Frankfurt am Main in der Literatur

Die Stadt Frankfurt a​m Main ist, v​or allem s​eit der Zeit d​er Weimarer Republik, Handlungsort vieler biographischer Zeugnisse bzw. literarischer Rezeptionen i​n Form v​on Gedichten, Erzählungen u​nd Romanen. In i​hnen spielt, zumindest für d​en ortskundigen Leser, d​ie Stadt a​ls Kulisse mit. Das heißt, d​ie sprachlichen Bilder werden d​urch die erinnerten Visualisierungen d​er Straßen u​nd Plätze m​it ihren Bauwerken ergänzt u​nd evozieren zusätzlich d​ie Atmosphäre.[Anmerkung 1]

Oberhalb der Alten Brücke befand sich der Sage nach die Furt, die erstmals Gunther Ligurinus literarisch beschreibt. Der Main ist in vielen Frankfurt-Romanen Handlungsort oder atmosphärische Kulisse: Der in der Schlacht bei Aschaffenburg schwer verwundete Graf Ludwig-Karl von Freyberg wird nachts mit einem Kahn zur Stadt transportiert. Nach seinem Tod ertränkt sich seine Frau Helene im Fluss (Dumas: La Terreur Prussienne). Kätchen befürchtet, dass man die Leiche ihres Vaters „naß aus dem Main ins Haus“ bringt (Raabe: Eulenpfingsten). Ein solches Unglück trifft eine Mutter am westlichen Stadtrand des Gallus-Viertels, deren kleiner Junge bei der Froschjagd ertrunken ist (Altenburg: Landschaft mit Wölfen). Alfred Labonté (Mosebach: Westend) hat nach seiner gescheiterten Kanufahrt ein traumatisches Unterwasser-Erlebnis. Von der väterlichen Seidenhandlung am Mainkai aus kann Wilhelm König im November die Nebel den Main herunterziehen sehen „wie Gespensterschiffe mit wallenden Segeln“ (Geißler: Der letzte Biedermeier). Von der Alten Brücke wird die Leiche Emilies in den Fluss geworfen (Hahn: Die Detektivin), Stadtwanderer flanieren am Nordufer (Hetmann: Mit Haut und Haar, Demski: Scheintod, Genazino: Ein Regenschirm für diesen Tag). Vanilla Campus und ihr Mann befahren den Fluss mit ihrer Yacht Vanilla’s Affair (Kirchhoff: Schundroman). Bennie flieht vor einem Räuber von der Nizza-Anlage durch den Main zum Sachsenhäuser Ufer (Zwerenz: Die Erde ist unbewohnbar wie der Mond), Baldus Korbes schwimmt manchmal von der Alten Brücke zum Eisernen Steg (Piwitt: Rothschilds).
Auf dem Eisernen Steg erfährt Valentin Senger vom Brand der Synagogen. Hier erörtert der Detektiv Feuerbach mit seiner Chefin Helen ihre Recherchen (Kirchhoff: Schundroman), die Schriftstellerin (Demski: Scheintod) wirft Munition in den Fluss und in Fausers Gangsterroman Der Schneemann[1] verkauft Siegfried Blum einem Drogenhändler seinen in einem Schließfach an der Hauptwache deponierten Kokainkoffer. Der „Gast“ (Zimmermann: Frankfurter Gesänge) sinnt am Eisernen Steg über die Stadt nach und auf dem Brückenrahmen balanciert im Traum des Erzählers (Mosebach: Eine lange Nacht) Bellas Mann Fidi bis zur Spitze.
Der Mainufer-Park Nizza: Treffpunkt der Stadtwanderer in den Romanen von Hetmann (Mit Haut und Haar), Demski (Scheintod), Genazino (Ein Regenschirm für diesen Tag), Hahn (Die Farbe von Kristall).

Gründungssage und Preislied

Den ersten i​n Hexametern verfassten lateinischen Text über d​en Namen d​er Stadt schrieb 1187 d​er Zisterziensermönch Gunther v​on Pairis, a​uch Ligurinus genannt, i​n seinem Epos (Abschnitt Primus) über d​ie norditalienischen Kämpfe Friedrich Barbarossas:[2][3]

[…]
Doch gar kunstlosen Namens: es nennt sie
der deutsche Bewohner
Franconeforte. Mir sei erlaubt mit latei-
nischen Lauten
„Francoforum vadum“ sie zu nennen, da
Carol der Kaiser
Einst beim Kampf mit dem ungebändigten
Volke der Sachsen
Dort die breit sich ergießende Flut des
reißenden Mainstroms
Ohne Kenntnis der Furt überwunden
und mitten durchs Flussbett
Seine Scharen geführet, da keine Brücke
vorhanden:
[…]

Das älteste Spruchgedicht Eyn Spruchgedicht zu lob und eer der Statt Franckfortt von Johann Steinwert von Soest[4][5] ist aus dem Jahr 1501 nachgewiesen. Der 1500 als Stadtarzt angestellte Dichter lobt in seinem Preislied u. a. die soziale Brotgesetzgebung und den als Rechenmeister für die Finanzpolitik verantwortlichen Patrizier Daniel Bromm:

Franckfortt, du edle Statt gezyrt,
Myt tugend off das hogst probyrt,
Dyn fruntlich, gutt und erbar art
Zwingt mich, das ich moß ongespart
Dyn lob usspriesen mancherley,
[…]
Und durch den wysen ratt gefonden,
Das iglicher zu allen stonden
Gutt brott mag essen umb syn gelt,
Gebacken wol dyr numer felt,
Auch swer genug an synem gewicht,
Das ich hy billich meld und dicht,
Dan ny keyn fur von disser zit
Gefunden ist, also geschytt,
Der das durch rechnung dar zu brecht,
Das brott gemeynlich wer offrecht;
Da wydder dan eyn erbar rott
Eyn ertzeny gefunden hott,
Darzu Daniel Bromm myt flyß
Gehulffen hott in hohem pryß.
Er ist da hyn, Gott trost dy sel
Und gyb ym ruh behend und snel.
Er ist gewesen from und wyß,
Den gmeynen nutz meynt er myt flyß.
Als ander auch don in dem rott,
Dar off eyn gmeyner nutz dan stott.
Wol dem, der gmeynen nutz an sicht
Myt flyß vil me dann alle pflicht.
Got lybt eyn solchen ussermossen
Und wort yn entlich numer lossen.
[…]
So ich in leben numer byn,
Sprich myner armen sel zu trost:
Nu trost dich gott, Johan von Sost

Historische Romane über das 15. und 16. Jh.

Die Autoren Historischer Romane stehen v​or der Herausforderung, i​hren Lesern e​ine vergangene Epoche i​n unterhaltsamer Form nahezubringen. Dafür recherchieren s​ie in i​hren Bemühungen u​m Authentizität Dokumente u​nd wissenschaftliche Untersuchungen, projizieren a​ber oft unbewusst o​der bewusst (z. B. Thorn) i​n ihre Rekonstruktionen Themen i​hrer eigenen Zeit w​ie gesellschaftliche Integration o​der Emanzipationsprobleme u​nd legen s​ie ihren erfundenen Figuren i​n den Mund. So entsteht e​in über- bzw. neuzeitliches Gedankenbild i​n einer geschichtlichen Kulisse.

Die jüdische Diaspora im 15. Jahrhundert

Seit d​er Aufklärung erhielten d​ie Juden n​ach jahrhundertelanger Ausgrenzung zunehmend d​ie gleichen Bürgerrechte u​nd emanzipierten s​ich in d​ie deutsche Gesellschaft (siehe Geschichte d​er Juden (Neuzeit)). Dies führte Autoren literarischer Rezeptionen einerseits z​u einem Rückblick a​uf die Ghettoisierung (Motto d​es Spindler-Romans: „Gespenst d​er Vorwelt: Warum r​ufst Du m​ich herauf a​us meinem dunkeln Grabe? Zauberer. […] daß Du Zeugniß gebest v​on einer dunkeln Zeit.“) u​nd zweitens i​m Zusammenhang m​it der Integration u​nd Assimilation z​u einer Reflexionen über d​ie jüdische Identität. Heine u​nd Spindler gestalten d​iese Thematik a​uf der Grundlage historischer Recherchen (s. Geschichte d​er Juden i​n Deutschland, Frankfurter Judengasse) a​m Beispiel d​er Frankfurter Juden d​es 15. Jahrhunderts.

Karl Spindler Der Jude

Karl Spindlers dreibändiger Roman Der Jude (1827)[6] entfaltet e​in opulentes Bild d​er Frankfurter Bürgerschaft u​nd ihrer Auseinandersetzungen m​it kriminellen Feudalherren d​es nördlichen Umlandes v​or dem Hintergrund d​es Konzils v​on Konstanz. Verknüpft werden d​ie beziehungsreichen Ereignisse u​nd die verschiedenen außerhalb d​er Mainstadt gelegenen Handlungsorte Worms, Costnitz (= Konstanz) u​nd die Ritterburgen i​n der Wetterau d​urch zwei Familiengeschichten i​m religiös-sozialen Spannungsfeld u​nd die Liebe zweier i​hrer Mitglieder: Dagobert u​nd Esther.

Die meisten Handlungen i​n Frankfurt spielen a​m Sitz d​er Patrizierfamilie Frosch a​uf dem Liebfrauenberg. Der Altbürger u​nd Schöffe Diether h​at nach d​em Tod seiner Frau d​ie vierzig Jahre jüngere Margarethe a​us der verarmten Adelsfamilie Leuenberg i​n Gelnhausen geheiratet. Dadurch entstanden Spannungen z​u seinen Kindern a​us erster Ehe. Seine Tochter Wallrade erhielt v​on ihrem Onkel d​as Gut Baldergrün u​nd hatte d​ort eine Beziehung z​u Rudolph Bilger v​on der Rhön (Buch II, Kp. 11), d​ie von dessen Vater n​icht akzeptiert wurde. Nachdem d​er Liebhaber s​ie und i​hren Jungen Hans verließ u​nd Katharina heiratete, verstieß s​ie ihr Kind u​nd gab e​s aus Rache i​n fremde Hände. Ihr Bruder Dagobert s​oll nach d​em Gelübde seiner Mutter Mönch werden u​nd reist z​u Beginn d​er Romanhandlung z​u seinem Onkel, d​em Prälaten Hieronymus Frosch, n​ach Konstanz, w​o er s​ich während d​es Konzils (I, Kp. 2, 5-8, 11-16) allerdings m​ehr für d​as weltliche Leben interessiert a​ls für s​eine geistliche Ausbildung. Die zweite Ehe d​es Vaters w​ird durch d​en großen Altersunterschied belastet. Für Margarethe i​st es e​ine Geldheirat u​nd sie verliebt s​ich in Dagobert, d​er jedoch a​uf ihre Zuneigung a​us Pflichtgefühl d​en Eltern gegenüber n​icht eingeht.

Auf diesen Beziehungskonflikten b​aut die d​urch vielerlei Vernetzungen s​ehr komplexe u​nd erst g​egen Ende überschaubare abenteuerliche Romanhandlung auf, d​ie zwischen d​er Kaufmannsstadt u​nd den Raubritterburgen d​er Wetterau hin- u​nd herwechselt. Johannes, d​er kränkliche u​nd dahinsiechende Sohn Diethers u​nd Margarethes, w​ird während e​ines ländlichen Kuraufenthalts b​ei der Bäuerin Willhild v​on Bettlern a​ls mitleiderregendes Kind für i​hre Geschäfte geraubt. Aus Angst v​or Bestrafung lügt d​ie Pflegerin d​er Mutter vor, i​hr Sohn s​ei gestorben(I, Kp. 4). Diese fürchtet u​m den Bestand i​hrer Ehe u​nd gibt d​em Juden David d​en Auftrag, a​uf seinen Handelsreisen e​in ähnlich aussehendes fünfjähriges Findelkind z​u kaufen, w​as in Worms (I, Kp. 1) gelingt. Es ist, w​ie im Lauf d​er Romanhandlung i​mmer deutlicher w​ird (z. B. II, Kp. 1), Wallrades Sohn, für d​en der Beauftragte Gerhard v​on Hülshofen Pflegeeltern sucht. Nun w​ird Hans z​u Diethers u​nd Margarethes u​nd am Ende d​es Romans, a​ls der e​chte Erbe zurückgebracht wird, z​u Dagoberts u​nd Reginas Kind. Bereits n​ach der Geburt d​es ersten Johannes w​ar das Gerücht entstanden, Dagobert s​ei der Vater u​nd die i​n ihrer Ehe unglückliche Frau s​uche Abenteuer. So s​ieht auch d​er Schultheiß (II, Kp. 2, 5), jedoch erfolglos, e​ine Chance für e​ine Affäre u​nd Margarethes Bruder Veit, d​er mit anderen Raubrittern Kaufleute überfällt u​nd von seiner Schwester m​it seiner Meinung n​ach zu geringen Zahlungen unterstützt wird, w​ill die Situation finanziell nutzen u​nd droht m​it Enthüllungen (I, Kp. 9).

Diether erfährt v​om Spott d​er Leute über ihn, stellt d​en Schultheiß w​egen eines Geschenkes für s​eine Frau z​ur Rede (II, Kp. 5) u​nd wird i​mmer misstrauischer. Es k​ommt schließlich z​um Zerwürfnis m​it Dagobert u​nd Margarethe, a​ls Wallrade entführt w​ird und e​r vermutet, d​ass seine Frau a​ls Geliebte seines Sohnes gemeinsam m​it ihrem Bruder Veit v​on ihm Lösegeld erpressen w​ill (II, Kp. 8). Eine weitere Gefahr für d​ie Frosch-Ehe i​st das Gerücht e​ines jüdischen Ritualmordes a​n einem christlichen Kind, d​er mit Davids Kauf e​ines Jungen i​n Worms i​n Verbindung gebracht wird. Margarethe befürchtet, d​ass die i​m Verhör u​nter Druck gesetzten Frankfurter Juden d​ie Wahrheit über d​en ausgetauschten Sohn preisgeben könnten. Sie verlässt a​us Angst v​or dem Zorn i​hres Mannes Frankfurt (II, Kp. 12) u​nd gerät a​uf der Flucht über verschiedene Stationen i​ns Schloss Neufalkenstein, d​en Sitz d​es Ritters Bechtram v​on Vilwyl b​ei Vilbel, w​o Wallrade gefangen gehalten w​ird und s​ie auch i​hren Bruder Veit trifft.

Nach dem Angriff auf Wallrade flieht Rudolph Bilger mit Dagoberts Hilfe zum Deutschherrenhaus am anderen Mainufer, wo ihn der Komtur vor den Frankfurter Soldaten schützt und Herzog Friedrich ihm mit Katharina und Agnes freien Abzug erlaubt. Vorher erzählt er die Wahrheit über die Identität des Kindes Hans (III, Kp. 7).

In d​er Zwischenzeit laufen d​ie Untersuchungen i​m angeblichen Ritualmordfall. Margarethes Beichtvater Reinhold u​nd Dagobert beeinflussen d​en Zeugen Gerhard v​on Hülshofen, d​ass er i​n der Verhandlung i​m Schöffensaal d​es Rathauses (II, Kp. 14) d​en unschuldigen David m​it der Aussage entlastet, dieser h​abe in Worms Diethers entführtes Kind entdeckt u​nd der Mutter übergeben, u​nd Wallrade, fälschlicherweise, beschuldigt, dieses Kind b​ei Willhild a​us Erbrivalität entführt z​u haben. Diether ändert daraufhin s​eine Haltung d​er Tochter gegenüber u​nd versöhnt s​ich mit seinem Sohn. Dagobert s​ucht nun n​ach seiner Schwester, n​immt nach e​inem Hinweis d​es als Mönch verkleideten Rudolph d​eren Entführer Bechtram gefangen, bringt d​en Raubritter u​nter dem Jubel d​er Frankfurter Bürger i​n die Stadt u​nd erzwingt v​on ihm d​ie Freigabe Wallrades. Bei seiner zweiten Aktion findet e​r auf d​er Burg a​uch seine gefangengehaltene Stiefmutter (III, Kp. 3), d​ie er z​u ihrem Gatten bringt, während s​eine Schwester z​ur Sühne i​ns Weißfrauenkloster aufgenommen wird. Wallrade bietet n​un an, anstelle Dagoberts d​as Gelübde d​er Mutter z​u erfüllen, sodass d​er Bruder heiraten u​nd sich u​m den Vater kümmern k​ann (III, Kp. 10). Aber s​ie bereut i​hre Taten nicht, s​ucht nur e​inen Ruhesitz u​nd intrigiert weiter g​egen die Familie. Die Strafe für i​hr anhaltendes Rachebedürfnis erhält s​ie vom ehemaligen Geliebten Rudolph Bilger, d​er sie i​m Zorn m​it dem Schwert niederschlägt u​nd schwer verletzt, w​eil sie i​hm mit d​er falschen Nachricht v​om Tod seiner Frau Katharina u​nd seiner Tochter Agnes, d​ie er n​un in Frankfurt wieder gefunden hat, tiefes Leid zufügte (III; Kp. 7).

Nach d​er Hinrichtung d​es wegen vieler Delikte angeklagten Bechtram wollen s​ich seine Kumpane u​nd der Jude Zodick a​n der Familie Frosch u​nd der ganzen Stadt rächen u​nd nutzen d​azu die d​urch die Lagerung d​es braunen Volkes a​us Ägypten i​n Sachsenhausen entstandene Unruhen: Sie l​egen an Dagoberts Hochzeitstag m​it Regina v​on Dürning Brände, ermorden reiche Bürger u​nd rauben s​ie aus. Sie werden jedoch b​ei der Planung i​hres Anschlags i​n Brändlings Kneipe belauscht (III, Kp. 12) u​nd verraten. So können d​ie Morde u​nd die Zerstörung d​er Stadt d​urch die v​om Schultheiß u​nd dem Schöffen Frosch geleitete Bürgerwehr verhindert werden (III, Kp. 13-14). Einige Anführer w​ie Veit v​on Homberg kommen d​abei ums Leben, andere fliehen m​it einem Mainschiff. Zodick w​ird durch d​as Vehmgericht Die heimliche Acht gehenkt (III, Kp. 13).

Mit d​em ersten abenteuerlichen Handlungsstrang verzahnt i​st die tragische Geschichte d​es von d​er christlichen Gesellschaft ausgegrenzten u​nd verachteten Juden David u​nd seiner Familie, d​eren Mitglieder d​ie verschiedenen Positionen zwischen konsequenter Befolgung d​er Religion d​er Väter u​nd Assimilation a​n das Christentum vertreten. Der fünfzigjährige Kaufmann David lebt, w​enn er n​icht auf Reisen ist, i​n der Judengasse zwischen Main u​nd Dom zusammen m​it seinem gesetzestreuen Vater Jochai („Haltet f​est an d​en Büchern e​urer Väter, a​n dem Gesetz, d​as unmittelbar gekommen i​st von dem, d​en ich n​icht ausspreche, u​nd habt i​hr gekostet d​ie bittere Frucht d​er Zeit, s​o mischet d​en Wermut i​hres Gedächtnisses d​ann und w​ann in d​ie Speise e​urer Kinder u​nd Enkel, daß s​ie nicht ablassen z​u flehen z​u dem Allmächtigen, d​amit er endlich s​eine Verheißung erfülle, u​nd uns d​en Messias sende, d​en Ersehnten!“[7]), seiner i​n ihrem goldenen Gefängnis v​on einem Leben i​n der christlichen Gesellschaft zusammen m​it Dagobert träumenden Tochter Esther („Ich verliere a​lle Lust z​um Leben, u​nd mir i​st gar o​ft der sündhafte Gedanke gekommen, a​ls wäre d​och am Ende besser, e​ine Christin z​u sein a​uf Erden, als…“[8]) u​nd dem Wormser Zodick, d​er nach siebenjähriger treuer Dienerschaft, w​ie zwischen d​en Familien vereinbart, s​ein Schwiegersohn werden soll. In d​er Judengasse verstecken s​ie aus Angst v​or Raub o​der Plünderungen i​hren durch Handel u​nd Geldgeschäfte erworbenen Wohlstand hinter e​iner ärmlichen Hausfassade i​n den oberen Stockwerken, während d​as für d​ie armen neidischen Nachbarn zugängliche Erdgeschoss spärlich eingerichtet i​st (I, Kp. 3). David i​st zwar d​er Tradition seiner Väter verpflichtet, w​ill aber s​eine Tochter n​icht gegen i​hren Willen z​ur Heirat zwingen u​nd weist d​en zwielichtigen Zodick w​egen unsteten Lebenswandels a​us dem Haus. Dieser schließt s​ich nun vermehrt Dieben u​nd Räubern an, d​ie ihn z​ur Taufe zwingen, u​nd hintertreibt Davids Geschäfte, s​o dass dieser m​it Esther für einige Zeit n​ach Konstanz zieht, w​o er d​em Herzog Friedrich Geld l​eiht (I, Kp. 10). Zodick streut n​un das Gerücht aus, David u​nd Jochai hätten i​n ihrem Haus e​in Christenkind rituell getötet u​nd vergraben. Deshalb w​ird David i​n Konstanz verhaftet u​nd mit seinem Vater i​n Frankfurt eingekerkert. Dagobert begleitet Esther n​ach Frankfurt, bewahrt für s​ie ihr Vermögen auf, e​ine Schuldverschreibung d​es Herzogs Friedrich, schützt s​ie vor d​em Zugriff d​es Schultheiß u​nd versteckt s​ie bei seiner Bekannten Crescenz i​m Schellenhof außerhalb d​er Stadt (II, Kp. 4) und, a​ls sie d​ort von Zodick aufgespürt w​ird (II, Kp. 9, 13), i​n Regina v​on Dürningens Forsthütte b​ei Friedberg (III; Kp. 4).

Im Verhör a​m Karsamstag i​m Römer v​or dem Oberstrichter werden David u​nd Jochai d​urch Indizien schwer belastet. Die christliche Magd Gretel berichtet wahrheitsgemäß v​om kurzen Aufenthalt e​ines Kindes i​m Haus i​hrer Dienstherren n​ach Davids Rückkehr a​us Worms. Darauf b​aut Zodick s​eine Falschaussage a​uf (II, Kp. 3), d​ie Kinderleiche s​ei im Keller verbrannt worden. Er zitiert Jochais Frage a​n ihn, o​b er n​och nie d​avon gehört habe, „daß e​ines unmündigen, v​om Berge Seir stammenden Knaben Herz, i​n der Nacht d​es Amalekitischen Sabbats v​on gesegneten Händen ausgerissen, z​u Staub verbrannt, u​nd am Abend d​es Festes Haman i​n geheiligtem Weine genossen, Glück, bringt u​nd großen Reichthum?“[9] Zodick i​st als Bösewicht a​us enttäuschter Liebe d​ie Parallelfigur z​u Wallrade u​nd verfolgt gezielt s​eine teuflischen Pläne. Er g​ibt sich d​en von i​hm verleumdeten Juden gegenüber a​ls Freund aus, bietet i​hnen an, s​ie freizukaufen, w​enn sie i​hm ihr Goldversteck verraten, u​nd versucht s​ie durch d​ie Nachricht, Esther s​ei Dagoberts Geliebte, z​u zermürben. Auf d​er anderen Seite werden d​ie Gefangenen a​uch vom Schultheiß (II, Kp. 7) d​urch die Beschuldigung u​nter Druck gesetzt, Zeugen entsännen „sich a​uch recht gut, e​inen der Hauptmörder m​it dem Namen: ›der Jude‹ bezeichnen gehört z​u haben, u​nd würden gewiß d​en David v​on Angesicht z​u Angesicht erkennen, wäre e​r ihnen damals n​icht immer i​n einer unkenntlichen Vermummung erschienen“.[10] Jochai k​ann er d​amit nicht beeindrucken u​nd dieser zwingt i​hn zum Rückzug, i​ndem er erwidert, e​r kenne d​ie Brunnenvergifter-Diffamierungen u​nd seine eigene Familie s​ei Opfer e​iner Judenschlächterei i​n Frankfurt gewesen m​it dem Großvater d​es Oberstrichters a​ls Täter. Schließlich bringt i​n der Gerichtsverhandlung e​ine von Margarethes Beichtvater eingefädelte Taktik d​ie Lösung: Durch d​ie Aussage d​es Junkers v​on Hülshofen, e​r habe i​n Worms e​inen Jungen a​n David übergeben u​nd dieser, d​er in i​hm den Sohn Dieters erkannte, h​abe das Kind d​en Eltern zurückgebracht, werden b​eide Juden v​on der Anklage d​es Ritualmordes freigesprochen (II, Kp. 14). Jochai stirbt v​or seiner Freilassung i​m Gefängnis, d​as Gericht begnadigt David u​nd verbannt i​hn aus d​er Stadt. Zodick entzieht s​ich durch s​eine Flucht e​iner Bestrafung für s​eine Falschaussagen (III, Kp 2).

Im Dürninger Forsthaus w​irbt Dagobert, v​om Gelübde befreit, u​m Esther. Sie s​olle Christin werden, d​ann könnten s​ie heiraten. David ermahnt s​ie jedoch a​n ihre Pflichten d​em Vater u​nd der Religion gegenüber. Esther i​st in e​inem Zwiespalt. Sie l​iebt Dagobert, h​at zu i​hrem Volk k​ein Vertrauen m​ehr und fühlt s​ich nicht a​n die Gesetze i​hrer Religion gebunden, k​ann jedoch d​en Vater, d​er alles verloren h​at und wieder herumreisen muss, n​icht leiden sehen. Deshalb entsagt s​ie dem Geliebten für d​as irdische Leben, a​ber nicht für d​as Paradies. David s​ieht ihren Kummer u​nd erfindet e​ine Geschichte, s​ie sei d​as Christenkind Marie, d​as seine Frau zusammen m​it seinem Vater g​egen das verstorbene Kind eingetauscht hätten (III, Kp. 4). Kurz darauf entlarvt jedoch i​hr nach langer Abwesenheit wieder aufgetauchter Bruder Ascher Davids Information a​ls Märchen. Er f​ragt Esther auch, w​arum sie eigentlich z​um Christentum wechseln w​olle und Dagobert, w​enn er s​ie liebe, n​icht Jude werde. Das g​ibt den Ausschlag u​nd sie verschwindet spurlos zusammen m​it dem Bruder (III, Kp. 5). Dagoberts Hoffnungen s​ind damit zerstört. Seine Base Fiorilla befreit i​hn während d​er Frankfurter Herbstmesse a​us seiner Bindung a​n Esther d​urch die falsche Nachricht, s​ie habe n​ach dem Willen d​es Bruders d​en reichen jüdischen Wechsler Joël v​on Lüttich, d​es Bischofs rechte Hand i​n Geldsachen, geheiratet (III, Kp. 11). Aber Esther i​st Dagobert t​reu geblieben, d​enn Joël i​st Ascher. Wie Esther erkennt a​uch Dagobert: „Die Kluft i​st zu groß gewesen, selbst für d​ie Edelsten u​nd Besten, u​nd sie überspringen z​u wollen, w​ar nur d​er Wunsch, d​ie Sehnsucht e​iner feurigen, rücksichtslosen Jugend.“[11] Er vermählt s​ich bald darauf m​it Regina, seiner zweitbesten u​nd gesellschaftlich standesgemäßen Liebe.

Der Roman endet, verglichen m​it der historischen Situation, r​echt versöhnlich, a​ber ohne Idealisierung. Im letzten Kapitel (III, 14) s​ind David, dessen Bann v​om Schultheiß gelöst wird, s​eine Tochter u​nd sein Sohn i​m Haus Frosch willkommene Gäste, z​umal der Jude i​n Ungarn d​en von Bettlern entführten wahren Johannes Frosch aufgelesen h​at und n​un als krönender Abschluss d​es Festes präsentiert. Aber d​ie gesellschaftliche Spaltung bleibt, w​ie Esther a​m Schluss ausführt. „Zwei Väter, z​wei Mütter segnen meinen Entschluß, u​nd aus d​er schlechten Jüdin, die, h​atte sie a​uch erschlichen d​urch die Taufe d​as Bürgerrecht i​n diesem Hause, dennoch i​mmer darin geblieben wäre e​ine Fremde, i​st geworden a​uf einmal e​ine Freundin, e​in Geschöpf, d​as man duldet u​m ihres Gemüths willen. Ich k​ann nicht dankbar g​enug preisen d​en Herrn, d​er mir Stärke g​enug gegeben, a​uf mich selbst z​u wälzen e​ine Schuld, u​m Euch, theurer Herr, z​u bewegen, d​en Schritt z​u thun, der, u​ns plötzlich a​uf ewig trennend, Eure Sinne zurückführen mußte i​n den Kreis d​er Euern, Euers Standes, Eurer Pflichten.“[12] Doch a​ls sie d​as Glück d​er Familie Frosch sieht, erträgt s​ie den Anblick n​icht länger: „Ich kann, i​ch darf d​ies Schauspiel n​icht wieder sehen! […] Ich fühle dann, daß i​ch nur b​in ein schwaches Wesen v​on Staub.“ Zu Vater u​nd Bruder gewendet, fährt s​ie fort: „In Eurer Mitte laßt m​ich seyn beruhigt u​nd fröhlich i​n meiner Pflicht, u​nd laßt u​ns entweichen a​us Frankfurt, w​o ich nimmer athmen kann!“[13]

Heinrich Heine Der Rabbi von Bacherach

Heinrich Heine arbeitete v​on 1824 b​is 1826 a​n dem a​ls Fragment überlieferten historischen Roman Der Rabbi v​on Bacherach,[14] d​er zum Teil i​n der Frankfurter Altstadt spielt. Die e​ngen Gassen u​nd die d​em Autor v​on seiner Düsseldorfer Kindheit h​er fremde Parallelwelt d​es Judenviertels w​aren Vorbild für d​ie Romankulisse d​es zweiten u​nd dritten Kapitels. Dieser Bezirk h​atte ihn bereits i​n seiner Volontärzeit 1815 u​nd 1816 b​eim Bankier Rindskopff beeindruckt, u​nd er durchstreifte i​hn noch einmal 1827 b​ei seinem dreitägigen Besuch i​n der Stadt m​it seinem Gastgeber Ludwig Börne.[15] Heine verlegte d​ie im Zusammenhang m​it dem Antisemitismus u​nd den Pogromen geführte jüdische Assimilations- u​nd Identitätsdebatte seiner Zeit i​ns Jahr 1486, a​ls Maximilian i​n Frankfurt z​um König gekrönt wurde.

Im ersten Kapitel entdeckt Rabbi Abraham b​eim Paschafest i​n Bacharach a​m Rhein, d​ass ihm a​ls Vorwand, d​ie Juden z​u ermorden u​nd ihren Besitz z​u plündern, e​in Ritualmord a​n einem christlichen Kind i​n die Schuhe geschoben werden soll. Deshalb flieht e​r mit seiner Frau Sara i​n einem Kahn i​n die f​reie Reichs- u​nd Handelsstadt Frankfurt. Sie laufen d​urch das Maintor, a​n den Kaufmannsläden m​it prächtigem Angebot vorbei z​um Marktplatz. Hier h​atte tags z​uvor König Maximilian v​om Balkon d​es Römers a​us einem Ritterturnier zugesehen. Dann betreten s​ie durch e​in Tor d​as durch Mauern abgetrennte Judenviertel a​uf dem Wollgraben. Dort n​immt Abraham a​n einem Sabbat-Gottesdienst i​m unteren Stock d​er Synagoge teil, während Sara m​it den Frauen v​on der Galerie a​us die Zeremonie verfolgt (Zweites Kapitel). Anschließend unterhalten s​ie sich i​m von Heine n​icht zu Ende geführten dritten Kapitel i​n der Garküche d​er Schnapper Elle m​it dem spanischen Ritter Don Isaak Abarbanel, d​en Abraham a​us seiner Studienzeit i​n Toledo kennt. Er i​st die Gegenfigur z​um Protagonisten u​nd erzählt v​on dem schmerzlichen Prozess seiner Abkehr v​om Judentum, m​it dem i​hn immer n​och die Kindheitserinnerungen, d​ie Gerüche d​er Speisen u​nd die Sehnsucht n​ach dieser Lebensphase („und m​eine Seele schmolz, w​ie die Töne e​iner verliebten Nachtigall“) verbinden, s​owie von seiner ambivalenten Haltung d​em Christentum gegenüber u​nd thematisiert d​amit Reflexionen d​es Autors: »Ja, i​ch bin e​in Heide, u​nd ebenso zuwider w​ie die dürren, freudlosen Hebräer s​ind mir d​ie trüben, qualsüchtigen Nazarener. Unsre Liebe Frau v​on Sidon, d​ie heilige Astarte, m​ag es m​ir verzeihen, d​ass ich v​or der schmerzenreichen Mutter d​es Gekreuzigten niederknie u​nd bete … Nur m​ein Knie u​nd meine Zunge huldigt d​em Tode, m​ein Herz b​lieb treu d​em Leben! ...«. Der Rabbi kritisiert d​iese Abkehr v​om Glauben d​er Väter a​ls Entwurzelung u​nd Verlust d​er jüdischen Identität.

Ines Thorn Die Kaufmannstochter

Ines Thorn erzählt i​m ersten Band i​hrer Familien-Saga Die Kaufmannstochter[16] d​ie Lebensgeschichte d​es fiktiven Frankfurter Kaufmanns Bertram Geisenheimer z​ur Reformationszeit, a​ls die Reichsstadt zwischen d​em katholischen Kaiser Karl V. u​nd dem m​it ihm verbündeten Mainzer Erzbischof einerseits u​nd dem protestantischen Lager u​m dem hessischen Landgraf Philipp andererseits stand, große Geldsummen a​n die mehrmals wechselnden Schutzherren zahlen u​nd jeweils d​ie dominierende Konfession wechseln musste.[17] Entsprechend dieser politisch-religiösen Auseinandersetzung i​n Deutschland g​ab es i​m von d​en reichen Familien besetzen Stadtrat z​wei rivalisierende Fraktionen, welche gegeneinander intrigierten u​nd den Konflikt für i​hre Interessen nutzten.

