juni 2013, abgerufen am 2. Juli 2013
- "Afete" karşı tepki seli (Memento des Originals vom 6. Oktober 2011 im Internet Archive) Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht geprüft. Bitte prüfe Original- und Archivlink gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis. Hürriyet, 14. April 2010. Abgerufen am 14. August 2011
- AGHET – Stellungnahme des Vorsitzenden der ARD zur Kritik von türkischer Seite
- Nach der Armenien-Resolution: Türkische Gemeinden suchen das Gespräch. Der Tagesspiegel. 12. Juni 2016. Abgerufen am 9. Juli 2016
- Türkische Gemeinde kritisiert "Politshow" im Bundestag. Die Zeit. 2. Juni 2016. Abgerufen am 10. Juli 2016
- Streit auf Rücken der Deutschtürken. Die Welt. 9. Juni 2016. Abgerufen am 11. Juli 2016
- dpa/jm: Bundesregierung weist Kritik von Recep Tayyip Erdogan an Abgeordnete zurück. In: welt.de. 6. Juni 2016, abgerufen am 13. April 2020.
- max/dpa: Türkische Gemeinde begrüßt Burkini-Urteil. In: Spiegel Online. 11. September 2013, abgerufen am 13. April 2020.
- „Gastarbeiter“ aus der Türkei: Weder damals noch heute wertgeschätzt. In: spiegel.de. 5. Oktober 2021, abgerufen am 16. Oktober 2021.