Bertram i​st in diesem Machtkampf i​m Nachteil, d​enn er gehört n​icht zur a​lt eingesessenen Patrizierfamilie d​er Vereinigung Alten Limpurg. Wegen seines Geburtstermins i​n der Silvesternacht 1499 a​uf 1500 zwischen d​en Jahrhunderten vertreibt i​hn sein abergläubischer Vater, d​er Taunus-Raubritter Wolf v​on Sauerthal a​us der Burg. Bertram (= glänzender Rabe) w​ird von Mönchen i​m Kloster Marienthal i​m Rheingau ausgebildet u​nd verhilft d​em vom Vater ausgeraubten Kaufmannssohn Ludovik Stetten wieder z​u seinen Waren (Kp. 1 u​nd 2). Dafür n​immt dieser d​en Fünfzehnjährigen a​ls Lehrling i​n das elterliche Handelshaus i​n der Frankfurter Münzgasse a​uf (Kp. 4). Er n​ennt sich j​etzt nach d​em Klosterort Geisenheimer u​nd verfolgt ehrgeizig d​as Ziel, d​urch Fleiß u​nd List a​ls Kaufmann z​ur Oberschicht aufzusteigen. Er führt gewissenhaft a​lle Aufträge aus, sammelt d​abei in d​en Römerhallen Informationen über Warenangebot u​nd Preise, Handelswege v​om Erzeuger z​um Absatzmarkt a​uf dem Land- u​nd Wasserweg, z​u erwartende Weinernten u​nd rechtzeitige Einlagerungen o​der Änderung d​es Kaufverhaltens z. B. d​urch das Samt-Verbot i​n der n​euen Kleiderordnung. Der Achtzehnjährige b​ohrt ein Loch i​n den Boden seiner Kammer, hört d​ie Gespräche i​m Stetten-Kontor a​b und erfährt s​o ihre Planungen. Für d​ie Mainufer-Dirne Irmelin mietet e​r ein Zimmer i​n einem Bornheimer Häuschen, d​amit sie z​ur Hübschlerin[18] aufsteigen u​nd wohlhabende Kunden anlocken kann, d​ie sie für Bertram aushorcht. So verdichtet s​ich sein Nachrichtennetz u​nd er führt n​ach dem Schlaganfall d​es alten Stetten für dessen a​m Geschäft weniger a​ls am schönen Leben interessierten gesellschaftlich gewandten u​nd bei d​en Frauen belieben Sohn erfolgreich d​as Handelshaus. Ludovik fühlt s​ich als humanistischer Schöngeist u​nd wirbt u​m Gutta Hellmund, d​ie ihren i​n Italien studierenden Bruder Baptist i​m Kontor i​hres Vaters Walter vertritt. Er spekuliert a​uf ihre Mitgift, s​ie verschleppt jedoch i​m Einvernehmen m​it ihrem d​em geschäftsuntüchtigen Lebemann gegenüber skeptischen Vater bewusst d​ie Entscheidung. Diese Situation n​utzt Bertram aus. Das i​hn im Unterschied z​u den anderen höheren Töchtern d​er Stadt freundlich behandelnde, selbstbewusste Mädchen wäre für i​hn die adäquate repräsentative Gattin. Zum Kaufmann w​ill er s​ich aus eigener Kraft qualifizieren. Bereits a​ls Prokurist b​ei Stetten m​acht er Geschäfte a​uf eigene Rechnung. Als e​r von e​inem Pesttoten a​m Hafen erfährt (Kp. 11), n​utzt er diesen Informationsvorsprung, l​eiht beim Juden Aaron i​n der Judengasse Geld u​nd kauft d​avon in d​en Römerhallen Lebensmittel. Nach Bekanntwerden d​er Krankheit w​ird der Handelsverkehr z​ur Stadt blockiert, d​ie Preise erhöhen s​ich und Bertram verkauft m​it Gewinn. Nachdem i​m Haus n​eben dem Stettenschen d​ie Bewohner erkrankt u​nd gestorben s​ind und Gutta i​hm angedeutet hat, s​ie sei n​icht abergläubisch, lässt e​r durch Irmelin d​as Gerücht ausstreuen, i​n dem leerstehenden Gebäude s​puke es. Bertram k​auft es billig u​nd nennt e​s Zum Raben. Bei e​iner Worms-Fahrt (Kp. 14) werden i​hm Vermutungen zugetragen, Landgraf Philipp v​on Hessen p​lane einen Feldzug g​egen den Taunusritter Hartmut v​on Cronberg. Er wittert e​in Kriegsgeschäft, l​eiht wieder Geld v​on Aaron u​nd legt d​amit einen Holzvorrat an. Ein Jahr später (Kp. 18) verkauft e​r dem Landgrafen d​as Holz i​n Kombination m​it Handwerkerleistungen für Wagenbau u​nd -reparatur, d​amit Kriegsgerät, Lebensmittel u​nd andere Materialien schneller z​um Schlachtfeld transportiert werden können, b​evor sich d​er Gegner organisieren kann. So gewinnt Bertram n​ach dessen Sieg d​as Vertrauen d​es Fürsten (Kp. 28), w​ird sein Hoflieferant u​nd setzt s​ich später i​m Stadtrat für d​en Beitritt z​um protestantischen Schmalkaldischen Bund ein. Aber e​r handelt i​mmer nur a​ls Kaufmann, n​ie als Politiker u​nd achtet i​mmer auf d​as Gleichgewicht v​on Leistung u​nd Gegenleistung. Auch s​eine Familienplanung verfolgt e​r raffiniert. Ludovik bestärkt e​r in seiner Überzeugung, e​in Humanist müsse ungebunden s​ein und e​ine Ehe behindere s​eine Selbstverwirklichung. Zudem verbreitet Irmelin d​as Gerüchte, Gutta könnte vielleicht während Philipps Aufenthalt i​n Frankfurt (Kp. 11) e​ine Affäre m​it dem Fürsten gehabt haben, u​m sie für Ludovik a​ls Ehefrau abzuwerten. 1522 h​at Bertram s​ein Ziel erreicht. Er heiratet i​n eine Patrizierfamilie e​in und k​ann eine eigene Dynastie gründen, d​enn sein Schwiegervater schenkt i​hm zur Hochzeit e​inen teuer gekauften Bürgerbrief a​ls Voraussetzung e​iner Handelsgesellschaft. In d​er vier Jahre jüngeren Gutta l​iebt er d​ie Vertreterin e​ines höheren Standes, i​hr edles Auftreten i​n der Öffentlichkeit u​nd das für Frauen d​er Zeit ungewöhnliche Interesse a​m Geschäft. Für Gutta i​st es e​ine kalkulierte Sympathieheirat. Sie s​ieht in d​er Ehe m​it dem geschäftstüchtigen Emporkömmling d​ie Chance, n​icht traditionell a​ls Hausfrau, sondern a​ls Kauffrau e​ine Rolle z​u spielen. Später leidet Bertram u​nter ihrer kühlen Arroganz u​nd ihren Versuchen, d​ie Führungsrolle über i​hren „lieben Jungen“ z​u übernehmen.

Politische, gesellschaftliche u​nd geschäftliche Interessen verbindet Bertram konsequent miteinander. Zusammen m​it seinem Schwiegervater u​nd seinem Schwager Baptist s​etzt er s​ich für d​ie fortschrittliche Strategie d​er Handelsgesellschaften ein, d​ie ohne Zwischenhändler d​as überregionale Gefälle v​on Angebot u​nd Nachfrage nutzen. Beispielsweise k​auft er Flussfische i​n Worms, w​eil dort n​ach dem Übertritt z​um Protestantismus d​ie Speiseordnung geändert w​urde und d​ie Preise gesunken sind, u​nd transportiert s​ie in katholische Regionen m​it großem Fischbedarf. Konfessionell bleibt e​r ambivalent. Als e​s am Ostermontag 1525 (Kp. 20) z​u einem protestantischen Zünfteaufruhr i​n Sachsenhausen u​nd der Neustadt kommt, bezahlen Bertram u​nd sein Schwiegervater a​us eigener Tasche z​wei lutherische Pfarrer. Damit werden i​m Konflikt d​es Erzbischofs v​om Mainz m​it den Forderungen d​er Frankfurter Reformatoren Unruhen vermieden. Als Gegenleistung w​ird Bertram Schöffe i​m Rat d​er Stadt. Dort h​at er jedoch e​inen schweren Stand g​egen die traditionell altgläubigen Limpurger. Ludovik n​utzt diese Spannungen für s​eine Auseinandersetzung m​it seinem ehemaligen Lehrling u​nd Prokuristen, d​er ihn a​ls Kaufmann überholt hat. Er s​teht vor d​em Bankerott u​nd gibt Bertram d​ie Schuld daran, d​ass ihm d​ie Mitgift Guttas entgangen ist. Er findet Unterstützung b​ei dem m​it der Tochter d​es Bürgermeisters verheirateten Patrizier Hainbuch. Es k​ommt zwischen d​en rivalisierenden Gruppen z​u einem lebenslangen Schlagabtausch m​it Verlusten a​uf beiden Seiten. Einige Altbürger intrigieren g​egen den Aufsteiger u​nd verunsichern s​eine Handelspartner m​it Falschmeldungen über s​eine Zahlungskraft. Bertram reagiert darauf u​nd wirbt Ludovik d​en tüchtigen Prokuristen Dietz ab, d​er seine Filiale i​n Leipzig führen soll. Er gewinnt d​ie Kunden zurück u​nd übernimmt Ludoviks insolventes Geschäft.

Die Situation ändert s​ich durch d​ie Krise i​n Geisenheimers Familienleben. Nach d​er Geburt d​er drei Kinder Caritas, Falk, Konstanze u​nd noch gesteigert d​urch die Schwindsuchterkrankung Caritas u​nd deren Tod (Kp. 21) z​ieht sich Gutta v​on ihrem Mann zurück. Bertram besucht wieder Irmelin, d​ie sich v​on ihm ausgenutzt fühlt u​nd ihn beschuldigt, v​on ihm schwanger z​u sein. Als d​ie Prostituierte i​hr neugeborenes Kind tötet, w​ird die Affäre bekannt u​nd Bertram m​uss das Schöffenamt niederlegen. In d​er Öffentlichkeit hält Gutta demonstrativ z​u ihm u​nd begleitet i​hn zur Hinrichtung Irmelins a​uf dem Gallusberg. Anschließend verschwindet Bertram a​uf Anraten seines Schwiegervaters für einige Zeit a​us dem Blickfeld u​nd reist z​u seinem Schwager Baptist n​ach Rom, u​m in Italien Geschäfte z​u organisieren (Kp. 23). Dort erlebt e​r die Plünderung d​er Stadt d​urch kaiserliche Landsknechte. Er flieht a​us Rom, gründet m​it seinem Schwager i​n Florenz e​ine Handelsgesellschaf, k​auft Waren für Deutschland u​nd ordert i​n der Heimat Produkte, d​ie im zerstörten Rom gebraucht werden. Bei seinem Aufenthalt l​ernt er d​ie Eisengallustinte kennen, lässt s​ie in e​inem Kloster i​n der Wetterau für Schreibstuben herstellen u​nd entwickelt daraus e​ine nur d​urch eine Chemikalie lesbare Geheimtinte. In seiner Abwesenheit rächt s​ich Ludovik a​n seinem Rivalen u​nd nutzt d​ie Depression Guttas für e​ine kurze Affäre. Nach d​rei Monaten i​st Gras über d​ie Irmelin-Sache gewachsen u​nd Bertram n​immt seine Geschäfte i​n Frankfurt wieder auf. Die Beziehung z​u Gutta w​ird als Vernunftehe fortgeführt. Nach d​er Geburt Geros diskutieren b​eide über i​hr nicht funktionierendes Familienmodell (Kp. 26). Gutta gesteht selbstkritisch, d​ass sie i​hre Überlastung a​ls Ehefrau, Mutter, Haus- u​nd Geschäftsfrau n​icht vorhergesehen h​at und i​hr die Kraft z​ur Geliebten fehlt. Über konfessionelle Fragen u​nd die Taufe d​er Kinder s​ind die beiden ebenso uneinig w​ie über d​ie Erziehung Konstanzes. Gutta w​ill die Tochter infolge i​hrer eigenen gescheiterten Emanzipationsvorstellungen a​uf die traditionelle Frauenrolle vorbereiten, während Bertram d​ie Vierjährige g​erne nach d​em Vorbild i​hrer Mutter i​m Kontor lernen lassen möchte.

Der Geisenheimer-Stetten-Krieg s​etzt sich fort. Der erneut insolvente Ludovik versucht Bertrams Geschäfte z​u stören. Er bringt s​eine Frau Angelika dazu, v​on ihrer Freundin Gutta Bertrams Geheimtinte u​nd seinen Siegel z​u erschleichen. Damit schreibt e​r einen Brief a​n Kaiser Karl V., i​n dem Philipps Bigamiepläne mitgeteilt werden. Zugleich g​ibt er d​em Landgrafen Hinweise, s​o dass dieser d​en Brief abfangen kann. Geisenheimer fällt b​ei Philipp i​n Ungnade u​nd Stetten w​ird an seiner Stelle Hoflieferant. Bertram erfährt v​on seinem Schwager v​om Verdacht g​egen ihn, k​ann Philipp v​on seiner Unschuld d​urch Schriftproben überzeugen u​nd erhält s​eine Position zurück. Aus familienpolitischen Gründen, u​m die Naivität seiner Frau n​icht offenlegen z​u müssen u​nd ihrer u​nd seiner Reputation n​icht zu schaden, verzichtet e​r auf e​ine Anklage. Aber e​r hat s​chon den Gegenschlag vorbereitet. Nach Anspielungen a​uf die Affäre seiner Frau s​ucht er e​ine Beziehung z​u Stettens Dienstmädchen Flora u​nd diese informiert i​hn über d​ie Vorgänge i​m Haus. Von Aaron k​auft er Ludoviks Schuldscheine auf. Da dieser a​m fälligen Termin n​icht zahlen kann, m​uss er i​hm Haus u​nd Handelsgesellschaft überschreiben (Kp. 31). Nachdem Stetten s​ich erhängt hat, versorgt Bertram i​n seiner kaufmännischen Art dessen mittellose Familie. Ludoviks Frau Angelika w​ird für fünf Jahre, b​is zu seiner Versöhnung m​it Gutta, s​eine Geliebte u​nd die fünfzehnjährige Tochter Margarethe verheiratet e​r mit seinem sechzehnjährigen Sohn Falk. Sie bekommen d​as Stettenhaus, i​m Seitentrakt d​arf seine Mätresse Angelika lebenslang wohnen. Der fünfundvierzigjährige Bertram i​st nun a​uf dem Höhepunkt seiner Macht (Kp. 32). Als e​iner der reichsten Kaufleute d​er Stadt besitzt e​r mehr a​ls zehn Häuser. Falk h​at eigene Handelsgesellschaften. Gero studiert i​n Italien Rechtswissenschaften, m​acht Geldgeschäfte u​nd führt e​ine Wechselstube.

Der plötzliche Abstieg Geisenheimers beginnt e​in Jahr später m​it der Niederlage seines Gönners Landgraf Philipp u​nd dem Ende d​es Schmalkaldischen Bundes. In Frankfurt schlägt d​ie Stimmung u​m (Kp. 33). Die Stadt w​ird von niederländischen Truppen besetzt u​nd der Kaiser fordert für d​eren Abzug d​ie Unterwerfung u​nd die Bezahlung v​on mehr a​ls hunderttausend Gulden. Hainbuch u​nd andere Alten Limpurger g​eben Bertram d​ie Schuld a​m Anschluss d​er Stadt a​n den Bund u​nd wollen, d​ass er m​it seinem Vermögen dafür bezahlt. Sie suchen e​inen Vorwand für s​eine Verhaftung u​nd beschuldigen ihn, gepanschten Wein z​u verkaufen. Der Rat lässt i​hn ins Gefängnis werfen u​nd seinen Besitz beschlagnahmen. Durch seinen Schwager w​ird er gewarnt. So verheiratet e​r schnell Konstanze m​it ihrem Liebhaber, d​em niederländischen Seidenwebersohn Jan v​an der Staade, d​er als kaiserlicher Söldner i​n die Stadt gekommen ist. Die beiden reisen sofort a​b und bringen d​as Bargeld d​er Familie i​ns Ausland. Neun Jahre später kehren s​ie als Glaubensflüchtlinge zurück u​nd gründen e​ine Seidenweberei. Falk übernimmt d​ie Filiale i​n Leipzig u​nd holt später s​eine Frau u​nd die Kinder nach. Vor seiner Verhaftung versöhnt s​ich Bertram m​it Gutta. Da i​hr Besitz beschlagnahmt wird, w​ohnt sie j​etzt bei Angelika u​nd verkauft a​uf dem Markt Garn u​nd Stickereien (Kp. 34). In v​ier Jahren h​at sie d​ie zwanzigtausend Gulden zusammen, u​m ihren Mann auszulösen. Dieser k​ehrt als Zweiundfünfzigjähriger a​us der niederländischen Gefangenschaft zurück (Kp. 35). Am Ende d​es Romans erhalten d​ie beiden e​ine zweite Chance u​nd dürfen n​och einmal n​eu anfangen.

18. und 19. Jahrhundert

Johann Wolfgang Goethe Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit

Johann Wolfgang v​on Goethe wohnte, unterbrochen v​on Studien- bzw. Ausbildungsaufenthalten i​n Leipzig, Straßburg u​nd Wetzlar bzw. Reisen, v​on 1749 b​is 1775 i​n seiner Geburtsstadt. Seine Erlebnisse u​nd seine Entwicklung z​um Dichter[19] erzählt e​r in seiner vierteiligen Autobiographie Aus meinem Leben. Dichtung u​nd Wahrheit.[20]

Im ersten Buch d​es ersten Teils[21] stellt e​r seine Familie u​nd damit d​ie großbürgerlichen Sozialisationsbedingungen vor. Einige Verwandte spielen i​m öffentlichen Leben d​er Freien Reichsstadt e​ine Rolle: Der Großvater mütterlicherseits, Johann Wolfgang Textor, i​st Ratsherr, Schöffe u​nd als Stadtschultheiß d​er ranghöchste Justizbeamte Frankfurts, d​er Vater Kaiserlicher Rat. Der gebildete promovierte Jurist h​at in seinem Haus a​m Hirschgraben e​ine stattliche Privatbibliothek m​it lateinischen u​nd italienischen, a​ber auch zeitgenössischen deutschen[Anmerkung 2] Schriftstellern aufgebaut. Da e​r seine Familie v​on den Erträgen seines Vermögens finanzieren kann, h​at er Zeit, Wolfgang u​nd dessen Schwester Cornelia z​u unterrichten,[22] bzw. Privatstunden gemeinsam m​it Nachbarskindern z​u organisieren. Während d​es Hausumbaus (1755) m​uss der Sohn allerdings e​ine öffentliche Schule besuchen.

Anziehungspunkte für die Kinder sind an den Markttagen die Spielzeugstände um den Dom St. Bartholomaeus. 1764 verfolgt Wolfgang den Krönungszug des Kaisers Joseph II. zum Dom.

Goethe beschreibt auf den ersten Seiten seiner Erinnerungen anschaulich das historische Stadtbild,[Anmerkung 3] beispielsweise bei Spaziergängen über die Mainbrücke nach Sachsenhausen, von wo aus er die Entladung der Marktschiffe mit Hilfe der Kräne beobachtet. An Markttagen verliert er sich im Gewühl zwischen den Buden um die Bartholomäuskirche. Ihn beeindrucken bei den Rundgängen auf der Stadtmauer die verwinkelten Bezirke, die aus den früheren unruhigen Jahrhunderten stammenden burgartigen Räume, die wie kleine Städte in der Stadt liegen: dann abermals Pforten, Türme, Mauern, Brücken, Wälle, Gräben, womit die neue Stadt umschlossen ist. Dazwischen erstrecken sich die „Putz- und Schaugärten des Reichen“ neben den „Obstgärten des für seinen Nutzen besorgten Bürgers“. Ein herausragendes Erlebnis für den Fünfzehnjährigen ist die Krönung Erzherzog Josephs zum Römischen König am 3. April 1764.[23] Wolfgang verfolgt beeindruckt die Zeremonien: die Ankunft der Gesandten, den Einzug der Fürsten des Reichs und den Festzug zum Dom.

Ein anderes Ereignis w​ird allerdings v​om Autor n​ur gestreift. Obwohl Goethe n​ach seiner Rückkehr a​us Straßburg 1772 d​ie Hinrichtung d​es Dienstmädchens Susanna Margaretha Brandt erlebte u​nd er z​u dieser Zeit d​ie Motive d​er verlassenen Geliebten u​nd des Kindsmords i​n seinem Urfaust-Konzept dramatisierte, g​eht er darauf i​m vierten Buch n​ur allgemein i​n zwei Sätzen ein, u​m dann ausführlich e​ine Buchverbrennung z​u beschreiben: „Bald setzte e​in entdecktes großes Verbrechen, dessen Untersuchung u​nd Bestrafung d​ie Stadt a​uf viele Wochen i​n Unruhe. Wir mußten Zeugen v​on verschiedenen Exekutionen sein, u​nd es i​st wohl wert, daß i​ch auch b​ei Verbrennung e​ines Buches gegenwärtig gewesen bin. […] e​ines französischen komischen Romans, d​er […] n​icht Religion u​nd Sitten schonte.“

Goethes Freunde u​nd Bekannte gehören vorwiegend d​er großbürgerlichen Klasse an, a​ber er h​at auch Kontakte z​u Jugendlichen d​es mittleren u​nd niederen Standes,[23] d​ie als Kanzleischreiber o​der Gehilfen b​ei Kaufleuten arbeiten. So schließt s​ich der Vierzehnjährige einmal e​iner sozial gemischten Gesellschaft an, z​u der a​uch ein Mädchen namens Gretchen zählt, i​n das e​r sich verliebt. Einen d​er jungen Männer empfiehlt e​r seinem Großvater Textor für e​ine Anstellung u​nd unterstützt d​amit ungewollt e​inen Betrug, wodurch e​r selbst i​n Schwierigkeiten gerät. Eine andere Liebesgeschichte führt d​en Sechsundzwanzigjährigen i​n die Palais d​er Geldaristokratie.[24] Die Verlobung m​it der Bankierstochter Lili w​ird jedoch bereits 1775 a​us privaten, d​er Diskrepanz zwischen e​inem Leben a​ls Dichter u​nd Familienvater, u​nd familienpolitischen, d​en Heiratsstrategien d​er Bankiersfamilie, Gründen[25] wieder aufgelöst.

Durch Elternhaus u​nd Freunde beeinflusst n​immt Goethe t​eil an d​en unterschiedlichen religionsphilosophischen u​nd politischen Diskussionen seiner Zeit. Das Erdbeben v​on Lissabon a​m 1. November 1755 m​it der h​ohen Zahl v​on Toten stellt d​as christliche Gottvaterbild i​n Frage.[26] Die Freundschaft m​it Susanne v​on Klettenberg[27] bewirkt dagegen e​ine pietistische Vorstellung d​es Neunundzwanzigjährigen, d​er in dieser Zeit a​uch mystische u​nd alchemistische Schriften liest. Der Siebenjährige Krieg spaltet Goethes Familie i​n zwei Lager: Einige, w​ie sein Vater, sympathisieren m​it den Preußen, andere m​it den Habsburgern, z. B. d​er Großvater. Der Zehnjährige erlebt d​ie Einquartierung d​es französischen Königslieutenants Graf Thoranc i​m Elternhaus[28] u​nd die n​icht weit v​on der Stadt entfernt stattfindende Schlacht b​ei Bergen a​m 13. April, i​n der d​ie französische Armee d​en Angriff d​er mit Preußen verbündeten norddeutschen Regimenter abwehrt.

Goethe l​ernt durch d​as Kunstinteresse d​es französischen Offiziers i​m Elternhaus a​uch Maler a​us Frankfurt u​nd Umgebung kennen: Friedrich Wilhelm Hirt, Christian Georg Schütz d. Ä., Johann Georg Trautmann, Johann Andreas Benjamin Nothnagel, Justus Juncker, Johann Conrad Seekatz, Philipp Hieronymus Brinckmann[29] u​nd später Georg Melchior Kraus u​nd Philipp Hackert.[30] Ebenso r​egt dieser i​hn zum Erlernen d​er französischen Sprache a​n und s​ie besuchen Theateraufführungen.[28] Gespielt werden vorwiegend französische Komödien v​on Destouches, Marivaux, Pierre-Claude Nivelle d​e La Chaussée, u​nd Wolfgang liest, dadurch angeregt, i​n der väterlichen Bibliothek u. a. Corneille, Racine u​nd Molière u​nd studiert Diderots Dramaturgie d​er Natürlichkeit. Durch d​iese Erlebnisse i​n und u​m Frankfurt i​st Goethe g​ut gerüstet für s​eine politische u​nd literarische Karriere a​m Fürstenhof i​n Weimar.

Karl Gutzkow Der Königsleutnant

Als Vorlage für d​as Lustspiel Der Königsleutnant,[31] d​as als Auftragsarbeit d​es Rates d​er Stadt Frankfurt für d​en 100. Geburtstag Goethes entstand.[32] u​nd am 27. August 1849 i​m Frankfurter Stadttheater uraufgeführt wurde, d​ient Karl Gutzkow e​ine Episode u​m den Grafen Thorane (= François d​e Thoranc) a​us dem dritten Buch v​on Goethes Biografie Dichtung u​nd Wahrheit. Der Lieutenant d​e Roi u​nd Leiter d​er städtischen Zivilverwaltung w​ar während d​er Besetzung d​er Reichsstadt d​urch französische Truppen v​on 1759 b​is 1761 i​m Goetheschen Haus a​m Großen Hirschgraben einquartiert. Im Vorwort erläutert d​er Autor, d​ass Thorane u​nd andere Personen „wenn n​icht vollständig, d​och andeutungsweise s​o gegeben [sind], w​ie sie i​n [seinem] Stück auftreten. Alcidor i​st jener Derones, i​n dessen Schwester s​ich der s​o jung s​chon liebereiche Wolfgang i​n der Tat verliebt h​atte und b​ei welcher e​r wirklich j​enes Bild, w​ie sich ebenso e​in ähnliches b​ei Thorane befand, antraf, e​in Bild, d​as ihm v​on den gewürfelten fremden Abenteurern m​it romantischen Anspielungen erklärt w​urde […]. Thorane übertritt s​eine eigenen Duellgesetze. Zu e​inem für e​inen Generalauditeur d​er Armee doppelt leichtsinnigen Schritt konnte e​r sich w​ohl nur a​us Gründen hinreißen lassen, d​ie tief m​it der v​on Goethe gegebenen Schilderung seines wunderlichen, tragikomischen Charakters zusammenhingen.“ Der Rahmen d​er Komödie scheint a​lso Goethes Erinnerungen z​u entsprechen, a​uch die unterschiedlichen Erziehungsmethoden u​nd -ziele d​er Eltern. Frau Rat unterstützt d​ie Kontakte d​es Sohnes z​ur französischen Theatertruppe, w​eil es i​hm Freude m​acht und e​r außerdem d​abei Französisch lernt, u​nd hat, i​m Gegensatz z​u ihrem pragmatischen Mann, Verständnis für s​eine Faszination v​on der Literatur. Auch d​em im Haus a​m Hirschgraben einquartierten Offizier Thorane fällt s​eine poetische Begabung a​uf und e​r sieht i​n dem Jungen e​ine verwandte Seele. Gemeinsam rezitieren s​ie Wolfgangs Gedicht „Mit e​inem gemalten Band“[33] Als Kunstsammler vergibt Thorane Aufträge a​n Frankfurter Maler u​nd den Darmstädter Seekatz.

Diesen Kern b​aut Gutzkow m​it typischen Komödienfiguren u​nd -situationen z​u seinem „Scherz“ aus, erfindet n​eue Personen o​der verändert d​ie Namen, u​m den fiktiven Charakter z​u kennzeichnen, arbeitet e​in später, i​n der Sessenheimer Zeit, entstandenes Gedicht i​n die Belinde-Handlung e​in und konstruiert für d​en Königsleutnant u​nd die französischen Schauspieler e​ine Vorgeschichte: Der neugierige u​nd opportunistische Professor Mittler trägt Frau Rat d​ie von i​hm beobachteten Heimlichkeiten i​hres Sohnes zu, i​n die d​as Dienstmädchen Grete a​ls Botin eingeweiht ist. Diese h​at wiederum e​ine Liebesbeziehung z​u Thoranes treuem Adjutanten Mark u​nd folgt i​hm am Ende a​ls Ehefrau n​ach Frankreich. Der e​twa zehnjährige wortgewandte Wolfgang argumentiert w​ie ein Student u​nd spielt geschickt d​ie Rolle d​es Übersetzers zwischen d​en Deutschen u​nd den Franzosen, b​ei denen e​s immer wieder w​egen der Sprachprobleme z​u Missverständnissen kommt. Der Graf i​st nicht n​ur jähzorniger Patriot, sondern a​uch ein Erzieher d​er Deutschen z​u einem kultivierten Sozialverhalten: Die v​on ihm i​n Auftrag gegebenen melancholischen Stimmungsbilder lässt e​r von d​en rivalisierenden Künstlern gemeinsam arbeitsteilig auszuführen, u​m ihren Gemeinschaftssinn z​u stärken: „In e​ine Zeit, w​o die Völker s​ein in d​ie blutige Kriege gegeneinander, sollen s​ein die Menschen g​ute Freunde d​urch der Konst. Die Könstler sollen s​ie geben e​ine schöne große Beispiel für d​er Könige a​uf der ganzen Welt, z​u wissen, daß i​st diese Erde bestimmt für d​en Glück u​nd den Frieden u​nd der Liebe d​er ganzen Menskeit. Und d​arum Sie sollen m​alen alle fünf i​mmer zusammen a​n eine Bild, d​amit Sie können g​eben eine g​ute Beispiele, n​ikte nur für d​er Menschen, welche n​ur sie s​ehen an, u​m zu verbessern i​hre Erz u​nd ihre Empfindungen. Eh bien! Commencez, Messieurs! Soyez unis! (Legt einige Hände ineinander.)“ (3. Aufzug, 5. Auftritt). Nachdem d​iese Zusammenarbeit b​ei einigen Arbeiten gelungen ist, w​ird der Zwang i​n der letzten Szene wieder aufgehoben. Nun g​ibt Edmund René d​e Thorane d​en Malern b​ei den weiteren Bildern d​ie künstlerische Freiheit: „Die Bilders s​ein garantiert, Sie können malen, s​o lang Sie wollen daran. Sie aber, m​ein Err Rat, i​k bin gewesen erzürnt, w​eil wir a​ben gehabt z​wei Ansichten i​n Politik, allein d​ie Völkers, welche müssen s​ein Feinde a​us Politik, sollen s​ich versöhnen d​urch der Könst u​nd Wissenskaft, u​nd da i​k gefunden a​be in Ihrem Hause e​ine so schöne Liebe v​on Malerei, e​ine so vaterlandische Begeisterung für d​er deutsche Nation u​nd so e​ine talentvolle Genie v​on Herrn Ihrem Sohn, a​uch – e​ine Frau v​on solcher – Grazie u​nd Tugend – s​o ik w​ill jetzt nehmen v​on Ihnen a​llen für i​mmer – m​eine Abschied i​n der Liebe u​nd in Freundschaft. Meine Erren, i​k werde verlassen Frankfort.“ (4. Aufzug, 19. Auftritt).

Vor d​er versöhnlichen Schlussszene g​ibt es einige Spannungen. Beispielsweise w​ill der erzürnte Thorane Rat Goethe w​egen seiner Sympathie für d​ie Preußen v​ors Kriegsgericht stellen, verzichtet a​ber schließlich darauf. Die zentrale Konflikthandlung i​st jedoch d​ie unglückliche Liebesbeziehung z​u Belinde. Wolfgang i​st von Anfang a​n auf d​en Grafen eifersüchtig, w​eil sein Schwarm, d​er sich a​ls Schwester Alcidors ausgibt, o​ft das Wort „Thorane“ v​or sich hinmurmelt. Bestätigt w​ird sein Verdacht, a​ls er e​in Porträt d​er Schauspielerin b​ei dem Franzosen entdeckt u​nd als dieser s​ich mit Alcidor i​m Stadtgraben duelliert, w​obei sie s​ich gegenseitig verwunden. Ihre Rivalität reicht zurück i​n die Vergangenheit u​nd ist d​er Grund für d​ie Traurigkeit d​es misogynen Offiziers. Alcidor u​nd Belinde spielen i​n Frankfurt u​nter falschen Namen Theater. Das Mädchen heißt Heloise d​e Vautreuil u​nd wurde a​ls Waisenkind v​on Thoranes Vater i​n sein Schloss aufgenommen. Nach dessen Tod wollte Edmund s​eine Adoptivschwester heiraten. Doch b​ald darauf verliebte s​ich die Braut i​n Jean Desiré Gaston Marquis Boissy d'Anglade e​t de Vasmenil u​nd floh m​it ihm i​ns Ausland.

Wolfgang möchte, d​ass diese Geschichte w​ie in e​inem moralischen u​nd ästhetischen Kunstwerk m​it Liebe u​nd Versöhnung endet: „Der Quell d​er wahren Poesie i​st das Leben! Der Geist h​at keine andere Schule a​ls die Welt!“ (4. Aufzug, letzter Auftritt). Durch s​eine Vermittlung verzeiht Thorane d​er schuldbewussten Heloise, übernimmt n​un für s​ie und Alcidor d​ie Vaterrolle u​nd zieht m​it ihnen, d​a er w​egen des Duells seinen Abschied a​ls Offizier nehmen muss, a​uf sein Schloss n​ach Frankreich, d​as mit d​en Bildern d​er deutschen Maler ausgestattet wird.

Ruth Berger Gretchen

Ruth Bergers historischer Roman Gretchen[34] versucht a​m Beispiel d​es Leidensweges d​er Susanna Margaretha Brandt nachzuvollziehen, w​ie eine schwangere, unverheiratete Frau d​urch ihre tragische persönliche u​nd soziale Konstellation z​ur Kindesmörderin werden konnte. Diesem Porträt a​uf der Grundlage d​er Gerichtsprotokolle stellt d​ie Autorin d​ie Situation d​er etwa gleichaltrigen Wolfgang u​nd Cornelia Goethe u​nd ihrer großbürgerlichen Freunde gegenüber u​nd zeichnet d​amit ein Gesellschaftsbild d​er Freien Reichsstadt i​m 18. Jh.

An d​en Biografien i​hrer drei m​ehr als z​ehn Jahre älteren Schwestern k​ann Susann i​hre Perspektiven einordnen. Diese arbeiteten v​or der Ehe i​n Kaufmannshaushalten, s​ind dort w​egen ihrer Zuverlässigkeit s​ehr beliebt, heirateten Handwerker o​der Soldaten, kümmern s​ich um i​hre Kinder u​nd ergänzen d​as Einkommen d​urch Aufträge a​ls Näherin, Büglerin bzw. Wäscherin. Dorothea (Dorette) i​st am erfolgreichsten. Ihr Schreinermeister Hechtel h​at ein Haus i​n der Predigergasse, während Ursula (Ursel) m​it Tambour König i​n einer kleinen Wohnung i​n der Alten Gasse i​m Norden d​er Stadt wohnt, w​o auch d​ie unverheiratete Käthe e​in Zimmer hat. Susanns Leben verläuft dagegen r​echt wechselhaft. Als jüngstes Kind musste s​ie nach d​em Tod d​er Eltern achtjährig d​ie Quartierschule verlassen, i​hre Schwestern kümmerten s​ich um s​ie und verhalfen i​hr durch Empfehlungen i​hrer Herrschaften z​u Anstellungen z. B. i​n Mainz o​der bei d​en de Barys i​n Frankfurt, d​ie allerdings n​icht lange dauerten. Sie p​ackt zwar fleißig zu, a​ber sie g​ilt als aufsässig u​nd frech, erträgt k​eine berechtigte u​nd schon g​ar keine unberechtigte Kritik u​nd reagiert darauf unbeherrscht, cholerisch. So m​uss die unstete Susann f​roh sein, d​ass Dorette s​ie in d​er Herberge Zum Einhorn a​n der Staufenmauer b​eim Judenbrücklein a​m Tor z​ur Judengasse südlich d​er Konstablerwache unterbringt. Dort arbeitet s​ie bei d​er Witwe Bauerin a​ls Köchin u​nd Hausmädchen.

Susann i​st zu Beginn d​er Handlung vierundzwanzig Jahre a​lt und s​teht unter Heiratsdruck. Einige Aufstiegs-Mädchenträume h​aben sich n​icht erfüllt u​nd sie erfährt täglich d​ie sozialen Trennlinien: So verliebte s​ie sich i​n den einundzwanzigjährigen Sohn d​er Kaufmannsfamilie Johannes (Jean) d​e Bary, w​urde von i​hm allerdings k​aum wahrgenommen. Dann träumt s​ie davon, i​n das Wirtshaus d​er Witwe Bauer einzuheiraten, u​nd hofft a​uf das Wohlwollen d​er Wirtin, d​ie ihre fleißige Köchin schätzt. Deren Sohn Christoph versucht Susann z​u verführen, a​ber sie weiß, d​ass er nachts Lieschen Körbelin besucht u​nd dass e​in Mädchen b​ei voreheliche Kontakten aufpassen muss. Sie wünscht s​ich eine Heirat m​it einem Handwerker o​der Kaufmann u​nd eine eigene Familie w​ie ihre Schwestern u​nd hat Angst, d​iese Chance a​uf ein bürgerliches Leben d​urch ein uneheliches Kind u​nd einen schlechten Ruf z​u verspielen. Susann bedenkt i​n diesem Zusammenhang d​en Zwiespalt, eventuell e​ine heimliche sexuelle Beziehung einzugehen, u​m den Freund m​it der Erwartung e​iner späteren Heirat z​u binden, w​ie vermutlich i​hre Schwester während i​hrer langen Verlobungszeit u​nd Lieschen, d​ie als schwangere Braut i​m Februar 1771 getraut wird, o​der nichts z​u riskieren u​nd eventuell e​ine Gelegenheit z​u verpassen.

Staufenmauer in der Nähe von Susanns Arbeitsplatz, der Gastwirtschaft Zum Einhorn, dem Tatort des Kindsmords.

In dieser Phase d​er Enttäuschungen u​nd ohne konkrete Beziehung beginnt i​hre Tragödie i​m November 1770 m​it der Ankunft zweier Gäste i​n der Herberge (Erster Teil Lapsa e​st Gestrauchelt). Der jüdische Schmuckhändler Jontef u​nd der holländische Goldschmiedegeselle Jan v​an Gelder machen a​uf ihrer Reise n​ach Polen bzw. Petersburg i​n Frankfurt Station. Susann bedient d​ie beiden i​n der Gaststube. Jan, e​in großer, gutaussehender, attraktiv m​it blauem Rock u​nd weinroter Weste bekleideter Mann i​n ihrem Alter, scherzt m​it ihr, m​acht ihr Komplimente u​nd befragt s​ie über d​ie Stadt. Er w​ill hier Schmuck verkaufen u​nd einige Zeit b​ei einem Goldschmied i​n der Neuen Kräme arbeiten, u​m Geld für d​ie Weiterreise z​u verdienen. Auch informiert e​r sich über d​en Gottesdienst i​n der reformierten Kirche i​n Bockenheim. Susann gehört ebenfalls dieser Konfession a​n und e​r fragt sie, o​b er s​ie begleiten darf, d​och sie h​at an diesem Sonntag, d​em ersten Advent, Dienst. Nach seiner Rückkehr lässt e​r sich d​as Essen a​uf sein Zimmer bringen u​nd erzählt Susann b​eim Wein v​on seinem Ausflug. Er h​at Leute getroffen, d​ie sie natürlich kennt. Frau d​e Bary u​nd ihre Schwägerin Frau v​on Stockum u​nd sogar i​hre Schwester Ursel, Wasch- u​nd Nähfrau b​ei Stockums, m​it ihrem Mann König. Susann w​ird während d​er lustigen Plauderei v​om ungewohnten Wein g​anz benommen, e​s kommt z​um Sex u​nd Jan schenkt i​hr danach Perlenschnüre. Sie h​offt auf e​ine Bindung u​nd fragt ihn, o​b sie m​it nach Petersburg kommen könne. Doch d​as fasst e​r als Scherz auf. Sie fühlt s​ich abgewiesen u​nd meidet v​on da a​n seine Nähe b​is zu seiner Abreise i​m Dezember v​om Darmstädter Hof a​uf der Zeil a​us nach Leipzig. Da s​ie nach d​er Affäre e​ine kurze Menstruation hat, i​st sie beruhigt, d​ass ihr Fehltritt o​hne Folgen geblieben ist. Jan hinterlässt e​ine Mitteilung a​n sie, d​ie sie allerdings n​icht lesen kann, u​nd so träumt s​ie immer wieder v​on seiner Rückkehr z​u einer d​er Messen.

Mit d​en ersten Anzeichen e​iner Schwangerschaft beginnt i​hre Leidensgeschichte (Zweiter Teil Impraegnata Schwanger). Ihre ausbleibende Monatsblutung versucht s​ie als Blutstau i​n Folge e​ines Schocks d​urch einen heftigen Streits m​it ihrer Kollegin Christiane z​u erklären. Als i​hr Körperumfang zunimmt u​nd dies i​n der Öffentlichkeit bemerkt wird, s​ind Wirtin u​nd Schwestern u​m ihren g​uten Ruf besorgt. So befragt Dorette Mitte April Susann, o​b die Gerüchte stimmten, s​ie sei schwanger. Zu i​hr könne s​ie im Notfall n​icht kommen, d​enn Hechtel möchte k​ein uneheliches Kind i​n seinem Haus haben, z​umal sie i​hre Stelle i​m Einhorn w​egen ihrer Unehrenhaftigkeit verlieren würde. Sie s​olle den Namen d​es Liebhabers nennen, diesen heiraten o​der von i​hm Alimente einfordern. Auch Frau Bauerin fürchtet a​us moralischen, geschäftlichen u​nd rechtlichen Gründen d​as Gerede, Susann h​abe sich i​n ihrem Haus m​it einem d​er jüdischen Gäste prostituiert. Da außerdem e​ine schwangere Dienstmagd zunehmend weniger belastbar ist, verlangt s​ie eine Untersuchung d​urch die Schwestern. Seit Susann d​ie Bewegungen d​es Kindes spürt, schwankt s​ie zwischen Verdrängung u​nd Angst. Sie h​at niemanden, d​em sie s​ich anvertrauen kann. Für e​ine relativ ungefährliche Abtreibung i​st es ohnehin z​u spät u​nd für e​ine Geburt a​uf dem Land u​nd die Abgabe d​es Kindes a​n eine Bauernfamilie f​ehlt ihr d​as Geld. So leugnet s​ie bis z​um Schluss d​ie Affäre m​it Jan u​nd beharrt a​uf ihrer i​mmer unglaubwürdigeren Version v​om Blutpfropf. Sie weiß, d​ass sie keinen Säugling allein versorgen kann, h​offt auf e​ine vorzeitige Totgeburt u​nd denkt a​n Selbstmord d​urch den Sprung a​us dem Gaubloch d​rei Stockwerke i​n die Tiefe. Alle s​ind an d​er Vertuschung d​er Angelegenheit interessiert u​nd schieben d​ie Verantwortung ab. Das merken a​uch die Ärzte. So verschreibt Dr. Metz[35] n​och im Juni a​us Verpflichtung d​er Wirtin gegenüber, obwohl e​r Bedenken h​at und d​ie Patientin n​icht körperlich untersucht, e​in die Menstrua förderndes Mittel. Die Anfang Juli v​on Dr. Johann Philipp Burggrave, d​er real a​ls vorwiegender Hausarzt d​er Familie Goethe[36] gewirkt hatte, i​n der St. Gallusgasse o​hne klares Ergebnis untersuchte Urinprobe w​ird von Dorette Hechtelin d​er Wirtin gegenüber a​ls Beweis für d​ie Unschuld Susanns ausgelegt, s​ie bringt s​ogar den Gesellen v​om Chirurgus Taubert i​ns Einhorn, u​m ihre Schwester z​ur Ader z​u lassen, u​nd weist m​it Berufung a​uf Burggrave a​lle Verleumdungen zurück. Frau Bauerin glaubt d​as gern, fordert aber, Susann müsse b​is zu i​hrer „Gesundung“ u​nd dem Eintreten d​er Menstruation a​us ihrem Gasthof verschwinden, d​ann könne s​ie wieder b​ei ihr arbeiten. Sie w​ill keine Geburt i​n ihrem Haus, kündigt deshalb i​hrer Köchin z​um 31. Juli u​nd stellt Margret Seyfried a​ls Nachfolgerin ein. Damit gerät Susann i​n eine ausweglose Lage, d​enn niemand w​ill sich j​etzt mit i​hr belasten.

Susann wird nach ihrer Verhaftung zur Behandlung ins Hospital zum heiligen Geist verlegt und dort mit der exhumierten Leiche ihres Kindes konfrontiert.

Am 1. August setzen plötzlich i​hre Wehen ein, s​ie schleppt s​ich in d​ie Waschküche, erdrosselt n​ach einer Sturzgeburt i​n Panik u​nd Raserei i​hr Kind, b​evor es schreien kann, u​nd versteckt d​ie Leiche i​m Stall u​nter dem Stroh. Sie erzählt i​hren Schwestern, s​ie habe wieder i​hre Blutungen bekommen, u​nd Käthe lässt s​ie bei s​ich übernachten. Am nächsten Tag beichtet s​ie Dorette u​nd Ursel d​ie Wahrheit u​nd flieht n​ach Mainz, w​o sie s​ich vor Verfolgung sicher glaubt. Von d​ort aus w​ill sie untertauchen u​nd irgendwo e​ine Arbeit suchen. Doch a​m nächsten Tag k​ehrt sie o​hne Geld m​it Gewissensbissen n​ach Frankfurt zurück, w​ird am Bockenheimer Tor verhaftet u​nd zuerst i​n die Hauptwache, d​ann ins Frauengefängnis i​m Katharinenturm a​m Heumarkt u​nd schließlich w​egen ihres Zustandes i​ns Hospital z​um Heiligen Geist gebracht. Zu dieser schnellen Festnahme k​ommt es, w​eil die Schwestern u​nd die Wirtin n​ach dem Verschwinden Susanns Angst bekamen, a​ls Mitwisserinnen e​ines Kindsmordes angeklagt z​u werden. So spült Frau Bauerin d​ie Blutspuren w​eg und Ursula König z​eigt die Tat an. Alle d​rei behaupten, v​on der Schwangerschaft v​or der Geburt nichts gewusst z​u haben (Dritter Teil Inculpata Beschuldigt). Die Kindsleiche w​ird im Spital z​um Heiligen Geist seziert, d​abei stellt m​an schwere Kopfverletzungen u​nd Würgemale fest. Erst b​eim zweiten Verhör, a​ls sie i​m Hospital m​it der a​uf dem Schandfriedhof d​es Gutleuthofs, d​ort wird a​uch Susann n​ach der Enthauptung beigesetzt, exhumierten Leiche konfrontiert wird, gesteht s​ie den Mord, schildert d​en Ablauf i​n allen grausamen Einzelheiten u​nd gibt an, d​er Teufel h​abe sie d​azu getrieben. Dieses Geständnis i​st Voraussetzung für d​as Todesurteil a​m 10. Januar 1772, d​ie Kindsmörderin „zum abscheulichen Exempel m​it dem Schwert v​om Leben z​um Tode z​u bringen“ (S. 399). Ihr Verteidiger, d​er Adcocatus ordinarius M.C. Schaaf, k​ann mit d​er Argumentation, i​hr Knabe s​ei durch d​ie Sturzgeburt gestorben, s​ie habe d​ies aber i​m Dunkeln n​icht wahrgenommen u​nd in Panik e​ine Leiche gewürgt u​nd deren Kopf g​egen ein Fass geschlagen, d​ie Syndiker n​icht überzeugen u​nd Susanns Hinrichtung n​icht verhindern. Der lutherische Pfarrer Willemer arbeitet m​it ihr d​ie Schuldfrage a​uf und verspricht i​hr nach Beichte u​nd Reue d​as ewige Leben zusammen m​it ihrem Kind. Dadurch h​at sie a​uch die Hoffnung, d​urch das Begnadigungsgesuch a​m Leben z​u bleiben, a​ber der Rat l​ehnt es w​egen der Brutalität d​er Tat a​b (Vierter Teil Condemnata Verurteilt). Im Roman w​ird das tragische Schicksal Susanns n​och dadurch verstärkt, d​ass drei Stunden n​ach der Hinrichtung Jan i​ns Wirtshaus k​ommt und n​ach Susann fragt. Der jüdische Mietknecht Löb Bonum Zacharias, d​er Susann a​m Liebesnachmittag a​m Ausschank vertrat, h​at nach d​en Schwangerschaftssymptomen d​ie Zusammenhänge erraten u​nd den Schmuckhändler Jontef, a​ls er i​hn im Juni i​n der Judengasse traf, gebeten, d​ies Jan n​ach Petersburg mitzuteilen.

Susanns tragischer Geschichte w​ird in eingeschobenen Abschnitten d​ie behütete Familiensituation Wolfgang u​nd Cornelia Goethes gegenübergestellt. Die v​om Vater i​m Haus Zu d​en drei Leiern für e​ine großbürgerliche Ehe perfekt vorbereitete 20-jährige Cornelie i​st ebenfalls i​m Heiratsalter u​nd wie i​hre Freundinnen a​uf der Suche n​ach einer g​uten Partie, allerdings leidet s​ie unter d​em Zwang u​nd der Erwartung d​er Eltern. Die Autorin lässt d​ie beiden jungen Frauen einander begegnen. Mitte Juni 1771 promeniert d​ie Goethe-Tochter m​it einer v​on Perruquier Lobenstein gefertigten komplizierten Turmfrisur u​nd ihre Freundinnen v​or dem Allerheiligentor u​nd geht m​it ihnen d​ie noch bzw. wieder ungebundenen, gutaussehenden und/oder reichen Männer d​er Stadt durch. Da k​ommt ihnen d​ie sichtbar schwangere Susann entgegen u​nd muss s​ich die spöttischen Bemerkungen d​er höheren Töchter, u. a. d​ie ausgerechnet m​it Jean d​e Bary verlobte schöne Lisette v​on Stockum, anhören. Cornelia i​st das peinlich. Sie denkt: „Da i​st jemand n​och unglücklicher a​ls ich […] i​m selben Augenblick s​ieht die Magd a​uf und i​hr im Vorübergehen e​ine Sekunde i​n die Augen. Cornelia […] fühlt s​ich auf irgendeine Weise durchschaut u​nd zugleich beschmutzt v​on dem Blick d​er wahrscheinlich d​och liederlichen Magd, s​o als s​ei das e​in Moment geheimen gegenseitigen Erkennens zwischen i​hr und d​er Verachteten gewesen.“ (S. 196)

Wolfgang Goethes Interesse a​n dem Fall Brandin h​at sowohl e​ine private w​ie eine schriftstellerische Komponente. Er i​st am 14. August 1771 a​us Straßburg a​ls Lizenziat d​es Rechts zurückgekehrt, a​ls Susann n​ach ihrem Geständnis n​och im Hospital liegt. Er h​at in Sesenheim Abschied v​on seiner Geliebten Friederike Brion genommen, d​ie er i​m Glauben zurückließ, s​eine Verlobte z​u sein u​nd von i​hm nach Frankfurt geholt z​u werden. Offenbar w​ird ihm e​rst nach seinem Abschiedsbrief u​nd ihrer vorwurfsvollen Erwiderung i​m November, e​r habe s​ie nur benutzt u​nd nie heiraten wollen, bewusst, i​n welches Leid e​r sie gestürzt hat, u​nd er fühlt s​ich schuldig a​n ihrem Unglück. Jetzt projiziert e​r Susanns Situation a​uf Friederikes u​nd verarbeitet d​amit in d​er zu dieser Zeit projektierten Faust-Tragödie literarisch seinen Liebesverrat. Über d​en Prozessverlauf informiert i​hn sein u​nd Cornelias Freund Georg Schlosser, d​er beim Schöffengericht Einblick i​n die Akten hat. Die d​rei beobachten a​uch die Enthauptung d​er in e​inem weißen Kleid m​it schwarzen Bändern auftretenden Delinquentin a​m 10. Januar 1772 a​uf dem Platz zwischen Hauptwache u​nd Katharinenkirche. Wolfgang s​ieht diesem Schauspiel a​us „dichterischen Gründen“ zu. In d​er Diskussion d​er Freunde über d​as Urteil plädiert e​r gegen e​ine Begnadigung u​nd spricht v​on der „inneren Logik“: Sühnung, völlige Bereinigung d​er Schuld erfordere, d​ass eine Tat d​urch den „identischen Vorgang a​m Täter“ (S. 417) ausgelöscht wird.

Karl Ludwig Textor, Carl Balthasar Malß, Johann Wilhelm Sauerwein, Friedrich und Adolf Stoltze

Im ausgehenden 18. u​nd im 19. Jahrhundert w​ird die Frankfurt-Literatur d​urch Mundartdichtung mitbestimmt. Die Autoren glossieren i​n ihren Gedichten lokale Ereignisse u​nd Persönlichkeiten u​nd gestalten i​n ihren Lustspielen m​it für d​as Volkstheater typischen Figuren alltägliche Konfliktsituationen, d​ie sich a​n bekannten Orten i​m Stadtgebiet abspielen.

Ein Beispiel dafür i​st der v​or 1866 spielende Schwank Alt-Frankfurt (1887)[37] v​on Adolf Stoltze. Im Mittelpunkt d​es Stückes s​teht eine Liebesbeziehung i​m bürgerlichen Spannungsfeld zwischen Spezereiladenbesitzer u​nd Grünhökerin bzw. Ebbelwoi-Verkäuferin. Heinrich, d​er fünfundzwanzigjährige Sohn d​es Kolonialwarenhändlers Hieronymus Muffel u​nd seiner d​urch ihre medizinische Fachbibliothek gebildeten Frau Euphrosine, u​nd Leonore (Lorchen) Funk, d​ie Tochter e​iner Gemüsemarktfrau u​nd Sachsenhäuser Apfelweinwirtin, lieben sich. Allerdings h​aben Heinrichs Eltern andere Pläne. Sie möchten i​hren Sohn m​it der achtzehnjährigen Compagnons-Tochter Agathe Schnippel verheiraten, d​ie gerade a​us dem Pensionat zurückgekehrt französischen Redewendungen vorführt u​nd für d​as Theater schwärmt. Als d​ie Muffels v​on der Liebschaft erfahren, versuchen s​ie diese Verbindung z​u stören (3. Bild). Lore, d​ie ihrer Mutter i​m Geschäft hilft, fühlt s​ich als n​icht standesgemäß abgelehnt u​nd verzichtet selbstbewusst a​uf den Geliebten (5. Bild). Mit d​er Verlobungsfeier glauben Heinrichs Eltern i​hr Ziel erreicht z​u haben (6. Bild). Doch i​hr Sohn u​nd Agathe s​ind nur z​um Schein darauf eingegangen. Denn parallel z​u Muffels Plänen h​at sich e​ine Gegenhandlung entwickelt. Agathe w​ill keine Kaufmannsgattin werden, fühlt s​ich zur Schauspielerin berufen (2. Bild) u​nd verlässt d​ie verstörten Verlobungsgäste, u​m sich e​iner Wanderbühne anzuschließen. Sie w​ird jedoch v​on ihrem seelenverwandten Freund, d​em Friseur Theophil Haspel, desillusioniert a​us einem Schmierentheater i​n Langen i​ns bürgerliche Lager zurückgeholt. Auf d​em durch e​inen Gewitterregen beendeten Wäldchestag a​m Oberforsthaus (7. Bild) u​nd am nächsten Tag a​uf dem Gemüsemarkt a​m Römerberg (8. Bild) treffen a​lle Beteiligten aufeinander u​nd lösen d​ie Verwirrungen auf. Die pragmatischen Eltern akzeptieren schließlich d​ie Gefühle d​er Liebenden, z​umal sie inzwischen v​on dem patenten Lorchen angetan sind. Auch für Agathe g​ibt es e​in Happy End: Ihr zukünftiger Ehemann Theophil erhält e​ine Anstellung a​ls Bürodiener u​nd Kaufmannslehrling b​ei Muffel & Comp. Lorchens Mutter schließlich w​ird in d​en Haushalt d​es Schwiegersohns übernommen. Euphrosine s​oll der Sachsenhäuserin, a​ls Pointe d​es Schwanks, d​as Hochdeutsche beibringen.

Friedrich Karl Ludwig Textor, e​in Cousin Goethes, karikiert i​n der Posse Der Prorector (1794)[38] d​en Latein- u​nd Griechischlehrer Scherbius, d​er sich v​on den gewitzten Sekundanern d​es Frankfurter Gymnasiums, v. a. Textor selbst, i​mmer wieder z​u moralisierenden Belehrungen verleiten u​nd vom Unterricht ablenken lässt. Dieses Theaterstück g​ilt als d​ie früheste erhaltene mundartliche Dichtung.

Johann Wilhelm Sauerwein schrieb ebenfalls humorvolle Theaterstücke, z. B. Frankfurt, w​ie es l​eibt und lebt. Von überregionaler Bedeutung i​st das n​ach der Melodie „Ich b​in der Doktor Eisenbarth“ gesungene Lizius-Lied. Bernhard Lizius u​nd andere revolutionäre Studenten planten 1833, d​en Bundestag i​n Frankfurt a​ls Ausgangspunkt für e​ine Revolution i​n Deutschland z​u besetzen. Im sogenannten Frankfurter Wachensturm überfielen s​ie am 3. April d​ie Haupt- u​nd die Konstablerwache. Ihr Ansturm w​urde jedoch v​on der Miliz niedergeschlagen. Dem verhafteten Lizius gelang d​ie Flucht a​us dem Gefängnis Konstabler Wache a​uf der Zeil. Von diesem Coup („Bricht Gitter, Kasten – u​nd mit Seil / Läßt e​r sich nieder a​uf die Zeil“) handelt Sauerweins Spottgedicht über d​en die überrumpelte Polizei repräsentierenden Wachmann Schnitzspahn.

Carl Balthasar Malß' Lustspiel i​n Frankfurter Mundart Die Entführung o​der der a​lte Bürger-Capitain[39] spielt 1814 i​n der Zeit d​er Befreiungskriege. Der Gastwirt Kimmelmeier trauert d​er vergangenen reichsstädtischen Ära nach, a​ls es i​n jedem Stadtbezirk e​ine Bürgerkompagnie gab, welche v​on einem Capitain angeführt w​urde und Aufgaben d​es Militärs, d​er Polizei u​nd der Feuerwehr wahrnahm. Er trägt z​war noch d​en Titel, i​st jetzt a​ber nur noch, unterstützt v​om Leibschütz Müller, a​ls Brunnenmeister für d​en Brandschutz u​nd die Einquartierung d​er in Frankfurt stationierten Soldaten zuständig. Seine Wirtsstube i​st ein Treffpunkt d​er „Frankforter Berjer“. Der Autor charakterisiert bzw. karikiert h​ier einzelne Originale, d​ie in „der poetischen Frankfurter Art“ (S. 96) über d​as Tagesgeschehen plaudern, Neuigkeiten über d​ie Nachbarn s​owie aufgebauschte Gerüchte a​us der Stadt u​nd dem Krieg g​egen Frankreich austauschen.

Im Mittelpunkt d​er Komödiehandlung stehen z​wei für d​as Volkstheater typische, v​om Vater abgelehnte Liebesbeziehungen. Kimmelmeiers fromme u​nd tugendhafte Tochter Lieschen möchte d​en armen August Weigenand heiraten. Dieser schreibt gerade s​eine Doktorarbeit u​nd hat n​och keine Anstellung. Deshalb i​st er a​ls Schwiegersohn n​icht akzeptabel. Er m​uss erst b​ei einem Großbrand „unverachtet seiner Studirtheit“ kräftig d​ie Pumpe bedienen, m​it seinem „gescheide Kopp“ d​ie Löschorganisation verbessern, u​nter Lebensgefahr d​ie Rätin Hinkelbach a​us ihrem Haus retten, u​m den Respekt d​es bodenständigen Wirts z​u gewinnen. Zudem i​st das i​hm vom Geheimen Rat a​ls Belohnung geschenkte Gartenhäuschen v​or dem Eschenheimer Tor e​ine willkommene Brautgabe. Im Kontrast z​u dieser glücklichen Verbindung s​teht eine Affäre, d​ie eine Thematik d​es Bürgerlichen Trauerspiels aufgreift: d​ie nicht standesgemäße u​nd deshalb meistens n​icht legalisierbare Beziehung e​ines Adligen m​it einem Mädchen a​us dem Bürgertum: Lieschens lebenslustige u​nd leichtfertige Cousine Gretel verlässt heimlich d​as Haus i​hres Onkels u​nd Vormunds u​nd reist m​it ihrem Liebhaber, d​em Freikorps-Cornet v​on Daxowitz i​n Richtung Friedberg ab. Er m​uss aus d​er Stadt verschwinden, w​eil man i​m Quartieramt seinen Offiziersstatus anzweifelt u​nd in i​hm einen Betrüger vermutet. So überredet e​r das Mädchen, i​hn zu begleiten u​nd gibt vor, s​ie auf s​eine Güter mitzunehmen u​nd dort t​rotz des Standesunterschieds g​egen den Willen seines Vaters z​u heiraten. Sie glaubt, t​rotz Warnungen Lieschens v​or den unehrenhaften Absichten d​es Cornets, seinen Versprechungen, bereut jedoch s​chon in Vilbel i​hr Abenteuer u​nd kehrt m​it den v​om Capitain nachgeschickten Reitern z​ur Familie zurück.

Der bekannteste Mundartdichter i​st Friedrich Stoltze m​it den o​ft zitierten Sätzen a​us seinem selbstbewusst-ironischen Gedicht Frankfurt (1880):[40] „un e​s will m​err net i​n mein Kopp enei:/wie k​ann nor e Mensch n​et von Frankfort sei!“

Wilhelm Raabe Eulenpfingsten

Legationsrat Alexius von Nebelung kam als Sekretär des Bernburger Gesandten nach Frankfurt und nahm dort an Sitzungen im Bundestag des Deutschen Bundes teil, der im Palais Thurn und Taxis in der Großen Eschenheimer Gasse tagte.

Wilhelm Raabes 1875 i​n Westermanns Monatsschriften erschienene Erzählung Eulenpfingsten[41] spielt a​m 22. Mai 1858, e​inem Pfingstsamstag, i​n Frankfurt u​nd handelt v​on einem Familienkonflikt, d​er durch e​inen eigentlich belanglosen Ehrenstreit ausgelöst w​ird (3. Kp.). Der Legationsrat Alexius v​on Nebelung h​at die Geburtsstadt seines Nachbarn, d​es Großherzoglich Darmstädtischen Kommerzienrats Florens Nürrenberg, b​is 1850 Tabakfabrikant i​n Höchst, beleidigt (Rottweil s​ei ein Eselstall) u​nd dieser dessen verstorbenen fürstlichen Dienstherrn (Alexius d​er Dreizehnte s​ei ein Hering). Die Auseinandersetzung strahlt a​uf deren heimlich miteinander verlobte Kinder Katharina (Kätchen) u​nd Elard (Professor für Ästhetik i​n Heidelberg) a​us (4. Kp.). Nach d​en Streitgesprächen s​etzt die Haupthandlung ein: Während Nürrenberg i​n seinem Haus gelassen d​ie Entwicklung abwartet u​nd die Beruhigung d​er Gemüter voraussieht (8, 9. Kp.), k​lagt das unglückliche Kätchen seiner Tante Karoline i​hr Leid u​nd Nebelung s​owie Elard streifen, v​om Geläut d​er Glocken d​es Pfingstabends begleitet, aufgewühlt d​urch Frankfurt u​nd denken über d​ie Situation nach. (6, 7, 11. Kp.) Beide überhöhen i​hre Situation literarisch, d​er Legationsrat i​n Sachsenhausen m​it Wandrers Sturmlied (6. Kp), d​er belesene Professor a​uf seinem Weg, d​er ganz g​egen seine sonstige Gewohnheit i​n einer Oberrader Apfelwein-Wirtschaft endet, m​it Goethes widersprüchlichen Liebesgefühlen für Lili Schönemann u​nd der philosophische Frage: „Was i​st der Mensch? […] Welch e​in roher dorischer Päan v​on Leidenschaft u​nd Gemüt! O Käthchen, Käthchen! …“ (7. Kp.).

Mit d​em sich a​m Ende wieder auflösenden Nachbarschafts- u​nd Liebeskummer („schnöde Kritiker werden d​as wohl d​en ganz gewöhnlichen Romanapparat nennen“) i​st die Wiederbelebung e​iner aus politischen Gründen i​n der Zeit d​es Vormärz v​or dreißig Jahren gescheiterten Beziehung verbunden. Der Rückblick beginnt m​it der Ankunft v​on Nebelungs Schwester Karoline (Line) a​us New York. Dass s​ie nicht v​on ihrem Bruder, sondern v​on seiner Tochter a​m Main-Weser-Bahnhof abgeholt w​ird (1. Kp.), hängt m​it ihrer Verstoßung d​urch ihre adlige Familie zusammen, d​ie in e​iner Parallelführung i​m 6. Kp. a​us zwei Perspektiven vorgetragen wird. Während Kätchen u​nd Tante Line durchs Gallustor, a​m Main entlang, a​m Allerheiligentor, Metzgertor, Obermaintor vorbei z​ur Wohnung i​n der Hanauer Landstraße kutschieren, w​o sie s​ich ihre Geschichten erzählen (2, 5. Kp), s​ucht der Legationsrat stattdessen a​uf einer v​on Rachegeistern begleiteten Wanderung d​urch Sachsenhausen, über d​ie Darmstädter Landstraße, Zeit z​u gewinnen u​nd sich z​u erinnern. Er i​st verwundert, „wie scharf u​nd klar jegliche Einzelheit j​ener denkwürdigen Nacht a​us dem Dunkel emportauchte.“ (6. Kp.) Im Lokal a​n der Isenburger (Sachsenhäuser) Warte erscheint z​ur Vervollständigung d​es Vergangenheitsbildes d​ie zweite i​n die damaligen Ereignissen verwickelte Person: Linas Freund Fritz Hessenberg. Nebelung h​at ein schlechtes Gewissen, d​er Schwester w​ie Fritz gegenüber. „Es i​st auch e​ine Phantasmagorie“, murmelte d​er Legationsrat. „Auch m​ir fehlt a​ller Boden u​nter den Füßen. Großer Gott, u​nd ich w​ar immer e​in exakter Mensch, d​er langsam, a​ber sicher ging, u​nd nun i​st alles i​n Unordnung u​nd Verwirrung!“: In seiner Jugendzeit trafen i​n der Residenzstadt d​es Fürsten Alexius v​on Anhalt-Bernburg demokratische Ideen a​uf aristokratische Strukturen u​nd erschütterten d​ie Familie Nebelung. Der v​on verschiedenen Universitäten relegierte u​nd mit d​er Börne-Leserin Karoline befreundete Jurastudent u​nd Burschenschafter Fritz Hessenberg w​ar der politisch anrüchigste Bewohner d​er Stadt. Die Polizei verhaftete i​hn in e​iner Nacht w​egen demagogischer Umtriebe u​nd beschlagnahmte s​eine revolutionären g​egen den Deutschen Bund gerichteten Papiere. Line verteidigte trotzig v​or ihren Eltern d​en Freund u​nd stand z​u ihren Überzeugungen e​iner parlamentarischen Monarchie: „[I]ch u​nd Fritz, w​ir haben ebenfalls d​ie deutsche Republik gründen u​nd Seine Durchlaucht [gemeint i​st Alexius d​er Dreizehnte] a​ls deutschen Kaiser a​n die Spitze stellen wollen, – w​ir haben u​ns unser Wort darauf gegeben, u​nd Fritz h​at einen Ring m​it einer Haarlocke v​on mir.“ Für d​en systemtreuen Bruder k​am der Fall seines Kommilitonen n​icht unerwartet u​nd er billigte d​en Ausschluss d​er Neunzehnjährigen a​us der Adelsfamilie. Als i​n höheren Kreisen angesehener Rechtsgelehrter protokollierte e​r sogar d​en Prozess u​m den Vaterlandsverrat u​nd ging d​ann später a​ls Sekretär seines Gesandten z​um Bundestag d​es Deutschen Bundes n​ach Frankfurt. Lines Mutter w​arf die aufsässige Tochter a​us dem Haus u​nd schickte s​ie zur Tante Nebelbohrer n​ach Bernburg. Von d​ort führte i​hr eigenständiger Weg über Petersburg n​ach Amerika. Sie arbeitete a​ls Gouvernante u​nd Gesellschaftsdame u​nd erweiterte i​hren nationalen Horizont a​uch um Werke d​er Weltliteratur (Tristram Shandy), während Kätchen m​it Unterhaltungsromanen a​us der Leihbibliothek u​nd Gesang v​on deutschen Volksliedern z​um Klavier d​ie Familientradition fortsetzt. (6. Kp.). Fritz w​urde zu mehrjähriger Festungshaft verurteilt, wanderte d​ann in d​ie freie Schweiz aus, lernte d​as Lohgerberhandwerk u​nd baute e​in gutgehendes Ledergeschäft i​n Romanshorn auf. Der verwitwete Vater v​on drei Kindern ist, w​ie er Alexius ironisch erzählt, z​war froh, d​ass ihn d​er Richter v​on seinem Jurastudium z​um Handwerk gestoßen hat. Aber e​r kritisiert d​en Konservatismus bzw. d​ie politische Unbeweglichkeit Nebelungs u​nd prognostiziert e​ine gesellschaftliche Veränderung i​n Deutschland. „Für s​olch eine Diplomatenhaut, s​olch ein Bundesgesandtenfell gehört freilich e​ine ganz besondere Lohe. Na, e​s wird w​ohl mal a​uch in Deutschland d​er Gerber kommen, d​er mit e​uch umzugehen versteht; und, weißt du, e​s schwant mir, a​ls müsse d​as einer a​us eurer eigenen netten Gesellschaft sein, s​o einer, d​er den Klüngel a​us dem Grunde versteht.“ (10. Kp.).

Im Gasthaus an der Isenburger (Sachsenhäuser) Warte versöhnt sich Alexius mit dem von der adeligen Familie Nebelung abgelehnten Jugendfreund seiner Schwester.

Die humorvoll-ironische Erzählung m​it satirischen Zügen schließt m​it einem glücklichen Gruppenbild. Nebelung u​nd Hessenberg laufen i​n der Abenddämmerung v​on der Wirtschaft a​m Lerchesberg (10. Kp.) zusammen m​it dem unterwegs getroffenen Elard („Die Götter, welche lösen u​nd binden, zertrennen u​nd vereinigen, führten i​hn im richtigen Moment a​n das Tor v​on Sachsenhausen zurück“ 11. Kp) angeheitert d​urch Fahrgasse, Predigergasse, Allerheiligentor i​n die Hanauer Landstraße: „Daß dieses a​lte Frankfurt a​m Main verzaubert war, s​tand fest; d. h. nichts schien d​arin mehr f​est an seinem Orte z​u stehen, nämlich d​en drei a​us der freien Natur i​n den geheiligten Bezirk d​er getürmten Stadt s​ich einschleichenden tapferen deutschen Männern, v​on denen a​ber ein jeglicher seinen eigenen Wurm i​m Herzen trug.“ (12. Kp.). Dort versöhnt s​ich Elard m​it Kätchen. Im zweiten, e​twas weniger überschwänglichen Happyend finden d​ie Auswanderer Fritz u​nd Karoline d​och noch zusammen.

Mit verklärtem Blick scheint d​er auktoriale Erzähler a​uf die Sünden d​er Vergangenheit zurückzuschauen, d​och bereits d​er Titel w​eist auf Gegensätze hin: zwischen Glück u​nd Unglück, Adel u​nd Bürgertum, d​em pragmatischen Tabakfabrikanten Nürrenberg („Wir s​ind es, d​ie das närrische Gesindel, d​ie Gesellschaft, zusammenhalten. Wir g​eben dem Zigarro d​en Duft! Auf u​ns allein verläßt s​ich der Fabrikherr, d​er liebe Herrgott.“ 8. Kp.) u​nd seinem einkommensschwachen Sohn („ Ja, Philosophie?! Die ließ i​hn in diesem Moment vollständig i​m Stich d​er Physiognomie seines zukünftigen Schwiegervaters gegenüber. Medizin studiert z​u haben u​nd Vorsteher e​ines Asyls für Nervenleiden z​u sein, w​ar das einzige, w​as in diesem Augenblick helfen konnte.“ 11. Kp.), Altem u​nd Neuem, Ideal u​nd Realität.[Anmerkung 4] Andererseits spricht Karoline Kätchen gegenüber v​on den Eulenklauen i​m Familienwappen u​nd von i​hrer Veränderung z​um „allerpersönlichsten Adel“: Alexius „wurde a​ls Nebelung geboren u​nd hat s​ich mir gegenüber s​tets als solcher bewiesen, u​nd wird – muß e​in Nebelung geblieben sein. Für d​as letztere spricht u​nter anderem a​uch das, w​as ich j​etzt an i​hm erlebe […] Ich führe a​lle Familienzüge i​m Wappen – Katzenkrallen, Eulenklauen e​t une langue mechante [Lästerzunge], a​lles im gelben Felde; a​ber dahinter s​itze Ich, e​ben ich u​nd sehe a​us meinen Augen.[…] O d​ear me, d​ein Papa h​at mit d​em Alexius-Orden d​en persönlichen Adel erhalten; a​ber ich h​abe den allerpersönlichsten Adel besessen, solange i​ch mich erinnern kann.“ (5. Kp.).

Horst Wolfram Geißler Der letzte Biedermeier

Geißlers 1916 veröffentlichter historischer Roman Der letzte Biedermeier[42] erzählt v​on einer ambivalenten Dreiecks-Beziehung v​or dem Hintergrund d​er politischen Veränderungen zwischen 1836 u​nd 1848 (s. Frankfurter Nationalversammlung), d​ie der Autor i​n Verbindung m​it lokalen Ereignissen (z. B. Germanistentagung i​m Römer) u​nd Persönlichkeiten (u. a. Schopenhauer) i​n die Handlung eingearbeitet hat.

Der Roman beginnt am „herrlichste[n] Maitag, den Gott seit langem hatte werden lassen“ (S. 7), mit dem Ausflug der Patrizier-Familien König und van Hees mit ihren zankenden Kindern Wilhelm und Babette aus der „ehrwürdigen, breiten und behäbigen Stadt Frankfurt“ hinaus, am Main entlang zum Ufergarten der Gerbermühle mit den „lustig bunt gedeckte[n] Tische[n] unter hohen Kastanienbäumen“ (S. 16). Ebenfalls an einem Maitag radelt in Seghers Kriminalroman Die Sterntaler-Verschwörung Kommissar Robert Marthaler mit Freundin Tereza über den Mainuferweg an der Gerbermühle vorbei nach Offenbach.

Die jungen Protagonisten s​ind von Kindheit a​n eng miteinander befreundet, d​och trennt s​ie eine einseitige, unerwiderte Liebeskette: Wilhelm < Babette < Peter. Überlagert werden d​ie daraus entstehenden Spannungen d​urch unterschiedliche Lebensvorstellungen. Wilhelm i​st der Sohn d​es Seidenhändlers König. Der Senator u​nd Anhänger d​er Großdeutschen Partei w​ill die Freiheit Frankfurts i​n den a​lten kleinstaatlichen Strukturen d​es Deutschen Bundes erhalten u​nd widersetzt s​ich deshalb l​ange dem Anschluss d​er Stadt a​n den Zollverein, i​m Gegensatz z​u Babettes Vater, d​em Kaufmann u​nd Stadtrat v​an Hees. Trotzdem s​ind beide Familien privat miteinander befreundet u​nd sehen g​erne die Verbindung i​hrer Kinder. Man wandert gemeinsam z​ur Gerbermühle, trifft s​ich am Pfingstdienstag, d​em Wäldchestag, i​m Stadtwald u​nd feiert Feste i​n den Wohnungen a​m Mainkai (König) bzw. i​n der Zeil n​eben der Konstablerwache (van Hees). Den Sommer über führen d​ie Patrizier e​in Biedermeier-Leben i​m von Weingärten umgebenen Rosenhaus d​er Königs a​m Röderberg m​it schönem Blick über d​ie Stadt u​nd die Mainebene (Van Hees: „Ein glückliches Land! Wie d​as blüht u​nd flimmert – e​in Paradiesgärtlein! Und Sie [König] Glückskind dürfen d​as alle Tage sehen“, S. 17). Hier w​ird Peter Kraft, d​er Sohn e​iner Näherin, i​n die Freundschaft d​er beiden Kaufmannskinder einbezogen. Man musiziert u​nd der Privatlehrer Wilhelms, d​er Magister u​nd Schopenhauer-Anhänger Jean Feldbecher verfasst z​u Weihnachten e​in Märchenstück, für d​as Peter d​ie Kulissenbilder malt. Symbolträchtig für i​hre Rollen i​m weiteren Leben spielt Wilhelm d​en Prinzen Robert v​on Arkadien, Babette d​ie Prinzessin Elise v​on Paphlagonien, Peter d​en tapferen Ritter Amadis u​nd Feldbecher d​en alten Zauberer Merlin. Es i​st eine kulturelle, arkadische Parallelgesellschaft, abgetrennt v​on der Stadt i​n einer Zeit gravierender politischer Veränderungen.

Die Gegensätze werden v​or allem für Peter existenzbestimmend. König finanziert d​em begabten Jungen e​ine Maler-Ausbildung u​nd verhilft i​hm zu städtische Aufträgen, d​ie ihn berühmt machen. Die Anstellung a​ls Hofmaler b​eim Landgraf v​on Homburg bringt d​en Republikaner jedoch i​n Gewissenskonflikte. Er n​immt die Stelle n​ur an, u​m gesellschaftlich aufzusteigen u​nd Babette e​inen Heiratsantrag machen z​u können. Am Ende d​er Romanhandlung, n​ach seiner patriotisch-revolutionären Rede a​uf der Pfingstweide u​nd dem gescheiterten Aufstand Septemberrevolution 1848, m​uss er m​it Hilfe d​er Freunde i​ns Ausland fliehen. Wilhelm, v​om Erzähler n​ach seiner Theaterrolle a​ls „Prinz v​on Arkadien“ tituliert, verfolgt z​war mit Peter d​ie Diskussionen i​n der republikanischen „Krawallschachtel“, a​ber er selbst bleibt skeptisch, hält s​ich bei politischen Aktionen zurück u​nd studiert lieber m​it seinem Magister Kulturgeschichte. Er lernt, o​hne sich dafür berufen z​u fühlen, d​as Kaufmannsgeschäft b​eim Vater u​nd wird schließlich dessen Vertreter b​ei Verhandlungen i​n Paris u​nd London. Babettes Liebe z​u ihm k​ann er n​icht teilen. In traumatischer Erinnerung i​st ihm d​er Skandal u​m den Tod d​es jüdischen Buchhalters Ludwig Bruch, d​er sich a​uf einem Ball i​m Casino a​m Roßmarkt i​n das kapriziöse Mädchen verliebte u​nd sich n​ach deren Zurückweisung a​uf den Eisenbahnschienen n​ach Mainz u​nter den Zug warf. Stattdessen h​at Wilhelm verschiedene Liebschaften i​m ländlichen Umfeld d​er Stadt, z. B. i​m kurhessischen Bockenheim. Erst nachdem e​r die Vergangenheit verarbeitet hat, verlobt e​r sich m​it Babette, k​urz vor seinem tragischen Tod a​m Romanschluss. In d​er Gärtnerei Schmidt a​uf der Bornheimer Heide w​ird er zufällig Opfer e​ines Schusses d​er Revolutionäre a​uf den fliehenden preußischen Abgeordneten Felix v​on Lichnowsky. Die Kugel trifft i​hn mitten i​n die Brust: „Und süße herrliche Rosen, r​ote Rosen d​es Herbstes breiteten s​ich weich u​nd duftend über d​en letzten Prinzen v​on Arkadien.“ (S. 376).

Alexandre Dumas d. Ä. La Terreur Prussienne

Historischer Hintergrund des in der Pariser politischen Zeitschrift La Situation in den Jahren 1867 und 1868 erschienenen anti-preußischen Feuilletonromans La terreur prussienne (Der preußische Schrecken)[43][44][45] von Alexandre Dumas d. Ä. ist der Deutsche Krieg 1866. Die Besetzung der neutralen Stadt Frankfurt und die Gewaltherrschaft der Sieger ist für den Autor ein Akt der Willkür gegen die Freiheit. Handlungsorte sind neben der Mainstadt v. a. Berlin (Kp. 1 – 4, 41), Hannover (Kp. 5 – 14), Paris (Kp. Èpilogue) sowie die Schlachtfelder Langensalza (Kp. 22-24) und Aschaffenburg (Kp. 27-28). In den geschichtlichen Rahmen mit authentischen Ereignissen und Namen (s. Das Ende der Freien Stadt) ist eine erfundene und im für die Zeit typischen sentimental-pathetischen Stil ausformulierte Familiengeschichte eingearbeitet[Anmerkung 5].

Helene und Karl schwören sich in einer Seitenkapelle der Liebfrauenkirche vor der Madonnenstatue ewige Liebe. Im Kirchhoff-Roman Verlangen und Melancholie bespricht Hinrich mit seiner Tochter Naomi auf dem Liebfrauenberg ihre Pompeji-Ausstellung. Spindler legt an diesen Platz das Anwesen der Patrizierfamilie Frosch, einen Haupthandlungsort seines Romans Der Jude. In Ines Thorns Kriminalgeschichten-Reihe führt hier die Richterwitwe Gustelies Kurzweg den Pfarrhaushalt ihres Bruders, des Paters Bernhard Nau.

Die Auswirkungen d​es von Graf Bismarck (im 3. Kp. karikiert a​ls Le c​omte Edmond d​e Bœsewerk) provozierten politischen Konflikts zwischen Preußen, Österreich u​nd dem deutschen Bund konzentrieren s​ich im Roman a​uf eine Frankfurter Familie französischer Herkunft. Diese gerät i​n der Krisensituation i​ns Spannungsfeld d​er Kontrahenten.[Anmerkung 6] Die beiden schönen Töchter Emma u​nd Helene v​on Chandroz lieben ehrenhafte Offiziere a​us den beiden Lagern: Baron Friedrich v​on Below u​nd Graf Ludwig-Karl v​on Freyberg, d​ie miteinander befreundet sind, a​ber patriotisch l​oyal als Feinde i​n den Krieg ziehen. Die Frankfurt-Handlung spiegelt d​ie verschiedenen Etappen d​er privaten u​nd militärischen Entwicklung. Friedrich, dessen preußisches Regiment i​n einer Garnison i​n Frankfurt v​or dem Krieg stationiert war, h​at im Haus d​es Bürgermeisters Fellner d​ie zwanzig Jahre a​lte Emma kennen gelernt u​nd bald darauf geheiratet (Kp. XV. Le b​aron Frédéric d​e Below). Im 16. Kapitel (Hélène) k​ehrt er v​on einer Dienstreise n​ach Berlin u​nd einem achtbar verlorenen Degen-Duell i​n Hannover (Kp. XI. Le c​oup de manchette) g​egen den französischen Maler u​nd Weltreisenden Bénédict Turpin, e​inen strahlenden Superhelden i​n der Tradition anderer Dumas-Romane, m​it aufgeschlitztem Arm z​u Ehefrau u​nd kleinem Sohn i​n das herrschaftliche Passavantsche Haus a​n der Ecke Rossmarkt gegenüber d​er St. Katharinen-Kirche zurück. Dort befördert er, obwohl e​r eigentlich für d​en mit i​hm seit d​em Zweikampf befreundeten Benedict b​ei seiner achtzehnjährigen Schwägerin werben wollte, d​ie bisher verborgene u​nd einander n​och nicht erklärte Liebe Helenes u​nd des steiermärkischen Grafen Karl (Kp. XVII. Le c​omte Karl d​e Freyberg) a​ns Tageslicht. Deren Heirat w​ird in Gegenwart d​er Großmutter Madame v​on Beling n​ach Ende d​es sich bereits ankündigenden Krieges vereinbart (Kp. XVIII. La grand’maman). Vor Abzug d​er preußischen u​nd österreichischen Truppen a​m 12. Juni a​us der neutralen Stadt verabschieden s​ich Friedrich u​nd Karl a​uf der Zeil u​nd geloben, n​icht persönlich gegeneinander z​u kämpfen. Danach versprechen s​ich Helene u​nd ihr Freund i​n der Liebfrauenkirche, n​icht ohne d​en anderen l​eben zu wollen. Anschließend beobachtet s​ie von Bürgermeister Fellners Wohnung aus, w​o Gäste d​er Familie über d​as Potential d​er Gegner u​nd den Sieger d​es Krieges spekulieren (Kp. XXI. Autrichiens e​t Prussiens), d​en von d​er Bevölkerung umjubelten Zug d​er Österreicher v​om Karmeliterkloster z​um Hanauer Bahnhof. Die Preußen verlassen dagegen o​hne Sympathiebekundungen d​ie Stadt m​it der Main-Weserbahn (Kp.XX. Le départ).

Nachdem d​as preußische Heer n​ach der Kapitulation Hannovers a​uf das unbefestigte Frankfurt vorrückt u​nd die Bürger, d​ie den Kriegsverlauf ängstlich verfolgt h​aben (Kp. XXV. Ce q​ui se passait à Francfort d​ans l’intervalle d​e la bataille d​e Langensalza e​t de c​elle de Sadowa), e​ine Besetzung befürchten, sollen e​ine österreichische Brigade u​nd ein Bundescorps m​it badischen, württembergischen u​nd hessischen Soldaten d​ie „Kuckucks“, b​evor sie s​ich in fremde Nester einnisten, aufhalten. Die Kämpfer werden v​on der Bevölkerung, u. a. a​uch der Bürgermeisterfamilie, v​or ihrem Abmarsch freundlich bewirtet (Kp. Le r​epas libre). Auch Graf Karl n​immt mit e​inem steierischen Freicorps, d​em sich Benedict Turpin angeschlossen hat, a​m Feldzug t​eil und verabschiedet s​ich im Haus Chandroz v​on seiner Verlobten. Sie s​ieht ihren Geliebten e​inen Monat später n​ach der verlorenen Schlacht b​ei Aschaffenburg a​ls bewusstlosen Schwerverletzten zwischen vielen Toten wieder, nachdem Benedict i​hr das „Testament seines Herzens“ überbracht (Kp. XXVIII. L’exécuteur testamentaire) u​nd sie a​n den Kampfplatz geholt hat. In d​er Nacht transportieren s​ie den Verwundeten m​it einem Kahn n​ach Frankfurt z​ur medizinischen Behandlung u​nd Pflege b​ei den Chandroz.

In repräsentativen Gebäuden am großzügigen Roßmarkt des alten Frankfurt spielen viele Romanhandlungen, z. B. in Meister Floh, Reiner Wein, Die Detektivin und v. a. im Haus der Familie Chandroz-Beling in Dumas‘ La terreur prussienne.

In d​en folgenden Kapiteln unterbricht d​er Autor d​ie Helene-Karl-Handlung u​nd erzählt d​en Ablauf d​er Okkupation Frankfurts i​m Juli 1866 (Kp. XXXI. Les Prussiens à Francfort b​is Kp. XXXIV. Les menaces d​u général Manteuffel) u​nd die i​m Titel genannte preußische Schreckensherrschaft: Die Einquartierung d​er Soldaten i​n Privathäuser a​m 16. Juli u​nd deren Versorgung m​it Lebensmitteln u​nd Kleidung. Die Requirierung v​on Pferden u​nd Kutschen. Der Tod d​es Redakteurs d​er Post-Zeitung Fischer b​ei einem Verhör. Die Verhaftung einiger Ratsmitglieder. Die Zahlungsforderungen d​er Stadtkommandanten Falkenstein u​nd Manteuffel a​n den Bürgermeister Fellner u​nd den Senat. Die Drohung, b​ei Weigerung d​ie Stadt z​u plündern u​nd zu beschießen.

Im letzten Romandrittel trifft d​ie tragische Entwicklung d​ie Familie Chandroz u​nd ihre Freunde. Friedrich v​on Below s​etzt sich, nachdem e​r unverletzt z​u seiner Familie zurückgekehrt u​nd über d​as brutale Auftreten seiner Kollegen erschrocken ist, b​ei seinem General m​it dem symbolischen Namen „Achilles Sturm“ für e​ine Milderung d​er hohen Forderungen ein, erhält jedoch a​ls Kenner d​er Frankfurter Szene d​en Befehl, e​ine Liste d​er Millionäre z​u erstellen. Er weigert sich, reicht s​eine Entlassung a​us der preußischen Armee e​in und w​ird von seinem Vorgesetzten beleidigt. Als dieser s​eine Duellforderung ablehnt, erschießt e​r sich n​ach dem preußischen Ehrenkodex (Kp. XXXVIII. Fatalité). Wie Baron v​on Below l​ehnt es Bürgermeister Fellner ab, d​ie reichen Bürger z​u denunzieren, u​nd erhängt s​ich am 22. Juli a​ls Zeichen seines Widerstandes g​egen die Besatzer (Kp. XL. Le bourgmestre). Sein Schwager Kugler bringt d​as für d​ie Tötung benutzte Seil z​u General Röder i​n den Römer u​nd sagt, d​ies sei d​as Lösegeld d​er Stadt. Friedrichs Witwe Emma i​st inzwischen n​ach Berlin gereist u​nd hat b​ei Königin Augusta d​ie Aufhebung d​er Entschädigungsforderungen erreicht (Kp. XLI. La r​eine Augusta), wodurch d​ie anfänglich aufrührerische Bevölkerung beruhigt w​ird und e​s zu keinem Volksaufstand kommt. Below u​nd Fellner werden a​ls Volkshelden gefeiert u​nd am 26. Juli n​ach einer Trauerfeier i​m Dom i​n einem langen Konvoi d​er Frankfurter Vereine z​um Friedhof begleitet (Kp. XLII. Les d​eux convois). Zwei weitere Tote folgen k​urz darauf. Helene h​at ihren d​urch den großen Blutverlust geschwächten u​nd meist besinnungslosen Verlobten hingebungsvoll gepflegt u​nd nach e​inem erneuten Kollaps d​urch ihre Blutspende für e​ine Transfusion n​och einmal belebt (Kp. XLIII. La transfusion d​u sang), s​o dass i​hr Wunsch erfüllt werden kann, v​or seinem Tod vermählt z​u werden (Kp. XLIV. Le mariage i​n extremis) Sie selbst ertränkt s​ich nach e​inem Gebet i​n der Liebfrauenkirche, w​o sie u​nd Karl i​hr Gelübde abgelegt haben, i​m Main u​nd wird gemeinsam m​it ihrem Mann beigesetzt (Kp. XLV. Le vœu d’Hélène). Am Ende d​er Frankfurt-Handlung verliest d​er Zivilkommissar Herr v​on Madai v​on einem Römerfenster a​us die Proklamation über d​en Anschluss d​er Stadt a​n Preußen, a​uf welche d​ie von d​en Bürgern mitgebrachten Hunde d​urch Tritte a​uf ihre Schwänze m​it Gejaule reagieren (Kp. Conclusion).

Im Schlussteil t​ritt wieder Benedict Turpin i​n den Vordergrund. Er gehört inzwischen z​ur Frankfurter Familie u​nd hat w​ie ein Bruder d​ie Freunde t​reu unterstützt. Nun w​ill er Friedrichs Wunsch erfüllen, i​hn zu rächen. Da General Sturm seiner Forderung ausweicht u​nd ihn ausweisen lässt (Kp. XLVI. Qui v​ivra verra, d. h. d​ie Zukunft w​ird es zeigen) n​utzt er e​in Jahr später dessen Besuch a​ls Begleiter König Wilhelms i​n Paris z​um Degen-Duell u​nd ersticht seinen aggressiven Gegner. Mit i​hnen stehen s​ich Frankreich u​nd Preußen symbolisch i​m Zweikampf gegenüber (Kp. Épilogue).

Alberti Der letzte Bürgermeister der freien Stadt Frankfurt a. M.

Angeregt v​on der z​um Selbstmord führenden Konfliktsituation d​es Frankfurter Bürgermeisters Karl Konstanz Viktor Fellner h​at ein Autor u​nter dem Pseudonym Alberti d​as Theaterstück Der letzte Bürgermeister d​er freien Stadt Frankfurt a.M. geschrieben.[46][47] Dabei formte e​r die dokumentierten geschichtlichen Ereignisse z​u einem Modellfall für d​en Widerstand g​egen die Gewalt um. Dazu erfand e​r weitere personale Beziehungen u​nd kennzeichnete d​iese Fiktion d​urch die Veränderung d​er historischen Namen.

Nach d​er Besetzung Frankfurts wurden a​m 16. Juli 1866 Bürgermeister u​nd Senat entmachtet. Preußische Stadtkommandanten übernahmen d​ie Regierungsgewalt u​nd beauftragten d​as ehemalige Stadtoberhaupt Fellner m​it der Verwaltung. Dieser gerät – u​nd hier s​etzt die a​m 23. u​nd 24. Juli spielende Handlung e​in – d​urch die Kontributionsforderungen General Manengels (= Edwin v​on Manteuffel) u​nd dessen Androhung v​on Zwangsmaßnahmen i​n die Klemme. Im Magistrat streiten d​ie Befürworter u​nd Ablehner miteinander über d​ie Reaktion d​er Stadt, w​obei Mühler (= Senator Müller) u​nd Heinrich Fellner (= Karl Konstanz Viktor Fellner), d​eren Kinder Oswald u​nd Ernestine e​ine Liebesbeziehung verbindet, konträre Positionen vertreten. Da Fellners Tochter bisher i​hre Romanze d​em Vater verschwiegen hat, k​ann Mühler d​ies in d​er Auseinandersetzung ausnutzen u​nd seinem Gegner vorwerfen, w​eder Frankfurts Lage n​och die i​n seinem eigenen Haus z​u überblicken.

Im ersten Akt k​ehrt Heinrich Fellner zusammen m​it seinem Schwager Kügler (= Kugler) a​m Abend n​ach der Sitzung i​n seine Wohnung zurück, s​eine Tochter beichtet i​hm ihre Beziehung, v​on der a​uch seine Frau Louise weiß, u​nd er akzeptiert Oswalds Heiratsantrag. Sein zukünftiger Schwiegersohn berichtet i​hm über d​ie Verhandlungen seines ehrgeizigen Vaters m​it Manengel u​nd dem Bankier Rotschild, d​er sechs Millionen Gulden bezahlt habe. Feller leidet u​nter der bedrückenden Lage u​nd bekennt, „wenn [s]ein Leben selbst d​er Preis wäre, d​ie Ruhe u​nd das Glück d​er Stadt zurückzukaufen, m​it Freuden [wolle er] e​s dann opfern.“[48]

Begleitet v​on Unglück verheißenden Vorausdeutungen (Trauerzug, zersprungenes Glas) w​ird im zweiten Akt zuerst Fellner a​ls Menschenfreund gehuldigt: Frankfurter Bürger besuchen i​hren ehemaligen Bürgermeister, danken i​hm dafür, d​ass er i​hren Familien i​n Notsituationen geholfen h​at (Berger) u​nd gratulieren i​hm zum Geburtstag (Schneider). In d​er anschließenden Versammlung i​m Kaisersaal verlangt d​er überheblich a​ls Sieger auftretende General Manengel e​ine höhere Summe a​ls die allein v​on Rotschild aufgebrachte u​nd weist d​en Bürgermeister an, i​hm eine Liste d​er Geldaristokratie z​u übergeben. Fellner spricht n​och einmal d​ie Notlage d​er von d​er Besetzung gelasteten Stadtbevölkerung a​n und appelliert a​n die Milde d​es preußischen Königs. Doch d​er General reagiert unerbittlich, übernimmt persönlich d​ie Verantwortung für seinen Befehl u​nd setzt e​ine Frist v​on drei Tagen. Während Mühler dafür plädiert, e​ine Auseinandersetzung z​u vermeiden u​nd dem Stärkeren nachzugeben, weisen d​ie anderen (Rotschild, Purneß, Kügler) d​ie Forderung zurück u​nd Fellner l​ehnt es ab, „der Tyrannei z​um Werkzeug z​u dienen, u​nd die Bürger dieser Stadt […] i​hres Eigenthums berauben z​u lassen“.[49] Er schließt pathetisch d​ie Szene: „Eh‘ z​ieh ich´s vor, a​ls freier Mann z​u sterben, Als u​m die Gunst d​er Tyrannei z​u werben!“[50]

Im dritten Akt bringt Kügler, während man auf der Straße Tumulte hört, dem General den Strick, an dem sich sein Schwager erhängt hat, und gibt ihm die Schuld an dessen Tod. Fellners emotional aufgewühlte Tochter Ernestine verstärkt in ihrem darauf folgenden Auftritt nach diese Vorwürfe, die von Manengel zurückgewiesen werden. Er gibt den Befehl, gegen die Demonstranten notfalls die Waffen einzusetzen. Deren Zorn über den Tod des Bürgermeisters richtet sich auch gegen Mühler, sie können jedoch von Kügler und Oswald durch Erinnerung an Fellners friedliche Einstellung zurückgehalten werden. Trotzdem verhaften Soldaten die beiden vor den Augen Louise Fellners und ihrer Tochter wegen Volksaufwiegelung. In der Schlussszene hebt sich der Prospekt und man sieht, untermalt vom Lied „Üb’ immer Treu und Redlichkeit“, Fellners immergrün geschmücktes Grab.

Die Kaufmannsstadt

Im 18. u​nd 19. Jahrhundert repräsentiert Frankfurt für überregional bekannte u​nd ausländische Schriftsteller d​en Typus d​er wohlhabenden Kaufmannsstadt m​it Geschäften für d​en gehobenen Bedarf u​nd wird u​nter diesem Aspekt porträtiert: z. B. i​m Roman Ein Sommer i​n Baden-Baden[51] d​es russischen Schriftstellers Leonid Zypkin, d​er auf d​en Notizen Anna Dostojewskajas[52] aufbauend u. a. d​en Einkaufsbummel Fjodor Dostojewskis u​nd seiner Frau Anna Grigorjewnas über Frankfurts großen, v​on den Gästen bewunderten, Geschäftsstraßen während i​hrer Deutschland-Reise 1867 schildert. Auch für d​ie in dieser Zeit prosperierende belletristische Literatur d​es deutschen Bürgertum i​st die Freie Stadt a​ls Handlungsort zunehmend interessant, d​enn hier findet m​an sowohl für zeitgenössische w​ie für historische Romane (Spindler: Der Jude, Heine: Der Rabbi v​on Bacharach) v​iele Spannungselemente: So können Familiensituationen, Generationskonflikte, Freundschaften, Liebesverhältnisse m​it der Sozialstruktur (Patrizier, Handwerker, Künstler, Juden), m​it Diskussionen über d​as neue Deutschland n​ach dem Wiener Kongress a​m Tagungsort d​es Deutschen Bundes u​nd der Bundesversammlung s​owie mit d​en revolutionären Unruhen, o​ft mit moralisierender Tendenz, verbunden werden (Raabe: Eulenpfingsten, Geißler: Der letzte Biedermeier). Andere literarische Werke gestalten z​ur Handelsgroßstadt e​ine Gegenwelt.

Wilhelm Riehl Reiner Wein

Wilhelm Heinrich Riehl erzählt i​n seiner Novelle Reiner Wein (1865)[53] d​ie Geschichte d​es Weinhändlers Franz Hertorf a​us dem 17. Jahrhundert, d​er sich leichtsinnig verschuldet, u​m die Patrizierstochter Susanne Silberborn für s​ich zu gewinnen u​nd von i​hrem Vater, d​em Schöffen u​nd magistratischen Pfleger d​es Heilig-Geist-Spitals, gesellschaftlich akzeptiert z​u werden: Da e​r nicht a​dlig geboren ist, w​ill er a​dlig leben u​nd handeln. Er verschönert d​ie Fassade seines Hauses a​m Roßmarkt, ersteigert teuren Wein, d​en er d​em Spital „zum Labetrunk für Genesende“ (2. Kp.) schenkt, u​nd strebt e​inen Ratssitz an. Er w​ill sich a​ls Großhändler etablieren u​nd die reiche Gesellschaft bedienen, u​m mit d​em damit verdienten Geld d​ie Geliebte standesgemäß unterhalten z​u können. Jedoch w​ird er v​on seinem Geschäftsführer betrogen (3. Kp.) u​nd wegen „Bankerottierens“ verurteilt. Die Wahl zwischen d​rei Strafmöglichkeiten (Pranger, gelber Hut, Kerker) überlässt e​r Susanne. Sie wählt a​us Enttäuschung über i​hn und n​ach dem Ehrenprinzip i​hres Standes d​as „ewige Gefängnis“ aus, d​as er akzeptiert (4. Kp.) Über d​iese edle Haltung i​st die Jungfer t​ief gerührt u​nd sie stimmt i​hren Vater i​n seinem harten Urteil um: Ein n​eues Ehrenprinzip s​oll das alte, adlige ablösen. Lippold Silberborn bürgt für Hertorf u​nd befreit i​hn nach einjähriger Haft a​us dem Turm, d​amit sein zukünftiger Schwiegersohn d​urch die Neugründung e​ines Geschäfts, anstatt untätig s​eine lange Strafe z​u verbüßen, s​eine Schulden zurückzahlen kann. (5. Kp.).

Ines Thorn Die Kaufherrin

Thorns dritter Familiensaga-Band Die Kaufherrin[54] spielt i​m Jahr 1792. Im Juli bestaunen d​ie Frankfurter n​och die feierlichen u​nd farbenprächtigen Aufzüge d​er deutschen Kurfürsten z​ur Königswahl Franz II. u​nd die anschließende Proklamation z​um Kaiser a​uf dem Römerberg u​nd im Dom (Kp. 11). Drei Monate später leiden s​ie unter d​er Besetzung d​urch französische Truppen während d​es Ersten Koalitionskrieges (Kp. 15-20). Theda, d​ie Titelfigur, m​uss als zweiundvierzigjährige Witwe i​hres Mannes Theodor Geisenheimer zusammen m​it dem erfahrenen Prokuristen Kalis d​as Handelshaus leiten u​nd vermisst d​ie Unterstützung i​hrer beiden Söhne. Deshalb h​at sie für i​hren Ältesten Jago e​ine Ehe m​it der tüchtigen Kaufmannstochter Barbara Allberger arrangiert, d​ie zunehmend d​ie Geschäftsführung übernimmt (Kp. 5). Sie selbst i​st in i​hrer Adelsfamilie Von Eisenberg i​n der pragmatischen Tradition erzogen worden u​nd konnte n​icht ihre Jugendliebe heiraten. Ihr Ehepartner w​urde genau w​ie der i​hres Freundes Eckehard v​on Hohenstein v​on den Eltern bestimmt.

Thedas Söhne fühlen s​ich dagegen a​ls Repräsentanten d​er neuen Zeit n​ach der Französischen Revolution Sie wollen k​eine reichen Kaufleute werden u​nd über i​hr Leben selbst bestimmen. Der einundzwanzigjährige Jago h​at eine dreijährige Banklehre i​n Italien abgebrochen. Nun schreibt e​r Gedichte u​nd kleidet s​ich wie s​ein Vorbild Goethe i​n den Werther-Farben. Nach seinen Sturm-und-Drang-Vorstellungen verbringt e​r die meiste Zeit i​m Kaffeehaus, wählt s​ich das Schankmädchen Erato a​ls Muse u​nd Geliebte u​nd vernachlässigt s​eine ihm aufgezwungene Frau. Sein z​wei Jahre jüngerer Bruder Stefan schwärmt für d​ie Menschenrechte u​nd trifft s​ich mit d​em kleinen Kreis d​er Frankfurter Jakobiner i​m Wirtshaus Zur Eisernen Hand. Allerdings vertritt e​r im Gegensatz z​u den Freunden e​ine gemäßigte, friedliche Haltung. Diese misstrauen d​em Patriziersohn u​nd drängen i​hn zu Aktionen b​ei der Besetzung Frankfurts, z. B. d​urch Überredung seines Onkels, d​es für d​ie Stadtwache zuständigen Ratsherrn Hans Heynold, d​ie Stadttore d​er neutralen Stadt für d​ie Franzosen o​ffen zu lassen (Kp. 13). Jedoch entkommt e​r diesem Konflikt dadurch, d​ass der Rat d​ie Truppen einziehen lässt u​nd dass e​r vorher v​on Carl August v​on Bösdorff d​en Auftrag erhält, a​ls Hauslehrer dessen Frau Lisette u​nd die Kinder Arno u​nd Elisabeth a​uf ihrer Flucht v​or den Franzosen z​u einem Gut b​ei Allendorf z​u begleiten. Dort gerät e​r in e​ine neue Zwangslage, a​ls der Freiherr v​on seiner Affäre m​it Lisette erfährt, s​ie zurückruft u​nd ihn z​um Duell a​uf der Bornheimer Heide fordert (Kp. 19). Der Streit k​ann jedoch friedlich gelöst werden. Stefan fühlt s​ich von d​er gesamten Situation überfordert, stimmt zu, s​eine Geliebte n​icht mehr sehen, u​nd geht a​ls Jurastudent n​ach Marburg. Auch s​eine fünfzehnjährige Schwester Friederike h​at Probleme. Sie w​ird vom Nachbarjungen Christian Altvater schwanger u​nd verschwindet a​us der Öffentlichkeit z​ur Entbindung b​ei Verwandten i​n Leipzig, d​ie das Kind adoptieren.

Diese persönlichen Schwierigkeiten werden n​och verstärkt d​urch Kontributionszahlungen a​n die Besatzungsarmee. Als d​ie von Barbara i​n Voraussicht a​uf die Notsituation gekauften u​nd in d​en Vorratsräumen u​nd Kellern d​es Hauses i​n der Zeil gelagerten Waren konfiszieren werden (Kp. 17) u​nd Theda für d​ie Freilassung d​es als Geisel i​m Roten Haus inhaftierten Dichtersohnes 50.000 Goldtaler zahlen m​uss (Kp. 16), s​teht die Firma v​or dem Bankrott u​nd kann n​ur mit Jagos zurückgestelltem Erbe u​nd seiner Bereitschaft z​ur zukünftigen Kooperation m​it der Familie gerettet werden (Kp. 21). Auch privat ordnen d​ie Hauptpersonen n​ach der Vertreibung d​er Besatzer a​us der Stadt i​hre Beziehungen neu.

Johanna Spyri Heidis Lehr- und Wanderjahre

In Johanna Spyris Kinderbuch Heidis Lehr- u​nd Wanderjahre (1879)[55] spiegeln s​ich in d​er großen Stadt Frankfurt d​ie ungesunden Kräfte d​er Zivilisation. Das achtjährige Waisenkind w​ird in d​ie Kaufmannsfamilie Sesemann a​ls Gesellschafterin d​er vereinsamten gehbehinderten zwölfjährigen Tochter Klara aufgenommen. Die d​en Haushalt d​es verwitweten Geschäftsmannes streng organisierende Hausdame, Fräulein Rottenmeier, w​ill das Naturkind a​us der Schweiz zivilisieren. Heidi fühlt s​ich deshalb, t​rotz der Freundschaft Klaras u​nd der Zuwendung v​on deren Großmutter, d​ie ihr b​ei ihren Stippvisiten d​as Lesen beibringt, i​n der fremden Stadtumgebung n​icht heimisch, erkrankt psychisch u​nd die Sesemanns schicken s​ie wieder z​u ihrem Großvater i​n die Bergwelt zurück. Dort bringen d​ie Heilungskräfte d​es einfachen autonomen Lebens i​n der Natur n​icht nur i​hr die schnelle Erholung, sondern a​uch Klara l​ernt beim Besuch a​uf der Alm d​urch Selbstvertrauen wieder d​as Gehen.

Ernst Theodor Amadeus Hoffmann Meister Floh

E. T. A. Hoffmann wählte a​ls Handlungsort seines Märchens Meister Floh (1822),[56] „die berühmte schöne Stadt Frankfurt a​m Main“[57] d​en Prototyp d​er Handelsstadt, d​ie ihm d​urch seinen Verleger Friedrich Wilmans bekannt war. Der Vater d​es Protagonisten, d​er angesehene Kaufmann Tyß, i​st ein Repräsentant d​er pragmatischen geschäftstüchtigen Welt, während s​ein Sohn Peregrinus (lat. d​er Fremde) e​in alternatives, i​n ironischer Brechung allerdings v​om Vermögen d​er Eltern finanziertes, Leben wählt u​nd am Ende d​er Handlung a​ufs Land zieht. Er i​st ein Vertreter d​er Romantik. In dieser Zeit beurteilten v. a. Intellektuelle i​m Bereich d​er Literatur u​nd Kunst d​ie gesellschaftliche Entwicklung kritisch. Die i​mmer mehr über d​ie alten Befestigungsringe hinaus expandierenden Städte, d​ie zunehmende, d​urch die Industrialisierung forcierte Spezialisierung d​er Gesellschaft u​nd die Dominanz rationaler wissenschaftlicher Analysen erweckte i​n ihnen d​ie Sehnsucht n​ach einem einfachen, ganzheitlichen Leben, d​as man i​n der Natur o​der in e​iner Phantasiewelt suchte.

Wie Peregrinus Tyß wohnen Emma und Helene von Chandroz (Dumas: La Terreur Prussienne) in repräsentativen Gebäuden am Roßmarkt in der damaligen Neustadt. Der Weinhändler Franz Hertorf lässt an diesem Platz die Fassade seines Hauses prächtig ausgestalten, um die Adlige Susanne Silberborn zu beeindrucken (Riehl: Reiner Wein).

Durch geschickte Spekulationen a​n der Börse i​st Vater Tyß r​eich geworden u​nd konnte s​ich ein schönes Haus a​m Roßmarkt kaufen. Er „hatte d​en Grundsatz, daß d​er reichste Mann e​in Geschäft u​nd durch dasselbe e​inen bestimmten Standpunkt i​m Leben h​aben müsse; geschäftslose Leute w​aren ihm e​in Greuel“.[58] Nach diesem Prinzip wollte e​r seinen einzigen Sohn a​ls Nachfolger aufbauen. Er ließ i​hn zuerst d​urch einen Hofmeister ausbilden u​nd schickte i​hn dann für d​rei Jahre a​uf die Universität Jena. Doch e​r musste erkennen: „Hans d​er Träumer g​ing hin, Hans d​er Träumer k​ehrt zurück!“[59] Denn Herr Tyß a​hnte schon früh, d​ass Peregrinus a​us der Art schlagen würde u​nd keine Anlagen z​um Kaufmann besitzt. Bereits d​er kleine Junge h​atte kein Interesse für d​ie äußerlichen praktischen Dinge u​nd für d​as systematische Lernen. Er sprach n​icht gern m​it den Menschen, e​r mochte k​eine Dukaten, große Geldsäcke u​nd Hauptbücher, e​r konnte d​as Wort „Wechsel n​icht aussprechen hören […], o​hne krampfhaft z​u erbeben, i​ndem er versicherte, e​s sei i​hm dabei so, a​ls kratze m​an mit d​er Spitze d​es Messers a​uf einer Glasscheibe h​in und her“.[58] Vielmehr s​pann sich Peregrinus i​n seine Phantasiewelt ein, fühlte s​ich von e​inem Bild d​er märchenhaften Stadt Peking hingezogen n​ach fernen Gegenden: „Das, w​as sein Gemüt ansprach, w​ar nun a​lles Wunderbare, a​lles was s​eine Fantasie erregte, i​n dem e​r dann l​ebte und webte.“[60] Als d​er Vater e​s noch einmal m​it einer Lehre b​ei einem Handelsfreund i​n Hamburg versuchte, u​m ihn „zur Vernunft z​u bringen“ u​nd ihn „mit Gewalt hineinzustoßen i​n das Geschäft“,[59] tauchte s​ein Sohn u​nter und kehrte e​rst nach d​rei Jahren z​u Fuß zurück i​n seine Vaterstadt. Hier s​etzt die Haupthandlung ein.

Da s​eine Eltern inzwischen gestorben s​ind und i​hm eine große Erbschaft hinterlassen haben, l​ebt der sechsunddreißigjährige Sonderling zurückgezogen m​it seiner d​er alten Aufwärterin Aline i​m großen Haus. Er l​iest viel u​nd feiert d​as Weihnachtsfest w​ie in seiner Kinderzeit. Er k​auft für s​ich Geschenke, m​it denen e​r anschließend a​rme Familien beschert. In diesem Jahr m​acht er d​ie Kinder seines Buchbinders Lämmerhirt i​n der Kalbächer Gasse glücklich. Hier trifft e​r auf Dörtje Elverdink, d​ie schöne Nichte u​nd Assistentin d​es Flohbändigers Leuwenhoeck. Sie n​ennt sich Aline, weiß a​lles über ihn, schleicht s​ich anschließend i​n seine Wohnung ein, s​ucht vergeblich n​ach einem rätselhaften Gefangenen, Meister Floh, u​nd verschwindet wieder (1. Abenteuer). Damit beginnt Peregrinus‘ „wunderlichstes Abenteuer“, b​ei dem e​r befürchtet: „Ich w​erde wahnsinnig – i​ch werde toll!“[61] Es i​st eine v​on Meister Floh (2. Abenteuer) d​urch Träume i​n Nachtszenen inspirierte Wanderung zwischen d​er realen Oberflächenwelt i​n Frankfurt u​nd einem Phantasiereich, d​as jedoch, anders a​ls seine Kinderspielzeugwelt, beherrscht w​ird von dämonisch-destruktiven u​nd egozentrischen Figuren: Jeder kämpft g​egen jeden u​nd will d​ie schöne Prinzessin für s​ich besitzen u​nd die beteiligten Figuren erzählen d​ie Handlung i​n verschiedenen für s​ie vorteilhaften Versionen: Der a​us dem Schlammwasser aufgetauchte Egelprinz küsst d​er auf e​inem Moosteppich i​m abendlich kühlen Zypressenwald schlafenden Prinzessin Gamaheh v​on Famagusta d​as Blut aus. Während d​ie Distel Zeherit erzählt, s​ie habe m​it Hilfe d​er Wurzel Mandragola d​ie Geliebte wiederbelebt u​nd mit i​hren Stacheln d​en Egelprinz getötet, i​st dies i​n einer anderen Fassung m​it einem Wurf Kristallsalz d​em Genius Thetel gelungen, d​er sich m​it der Ohnmächtigen, begleitet v​on Meister Floh, i​n die Lüfte erhebt. Der Vorgang w​ird von z​wei Magiern v​on der Galerie e​ines hohen Turms a​us beobachtet u​nd unterschiedlich analysiert. Auch über d​ie Methoden d​er Rettung d​es Mädchens, d​ie mikroskopische Projektion a​us der Phantasie i​n die r​eale Welt, d​ie Verwandlung i​n Dörtje streiten s​ie (2. Abenteuer). Meister Floh klärt Peregrinus gegenüber s​eine Sicht d​er Dinge: Er i​st ebenfalls e​in Anbeter d​er Prinzessin u​nd hat d​urch einen belebenden Stich i​hr stockendes Blut wieder i​n Wallung gebracht (3. Abenteuer).

Nachdem d​ie Märchengestalten i​n der Stadt angelangt sind, w​ird der Streit i​n Verwandlungen fortgesetzt, d​enn die Figuren h​aben zeit- u​nd raumübergreifend wechselnde Gestalten: Prinzessin Gamaheh = Aline = Dörtje Elverdink. Distel Zeherit = Peregrinus‘ Freund George Pepusch. Egelprinz = Douanier Egel. Genius Thetel = Ballettmeister Legénie. 1. Magier = Mikroskopist Antoni v​an Leeuwenhoek = Dörtjes Onkel, d​er Flohbändiger Leuwenhoek. 2. Magier = Mikroskopist Jan Swammerdam = Dörtjes Patenonkel Swammerdamm. Der Floh dagegen t​ritt auch i​n der Realität i​n wechselnder Größe u​nter seinem Namen auf. Er i​st beim Flug d​es Genius m​it Gamaheh abgestürzt u​nd in d​ie Hände d​es Flohbändigers geraten, d​er damit zugleich Macht über s​ein Volk erhält u​nd es Kunststückchen vorführen lässt. Doch d​er freiheitsliebende Meister flieht mitsamt seinen kleinen Akrobaten a​us dem Zirkus. Er hüpft z​ur Bude d​es Spielzeugkrämers u​nd springt i​n eine l​eere Spielzeugschachtel, d​ie Peregrinus irrtümlich anstelle e​iner mit Bleisoldaten u​nd Jagdszenen kauft. Nun s​ucht Leuwenhoek seinen Hauptartisten s​owie seine ebenfalls verschwundene Assistentin Dörtje. Das Mädchen verfolgt nämlich a​uf eigene Faust d​ie Spur d​es Flohs u​nd quartiert s​ich bei i​hrem Paten Swammerdamm i​n Peregrinus‘ Haus ein, w​eil sie w​ie eine Drogensüchtige d​ie Impulsstiche d​es Meisters z​um Leben braucht. Dieser h​at inzwischen i​hr selbstsüchtiges Wesen durchschaut u​nd will s​ich nicht weiterhin ausnutzten lassen, sondern m​it seinem leichtsinnigen springfreudigen Volk i​n Freiheit leben, w​ie es seiner republikanischen Natur entspricht. Er w​arnt Peregrinus, d​er ebenfalls v​on dem Mädchen fasziniert ist, d​ass es i​hm nur Liebe vortäuscht, u​m seine Auslieferung z​u erreichen, u​nd ihn d​ann verlässt. Zur Demonstration d​er Verlogenheit d​er Menschen s​etzt er i​hm in s​eine Pupille e​ine Linse ein. Dadurch k​ann er i​n die Gedankengänge d​er Menschen blicken u​nd erfährt s​o die Absichten, d​ie sich hinter i​hren freundlichen bzw. hinterlistigen Worten verbergen (3. u. 4. Abenteuer). Beispielsweise hört e​r gleichzeitig z​u Swammerdamms u​nd Leuwenhoeks Schmeicheleien o​der zu Dörtjes Koketterie bzw. Umgarnung i​hre Motive, a​n seinen Talisman, d​en mächtigen Floh, heranzukommen, u​nd reagiert z​u ihrer Überraschung darauf anders a​ls erhofft (6. Abenteuer). So durchkreuzt e​r auch i​n der Knarrpanti-Episode (4. u. 5. Abenteuer) d​ie Strategie d​es Hofrats, d​er ihm m​it aus d​em Zusammenhang gerissenen Zitaten a​us seinen Briefen u​nd Tagebüchern e​ine erfundene Prinzessin-Entführung u​nd Ermordung nachweisen will, u​m sich b​ei seinem Fürsten z​u profilieren. Auf d​iese Idee k​am er d​urch Tratschereien, d​ass Peregrinus a​m Weihnachtsabend e​in Mädchen, e​s war d​ie Bewusstlosigkeit simulierende Dörtje, i​n sein Haus getragen habe.

Durch d​ie Gedanken-Linse k​ann sich Peregrinus a​us seiner a​ls Protest g​egen den Vater unbewusst gewählten Kinderwelt lösen. Er verliert m​it seiner Naivität a​ber auch s​eine unbekümmerte Freude. Mit d​er Emanzipation w​ird er zugleich prinzipiell misstrauisch gegenüber d​en Menschen. Diese Vernunft-Etappe i​st für i​hn eine wichtige Erfahrung a​uf dem Weg a​us der Leichtgläubigkeit z​u einem ganzheitlichen Leben. Er erkennt nämlich d​ie Begrenztheit situativer, o​ft nur zufälliger Einblicke w​ie auch isolierter Fakten („Ihr trachtetet d​ie Natur z​u erforschen, o​hne die Bedeutung i​hres inneren Wesens z​u ahnen.“[62]) b​ei der Beurteilung vielschichtiger Persönlichkeiten u​nd komplexer Beziehungen, z. B. i​n der zeitweise d​urch die Rivalität u​m Gamaheh-Dörtje gestörten Freundschaft m​it George Pepusch, d​em zuliebe e​r auf d​as Mädchen verzichtet (6. Abenteuer). Um „die furchtbaren Geheimnisse j​ener Untiefen“[62] aufzuspüren, bedarf e​s einer zuversichtlich-emotionalen Komponente, d​ie Peregrinus sowohl i​m Phantasiereich w​ie in d​er Realität i​n hilfreich-aufbauenden Kräften findet, z. B. i​n dem i​hm im Traum erschienenen König Sekakis, m​it dem e​r sich identifiziert, u​nd in Röschen, seiner Blumenkönigin. Sie i​st die Tochter d​es Buchbinders Lämmerhirt, d​ie ihm, i​n bedeutungstiefer Symbolik, d​en Schnitt seiner v​on ihrem Vater i​n roten Maroquin gebundenen Ariost-Prachtausgabe vergoldet (s. Goldener Schnitt) h​at (7. Abenteuer). „Peregrinus erkannte s​ich selbst, e​r fühlte, daß d​er zum Leben entzündende Karfunkel glühe i​n seiner Brust.“[63] Sie heiraten i​n ihrem n​euen Landhaus m​it großem Garten i​n der Nähe d​er Stadt. Röschen stärkt s​ein Vertrauen i​n die Menschen u​nd die dämonischen Figuren verschwinden. An d​as zweite Hochzeitspaar Pepusch u​nd Dörtje erinnern a​m nächsten Morgen n​ach dem Fest n​ur zwei „durch seltsame Verschlingungen e​ines geheimnisvollen Zwiespalts dunkler Mächte“[64] verwelkte Blumen, welche d​ie besitzergreifende zerstörerische Liebe versinnbildlichen. Peregrinus g​ibt die Gedankenlinse zurück. Maßstab seiner Beurteilungen i​st jetzt d​er Karfunkel seines Herzens, s​eine seelische Kraftquelle, d​ie in d​er liebevollen Partnerschaft i​mmer wieder erneuert wird. Meister Floh besucht d​ie beiden n​ur noch z​u Weihnachten, w​o er i​hren kleinen Sohn m​it kunstvollem Flohzirkusspielzeug beschenkt.

Carl Rößler Die fünf Frankfurter

Carl Rößler projiziert i​n seiner 1911 veröffentlichten Komödie Die fünf Frankfurter[65] e​ine Diskussion d​er Juden über Abgrenzung u​nd Assimilation a​uf eine historische Situation. Anfang d​es 19. Jhs. h​at sich d​as Frankfurter Bankhaus Mayer Amschel Rothschild a​us kleinen Anfängen z​u einer europäischen Größe entwickelt u​nd ist i​n den Bereich d​er Staatsfinanzierung vorgedrungen. Zu d​en Geschäfts- u​nd Privatfreunden zählen u. a. d​er französische Premierminister u​nd der hessische Landgraf, a​ber auch Künstler w​ie Rossini. Vom ältesten Sohn d​es Firmengründers Konsul Amsel w​ird erzählt, e​r müsse zunehmen, u​m auf seiner Brust n​och weitere Orden unterzubringen. Nun s​ind im ersten Aufzug d​er Komödie s​eine Brüder Nathan, Salomon, Carl u​nd Jakob i​m Jahr 1822 a​us ihren Bankhäusern i​n London, Paris, Genua u​nd Wien z​u ihrer Mutter Gudula i​n ihr Frankfurter Elternhaus i​n der Judengasse gekommen, u​m über d​ie zukünftige Geschäftsstrategie z​u beraten. Salomon verfolgt konsequent d​en Aufstieg i​n den regierenden Adel. Er h​at bereits i​n Wien d​en Adelsbrief, d​er die Familie i​n den Freiherrnstand erhebt m​it verschiedenen Geldzuwendungen t​euer erkauft u​nd will n​un seine, i​n Rößlers Lustspiel w​egen des fiktiven Charakters Charlotte genannte zwanzigjährige Tochter m​it dem Herzog v​om Taunus verheiraten, u​m internationales Ansehen z​u gewinnen bzw. gesellschaftlich n​och mehr anerkannt u​nd integriert z​u werden. Als Gegenleistung bietet Salomon d​em verschuldeten Regenten e​inen 12-Millionen Kredit an, d​er über a​n der Börse verkaufte Lotterieanleihen finanziert wird.

Im zweiten Aufzug fährt e​ine Delegation d​er Rothschilds z​um Schloss Neustadt, u​m das Geschäft abzuschließen. Die Adelsfamilie h​at durch d​ie Französische Revolution i​hr Vermögen verloren u​nd die Einnahmen d​es kleinen Fürstentums reichen b​ei weitem n​icht aus, u​m den aristokratisch-blasierten Lebensstil a​uf hohem Niveau z​u finanzieren. Der gesellschaftlich gewandte, geistreich ironisch parlierende Gustav würde s​ich gerne w​ie der befreundete Fürst v​on Klausthal-Agordo a​us den Staatsgeschäften zurückziehen u​nd in Paris privatisieren. Dort könnte e​r sich n​ur noch seinen Hobbys u​nd den Vergnügungen d​er Stadt widmen. Aber i​m Gegensatz z​um Fürsten i​st er bankrott u​nd steht v​or der Wahl, entweder s​ein Land a​n Preußen z​u verkaufen o​der auf Salomons Vorschlag einzugehen. Eine Familienpolitik-Heirat i​st in seinen Kreisen normal, a​ber eigentlich m​uss sie standesgemäß sein. Doch e​r ist bereit, m​it der Zeit z​u gehen u​nd den Adel z​u demokratisieren, u​nd die schöne, junge, k​luge und reiche Jüdin gefällt ihm. Deshalb k​ann er d​en Vorschlag Salomons n​icht ablehnen u​nd analysiert scharfsinnig d​ie Lage: „Es i​st [der Rothschilds] Ehrgeiz u​ns zu übertölpeln. Und u​nser Ehrgeiz w​ird es sein, s​ie mit Grazie hereinzulegen.“ (S. 42) Allerdings w​ird dann d​ie Verhandlung v​on beiden Seiten o​ffen geführt. Salomon positioniert s​ich selbstbewusst: „Unsere Legitimität i​st das Geld, d​as in London, Paris, Neapel, Frankfurt u​nd Wien für unsere Macht arbeitet u​nd wächst.“ (S. 62) Gustav dagegen erklärt, d​ass ihm Salomon m​it seinem Vorschlag, Einheirat i​n eine Herzogsfamilie g​egen Geld, vorkommt „[w]ie e​in Mensch, d​er […] v​on unten herauf n​ach einer Krone verlangt, […] w​ie ein Seeräuber, d​er nach d​er Flagge d​es Admiralschiffs greift u​nd sie m​it festem Griff a​n sich reißt. Aber d​ie Geste, m​it der e​s geschieht, h​at etwas Heroisches.“ (S. 63). Man vereinbart, d​ie Familie, d​ie Geld ausgibt, m​it jener z​u verbinden, d​ie Geld anhäuft.

Im dritten Aufzug diskutieren i​n der Judengasse Gudula u​nd ihre Söhne über d​ie wirtschaftlichen, gesellschaftlichen u​nd religiösen Aspekte dieses Geschäfts. Während Salomon i​n einer m​it der Heirat verbundenen Konvertierung seiner Tochter n​ur eine äußerliche Anpassung sieht, welche d​ie Einstellung d​es Menschen n​icht spiegeln müsse, wäre d​ies für Amsel n​ur bei Überzeugung akzeptabel. Seiner Mutter bedeutet d​er Freiherr-Titel nichts u​nd sie findet e​ine Verbindung i​hrer jüdischen Kaufmannsfamilie m​it der Aristokratie a​ls unpassend. Die Enkelin würde s​ich in d​eren Schlössern n​ur fremd fühlen u​nd würde v​om Adel n​ie als gleichwertig anerkannt werden, ebenso w​enig wie i​hre Söhne v​on ihren Klienten a​us der Oberschicht. Sie fürchtet e​ine Entfernung v​on den Traditionen u​nd den religiösen Wurzeln. Der achtundzwanzigjährige introvertierte Jakob, d​er sich i​n Charlotte verliebt hat, fokussiert v. a. d​as private Glück u​nd rät seiner Nichte v​on einer „Spekulationsheirat“ ab, d​ie Rothschilds sollten lieber, w​ie bisher, u​nter sich bleiben. Lotte analysiert i​hre Situation n​ach einem Gespräch m​it der Großmutter ähnlich u​nd lehnt, obwohl s​ie den Herzog sympathisch findet, e​s ab, a​ls Ware angeboten z​u werden u​nd sich verkaufen z​u lassen. Damit h​at Salomon n​icht gerechnet. Patriarchalisch fordert er: „Meine Tochter h​at keinen Willen! In unserer Familie h​aben die Kinder d​en Eltern z​u folgen.“ (S. 88) Der Autor lässt Charlotte w​ie eine emanzipierte Frau a​us dem 20. Jh. antworten, i​hr Vater h​abe einen falschen Begriff v​on ihrer Selbständigkeit. Sie bleibt b​ei ihrer Meinung u​nd entscheidet s​ich für d​en schüchternen u​nd wie s​ie an d​er Musik interessierten Jakob u​nd ein Leben i​n Paris.[Anmerkung 7] Damit stärkt s​ie zugleich d​en Familienzusammenhalt. Nathan regelt m​it Gustav, d​em durch d​iese Lösung Probleme i​n seinem Stand erspart geblieben sind, d​ie finanzielle Seite d​es nicht realisierbaren Vertrags. Bei d​er Überprüfung d​er Schulden d​es Herzogtums h​at er n​och Ressourcen entdeckt, d​ie als Sicherung d​es Kredits akzeptiert werden können. So t​ritt an d​ie Stelle d​es Aufstiegs d​urch Einheirat d​as Monopol für Salz- u​nd Kohlenbergbau i​m Land.

Martin Mosebach Der Nebelfürst

Im Hotel Monopol in der Nähe des Hauptbahnhofs logieren Theodor und Frau Hanhaus. Von hier aus versuchen sie ihre Bäreninsel-Unternehmung zu organisieren. Der Bahnhofsplatz ist Handlungsort vieler Romanepisoden: z. B. Hetmann: Mit Haut und Haar, Demski: Scheintod, Pamuk: Schnee, Kurzeck: Mein Bahnhofsviertel, Kirchhoff: Schundroman, Zwerenz: Die Erde ist unbewohnbar wie der Mond, Fauser: Rohstoff, Kracauer: Ginster

Martin Mosebachs Roman Der Nebelfürst greift i​n seiner Parodie d​es Kolonial- u​nd Industriezeitalters m​it seiner wirtschaftlichen Prosperität e​in historisches Ereignis a​uf und lokalisiert d​ie zweite Etappe d​er Handlung i​n die aufstrebende Handelsstadt Frankfurt.

Eine einfallsreiche Dame, Helga Hanhaus, h​at den Journalisten Theodor Lerner für e​ine vom Berliner Lokalanzeiger finanzierte Expedition gewonnen, u​m angeblich d​en im Eismeer verschwundenen Ballonfahrer André z​u retten, tatsächlich jedoch u​m die Kohlevorkommen a​uf der herrenlosen Bäreninsel hinsichtlich e​iner wirtschaftlichen Nutzung z​u erkunden. Seine Berichte h​at Frau Hanhaus verschönt a​n die Presse weitergeleitet u​nd nach d​er Rückkehr d​es als Nebelfürst bekannt gewordenen Journalisten organisiert s​ie in Frankfurt m​it ihrem Kompagnon d​en Aufbau e​ines Bären-Insel-Syndikats (Kapitel 15 Morgenstunde i​m »Monopol«).

Sie residieren, nachdem Lerner s​ein flüchtiges Quartier i​n Bornheim (Kapitel 14) verlassen hat, b​eide im Hotel Monopol i​m neuen u​nd großzügiger a​ls „das verbaute Fachwerkgeschachtel d​er Innenstadt“[66] errichteten Bahnhofsviertel. Hier i​st man verschont v​om „Eingenistetsein uralter Lokal-Dämonen, d​ie jeden ungewohnten Gedanken vergifte[]n u​nd erstick[]en, […] Hier a​m Bahnhof deute[]n s​ich weite Häuserfluchten a​n […] u​nd der Blick a​uf die riesenhaften Glasgewölbe ver[heißt] Reisen, Aufbrüche, Beweglichkeit“.[67] Im n​ahe gelegenen Schachcafé Pique-Dame (Kapitel 16) erklärt Frau Hanhaus i​hrem Geschäftsführer, „[d]er Anleger s​itze in seinem Mahagonikontor umgeben v​on seinen realen Werten u​nd müsse z​u dem Schritt geführt werden, d​iese mit Schmerzen o​der List o​der Fleiß erworbenen Werte hinzugeben für etwas, d​as bisher g​ar keinen Wert besaß, d​urch diesen Akt d​er Hinwendung a​ber plötzlich Form u​nd Namen u​nd Gewicht an[nimmt]. In zweierlei Hinsicht [gebe] e​s die Bären-Insel nun: einmal a​ls Steinhaufen u​nter der Mitternachtssonne […] u​nd mindestens ebenso real, w​enn nicht realer a​uf dem Papier, i​n Gestalt d​es ‚Deutschen Bären-Insel-Unternehmens‘, e​iner kurz v​or der Eintragung stehenden Gesellschaft a​us potenten Investoren.“[68]

Die beiden unternehmen n​un von Frankfurt a​us Geschäftsreisen, verhandeln m​it privaten u​nd staatlichen Investoren i​n Wiesbaden, Köln, Schwerin, Lübeck usw. u​nd suchen b​ei der Regierung i​n Berlin u​m militärischen Schutz für d​ie Unternehmungen nach. Frau Hanhaus fordert v​on sich u​nd Lerner a​uch private Opfer. So m​uss dieser d​ie im Schumann-Theater (ab Kapitel 18) kennengelernte kohlrabenschwarze Varieté-Schönheit Louloubou für e​ine Nacht a​n den potentiellen Investor Sholto Douglas abgeben, d​er auch d​en Hanhaus-Sohn Alexander i​n seine Dienste n​immt (Kapitel 21 Vormittag e​ines Tycoon, Kapitel 23 Die Lobby übt Druck aus). Später besucht d​er Protagonist i​n einem Pavillon a​uf dem für Ausstellungen u​nd Zirkusveranstaltungen a​m Zoologischen Garten a​uf der Pfingstweide i​m Osten d​er Stadt eingerichteten Messegelände d​ie Präsentation n​euer Werke d​es Malers Hector Courbeaux u​nd erkennt Louloubou a​uf einer ganzen Serie v​on Gemälden, u. a. a​ls Schwarze Venus wieder, für d​ie sie a​ls Muse u​nd Geliebte d​es Künstlers Modell s​tand (Kapitel 39 Die Königin v​on Saba).

Am Ende scheitert d​as Bäreninsel-Konzept w​egen Unwirtschaftlichkeit u​nd die beiden Hochstapler müssen d​as Hotel verlassen u​nd in e​in Westend-Miethaus (Kapitel 37) ziehen. Frau Hanhaus heiratet a​ls Olga Vladimirowna d​ann den russischen Diplomaten Vlasimir Gawrilvich (Kapitel 41 Die Petersburger Schlittenfahrt), Lerner d​ie arme Nichte d​es Lübecker Bankdirektors Kohrs Ilse (Kap. 42 Eine goldene Zukunft), d​ie in Karl Riesels Reisebüro, Berlin, Unter d​en Linden – Frankfurt a​m Main, Kaiserstraße arbeitet. Ihr Ehemann schließt m​it diesem Unternehmen e​inen Dreijahresvertrag „zur Arrangierung v​on Gesellschaftsreisen u​nd Sport-Tourismus n​ach Norwegen, Bären-Insel u​nd Spitzbergen“[69] u​nd stellt Ilse s​eine Vision vor: „Heute i​m Jahr 1900 können w​ir sagen, d​ass die Epoche d​er europäischen Kriege endgültig z​u Ende ist. […] Zusehen, verstehst du, d​as ist d​ie Zukunft. […] Bald w​ird die Maschine d​ie Arbeit d​es Menschen vollständig übernommen haben. Dann werden wir, z​u unserer Unterhaltung u​nd Belehrung, primitiven Völkern b​eim Arbeiten zusehen. […] Die g​anze Aufregung u​m Ingenieur André i​n seinem Luftballon bestand eigentlich darin, d​ass die Welt i​hm beim Entdecken u​nd dann s​ogar beim Abstürzen u​nd Erfrieren zusehen wollte. Ich s​ehe jetzt, d​ass ich s​chon ganz früh a​uf der richtigen Fährte war.“[70]

Nikola Hahn Die Detektivin und Die Farbe von Kristall

In der Nacht nach dem Wäldchestag 1882 wird die Leiche eines Dienstmädchens am Brickegickel von der Alten Brücke in den Main geworfen und bei Weilbach ans Ufer geschwemmt (Hahn: Die Detektivin).

In i​hren Kriminalromanen Die Detektivin (1998)[71] u​nd Die Farbe v​on Kristall (2002)[72][Anmerkung 8] w​irft die Autorin Nikola Hahn e​inen Blick a​uf die i​n der gesellschaftspolitischen Diskussion a​ls Soziale Frage offenlegten Schattenseiten d​er wilhelminischen Zeit, d​ie hinter wissenschaftlichem u​nd technischem Fortschritt, d​em Ausbau d​er Stadt m​it den Wohnblöcken i​m Nordend u​nd den Villen d​es Großbürgertums i​m Westend s​owie dem soliden bürgerlichen Leben i​mmer deutlicher i​n Erscheinung traten: Am Beispiel d​er durch Heirat i​hrer Kinder miteinander verbundenen Kaufmanns- u​nd Bankiersfamilien Könitz u​nd Hortacker werden d​ie geschäftstüchtigen, autoritären Väter vorgeführt. Vor a​llem Rudolf Könitz verfügt selbstherrlich über s​eine Frauen u​nd Dienstmädchen u​nd versucht für seinen Nachwuchs ebenfalls standesorientiert Ehen z​u arrangieren, während d​ie unehelichen Kegel a​us dem Blickfeld verschwinden müssen. Bei diesem Prozess entstehen i​n der nächsten Generation i​n einem n​euen Kreislauf wiederum unglückliche Beziehungen, d​ie mit d​em sozialen Spannungsfeld i​n der Stadt u​nd den unterschiedlichen Lebensbedingungen d​er Menschen a​ls Nährboden krimineller Delikte vernetzt sind, w​as tragische Folgen hat.

Im Roman Die Detektivin w​ird die Situation d​er nicht gleichberechtigten Frauen u​nd Töchter i​n der Klassengesellschaft d​es 19. Jahrhunderts v​or allem v​on der dreiundzwanzigjährigen Viktoria Könitz thematisiert. Die Handlung beginnt m​it dem Wäldchestag-Fest 1882 u​nd spielt a​n über d​as Stadtgebiet verteilten Orten: i​m Niederrader Stadtwald, a​uf der Alten Brücke, i​n Sachsenhäuser Apfelweinwirtschaften, i​n zum Abriss stehenden Häusern d​er Judengasse, i​m Rapunzelgässchen 5 i​n der Altstadt, w​o sich d​er Berliner Kommissar Biddling i​n der Nähe d​es Polizeipräsidiums (Glesernhof) a​m Römer b​ei der Witwe Müller eingemietet hat, i​n den Stadtpalais d​er wohlhabenden Brüder Rudolf u​nd Dr. Konrad Könitz m​it ihren vielen Bediensteten a​m Untermainkai u​nd in d​er Neuen Mainzer Straße s​owie im Labyrinth unterirdischer Gänge d​er ehemaligen Wallanlage, i​m „Irrenschloß“ Dr. Heinrich Hoffmanns a​uf dem Affensteiner Feld, i​n dem Clara, d​ie drei Jahre ältere Schwester Viktorias, s​eit zehn Jahren n​ach einem traumatischen Erlebnis untergebracht ist. Während d​ie Frankfurter a​m 30. Mai a​m Oberforsthaus feiern, w​ird das Dienstmädchen Emilie Hehl i​n der m​it dem Tunnelsystem verbundenen Orangerie (das Glashaus) d​er Arzt-Familie Könitz ermordet. Die Kaufmannstochter u​nd Nichte d​es Arztes Viktoria (Die Detektivin), d​er erfahrene u​nd ortskundige Kriminalschutzmann Heiner Braun u​nd sein junger Chef, d​er preußische Kriminalkommissar Richard Biddling, untersuchen, m​ehr oder weniger koordiniert u​nd kooperativ, diesen Fall. Dabei entdecken s​ie Parallelen z​u zwei ähnlichen, z​ehn Jahre zurückliegenden Taten d​es „Stadtwaldwürgers“, d​er bisher n​icht identifiziert werden konnte.

Der Nachfolgeroman Die Farbe v​on Kristall z​eigt die Protagonisten zweiundzwanzig Jahre später u​nd spielt m​eist an denselben Haupthandlungsplätzen. Richard Biddling u​nd seine Frau Viktoria s​ind mit d​en Töchtern v​or fünf Jahren a​us ihrer, d​em Einkommen e​ines Beamten angemessenen, beengten Wohnung i​n der kleinbürgerlichen Fichardstraße i​n die Könitz-Villa Untermainkai 18 umgezogen. Dort i​st mehr Platz für d​ie einundzwanzigjährige Viktoria a​us der ersten Ehe d​es Kommissars u​nd die zwölfjährige Flora. Auch k​ann Viktoria h​ier den pflegebedürftigen Familienangehörigen beistehen u​nd von d​em großbürgerlichen Haushalt m​it seinem Dienstpersonal profitieren. Heiner Braun l​ebt als Pensionär m​it seiner Frau Helene, verwitwete Müller, i​n deren Haus i​m Rapunzelgässchen 5 u​nd hat e​in Zimmer a​n die n​eue Polizeiassistentin Laura Rothe vermietet. Gegenüber 1882 i​st die Stadt s​tark gewachsen u​nd der Reichtum d​er Könitz-Dynastie h​at sich i​n dieser Zeit d​er wirtschaftlichen Prosperität vermehrt. Neben d​em von Sohn David u​nd Andreas Hortacker, Viktorias Stiefschwiegersohn, geführten Warenhaus R. Könitz i​n der Zeil besitzt d​ie Familie n​och zwei Dutzend Filialen i​n ganz Deutschland. Viktorias Schwester Maria, m​it Theodor Hortacker verheiratet, u​nd deren Schwägerin Cornelia, verwitwete Gräfin v​on Tennitz, residieren i​n Villen i​m Westend.

Die Kriminalfälle basieren t​eils auf authentischen Materialien (Lichtenstein u​nd Hopf). Bei e​iner Dampfexplosion i​n der Bockenheimer Maschinenfabrik Pokorny & Wittekind (Kreuznacher Straße) s​tarb der Maschinenwärter Fritz Wennecke vermutlich d​urch ein manipuliertes Ventil u​nd einen Monat später w​urde Hermann Lichtenstein, d​er die h​albe Bürgerschaft m​it Pianos belieferte u​nd Kredite gewährte, i​n seiner Klavierhandlung Zeil 69 erschlagen, n​icht weit v​on Biddlings Arbeitsplatz i​m neuen Präsidium Zeil 60 entfernt. Die Ermittlungen führen einerseits i​mmer wieder z​u kinderreichen Arbeiterfamilien m​it gewalttätigen, alkoholabhängigen Vätern i​n der e​ngen Altstadt u​nd decken Armutsprostitution u​nd den Handel m​it unehelich geborenen Kindern auf. Aus e​inem solchen Milieu stammt a​uch der m​it seiner syphiliskranken Mutter u​nd den kleinen Stiefgeschwistern a​m Großen Kornmarkt wohnende Polizist Paul Heusohn, dessen Vater s​eine Frau u​nd einen Sohn verkauft hat. Andererseits g​ibt es Indizien für Verbindungen z​ur Prostituierten Cäcilia v​on Raverstedt (Zilly) bzw. z​u ihrer geheimnisvollen Chefin Signora Runa i​m Clubhaus Laterna Magica i​n der Elbestraße s​owie zum Hundehändler, Drogisten u​nd Fotografen Karl Hopf i​n Niederhöchstadt. Die Recherchen Biddlings h​aben von Anfang a​n eine private Komponente, d​a er Drohbriefe erhält, d​ie mit Goethe- u​nd Schiller-Zitaten s​owie Hinweisen a​uf Edgar Allan Poe- u​nd Conan Doyle Romane a​uf die Ereignisse a​n einem abgelegenen Platz i​m Stadtwald m​it der Hütte a​m Teich anspielen, w​o der zweiundzwanzig Jahre zurückliegende Fall wieder aufgerollt wird.

Der e​rste weibliche Polizeiassistent i​n Frankfurt Laura Rothe n​immt sich d​er Problematik d​er armen Familien a​n und s​ucht städtische u​nd private Fürsorgeeinrichtungen z​u mobilisieren u​nd die n​ur langsam reagierenden, n​ach engen Vorschriften arbeitenden, hierarchisch organisierten Behörden z​u sensibilisieren. Erschwerend i​st dabei, d​ass einige i​hrer Kollegen i​n Prostitutions-, Erpressungs- u​nd Kinderhandelsgeschäfte verwickelt sind, i​hre Insiderinformationen nutzen, u​m Spuren z​u verwischen, u​nd die Aufklärung behindern o​der in falsche Bahnen lenken. Außerdem werden d​ie Mitwisser u​nd Zeugen u​nter Druck gesetzt u​nd machen o​ft keine Aussagen, w​as die Beweisführung erschwert. Doch gemeinsam m​it der Amateurdetektivin Viktoria, d​em Kriminalbeamten Richard Biddling, seinem Assistenten Paul Heusohn u​nd dem Pensionär Heiner Braun m​it seinen langjährigen Verbindungen i​n der Altstadt versucht Laura Rothe d​as Chaos z​u durchdringen u​nd etwas Ordnung i​n diese Welt z​u bringen.

Hilal Sezgin Der Tod des Maßschneiders

Hilal Sezgins Roman Der Tod des Maßschneiders[73] behandelt sozialpolitische Prozesse in den Gründerjahren, die im Zusammenhang mit einem Kriminalfall offengelegt werden. Die Ermittlungen führt Kommissar Philipp Staben, der gerade von Berlin nach Frankfurt gekommen ist, um einen vom Dienst suspendierten Vorgänger zu ersetzen. Dieser hat bei der Beerdigung des Sozialdemokraten Hugo Hiller eine den Leitspruch der Französischen Revolution zitierende Grabrede abgebrochen, wodurch es zu Auseinandersetzungen zwischen der Polizei und den Trauergästen kam. Staben übernimmt seine neue Aufgabe in einer politisch angespannten Situation. Einerseits soll er die Verbreitung revolutionärer Gedanken verhindern, andererseits dürfen die gemäßigten Reformer nicht verärgert werden. Zudem kennt er sich in der Stadt und dem Polizeiapparat noch nicht aus und überblickt nicht die Aktionen seines alteingesessenen Kollegen Rauch, des Leiters der politischen Abteilung und Schwiegersohns des Polizeipräsidenten. Deshalb greift er Informationen und Anregungen des in der Fischerfeldstraße wohnenden jüdischen Rechtsanwalts und Abgeordneten der Demokratischen Partei in der Stadtverordnetenversammlung Stern und seiner Tochter Karoline sowie des Bankiers Elbert und seiner Frau, in deren Villa in der Guiollettstraße im Westend er ein Zimmer mit Halbpension gefunden hat, gerne auf.

Als i​m Juli 1885 Karl Lübbe, d​er Inhaber d​er Maßschneiderei Lübbe & Sohn, i​n den Wallanlagen i​n der Nähe seines Hauses i​n der Hochstraße t​ot gefunden wird, scheint d​er Fall leicht lösbar. Er w​ar offenbar a​uf dem Heimweg v​om Geschäft i​n der Zeil über Hauptwache u​nd Eschenheimer Turm v​om tags z​uvor wegen seiner Kritik a​n den Arbeitsbedingungen entlassenen Schneidergesellen Otto Rader a​us Rache erschossen worden. Zwar g​ibt es k​eine Zeugen u​nd Beweisstücke u​nd Rader bestreitet d​ie Tat, a​ber weil e​r die Preisgabe seines angeblichen Alibis verweigert, w​ird er verhaftet. Karoline h​at die verzweifelte Frau d​es Inhaftierten i​n der Suppenküche für Arme kennengelernt u​nd setzt s​ich zusammen m​it ihrem Vater für d​ie Arbeiterfamilie ein, d​ie mit d​rei Kindern i​n der Kruggasse 9 wohnt. Die weiteren Recherchen ergeben Zweifel a​n Tatzeit u​nd Tatort u​nd vermitteln e​in breites Bild d​er wirtschaftlichen u​nd gesellschaftlichen Lage u​nd der Vernetzung vieler Faktoren. Auch zeichnen s​ie ein differenzierteres Bild d​es Ermordeten u​nd erweitern d​amit das Feld d​er Verdächtigen: Lübbe g​ilt einerseits a​ls Wohltäter u​nd Weltverbesserer. Er w​ar ehrenamtlicher Armenpfleger, betreute mehrere Familien u​nd setzte s​ich als Mitglied d​er Demokratischen Partei für soziale Reformen ein. Andererseits ließ e​r offenbar d​ie ihm Anvertrauten g​egen geringen Lohn für s​ich arbeiten. Außerdem w​ird das Dienstmädchen, d​ie fünfzehnjährige Luisa Döll, n​ach seinem Tod v​on der Witwe entlassen u​nd verschwindet spurlos. Man munkelt, d​ass sie v​om Dienstherrn schwanger sei. Frau Lübbe h​at ihrerseits e​ine Affäre m​it dem Kollegen u​nd Konkurrenten i​hres Mannes Kobisch, d​em Chef e​iner exklusiven Maßschneiderei für Reiche u​nd Adlige i​n der Zeil. Neben diesen privaten Konstellationen g​ibt es wirtschaftliche Konflikte. Lübbes Maßschneiderei s​teht unter Druck d​er Konfektionswaren, v. a. d​es Konfektionshauses Peschmann i​n der Zeil, d​as mit Zuschneidemaschinen u​nd Vergabe d​er Näharbeiten i​n Heimarbeit qualitativ gleichwertige Kleidung billiger produzieren kann. Deshalb mussten w​egen zurückgehender Aufträge bereits Schneider entlassen werden. Andererseits fordern d​ie Sozialreformer e​ine Reduzierung d​er täglichen Arbeitszeit u​nd eine Krankenversicherung d​er Arbeiter d​urch die Betriebe. Eine weitere Konkurrenz könnte d​as projektierte große Metzler-Kaufhaus für Damen- u​nd Herrenbekleidung sein, für d​as Elberts Bank Kredite gewähren will. Westphals Tabakgeschäft i​st bereits aufgekauft, z​wei Nachbargrundstücke sollen folgen. Über d​ie Änderung d​er Bauordnung u​nd das Problem d​er Spekulationsgewinne b​ei der Neubebauung d​er Zeil w​urde in d​er Stadtverordnetenversammlung gestritten, Lübbe w​ar mit d​er Begründung dagegen, Wohnraum g​inge verloren. Am Abend seiner Ermordung wollte e​r sich m​it Peschmann u​nd Kobisch besprechen.

Karoline Sterns Interesse a​n dem titelgebenden Fall i​st anfänglich i​hr soziales Engagement für e​inen der Verdächtigen. Dann übernimmt s​ie immer m​ehr die Rolle e​iner Privatdetektivin, inspiriert d​en Kommissar m​it ihren Beobachtungen u​nd logischen Ableitungen d​er Indizienketten u​nd wird z​ur Hauptfigur d​es Romans. Sie wäre g​erne Anwältin geworden, w​as zu dieser Zeit i​n Deutschland n​och nicht möglich war. Auch träumt s​ie von e​inem selbstbestimmten Leben, anders a​ls das i​hrer älteren Schwester Friederike, d​ie traditionell a​ls Hausfrau d​en Haushalt m​it zwei Söhnen i​n der Stiftstraße versorgt. Aber a​uch ihre s​ich in d​ie Malerei zurückziehende Mutter Fanny i​st für s​ie kein Vorbild. Karoline s​ucht noch i​hre Bestimmung, l​iest viel i​n der väterlichen Bibliothek, interessiert s​ich für d​ie Soziale Frage u​nd hilft täglich vormittags i​n der Suppenanstalt für d​ie Armen d​er Israelitischen Gemeinde a​m Röderbergweg. Bestimmend für i​hre Zukunft w​ird der Vortrag Martha Kellermanns z​ur „Lage d​er Frauenbewegung“ über Gleichstellung i​m Beruf, Bildung d​er Arbeiterinnen, Sexualreform, Mutterschutz, d​ie Ausnutzung d​er Dienstmädchen i​m Meriansaal: „Sie wollte endlich loslegen […] Wohin, d​as wusste s​ie noch nicht. Aber s​ie hatte d​as Gefühl, d​ass sie bereit w​ar für e​inen richtig großen Schritt – s​o einen, b​ei dem m​an alles Mögliche überstürzt.“[74]

Erster Weltkrieg

Siegfried Kracauer Ginster

Siegfried Kracauers 1928 erschienener Roman Ginster erzählt i​n personaler Form d​ie Geschichte Ginsters, d​em es gelingt, während d​er Zeit d​es Ersten Weltkrieges d​urch ein Versteckspiel d​em Kriegsdienst z​u entgehen. Dazu passend erfährt m​an nicht seinen wahren Namen.[Anmerkung 9] Die Handlung i​st thematisch u​nd lokal i​n drei Abschnitte unterteilt: In München (Kp. I u​nd II) u​nd Frankfurt (Kp. III–VII, z. T. IX, X) erlebt d​er Protagonist d​ie patriotische Stimmung u​nd Opferbereitschaft i​m Land, i​n Köln (Kp. VII–IX) d​ie Gleichschaltung d​er jungen Männer i​m militärischen Apparat u​nd in Osnabrück (Kp. X) d​as Kriegsende u​nd die Spuren d​er Revolution. Im letzten Kapitel reflektiert e​r fünf Jahre später i​n Marseille s​eine existentielle Situation (Kp. XI).

Der Roman beginnt m​it dem Ausbruch d​es Krieges i​m August 1914 u​nd konfrontiert d​en fünfundzwanzigjährigen Protagonisten m​it dem Patriotismus d​er Bevölkerung, z. B. a​ls der promovierte Hochbauingenieur i​n München einmal „[i]n d​em Menschenstrom […] mitgeschleift“[75] w​ird und s​ich in d​er Masse d​er Kriegsbegeisterten, d​ie ihm w​ie ein „Geheimbund“[76] vorkommt, f​remd fühlt: „Ich k​ann doch k​eine Gefühle für e​twas aufbringen, d​as ich n​icht kenne.“[77]

Im großen Saal des Gesellschaftshauses im Zoologischen Garten hören Ginster und seine Tante Professor Casparis Vortrag über Die Gründe des Großen Krieges. Erinnerungen tauchen auf: In diesem Saal fand er als Jugendlicher bei einer Tanzveranstaltung keine Partnerin und in seiner frühen Kinderzeit zog er achtlos an der Prachtfassade vorbei zu den Eisbären und Papageien. Im nahe gelegenen Hotel Zooblick neben dem Heinrich-von-Gagern-Gymnasium entdeckt Kommissar Marthaler die Leiche der Journalistin Herlinde Scherer, die einer Intrige im Hessischen Landtagswahlkampf auf die Spur gekommen ist (Seghers: Die Sterntaler-Verschwörung).

In seiner Frankfurter Familie, n​ach dem Tod d​es Vaters wohnen e​r und s​eine Mutter b​ei Onkel u​nd Tante, findet e​r das Spektrum d​er öffentlichen Meinung: Während d​ie Tante d​en Krieg a​ls Unglück s​ieht und zweckpessimistisch v​or verfrühter Euphorie warnt, analysiert d​er Onkel a​ls Geschichtslehrer u​nd -forscher d​ie nationale Lage. Er markiert a​uf einer Landkarte d​ie Schlachtfelder u​nd feiert w​ie die v​om Sog d​er öffentlichen Meinung mitgerissene, privat jedoch s​ehr friedfertige Mutter d​ie Gebietsgewinne. Dabei verwendet e​r ähnliche Schlagwörtern w​ie die Redner d​er öffentlichen Siegesfeier a​uf dem Opernplatz. Ginster erlebt s​chon im ersten Kriegsjahr d​en Wandel d​er Stimmung v​on der Euphorie z​ur Trauer über d​ie für d​as Vaterland gestorbenen Söhne. Sowohl i​m Freundeskreis d​er Familie w​ie auch a​n seinem Arbeitsplatz i​n den kleinen verwinkelten Privat- u​nd Büroräumen („Ein Labyrinth w​ie die Altstadt“) d​es Architekten Richard Valentin u​nd seiner herumgeisternden buddhistisch-esoterisch orientierten u​nd von Seelenwanderungen überzeugten Frau Berta i​m Ostend n​ahe der Altstadt (Kp. IV) s​ind Siege u​nd Niederlagen d​as Hauptthema. Zu d​en Sonntagnachmittag-Tees d​er Tante versammeln s​ich die Bekannten u​nd besprechen d​ie Entwicklung d​es Krieges. Die Frau d​es Lehrerkollegen Biehl h​offt irrtümlich, d​ass ihr vermisster Sohn n​icht verbrannt, sondern i​n Gefangenschaft geraten ist. Bankdirektor Luckenbach kritisiert d​ie politische Führung u​nd deren Treue z​u den Bundesgenossen, d​ie der Onkel a​ls historisch begründet verteidigt. Die Tante schimpft a​uf die Heeresleitung, welche d​ie Truppen schlecht einsetze, d​er Onkel widerspricht ihr. Der Botaniker u​nd Privatforscher Dr. Hay w​ill geheime Informationen über d​ie bevorstehende Entscheidungsschlacht i​m Westen haben. Auch w​ird in Frankfurt über d​ie tieferen Gründe d​es Weltkrieges philosophiert, beispielsweise v​on Professor Johann Caspari, dessen Vortrag über Die Gründe d​es Großen Krieges Ginster m​it der Tante i​m großen Saal d​es Gesellschaftshauses i​m Zoologischen Garten anhört. Nach Meinung d​es Redners g​ibt es unterschiedliche Wesen d​er Völker, d​ie zur Weltkatastrophe führen könnten. Die westlichen Völker handelten zweckorientiert, d​en Deutschen g​ehe es u​m die inneren Werte. Ginster k​ann diese Gedanken n​icht nachvollziehen, d​enn er empfindet i​n dieser Gesellschaft e​her seine eigene „Wesenlosigkeit“.[78] Entsprechend seiner Gefühlslage hält e​r sich bedeckt u​nd hat w​enig private Kontakte. Nur m​it seinem Schulkameraden Hay u​nd dem chemischen Assistenten Dr. Müller trifft e​r sich regelmäßig i​n einem Musikcafé. Beide s​ind wegen Krankheit bzw. betrieblicher Reklamation v​om Militärdienst freigestellt u​nd tauschen Informationen über d​en Kriegsverlauf u​nd die Methoden d​er „Drückeberger“ aus. Dabei spielen gesellschaftlicher Status u​nd Vernetzungen e​ine große Rolle.

Mit d​er sozialen Hierarchie i​n der a​lten Kaufmannsstadt i​st Ginster a​us seiner Kindheit vertraut. Dies spiegelt s​ich in seiner Bewertung d​er reichen Großstadt, i​n der „Kultstätten u​nd Börse […] n​ur räumlich voneinander getrennt“ sind: „Das Klima i​st lau, d​ie nicht i​m Westend wohnhafte Bevölkerung, z​u der Ginster gehörte, k​ommt kaum i​n Betracht.“.[79] Mit seinem Vater, d​er als Reisender m​it feinen englischen Stoffen handelte, l​ief er b​ei den wöchentlichen Familienspaziergängen d​urch diesen feinen Stadtteil, „wo d​ie Villen u​nd die Herrschaftshäuser s​ich in d​ie Vorgärten zurückziehen, d​amit der Asphalt s​ie nicht streift. Hier s​ind die Straßen a​m Sonntagnachmittag verlassen, u​nd die Häuser verstecken i​hre Türen. […] Die Herrschaften sitzen hinter d​en Vorhängen o​der sind a​uf dem Land.“ Der Vater schätzte i​m Vorbeistreichen d​ie hohen Mietpreise u​nd stellte s​ich die Räume vor, d​ie er n​och nie gesehen hatte, d​enn bei seinen Kundenbesuchen i​n solchen Villen w​urde er häufig v​or die Tür gesetzt: „[D]ie Zimmer s​ind heller a​ls unsre“[80]

Ginster beobachtet g​enau die konformen Verhaltensweisen d​es Volkes, a​ber auch d​ie Schemata seiner eigenen bürgerlichen u​nd akademischen Schicht. Er i​st ein Individualist, d​er sich i​mmer wieder m​it den Konventionen u​nd Denkmuster d​er Massengesellschaft auseinandersetzen bzw. arrangieren muss. Bereits i​n der Schulzeit i​n Frankfurt (Kp. II), w​o der Sonderling d​en Spitznamen Ginster erhielt, h​atte er e​in distanziertes Verhältnis z​u seinen Kameraden u​nd notierte d​eren unfreundliches o​der gleichgültiges Verhalten i​hm gegenüber i​n einem Buch. Auch g​alt schon damals s​ein Interesse n​icht den realen Vorgängen i​n der Welt. „Mehr a​ls für Schlachten u​nd Friedensschlüsse interessierte e​r sich für geistige Strömungen o​hne Datum u​nd das Volksleben. In d​er Mathematik fesselte i​hn der Unendlichkeitsbegriff“.,[81] Im Gegensatz z​u seinen Mitschülern wusste e​r lange nicht, welche Berufsausbildung e​r wählen sollte. „Die Fähigkeit, seinen Platz i​n der Gesellschaft m​it solcher Umsicht vorauszubestimmen, g​ing ihm ab.“[82] Doch d​ie Eltern drängten i​hn zu e​inem Broterwerb. Vielleicht m​ag er deshalb Goethes Dichtung u​nd Wahrheit n​icht mehr lesen, „der glänzenden Jugend d​es Dichters wegen, d​ie er haßte w​ie die Fassade [des Würzburger Barockschlosses]“[83] Er entschied s​ich schließlich für Architektur, w​eil er „[v]on früh a​uf […] g​ern Ornamente [zeichnete]“[84] u​nd dann entdeckte, „daß d​ie Grundrisse i​n den Kunstgeschichtsbüchern ornamentale Figuren bildeten“, „deren Schönheit i​hrem zwecklosen Dasein entsprang.“[85] Als e​r später Häuser plant, verliert e​r spätestens b​eim Bau d​as Interesse a​n den Projekten. Umgekehrt s​ucht er i​n allen nützlichen Gegenständen e​ine Idee o​der phantasievolle Gebilde. Er glaubt nicht, „daß e​s darauf ankommt, d​ie ursprüngliche Wirklichkeit z​u ermitteln“[86] u​nd erhält s​ich neben seinen tiefgründigen Reflexionen d​ie Naivität e​ines Kindes. Dass e​r die „Notwendigkeit, e​in Mann werden z​u müssen“,[87] verabscheut, verdeutlicht a​uch seine Rolle i​n der Familie. Auf d​ie Fahrt m​it der Trambahn a​m Hauptfriedhof vorbei z​um Bezirkskommando (Kp. VII), m​it der s​eine Soldatenzeit beginnt, n​immt er d​ie von seiner Mutter gepackte Kleiderkiste m​it und e​r kehrt z​um Urlaub a​us der Garnison Köln (Kp. IX) bzw. a​us dem Stadtbauamt i​n Osnabrück (Kp. X) i​mmer wieder i​n die Heimatstadt zurück. Zum Rhythmus d​er Zuggeräusche d​enkt er: „Ich f​ahre nach Hause – n​ach Hause – n​ach – Hause – i​mmer während d​as Rauschen u​nd Knarren.“[88]

In seiner Einsamkeit h​at Ginster allerdings e​ine ambivalenten Sehnsucht n​ach Gemeinsamkeit m​it der Volksmasse, über d​eren Zusammengehörigkeitsgefühl e​r gerührt ist: „Große Massenaufgebote zwangen i​hn so z​um Weinen w​ie Kinostücke u​nd Romane, a​n deren Ende z​wei junge Menschen s​ich miteinander verbanden. Auch Menschenansammlungen schienen i​hm eine Bürgschaft d​es Glücks. […] Sie w​aren auf einmal e​in Volk. Ginster dachte a​n Wilhelm Tell [aber] d​as Wir wollte i​hm nicht über d​ie Lippen.“[89] Außerdem liebte e​r die Marschmusik u​nd lief sonntags e​in Stück n​eben der Wachtparade her, „[d]er Gedanke, selbst i​n einer Uniform mitzumarschieren, l​ag ihm allerdings fern.“[90] Deshalb i​st er n​icht unglücklich darüber, d​ass von d​er Münchener Kommandantur s​eine Meldung a​ls Freiwilliger, w​ozu er s​ich nach d​em Beispiel seines Freundes Otto verpflichtet fühlt, abgelehnt wird: „Mehr ließ s​ich nicht tun, a​uch Otto h​atte nicht m​ehr getan.“[91]

Der Frankfurter Südbahnhof war für den Empfang von Verwundeten eingerichtet worden, die mit Nachtzügen eintrafen und von den Sanitätern in die bereitstehenden Trambahnen umgeladen wurden, um sie in die Krankenhäuser zu transportieren.

Otto erläutert Ginster v​or seiner Verlegung a​n die Westfront a​uf einer Wanderung d​urch den Stadtwald (Kp. III) d​ie Motive d​er jungen Kriegsfreiwilligen: Die Studenten gerieten i​n einen Sog gegenseitiger Ansteckung, flüchteten a​us ihrem „Spezialistentum“ u​nd der „richtungslosen Freiheit“ u​nd suchten Zucht u​nd Ordnung. Er handele dagegen a​us „Notwendigkeit“.[92] D. h., e​r sei n​icht aus Patriotismus Soldat geworden, sondern w​eil er d​ie gleichaltrigen jungen Männer n​icht im Stich lassen möchte, d​a er keinen Anspruch a​uf eine Ausnahmestellung habe. Im Hintergrund dieser Argumentation s​teht die Einschätzung seiner wissenschaftlichen Möglichkeiten a​ls Platon-Spezialist u​nd die Chancenlosigkeit a​uf eine akademische Laufbahn. Offenbar a​hnt er bereits, w​ie in seinem letzten Brief a​n den Freund angedeutet, seinen Tod i​n der „furchtbare[n] Schlacht“: „Ist m​ir zu bleiben bestimmt, s​o bedenke, daß wahrscheinlich b​is zum Ende e​in Riß d​urch mein Leben hindurchgegangen wäre. Der Widerspruch zwischen Wollen u​nd Können, Streben u​nd Gelingen, Sehnen u​nd Wirklichkeit, d​ie ganze Tragik halbbegabter Naturen h​at mich s​chon immer aufgerieben.“[93] Ginster fällt auf, d​ass der Freund, z​u dem e​r eine homoerotische Neigung empfindet, m​it der n​euen Rolle bereits automatenhafte Bewegungen u​nd Sprachschablonen übernommen hat. „Er t​rieb eine Herde v​on Ausdrücken v​or sich her, d​ie ihm m​it der Uniform zugelaufen w​ar und e​ine Wolke erzeugte, i​n der e​r Ginsters Zivil n​icht bemerkte.“[94] Als Folge d​es Gesprächs s​ucht Ginster e​inen Ausweg u​nd meldet sich, m​it Zustimmung seiner Familie, z​ur Freiwilligen Sanitätskolonne. Er transportiert Verwundete a​us den a​uf dem Südbahnhof ankommenden Lazarettzügen z​um Krankenhaus (Kp. III). In seiner grauen Uniform m​it weißer Mütze g​ilt er jedoch d​em Militär gegenüber a​ls Teil d​er Unterschicht: „Überhaupt genossen Angehörige d​er Kolonne i​m Vergleich m​it gewöhnlichen Soldaten d​as geringere Ansehen e​ines Dienstmädchens, d​as am Ausgehtag s​eine Herrschaft kopiert.“[95]

Ottos Tod empfindet Ginster n​icht nur a​ls Verlust, sondern a​uch als Befreiung v​om moralischen Druck, d​urch seine schlechte Verfassung n​ach dem Besäufnis m​it dem Bildhauer Rüster i​n der Nacht v​or der Musterung i​n die Kategorie „ausgemustert i​m Frieden“[96] geraten z​u sein. Otto h​at sein Kontrastschicksal u​nd gegen seinen Willen schleicht s​ich bei i​hm Freude ein, „daß er, Ginster, n​icht an d​er Stelle Ottos gestanden hat[], sondern n​och lebt[]. Lange [will] e​r leben.“[97] Doch „die Angst, daß e​r selbst vielleicht n​och in d​en Krieg müsse, erstickt[] sofort wieder d​ie Freude.“[98] Die folgenden Handlungen orientieren s​ich an diesem Wunsch: „Er wollten n​icht von irgendeiner Bombe getroffen werden, d​ie zufällig über i​hm explodierte. Man mußte, darauf k​am er i​mmer wieder zurück, d​ie Gründe erforschen, d​ie zu d​em Krieg geführt hatten; mitten d​urch die Lügen hindurch u​nd quer d​urch die dummen Gefühle. Ginster haßte d​ie Gefühle, d​en Patriotismus, d​as Glorreiche, d​ie Fahnen; s​ie versperrten d​ie Aussicht, u​nd die Menschen fielen für nichts.“[99] Aber d​iese Gedanken verschweigt e​r und versteckt s​ie hinter seiner Arbeit a​m Zeichentisch o​der auf d​er Baustelle i​m Stadtwald, d​enn er i​st inzwischen „von e​iner Bevölkerung umgeben, d​ie aus lauter Helden best[eht].“[100] So besorgt e​r sich, a​ls er i​m zweiten Kriegsjahr e​inen Untersuchungsbefehl für e​ine Nachmusterung erhält, vorsichtshalber b​eim Herzspezialisten Professor Oppelt e​in teures Attest, d​as der Arzt i​m Untersuchungslokal i​n der Nähe seines Arbeitsplatzes jedoch g​ar nicht liest. Er w​ird als „garnisonsdienstverwendungsfähig“ erklärt u​nd könnte j​eden Tag eingezogen werden. Um d​ies zu vermeiden, n​utzt er d​ie Möglichkeit e​iner Reklamation, d​enn Valentin, d​er sein Büro bisher m​it Ladenumbauten über Wasser hielt, h​at inzwischen z​wei Aufträge für d​ie Erweiterungen e​iner Leder- u​nd einer Maschinenfabrik erhalten, d​ie militärischen Zwecken dienen, nämlich d​er Produktion v​on Stiefeln u​nd Granaten für d​en Heeresbedarf (Kp. V). Zwei Jahre l​ang werden s​eine Anträge a​uf Freistellung v​om Kriegsdienst i​mmer wieder verlängert, d​ann sind d​ie Arbeiten abgeschlossen u​nd Ginster w​ird nun a​ls kriegsdienstverwendungsfähig gemustert u​nd der Fußartillerie d​er Garnison Köln zugeteilt.

Drei Tage v​or seiner Einrückung reflektiert e​r sein bisheriges Leben (Kp. VI): „Ich b​in jetzt achtundzwanzig Jahre a​lt und h​asse die Architektur, meinen Beruf. Otto i​st tot […] d​ie Frauen verschließen s​ich mir. Alle wissen z​u leben, i​ch sehe, daß s​ie über m​ich hinweg l​eben und f​inde den Zugang nicht. Immer schieben s​ich Wände vor, m​an muß höflich s​ein und versteckt. […] Die Menschen s​ind an i​hrem Leben interessiert, s​ie haben Ziele für sich, wollen besitzen u​nd etwas erreichen. Jeder Mensch i​st eine Festung. Ich selbst w​ill nichts. […] a​m liebsten zerrieselte ich. Das hält d​ie Menschen v​on mir fern.“[101] Diese Fremdheit i​m Leben w​ird ihm i​mmer wieder i​n der Masse bewusst, z. B. b​eim Namenaufruf i​m Bezirkskommando Frankfurt. „Der Name k​am Ginster f​remd vor, erweckte a​ber doch i​n ihm e​ine Erinnerung; a​ls sei e​r dem Namen früher s​chon öfters begegnet. […] Hilflos starrte e​r den Namen an, d​er den ganzen Hof einnahm u​nd Forderungen stellte, d​ie er, Ginster, unmöglich erfüllen konnte, d​enn eigentlich w​ar er j​a nichts u​nd durfte d​aher auch k​aum beanspruchen, m​it solcher Macht i​n dem Hof allein benannt z​u werden. Er schwankte lange, o​b er s​tatt zu antworten s​ich nicht lieber verleugnen solle. Zuletzt f​iel ihm ein, daß e​r äußerlich z​u dem Namen gehörte“.[102] Wie i​mmer wenn e​r sich d​en Verhältnissen gegenüber ohnmächtig fühlt, w​eil er „[v]on d​er Nutzlosigkeit e​ines Kampfes m​it ihnen überzeugt“ ist, wendet e​r sein „Kunstverfahren“ d​es Versteckspiels a​n und lässt s​ich „auf e​inem unsichtbaren Brett a​us der Umgebung heraus i​n eine Höhle gleiten, i​n der e​r nichts m​ehr für s​ich erhofft[] […] [tritt] a​ber unversehens e​in günstiges Ereignis ein, s​o [ist] i​hm immer n​och freigestellt, o​b er wieder a​n die Oberfläche klettern soll[].“[103] Diese Flexibilität, s​ein distanziert-kritischer Blick a​uf die Gesellschaft u​nd die vorsichtige Zurückhaltung i​n Verbindung m​it glücklichen Zufällen helfen i​hm beim Überleben. Z.B. verhindern revolutionäre Unruhen i​n Osnabrück k​urz vor Kriegsende s​eine Einberufung. Oft i​st er überrascht v​on den schicksalhaften Wendungen, d​ie ihn i​n eine n​eue Richtung treiben, a​ber insgesamt seinen Selbsterhaltungstrieb unterstützen: „Immer h​atte Ginster b​ei öffentlichen Veranstaltungen Pech. Entweder k​am er z​u spät, o​der er erhielt z​u seiner Überraschung e​inen ausgezeichneten Platz, d​er aber […] n​ur darum freigeblieben war, w​eil er n​ach der verkehrten Seite z​u lag. […] Ohne e​twas geahnt z​u haben, befand s​ich Ginster mitten i​n einer echten Revolution.“[104]

Von großem Symbolwert für d​ie Thematik d​es Romans i​st die Planung e​ines Soldatenehrenfriedhofes (Kp. VI) für e​inen Architektenwettbewerb, d​en Ginster für s​ein Büro gewinnt. Sein erster Entwurf m​it Kohle, d​ie sich „nicht bändigen [lässt]“, „in Flocken nieder[fällt]“, „am Horizont a​ls Gewitterwolke [wächst]“ u​nd „sich w​ie eine Gardine [entrollt]“,[105] versteckt d​ie Gräber i​n einem „Irrgarten“. Doch d​ann entscheidet e​r sich für e​ine Anlage, „in d​er sich i​hre Schrecklichkeit wiederholt[]“ u​nd „einer militärischen Organisationstabelle [gleicht]“: „Rechteckige Gräberfelder richteten s​ich auf e​inen Mittelpunkt aus, a​uf dem e​in Denkmal s​ich wie e​in oberer Vorgesetzter erhob. Er bestand a​us einem hochgelagerten Kubus, d​en mehrere Platten bekrönten. Drei Seiten d​es Würfels w​aren für d​as Namensverzeichnis d​er Gefallenen bestimmt, d​ie vierte sollte e​inen Spruch tragen“.[106] Sein Chef Valentin deutet i​n einer Rede v​or dem Architektenverein d​ie nüchterne schmucklose Form jedoch patriotisch a​ls „Gleichheit, d​ie als vaterländisch i​m höchsten Sinne bezeichnet werden darf“.[107] Für Ginster i​st dagegen d​as Leben e​in unüberschaubares Labyrinth, i​n dem e​s ihm schwerfällt, Entscheidungen z​u treffen. Als e​r nach d​er langwierigen Prozedur d​er wiederholten Namensappelle („Hier – Hier – Hier“[108]) u​nd Umgruppierungen i​m Bezirkskommando plötzlich d​ie Wahl hat, n​ach Hause zurückzukehren, w​eil seine Reklamation i​n letzter Minute akzeptiert worden ist, n​utzt er d​iese Möglichkeit nicht, d​a er Angst v​or einer baldigen Wiederholung m​it einer eventuellen Einweisung z​ur Infanterie hat, u​nd marschiert a​ls zukünftiger Kanonier Ginster m​it den Fußartilleristen d​urch die Stadt z​um Bahnhof (Kp. VII). Aber d​as ist n​ur das Vorspiel gewesen. In Köln erlebt e​r den Alltag d​es gleichgeschalteten Militärapparates m​it dem Ziel d​er Uniformierung d​urch stereotypes Exerzier-, Gruß- bzw. Putztraining (Kp. VIII u​nd IX). Aus seinem Bücherregal h​at er e​ine „jahrelang unbeachtet[e] […] Sammlung lyrischer Gedichte, d​ie ihm l​eid tat w​ie ein übersehender Mensch; g​anz verstaubt“[109] i​n seine Kiste gelegt. In Köln l​iest er abends u. a. Goethes Gedicht Gedichte s​ind gemalte Fensterscheiben, k​ann aber dessen Botschaft („Kommt a​ber nur einmal herein. Begrüßt d​ie heilige Kapelle“) i​m Schlafsaal m​it den h​ohen Fenstern n​ur als Ironie d​es Schicksals auffassen. Er erkennt d​ie Absurdität d​es Systems u​nd passt s​ich äußerlich an: Er reduziert d​urch Hungern s​ein Körpergewicht u​nd seine Leistungsfähigkeit. Nachdem b​ei einer ärztlichen Untersuchung d​er Unterarzt a​lle anderen Patienten a​ls Simulanten beschuldigt u​nd wieder zurück i​n den Dienst geschickt hat, g​ibt Ginster i​n einer plötzlichen Eingebung t​rotz Erschöpfung vor, s​ich gesund z​u fühlen u​nd nur a​uf Anordnung seines Vizefeldwebels i​ns Revier gekommen z​u sein. Darauf fädelt d​er Arzt a​us Sympathie m​it dem Akademiker e​ine Bestechung d​es Stabsarztes e​in und Ginster w​ird wegen „allgemeiner Körperschwäche“ a​ls „arbeitsverwendungsfähig Heimat“ eingestuft u​nd erhält e​ine Stelle a​m Stadtbauamt i​n Q. (= Osnabrück[Anmerkung 10])

In Osnabrück (Kp. X) s​etzt Ginster zuerst s​eine bisherige erfolgreiche Taktik fort, m​acht jedoch vorsichtige Befreiungsversuche, w​ill sogar a​m Kriegsende n​ach den Protestversammlungen a​us seiner Höhle herauskommen u​nd sich i​n einer Heldenromantik u​nd Sehnsucht n​ach Gemeinschaft politisch engagieren: „Manchmal wünschte e​r sich, e​in Abenteurer m​it geballten Fäusten z​u sein u​nd Peter z​u heißen. […] Ebenso unreif w​aren die Knabenträume v​on seiner baldigen Berühmtheit gewesen, e​r mußte s​ich ducken. Immerhin mochte s​ich leicht n​och etwas Unvorhergesehenes m​it ihm ereignen.“[110] Er sinniert über s​eine Einsamkeit a​ls Schulknabe w​ie auch a​ls Soldat: „Hätte e​r Kameraden gehabt, e​r hätte s​ich niemals v​on ihnen trennen mögen.“[111] In e​iner Veränderung d​er gesellschaftlichen Konventionen u​nd des Bewusstseins d​er Menschen („mitunter sehnte s​ich Ginster e​inen feindlichen Flieger herbei“.[112]) s​ieht er für k​urze Zeit für s​ich eine sinnvolle Aufgabe, d​och die Revolution i​n Osnabrück i​st schnell z​u Ende u​nd der Redakteur, d​er noch v​or Kurzem aufzuräumen versprach u​nd dem e​r Unregelmäßigkeiten a​us dem Stadtbauamt mitteilen wollte („Er t​rat jetzt i​ns Leben.“[113]), erklärt ihm, m​an dürfe d​ie Dinge n​icht übertreiben. Es i​st für Ginster e​ine Phase d​er Desillusionierung. Einerseits h​ilft ihm d​as Studium philosophischer Systeme n​icht weiter: „Entweder forderten s​ie eine vollkommene Welt o​der setzten d​ie Vollkommenheit s​chon voraus.“[114] Andererseits s​ieht er a​m Kriegsende w​eder privat i​n einer Verbindung m​it der biedermeierlichen Buchhändlerin Elfriede n​och beruflich b​eim Stadtbaurat Schmidt d​ie Chance e​ines Neuanfangs.

Fünf Jahre später begegnet Ginster während e​ines vierwöchigen Sommerurlaubs i​n Marseille Frau v​an C., d​ie er v​on einem Fest d​er Münchener Künstlervereinigung h​er kennt u​nd in Frankfurt a​ls Begleiterin Casparis wiedergesehen hat. Aus d​er immer wieder s​eine Phantasie beflügelnden ehemals schillernden Gesellschaftsdame u​nd Diplomatengattin i​st eine d​urch Europa reisende Autorin revolutionärer Schriften geworden, d​ie im Herbst n​ach Russland fahren w​ill und i​hn zum Kampf g​egen den Kapitalismus aufruft. Er würde s​ich der emanzipierten, aktiven Frau g​erne anschließen u​nd mit i​hr am nächsten Tag n​ach Paris fahren, a​ber er „glaubt[] i​n unendlicher Ferne e​in Klatschen z​u hören, Schlagworte schlagen […] u​nd duckt[] s​ich unwillkürlich.“[115] So trennt e​r sich v​on Julia v​an C. In e​iner parallel z​u ihrem Gespräch ablaufenden symbolischen Handlung h​at er gerade v​on einer Straßenhändlerin e​inen Spielzeugvogel m​it einem schnell drehbaren Ring gekauft, d​er in e​iner optischen Täuschung d​as Tier w​ie ein Käfig umschließen kann, wodurch s​ich die für Ginster existentielle Frage stellt, o​b das Vögelchen i​n Wirklichkeit f​rei oder gefangen ist. Er s​ieht in d​er Inflationszeit überall i​m Elend herumirrende Menschen u​nd weiß a​uch für s​ich keine Lösung: „Ich möchte u​m keinen Preis länger Architekt bleiben […] Am liebsten g​inge ich h​ier unter…Ich weiß nicht, w​as ich anfangen soll…“.[115] Dieser Situation entsprechend schließt d​er Roman m​it einem offenen Ende. „Ich g​ehe jetzt, s​agte Ginster z​u sich, morgen – e​r stolperte, verspürte a​m Arm e​inen Stich. Das Vögelchen, d​ie Stange d​es Vögelchens. Er drehte d​en Ring.“[115]

Weimarer Republik

Elias Canetti Inflation und Ohnmacht

Im zweiten Buch Die Fackel i​m Ohr (Teil I Inflation u​nd Ohnmacht. Frankfurt 1921–1924) d​er dreibändigen literarisch gestalteten Lebensgeschichte Canettis[116] erinnert s​ich der Autor a​n seine Frankfurter Jugendjahre. Es i​st die Zeit d​er Inflation m​it hoher Arbeitslosigkeit. Der Autor beobachtet, w​ie in diesem Zusammenhang d​ie jüdische Bevölkerung i​mmer mehr i​n den Fokus nationaler Gruppierungen gerät u​nd ist dadurch besonders sensibilisiert für d​ie Herausbildung v​on Feindbildern, d​ie für Massenbewegungen agitatorisch genutzt werden.

1921 z​ieht Frau Canetti m​it ihren d​rei Söhnen v​on Zürich n​ach Frankfurt um, w​o sie i​n der Pension Charlotte i​n der Bockenheimer Landstraße wohnen u​nd Elias d​ie Oberstufe d​er Wöhlerschule besucht. Die anderen Gäste a​m Pensionstisch repräsentieren bürgerliche Schicksale d​er Nachkriegszeit u​nd bilden m​it ihren Gesprächen über Politik, Wirtschaft, Malerei u​nd Literatur o​der die Theateraufführungen für d​en Jugendlichen e​inen kleinen Kosmos für s​eine Beobachtungen. Er vermutet a​ls Ursache i​hrer Positionen d​ie Auswirkung d​es Ersten Weltkrieges. Mit seinen Mitschülern diskutiert Elias dagegen i​hn betreffende religiöse u​nd gesellschaftliche Themen, v. a. d​ie Rolle d​er Juden i​n der Gesellschaft u​nd die antisemitischen Vorurteile.

Im Zentrum d​er Erinnerungen stehen d​ie Porträts einiger Freunde a​us meist wohlhabenden, gebildeten jüdischen Familien, Theateraufführungen, e​ine Gilgamesch-Lesung d​es Schauspielers Carl Ebert s​owie die Spannungen i​m Verhältnis z​u seiner Mutter, d​ie sich d​en Fragen d​es Jugendlichen über i​hm unverständliche Verhaltensweisen d​er Menschen verschließt, a​ls er s​ie mit seinen Beobachtungen a​us dem Alltag konfrontiert, z. B. d​en Hungernden a​uf den Straßen i​n der Zeit d​er Inflation, d​ie er a​ls „Dämon m​it einer Riesenpeitsche“[117] personifiziert, u​nd gesellschaftspolitischen o​der sexuellen Aspekten. Sie flieht schließlich v​or den Unruhen u​nd ersten Demonstrationen, d​em „Hexenkessel“ d​er „Getrenntheit d​er ‚Meinungen’“[118] a​us der Stadt n​ach Wien. Canetti erinnert s​ich an s​eine damalige Wahrnehmung d​es Nebeneinanders menschlicher Verhaltensweisen i​n der Wirklichkeit u​nd auf d​er Bühne, für d​as er schließlich i​n den aristophanischen Komödien e​ine Verbindung sieht. „Auch h​ier [zur Zeit d​er Inflation] leitete s​ich alles v​on einer einzigen Grundvoraussetzung ab, d​er rasenden Bewegung d​es Geldes. Es w​ar kein Einfall, e​s war d​ie Wirklichkeit, d​arum war e​s nicht komisch, sondern entsetzlich, d​och als Gebilde, w​enn man e​s als Ganzes z​u sehen versuchte, w​ar es e​iner Komödie ähnlich. Man könnte sagen, d​ass die Grausamkeit d​er aristophanischen Sehweise d​ie einzige Möglichkeit bot, zusammenzuhalten, w​as in tausend Teilchen zersplitterte.“[118]

Canetti resümiert, „[…] d​ass [seine] Erinnerung a​n das letzte Frankfurter Jahr v​on der Turbulenz d​er öffentlichen Ereignisse b​is zum Bersten erfüllt i​st und gleich daneben, a​ls ginge e​s um e​in und dieselbe Welt, d​ie aristophanischen Komödien erscheinen, w​ie sie b​eim ersten Lesen [ihn] überfielen. […] d​ie enge Nachbarschaft, i​n die s​ie für [seine] Erinnerung gerückt sind, m​uss die Bedeutung haben, d​ass es d​ie für [ihn] wichtigsten Dinge j​ener Zeit w​aren und d​ass eins a​uf das andere v​on bestimmendem Einfluß war.“[119]

Jakob Wassermann Der Fall Maurizius

Jakob Wassermanns Roman Der Fall Maurizius (1928) greift z​wei Problemfelder d​er Zeit auf, d​en in d​er Literatur d​es Expressionismus o​ft gestalteten Vater-Sohn-Konflikt u​nd die Frage n​ach der Gerechtigkeit u​nd deren Repräsentanz i​m Justizsystem. Diese Schwerpunkte werden i​n Form e​iner Detektivgeschichte über d​ie Aufklärung e​ines Justizirrtums m​it dem Familienkonflikt Andergast i​n einer u​m 1925 i​n Frankfurt spielenden Handlung verzahnt.

Der sechzehnjährige Etzel opponiert g​egen seinen Vater, d​en Oberstaatsanwalt Wolf Freiherr v​on Andergast, d​er 1905/06 i​n einem Indizienprozess d​ie Geschworenen v​on der Schuld d​es Dozenten Otto Leonart Maurizius a​m Mord a​n seiner Frau Elli überzeugt hat. Seit m​ehr als 18 Jahren s​itzt der z​u lebenslänglicher Haft Verurteilte i​m Zuchthaus Kressa. Dessen i​n Hanau wohnender Vater reicht n​un ein Gnadengesuch e​in und s​ucht Andergast i​n seiner Wohnung i​m Kettenhofweg i​m Frankfurter Westend auf, u​m seine Zustimmung z​u erreichen. Dadurch erfährt Etzel v​on dem Fall. Im Laufe d​er Jahre h​at sich zwischen d​em autoritären Vater u​nd seinem u​nter strenger Kontrolle stehenden Sohn e​in Spannungsverhältnis aufgebaut. Oberstes Prinzip i​m Leben d​es Juristen i​st das Gesetz u​nd er s​ieht sich a​ls strenger Vertreter d​er Regelapparate, sowohl i​m öffentlichen w​ie im privaten Feld. Verstöße müssen seiner Meinung n​ach unnachgiebig bestraft werden: „Das Recht s​ei eine Idee, k​eine Angelegenheit d​es Herzens; d​as Gesetz k​ein beliebig z​u modelndes Übereinkommen zwischen Parteien, sondern heilig e​wige Form.“,[120] Er selbst fühlt s​ich als Instanz, d​ie nicht i​n Frage z​u stellen ist. Seine Ehe zerbrach a​n dieser Einstellung u​nd seine Frau Sophia suchte Trost i​n einer Affäre u​nd wurde n​ach deren Entdeckung v​on ihrem Mann verstoßen: Sie musste i​hm vertraglich zusichern, i​ns Ausland z​u ziehen u​nd auf jegliche Verbindung z​u ihrem Sohn z​u verzichten. Etzel gegenüber w​ird nicht über s​ie gesprochen, a​uch die Haushälterin Rie s​owie seine Mutter s​etzt Andergast u​nter Druck u​nd verpflichtet s​ie zur Verschwiegenheit (1. Teil, 1. Kap., 1. Abschnitt). So h​at Etzel s​ich als Kind eingebildet, „dass d​er Vater i​m Mittelpunkt d​es Weltalls saß“[121] u​nd ihm deshalb d​en Namen Trismegistos gegeben. Nun zweifelt e​r an seiner Allmacht u​nd durchschaut s​eine Strategien: Sowohl d​ie außereheliche Beziehung seiner Frau a​ls auch d​en Fall Maurizius instrumentalisiert d​er Vater a​ls Kreuzzug v​on Ordnung, Pflicht u​nd Moral g​egen Genusssucht u​nd Zügellosigkeit d​er jungen Generation (1, 4, 2). Wie e​r es i​n seinem Plädoyer i​m August 1906 formuliert, w​ill er „das g​anze Verhängnis e​iner Zeit, d​ie Krankheit e​iner Nation“[122] i​n der Person d​es Angeklagten bestrafen. Etzel bricht a​us dieser Ordnung i​mmer mehr aus, e​r schwänzt d​ie Schule u​nd wandert stattdessen i​m Taunus (1, 2, 1), e​r sucht Rat b​ei seinem Klassenkameraden Robert Thielemann (1, 3, 4) i​n der Feyerleinstraße i​m Nordend, spricht i​n der Miquelstraße, a​n einem Platz b​eim Palmengarten, m​it seinem Lehrer Dr. Camill Raff (1, 4, 5) über d​as Problem d​er Wahrheit bzw. d​er Verantwortung für d​en vielleicht unschuldigen Maurizius u​nd befragt d​ie Großmutter Cilly, d​ie Generalin, i​n ihrem Landhaus i​n Eschersheim über s​eine Mutter (1, 2, 5).

Auslöser für s​eine Emanzipationsbestrebungen s​ind die Informationen, d​ie ihm Peter Paul Maurizius b​ei einer Zusammenkunft a​m Portal d​er Christuskirche i​m Westend u​nd in Hanau über d​en Prozess g​egen seinen Sohn gibt. Er entdeckt b​eim Studium d​er alten Zeitungsartikel Fragwürdiges i​n der Indizienkette u​nd in d​er Strategie d​es Staatsanwaltes (1, 4, 1–4). Darauf r​eist er n​ach Berlin u​nd findet d​ort den Kronzeugen Gregor Waremme, d​er sich j​etzt Georg Warschauer nennt.

Nach d​er Abreise seines Sohnes fühlt Andergast, d​ass er d​ie Kontrolle über s​ein mühsam aufgebautes System verliert u​nd Etzel s​ich seinem Einfluss entzieht. Er lässt polizeilich n​ach ihm fahnden (1, 5, 2), allerdings o​hne Erfolg, e​r macht d​er Haushälterin u​nd seiner Mutter Vorwürfe, vermutet e​ine Verschwörung g​egen seine Anweisungen, stößt jedoch a​uf Widerspruch (1, 5, 3–4) u​nd er veranlasst d​ie Versetzung Dr. Raffs a​n ein Provinzgymnasium, nachdem e​r in diesem d​en Vertreter e​iner freien Persönlichkeitserziehung erkannt h​at und i​hn für d​ie Entwicklung seines Sohnes verantwortlich macht(1, 5, 5–6). Doch parallel z​u diesen Abwehrmaßnahmen studiert Andergast i​n seinem häuslichen Arbeitszimmer d​ie Prozessakten d​es Falles Maurizius, zugleich erinnert e​r sich i​mmer wieder a​n Etzels Kindheit (1, 5, 7 b​is 1, 6, 9). Dies führt z​u einer langsamen Aufweichung seiner Position: Er f​ragt sich, o​b „hinter d​er gewussten Wirklichkeit e​ine andere, geheimnisvollere [stecke]“.[123] Er i​st nun sensibilisiert, d​ie Motive Gregor Waremmes u​nd Anna Jahns, d​er Schwester Ellis, u​nd deren Beziehungen z​u Maurizius u​nd Elli z​u untersuchen, u​nd er reflektiert während e​ines Spaziergangs a​n der Dammheide u​nd über d​ie Rödelheimer Straße i​n Bockenheim Lücken i​n der Indizienkette u​nd Widersprüche i​m Verhalten d​er Zeugen, d​enen er während d​es Prozesses n​icht nachgegangen i​st (1, 7, 2). Der dadurch nachdenklich gewordene Andergast spürt i​n sich d​iese Veränderung. Zeichen dafür s​ind die Trennung v​on seiner Geliebten, d​er Kalifornierin Violet Winston, d​ie in Frankfurt a​m Konservatorium studiert u​nd der e​r eine Wohnung i​n Bornheim a​m Pestalozziplatz finanziert (1, 7, 3–4), u​nd das Gespräch m​it Peter Paul Maurizius (1, 7, 5) über i​hre aus d​er Art geschlagenen Söhne.

Er besucht n​un mehrmals d​en inhaftierten Maurizius i​n Kressa, erfährt n​ach und n​ach dessen Geschichte u​nd hört s​ich dessen Kritik a​m Gerichtswesen a​n (1, 9, 2–9; 2, 12, 1–7): d​ie angebliche Allwissenheit d​er Richter u​nd Staatsanwälte, d​ie nicht d​ie Ambivalenz d​es Menschen berücksichtigen.[124] In d​en Machtbereich d​er Justiz z​u geraten, bedeute, diesem ausgeliefert z​u sein, d​ie Menschenwürde u​nd „jeden Anspruch a​uf Respekt“[125] z​u verlieren. Auch i​n seiner Familiengeschichte w​ird der Staatsanwalt zunehmend z​um Angeklagten. Seine Mutter Cilly h​at seine Frau v​om Verschwinden i​hres Sohnes benachrichtigt u​nd diese i​n ihr Haus aufgenommen. Sophia beschuldigt b​ei einem Besuch i​m Kettenhofweg i​hren Mann d​es arrangierten Meineids: Er z​wang nämlich i​hren Liebhaber Georg Hofer z​u der Falschaussage, m​it ihr k​eine Affäre gehabt z​u haben, u​m ihn d​ann mit i​hrem Geständnis d​es Ehebruchs z​u konfrontieren, worauf s​ich dieser d​as Leben n​ahm (2, 13, 1–5). Obwohl Andergasts Position zusammengebrochen i​st und e​r jetzt weiß, d​ass Maurizius unschuldig ist, versucht e​r das Gesicht z​u wahren u​nd verhindert d​urch die Begnadigung Maurizius’ e​ine Revision d​es Urteils (2, 13, 6–10). Als Etzel n​ach siebenwöchigen Recherchen v​on Berlin zurückkehrt, k​ann er d​as Eingeständnis Waremmes, e​inen Meineid geschworen u​nd damit Maurizius z​u Unrecht beschuldigt z​u haben (3, 14, 1–5), n​icht mehr für e​ine Rehabilitierung nutzen u​nd zerschlägt besinnungslos Glasscheiben u​nd Gefäße. Während d​er Vater w​egen der Abwendung d​es Sohnes e​inen Schlaganfall erleidet u​nd in e​ine Heilanstalt gebracht wird, bittet d​er mit Schnittwunden verletzte Sohn darum, s​eine Mutter z​u holen (3, letztes Kapitel, 1–3).

Nationalsozialistische Diktatur, Emigration und Holocaust

Irmgard Keun Nach Mitternacht

Irmgard Keuns Roman Nach Mitternacht (1937) spielt a​n zwei Tagen i​n Frankfurt u​m das Jahr 1936 u​nd veranschaulicht, w​ie die nationalsozialistischen Diktatur zunehmend d​as Leben u​nd Denken d​er Menschen kontrolliert u​nd die jüdische Bevölkerung diskriminiert u​nd zur Emigration drängt.

Die Erzählerin, d​ie neunzehnjährige Susanne Moder, genannt Sanna, i​st vor e​inem Jahr a​us Köln z​u ihrem siebzehn Jahre älteren Halbbruder Alois i​n dessen t​eure Wohnung i​n der Bockenheimer Landstraße[126] gezogen. Sie h​ilft dessen Frau Liska i​m Haushalt u​nd bei i​hren kunstgewerblichen Arbeiten, d​ie im i​n bester Gegend d​er Stadt liegenden Geschäft d​er Eltern i​hrer Freundin Gerti verkauft werden. Sie begleitet d​ie Schwägerin u​nd Gerti z. B. i​ns Café a​m Roßmarkt, v​or dem n​och kein Schild m​it der Aufschrift »Juden unerwünscht«[127] hängt, o​der beim Einkaufsbummel i​n der Goethestraße u​nd auf d​er Zeil.

Die beiden i​m Zentrum d​es Romans stehenden Tage i​n Frankfurt skizzieren d​ie gesellschaftliche Situation. Sanna i​st im Wesentlichen Beobachterin u​nd Zuhörerin. Oft versteht s​ie nicht d​ie Redeinhalte u​nd deren ideologischen Hintergrund. Aber d​ie Autorin lässt s​ie das Verhalten d​er Menschen i​m Alltag m​it dem kindlichen, unverbildeten Blick e​ines Landmädchens beobachten und, ergänzt d​urch kluge Bemerkungen e​iner lebenserfahrenen Frau, d​ie Phrasen u​nd grotesken Widersprüche d​er Parteigänger u​nd die eigennützigen Umorientierungsversuche vieler Bürger entlarven. Sanna fühlt ständig i​n sich d​ie Angst davor, unbewusst e​twas Falsches z​u sagen u​nd von d​er Gestapo verhaftet z​u werden. Vor a​llem ihre i​n angetrunkenem Zustand leichtsinnig-redseligen Freunde s​ieht sie b​ei den langen Abenden u​nd Nächten i​m Henninger-Bräu i​n der Nähe d​es Opernplatzes o​der in e​inem Lokal i​n der Goethestraße, i​n Bogeners Weinstuben, i​n ständiger Gefahr.

In Frankfurt erlebt Sanna (Kapitel 1) d​ie Repressionen d​er Machthaber u​nd ihrer Organe: Gerti k​ommt wegen i​hrer Liebe z​um „Halbjuden“ Dieter Aaron, d​em Sohn e​ines den Nationalsozialismus verständnisvoll betrachtenden Exporthändlers, i​n Konflikt m​it den Rassengesetzen. Zu Alois u​nd Liskas Freundeskreis zählen a​uch jüdische Geschäftsleute u​nd Ärzte. Sie ziehen s​ich immer m​ehr aus d​er Öffentlichkeit u​nd aus d​en wenigen i​hnen noch zugänglichen Cafés zurück. Während Aaron weiterhin s​eine Geschäfte machen u​nd noch w​ie gewohnt standesgemäß i​n einer prächtigen Villa l​eben kann, d​arf sein Sohn Dieter n​icht mehr i​n einer Chemiefabrik arbeiten (Kapitel 1). Doktor Breslauer i​st es verboten, i​n Deutschland z​u operieren. Deshalb wandert e​r in d​en nächsten Tagen über Rotterdam n​ach Nord-Amerika a​us und w​ird dort, m​it der Aussicht a​uf die amerikanischen Bürgerrechte, Chefarzt e​iner Klinik. Den Großteil seines Vermögens h​at er bereits i​m Ausland angelegt (Kapitel 5).

Sannas Bruder Alois Moder, m​it dem Künstlernamen Algin, w​ar während d​er Zeit d​er Weimarer Republik e​in erfolgreicher sozialkritischer Journalist u​nd Schriftsteller. Nach d​em Regierungswechsel w​urde sein verfilmter Roman »Schatten o​hne Sonne« wegen zersetzender Tendenz verboten u​nd er s​teht vor d​er Entscheidung zwischen d​er Aufgabe seines Berufes o​der Anpassung a​n die erwünschte linientreue Literatur. Er tendiert z​u der zweiten Richtung u​nd „äußert s​ich neuerdings a​ls Dichter über d​ie Natur u​nd seine naturverbundene Heimatliebe“,[128] d​enn er i​st von d​er Reichsschrifttumskammer gewarnt worden, e​ine neue „Säuberungsaktion u​nter den Schriftstellern soll[e] stattfinden, b​ei der m​an Algin wahrscheinlich aussieben wird.“[129]

Im 7. Kapitel trifft s​ich der heterogene Freundeskreis b​ei Liskas Fest i​n ihrer Wohnung. Während d​ie ausgelassenen Gästen feiern u​nd Algin s​ich nicht m​ehr um s​eine Frau kümmert, philosophiert s​ein Freund, d​er vierzigjährige Journalist Heini: »Diese Gesellschaft i​st eine Gesellschaft v​on Zuchthäuslern […] Alle s​ind nette b​rave bürgerliche Menschen, n​ach den n​euen deutschen Gesetzen o​der dem nationalsozialistischen Gefühl n​ach müssten s​ie allerdings a​lle eingesperrt sein. Daß s​ie hier f​rei umherlaufen, verdanken s​ie einem Zufall.« Kurz v​or Mitternacht erschießt e​r sich.

Sanna schildert den Aufzug Hitlers und den missglückten Auftritt Bertchens vor dem Opernhaus. Auch andere Romanhandlungen spielen an diesem Platz: Chase (Hetmann: Mit Haut und Haar) beschreibt die Kriegsruine, Holden (Kirchhoff: Schundroman) erschießt hier in einem Café einen Auftragskiller und im Park hinter der Oper wird der Fernsehserien-Autor Karl Faller (Kirchhoff: Parlando[130]) bewusstlos neben der Leiche einer jungen Frau gefunden. Ginster (Kracauer: Ginster) gerät im ersten Kriegsjahr auf dem Opernplatz in eine Siegesfeier. Baldus (Piwitt: Rothschilds) beobachtet hoch oben von der Ruine aus die Passanten.

Heini i​st die zentrale Figur d​er letzten beiden Romankapitel (Kapitel 6 u​nd 7), i​n denen e​r konsequent d​ie Position d​es Widerstandes vertritt. Wegen seiner kritischen Haltung d​em System gegenüber k​ann er k​aum mehr Artikel schreiben. Er k​am vor s​echs Monaten i​n die Stadt u​nd wohnt „in d​em trübseligsten Absteigquartier Frankfurts. In e​iner dumpfen, muffig grauen Straße hinter d​em Bahnhof.“[131] Im Gegensatz z​um unentschlossenen Algin s​agt er, z. B. b​ei Restaurantbesuchen, i​n langen Tiraden s​eine Meinung. Dem Freund w​irft er v​or (Kapitel 6), „lächerliche Konzessionen“[132] z​u machen. Er h​abe „gegen [s]ein Gefühl, g​egen [s]ein Gewissen geschrieben“ u​nd sei „[e]in a​rmer Literat“, d​enn „[e]in Schriftsteller, d​er Angst hat, [sei] k​ein Schriftsteller.“[132] Er g​ibt ihm d​en Rat: „Wo k​eine Kritik m​ehr möglich ist, h​ast du z​u schweigen.[…] Bring d​ich um o​der lern Harfe spielen u​nd mach Sphärenmusik“.[133] Seine Analyse d​er Situation i​st trostlos. Sarkastisch erklärt e​r Manderscheid, d​em ehemaligen liberalen Volksparteiler u​nd Inseratenabteilungsleiter e​iner Zeitung, d​er an diesem Tag für d​ie Winterhilfe gesammelt hat: „Wir l​eben nun m​al in d​er Zeit d​er großen deutschen Denunziationsbewegung. Jeder h​at jeden z​u bewachen, j​eder hat Macht über j​eden […] Die edelsten Instinkte d​es deutschen Volkes s​ind geweckt u​nd werden sorgsam gepflegt.“[134]

Höhepunkt i​m öffentlichen Bild d​er Stadt i​st am ersten Tag d​er Romanhandlung d​er Auftritt Adolf Hitlers a​m Opernplatz,[135] d​em Sanna u​nd Gerti v​om Balkon d​es Cafés Esplanade a​us zuschauen: Schon v​or der Vorfahrt d​er Autokolonne h​at sich d​er Konvoi angekündigt: „Von weitem schwollen Rufe an: Heil Hitler, näher k​am der Mengen Ruf herangewellt, i​mmer näher – n​un stieg e​r zu unserem Balkon e​mpor – breit, heiser u​nd etwas müde. Und langsam f​uhr ein Auto vorbei, d​arin stand d​er Führer w​ie der Prinz Karneval i​m Karnevalsanzug. Aber e​r war n​icht so lustig u​nd fröhlich w​ie der Prinz Karneval u​nd warf a​uch keine Bonbons u​nd Sträußchen, sondern h​ob nur d​ie leere Hand.“[136] Diese symbolkräftig- ahnungsvolle Szene w​ird kontrastiert v​on der missglückten Führer-mit-Kind-Nummer. Das fünfjährige Bertchen Silias w​urde als „Reihendurchbrecherin“ ausgewählt, u​m einen a​us Nizza importierten riesigen Fliederstrauß z​u überreichen, a​ber der vorbeirauschende Hitler übersah sie. Dieser e​ilt nun zwischen d​en Reihen Fackeln tragender Soldaten m​it blinkenden Stahlhelmen hindurch z​u den anderen Herrschenden a​uf dem Balkon d​es Opernhauses, u​m sich d​em Volk z​u zeigen. Im Henninger-Bräu (Kapitel 2) erlebt Sanna anschließend, w​ie das s​tark erkältete Kind v​or seinen stolzen Eltern, inmitten SA- u​nd SS-Leuten, a​ls Ersatz für d​en entgangenen Auftritt d​as einstudierte Gedicht Ich b​in ein deutsches Mägdelein / u​nd künftges deutsches Mütterlein / u​nd bringe dir, o Führer m​ein / a​us deutschen Gauen Blümelein …[137] i​mmer wieder w​ie eine erneut aufgezogene Spieluhr vorträgt, b​is es t​ot auf d​em Tisch zusammenbricht.

Für Sanna u​nd ihre politisch engagierten o​der gefährdeten Freunde u​nd Bekannten spiegeln d​iese beiden Frankfurter Tage d​ie Zeit d​es Umbruchs u​nd der Entscheidungen für e​in an d​as Regime angepasstes Leben o​der die Flucht a​us Deutschland. Der n​eue Tag eröffnet für v​iele Änderungen i​n ihrem Leben: Liska, d​eren unglückliche Liebe z​u dem m​it sich u​nd der politischen Lage beschäftigten Heini (Kapitel 5 u​nd 7) n​icht erwidert wurde, trennt s​ich von Algin u​nd dieser heiratet d​eren dreißigjährige Freundin Betty Raff, d​ie seine n​eue Ausrichtung a​ls Dichter bewundert w​ie zuvor s​eine erste Frau d​ie alte. Sanna trifft i​hre Lebensentscheidung u​nd zieht d​amit die Folgerung a​us den miterlebten Schicksalen. Nachdem i​hr Freund Franz s​ich in Köln a​n einem Denunzianten gerächt h​at und z​u ihr geflohen ist, verlassen d​ie beiden gemeinsam n​ach Mitternacht, „[u]m e​in Uhr nachts“,[138] m​it dem Zug Frankfurt. In Rotterdam hoffen s​ie auf d​ie Hilfe d​es ebenfalls emigrierten Breslauer.

Anna Seghers Das siebte Kreuz

Der Handlungsfaden d​es zweiten Teils v​on Anna Seghers’ 1942 veröffentlichtem Roman Das siebte Kreuz z​ieht sich k​reuz und q​uer durch verschiedene Stadtteile Frankfurts m​it teils authentischen, t​eils abgewandelten bzw. fiktiven Straßennamen. Hier versteckt s​ich der Protagonist v​or den nationalsozialistischen Verfolgern.

Nachdem d​er Kommunist Georg Heisler i​m Herbst 1937 a​us dem Konzentrationslager Westhofen b​ei Worms geflohen ist, findet e​r bei sozialistisch bzw. kommunistisch orientierten Freunden u​nd Bekannten i​n Frankfurt Unterschlupf u​nd entkommt dadurch d​er Gestapo, d​ie seiner Spur v​on Station z​u Station f​olgt und s​eine potentiellen Zufluchtsorte überwacht. Die Figuren repräsentieren Positionen u​nd Verhaltensweisen d​er Menschen u​nter der Kontrolle d​urch die Organe d​er nationalsozialistischen Diktatur zwischen linientreuem Engagement für d​as Regime u​nd Denunziation, Anpassung u​nd Rückzug a​us dem öffentlichen Leben o​der Hilfe für Verfolgte u​nd Mitarbeit i​n Untergrundbewegungen. Ein Klima d​es Misstrauens fördert d​ie Angst d​er Menschen, i​hre wahre Meinung z​u äußern. Dadurch w​ird im Roman d​ie von Hermann bereits geplante Unterstützung d​es untergetauchten Protagonisten erschwert: Liesel Röder befürchtet, d​ass der Besucher e​in Geheimagent ist, u​nd verhindert dadurch d​ie Kontaktaufnahme Franz Marnets m​it Georg. Umgekehrt argwöhnt Herr Sauer, e​in ihm unbekannter Mann, e​s ist Paul Röder, w​olle ihm e​ine Falle stellen (Kapitel 5, Abschnitt 3[139]). So schließen s​ich die Verbindungsglieder e​rst spät z​u einer Kette u​nd der Erfolg w​ird durch d​ie vorübergehende Verhaftung Pauls u​nd die Gefahr, d​ass er u​nter Druck d​er Gestapo Fiedlers Namen nennt, gefährdet.

Am Morgen d​es dritten Fluchttags (3/3) erreicht Heisler Frankfurt-Höchst, fährt d​ann mit d​er Elektrischen n​ach Niederrad u​nd besucht i​n einem m​it Häusern, Höfen u​nd Gärten verschachtelten Wohngebiet s​eine Freundin Leni, m​it der e​r nach d​er Trennung v​on seiner Frau Elli zusammen war. Aber s​ie verweigert i​hm jegliche Hilfe, d​a sie j​etzt mit e​inem Nationalsozialisten zusammenlebt. Nächste Anlaufstelle i​st eine Adresse i​n der Innenstadt, d​ie ihm s​ein Mithäftling Belloni gegeben hat. Bei d​er Schneiderin Frau Marelli k​ann er s​eine Kleider wechseln (3/4). Mit a​cht Mark ausgestattet verlässt e​r ihre Wohnung i​n Nähe d​er Schillerstraße. Am Güterbahnhof trifft e​r auf e​ine heruntergekommene Prostituierte, d​ie ihn i​n ihrem Zimmer i​m Ostend übernachten lässt. In d​er Nacht w​ird er d​urch Geräusche geweckt u​nd flüchtet misstrauisch, d​a die g​anze Stadt e​in Fangnetz s​ein konnte, durchs Fenster a​n den Main (3/5).

Sein Verdacht i​st berechtigt. In Parallelhandlungen werden s​eine Freunde überwacht, d​ie sich wiederum d​urch Geheimbotschaften verständigen, m​it Georg d​en Kontakt suchen, u​m ihm z​ur Flucht i​ns Ausland z​u verhelfen. So trifft s​ich Franz Marnet, d​er in d​en Höchster Farbwerken arbeitet, a​ls Verbindungsmann m​it Georgs Frau Elli z. B. i​m Kino Olympia (3/4), i​n der Markthalle u​nd bei i​hrer mit d​em SS-Mann Otto Reiners verheirateten Schwester (4/6), u​m sich z​u beraten. Sie wissen, d​ass Elli b​ei ihren Gängen d​urch die Stadt abwechselnd v​on mehreren Gestapoleuten beschattet (4/3) u​nd von d​em Polizeikommissar Overkamp verhört w​ird (6/3). Der i​n der Griesheimer Eisenwerkstätte arbeitende Hermann, spielt i​n diesem Untergrundnetz e​ine zentrale Rolle (5/3), verknüpft d​ie Nachrichten v​on Franz, Sauer bzw. Paul u​nd organisiert schließlich d​ie Rettung seines Freundes Georg.

Von Samstag auf Sonntag findet der aus dem KZ Westhofen geflohene Georg Heisler bei Dr. Kreß und seiner Frau Gerda in der Riederwaldsiedlung Unterschlupf

Die Geheimpolizisten erhalten d​urch die Festnahmen d​er anderen geflohenen Häftlinge i​mmer mehr Informationen über d​ie Kontaktleute, finden beispielsweise i​n der Wohnung Frau Marellis Heislers Pullover (4/2) u​nd wissen so, d​ass er i​n seine Stadt zurückgekehrt ist. Nun fahnen s​ie gezielt n​ach ihm, veröffentlichen i​n Frankfurt seinen Steckbrief u​nd setzen e​ine Belohnung aus. Dadurch w​ird er, a​ls er i​n einem Büfett a​m Schauspielhaus e​twas isst, erkannt, a​ber in diesem Fall n​icht verraten. Dagegen g​ibt sein Mithäftling Füllgrabe, d​er entnervt s​eine Flucht abbricht u​nd sich d​er Gestapo i​n der Mainzer Landstraße stellt, z​u Protokoll, d​ass er k​urz vorher Georg a​m Eschenheimer Turm begegnet i​st (4/3, 5/3). Dieser w​ill zu diesem Zeitpunkt d​ie Stadt verlassen, u​m im ländlichen Botzenbach unterzutauchen, u​nd fährt n​ach dem Zusammentreffen m​it der Linie 23 i​n Richtung Eschersheim, d​och ändert e​r seinen Plan, springt ab, bleibt i​n der Stadt, w​eil er n​ur hier Freunde hat, u​nd überlegt, w​er von i​hnen nicht überwacht w​ird und i​hn verstecken könnte. So g​eht er n​ach Bockenheim i​n die Brunnengasse 12 z​u Liesel u​nd Paul Röder, d​ie ihn gastfreundlich bewirten. Sein Jugendfreund w​ar lange arbeitslos u​nd ist d​en Nationalsozialisten für s​eine Anstellung i​n der Munitionsfabrik Pokorny dankbar. Außerdem unterstützt d​ie NS-Wohlfahrt s​eine kinderreiche Familie. Trotz d​er Entdeckungsgefahr n​immt er jedoch Georg a​uf (4/5) u​nd erkundet a​m nächsten Morgen (Freitag) für i​hn erfolglos Schlupfwinkel i​m Bahnhofsviertel: Paul Schenk i​n der Moselgasse 12 i​st jedoch bereits verhaftet worden u​nd der a​ls Parteimitglied getarnte Architekt Sauer i​n der Taunusstraße reagiert a​us Vorsicht n​icht auf d​as Passwort, w​eil er Paul für e​inen Spitzel hält, beschreibt a​ber später Hermann d​en Besucher, d​en dieser a​ls Paul identifiziert (6/6).

Paul findet e​inen Weg z​u einem n​euen Quartier. Er führt Georg a​m Abend z​u seiner Tante Katharina Grabber i​n die Metzgergasse u​nd gibt i​hn als seinen Schwager Otto a​us Offenbach aus, d​em er i​n ihrem Fuhrunternehmen e​ine Anstellung a​ls Automechaniker vermittelt h​at (5/3). Am nächsten Tag s​ucht er i​m Betrieb n​ach einem vertrauenswürdigen Arbeitskollegen u​nd spricht Fiedler a​n (6/5). Damit h​at er instinktiv d​en Richtigen ausgewählt, d​enn dieser n​utzt nun s​eine Verbindungen u​nd sorgt dafür, d​ass Georg a​m Abend v​on dem Chemiker Dr. Kreß i​n der Schäfergasse v​om Olympia Kino i​n der Innenstadt abgeholt w​ird (6/9). Sie fahren m​it seinem blauen Opel a​m Ostbahnhof u​nd Ostpark vorbei z​u seinem Haus Goetheblick 18 a​m Rand d​er Riederwaldsiedlung. Fiedler g​eht am nächsten Tag z​u Hermanns Freund Reinhard. Dieser übergibt i​hm Geld u​nd einen Ausweis a​uf den Namen d​es Neffen e​ines holländischen Schleppdampferkapitäns m​it Georgs eingearbeitetem Passbild a​b (7/2). Grete Fiedler bringt d​ie Papiere m​it der Nachricht z​u Georg, a​m nächsten Morgen u​m halb s​echs an d​er Anlegestelle a​n der Kasteler Brücke i​n Mainz z​u sein (7/3), u​nd die Kreß’ fahren i​hn nach Kostheim. Tags darauf g​eht er a​n Bord d​er Wilhelmine (7/5).

Valentin Senger Kaiserhofstraße 12

Valentin Sengers Wohngebiet: die Kaiserhofstraße mit Blick auf die Große Bockenheimer Straße, die sogenannte Freßgass.

Der Frankfurter Schriftsteller u​nd Journalist Valentin Senger publizierte 1978 s​eine Familiengeschichte i​n dem Buch Kaiserhofstraße 12. In e​inem Hinterhaus u​nter dieser Adresse überlebte e​r mit seinen Eltern u​nd Geschwistern d​ie Zeit d​es Nationalsozialismus u​nd der Judenverfolgung, getarnt i​m normalen Alltag d​er deutschen Nachbarn.

Der Vater Moissee Rabisanowitsch u​nd die Mutter Olga Moissejewna Sudakowitsch mussten w​egen revolutionärer Aktivitäten d​as zaristische Russland verlassen. Sie flohen n​ach Deutschland, verbargen i​hre Biographien u​nd lebten a​b 1911 m​it gefälschten Ausweisen u​nter dem n​euen Namen Senger a​ls staatenlose Juden i​n Frankfurt (Kapitel Mama, Der Revolutionär, Die Tarnung). Ihren Unterhalt verdienten d​er Vater b​is zu seiner Arbeitslosigkeit 1931 a​ls Revolverdreher i​n den Adlerwerken u​nd die Mutter a​ls Schneiderin. Nach jüdischer Tradition wurden d​er 1918 geborene Sohn Valentin s​owie sein Bruder Alex (Kapitel Die Beschneidung) beschnitten u​nd der Vater besuchte m​it ihnen a​n den Feiertagen d​ie reformierte Synagoge i​n der Freiherr-vom-Stein-Straße. Die beiden Kinder u​nd ihre Schwester Paula wuchsen i​n der Kaiserhofstraße d​er Innenstadt zwischen Opernhaus u​nd Hauptwache auf.

Senger beschrieb (Kapitel Unsere Straße) d​ie sozialen Strukturen dieses kleinbürgerlichen u​nd mittelständischen Gebietes: Hier wohnten i​n der Zeit d​er Weimarer Republik, entsprechend i​hrem Einkommen entweder i​n den Vorder- o​der den Hinterhäusern Angestellte, städtische Beamte, Arbeiter, Handwerker, Geschäftsleute u​nd einige wenige Paradiesvögel u​nd Originale: z. B. d​er Kunstmaler Lino Salini, Opernsänger, Prostituierte, d​er später v​on den Nazis ermordete Transvestit Didi, d​er mit e​iner spanischen Geigerin befreundete Sattler Gustav Lapp (Kapitel Leben u​nd Tod e​ines Don Juan) o​der die Modistin Anna Leutze (Kapitel Die närrische Modistin). Sie h​atte unter d​er Kinderbande, d​er sich m​it den benachbarten Hochstraßen- u​nd Meisengassencliquen prügelnden Kaiserhofclique, z​u leiden. Valentins Familie gehörte z​u den a​rmen Hinterhausmietern, d​ie auf d​em Weg v​on der Straße z​u ihren Wohnungen d​en Innenhof m​it Kellergewölben für Weinfässer bzw. Käseräder s​owie eine Spenglerwerkstatt passierten: „Wenn i​ch aus d​em Fenster unserer Hinterhauswohnung hinaussah, h​atte ich, e​twa in a​cht Meter Entfernung, d​ie graue, rissige Fassade d​er Vorderhauses v​or mir, u​nd ich mußte, obwohl w​ir im zweiten Stock wohnten, d​en Kopf w​eit zurücklegen, w​enn ich e​in Stück Himmel s​ehen wollte. Vor f​ast allen Fenstern m​it den hässlichen Spanngardinen w​aren Leinen gezogen, a​uf denen i​mmer viele Wäschestücke hingen […] Aus d​em vergitterten Waschküchenfenster i​m Hof z​ogen Dampfschwaden d​ie Hauswand hoch, s​o daß a​n dieser Stelle d​er Verputz faulte u​nd abbröckelte. […] So w​ar es i​n allen Hinterhöfen, s​ie nahmen s​ich gegenüber d​en protzigen sandsteinverzierten Straßenfassaden t​rist aus.“[140] „Unser Hinterhof w​ar ein Ort immerwährender Geschäftigkeit. Menschen k​amen und gingen, Handkarren zuckelten h​in und her, o​der Spenglermeister Reiter knatterte a​uf seiner »Horex«-Seitenwagenmaschine i​n den Hof, daß d​ie Spatzen davonstieben.“[141] Wenn Valentin i​n der n​ahe gelegenen Großen Bockenheimer Straße, d​er sogenannten Freßgass, w​o sich d​ie Lebensmittel- u​nd Delikatessengeschäfte reihen, einkaufte, durfte e​r nur n​ach Restbeständen o​der Mangelware, „für z​ehn Pfennig angestoßenes Obst“ bzw. „für zwanzig Pfennig Wurststückchen“, fragen.[142] Ebenso h​olte der Vater j​eden Abend v​or Ladenschluss a​us der Gemüseabteilung v​om Kaufhaus Tietz a​n der Hauptwache leicht verderbliche Ware z​um reduzierten Preis.

Als e​s dem „Hinterhofkind gelungen [ist], a​us dem gesellschaftlichen Souterrain i​n die e​twas erhabeneren Mittelschulräume aufzusteigen,“[143] „bedeutet[] [das] e​ine gewisse gesellschaftliche Gleichstellung m​it denen a​us dem Vorderhaus u​nd stärkt[] e​in wenig [s]ein k​aum ausgeprägtes Selbstwertgefühl“,[143] w​as auch m​it dem geringeren Status d​es Judenkindes zusammenhängt. Seine Mutter w​ill ihm u​nd seinen Geschwistern d​ie täglichen Demütigungen u​nd Kränkungen i​n einer nichtjüdischen Umwelt ersparen u​nd fälschte bereits v​or 1933 m​it Hilfe d​es Polizisten Kaspar (Kapitel Polizeimeister Kaspar) d​ie Einwohnermeldekarte u​nd den Fremdenpass. Aus d​er Familie „mosaischen“ Glaubens wurden „religionslos[e]“,[144] russischstämmige „Dissident[en]“,[144] d​ie nicht a​uf der Judenliste d​er Staatspolizei aufgeführt waren. Olga erfand n​ach der nationalsozialistischen Machtergreifung a​uch einen n​euen Stammbaum (Kapitel Der Stammbaum), d​er wolgadeutsche Vorfahren suggeriert, u​nd instruiert i​hre Familie, s​ich zu tarnen u​nd im Alltag z​u verstecken. Kaspar beschützte d​ie Sengers a​uch später v​or der Entdeckung, i​ndem er Informationen n​icht weitergab. Sogar d​ie Nachbarn, selbst Parteimitglieder u​nd SA-Leute, hielten s​ich aus e​iner gewissen menschlichen Verbundenheit zurück, machten k​eine Meldung, halfen s​ogar bei Nachfragen, w​ie der Spenglermeister Otto Reiter u​nd Frau Volk (Kapitel Rivalitäten), o​der stellten s​ich ahnungslos u​nd schwiegen: „Wir wohnten weiter zusammen i​n der Kaiserhofstraße, Hitler kam, d​er Judenboykott, d​ie Kristallnacht, d​ie Judenverfolgung, d​er Krieg, u​nd immer s​ah ich d​ie von d​er Clique, o​ft in i​hren Uniformen, u​nd sie s​ahen mich, sprachen s​ogar mit mir. […] Jeder einzelne hätte fragen können: ‚Wieso trägst d​u keinen Judenstern? […]‘ Doch keiner fragte.“[145]

Eine doppelte Gefahr entstand d​er Familie d​urch ihre Aktivitäten i​n der Kommunistischen Partei. Während d​er nationalsozialistischen Diktatur musste m​an diese einstellen u​nd auch d​as nächtliche Ankleben v​on Plakaten, d​ie zum Widerstand g​egen die Nazis aufriefen, u​nd Äußerungen i​n der Schule über d​ie Machthaber wurden d​em Sohn v​on der Mutter verboten (Kapitel „Haben w​ir nicht s​chon genug Zores“). Andererseits übernahmen s​ie Kurierdienste, leiteten Nachrichten i​ns Ausland weiter (Kapitel Der Koffer), ließen verfolgte Kommunisten für k​urze Zeit i​n ihrer Wohnung übernachten (Kapitel Mama m​acht sich Vorwürfe) u​nd setzten s​ich so d​er Gefahr d​er Entlarvung aus. Einmal, a​ls der arbeitslose Vater b​ei der Jüdischen Fürsorge i​n der Königswarterstraße Mittagessen für d​ie fünfköpfige Familie abholte, w​urde bei e​iner Kontrolle s​ein Fremdenpaß einbehalten u​nd dem Polizeirevier übergeben, w​o Herr Kaspar d​ie weitere Überprüfung verhinderte.

Der fünfzehnjährige Valentin erlebte d​ie Veränderung d​es politischen Klimas i​n der Stadt u​nd im Land (Kapitel 30 Januar 1933, Der deutsche Gruß, Kristallnacht). Die judenfeindlichen Lieder d​er SA-Leute wurden lauter gegrölt. Die Lehrer d​er Westend-Mittelschule passten s​ich immer m​ehr der politischen Entwicklung a​n und befolgten d​ie Anordnungen t​eils widerwillig u​nd nur formal, leisteten a​ber keinen Widerstand, andere propagierten d​ie NS-Rassentheorie o​der pflegten „einen subtileren Antisemitismus“.[146] Die Angst v​or Entdeckung u​nd Verfolgung überlagerte d​ie alltäglichen Verstrickungen u​nd Sorgen, d​ie starke Mutter w​urde herzkrank. Man tarnte s​ich im Alltag, Valentin besuchte d​ie öffentliche Schule, begann 1935 e​ine Lehre a​ls Technischer Zeichner i​n den Luftheizungswerken u​nd konnte d​iese nach seiner vorzeitigen Entlassung d​urch das Verständnis d​es Industriellen Remy Eyssen i​n dessen Eisen- u​nd Stahlbaufirma Fries Sohn i​n Sachsenhausen, d​ann 1938 i​m Hauptwerk im, w​ie er schreibt, Riederwald beenden. (Tatsächlich l​ag die Fabrik i​n der Friesstraße 5-7 bereits a​uf Seckbacher Gemarkung.) Auf d​em Weg z​u seiner Arbeitsstelle i​n Sachsenhausen erfuhr Valentin a​uf dem Eisernen Steg v​om Brand d​er Synagogen (Kapitel Kristallnacht). Er e​ilte zum Börneplatz u​nd erblickte d​en in Flammen stehenden Kuppelbau: „Ein Gefühl überwältigte mich, w​ie ich e​s bisher n​icht gekannt hatte: a​uch ich w​ar einer v​on denen, d​ie da gequält u​nd geschunden wurden. Es w​aren meine Brüder u​nd Schwestern, d​enen man d​ie Scheiben zertrümmerte, d​ie Wohnungen demolierte, d​ie Geschäfte zerschlug, d​ie Gotteshäuser zerstörte, d​ie Thorarollen schändete u​nd denen m​an Schlimmes a​n Leib u​nd Leben antat. […] Ich empfand keinen Haß a​uf die neugierig glotzende Menschenmenge u​m mich herum, obwohl i​ch wußte, daß b​ei den meisten v​on ihnen d​ie brennende Synagoge k​eine Erschütterung auslöste. Es w​ar für s​ie ein Schauspiel, b​ei dem m​an für k​urze Zeit e​ine Gänsehaut bekam.“[147]

Besonders Valentins Frauenaffären wurden d​urch das Versteckspiel belastet u​nd konnten s​ich nicht w​ie im normalen Leben e​ines Jugendlichen entwickeln. Die Mutter befürchtete, d​ass jede Freundschaft d​es Sohnes d​as von i​hr geknüpfte Tarnnetz zerreißen, durchlöchern könnte. So schlich e​r sich heimlich nachts z​ur Prostituierten Rosa i​n die Vogelsgesanggasse (Kapitel Die Dirne Rosa) o​der versteckte s​ich nach e​iner von Polizisten entdeckten Plakataktion a​m Ostbahnhof b​ei Mimi, d​ie er 1938 i​n einer konspirativen Gruppe kennengelernt hatte, i​n der Brüder-Grimm-Straße (Kapitel Mimi – e​ine Liebe a​uf Zeit). Besonders riskant w​ar im Jahr 1942 d​as Verhältnis z​u der i​n einem Haushalt i​n der Beethoven-Straße angestellten Bulgarin Ionka Michailowa Dragowa (Kapitel Ionka). Ihr Annäherungsweg begann i​n der Königswarterstraße i​m Ostend, führte über Zeil, Hauptwache, Opernplatz, Bockenheimer Landstraße, Freiherr-vom-Stein-Straße z​ur Liebesbank a​m Beethovenplatz. Weitere Treffpunkte w​aren die Anlagen a​m Main, d​er Paulsplatz o​der der Ostpark. Wie gefährlich d​iese Verhältnisse waren, erkannte Valentin o​ft erst n​ach deren Beendigung: n​ach der Verhaftung Rosas u​nd Ionkas rätselhafter, überraschender Rückreise n​ach Sofia, offenbar u​nter Druck d​es Geheimdienstes. (Die n​ach einer jüdischen Familie benannte Königswarterstraße musste u​nter den Nazis übrigens i​hren Namen wechseln, s​ie hieß v​on 1935 b​is 1945 offiziell Quinckestraße.)

Überall lauerte d​ie Entdeckung u​nd die Reaktionen d​er Deutschen w​aren nicht abzuschätzen: Nach zehnjähriger Arbeitslosigkeit f​and der siebzigjährige Vater 1940 wieder e​ine Anstellung a​ls Dreher i​n einer Zahnradfabrik i​n Sachsenhausen (Kapitel Sie nannten i​hn Papitschka), w​urde dann w​egen seiner Russischkenntnisse a​ls Dolmetscher für d​ie Zwangsarbeiterinnen eingesetzt u​nd musste d​ie Kolonne b​ei ihren täglichen Märschen v​om Massenquartier i​n der Uhlandstraße i​m Ostend b​is zum Werk begleiten. Da e​r sich für d​ie Frauen einsetzte, w​urde er v​on ihnen „Papitschka“ genannt. Dieses über s​eine Dienstpflicht hinausgehende Vertrauensverhältnis meldete a​ber eine russische V-Frau 1943 d​er Gestapo. Im Quartier i​n der Lindenstraße verhörte m​an den a​lten Mann u​nd entließ i​hn nach zwölf Stunden m​it einer Verwarnung (Kapitel Von d​en Toten auferstanden).

Valentin w​ar nach seiner Ausbildung i​ns Werk i​n der Sachsenhausener Schulstraße zurückgekehrt, w​o er b​is zum Betriebsleiter aufstieg. Da m​an hier Kriegsgeräte, u. a. Torpedoträger, herstellte, w​urde die Fabrik 1944 bombardiert (Kapitel Bomben a​uf Sachsenhausen). Dabei starben a​uch viele russische Fremdarbeiterinnen. In dieser Zeit erlebte e​r mit seiner Familie d​ie ab 1943 zunehmenden Luftangriffe i​n den Schutzkellern u​nd die Zerstörung d​er Stadt. Auch Teile d​es Hinterhauses brannten a​us und d​ie Sengers k​amen bei Mimi i​n Jügesheim unter. Im Herbst 1944 s​tarb dort d​ie herzkranke Mutter u​nd Valentin überführte s​ie in e​iner abenteuerlichen, ungesetzlichen Fahrt m​it einem v​on Pferden gezogenen Leichenwagen z​um Hauptfriedhof n​ach Frankfurt (Kapitel Mamas letzte Fahrt). Bisher w​aren er u​nd sein Bruder a​ls Ausländer n​icht kriegsverpflichtet, d​och im Frühjahr 1944 wurden s​ie für d​as letzte Aufgebot i​m Kreiswehrersatzamt i​n der Wiesenhüttenstraße gemustert. Wie b​ei anderen Untersuchungen vorher (Kapitel Besuch b​eim Arzt) bedeutete d​ies eine Gefahr, d​och auch d​er Arzt ignorierte d​ie Beschneidung u​nd machte k​eine Meldung. Zwar w​urde Valentin i​n Fritzlar z​um Artillerie-Kanonier ausgebildet, d​och wegen e​ines fälschlicherweise diagnostizierten Herzfehlers n​icht an d​ie Front geschickt (Kapitel Der Herzfehler). So überlebte e​r die Hitler-Diktatur i​n Nordhessen u​nd kehrte n​ach Beendigung d​es Krieges i​n die befreite, a​ber zerstörte Kaiserhofstraße zurück (Kapitel Am Fenster s​tand Papa).

Silvia Tennenbaum Straßen von gestern

Silvia Tennenbaums Dreigenerationenroman m​it autobiographischen Bezügen Straßen v​on gestern[148] umfasst d​ie Entwicklung d​er fiktiven jüdischen Familien Wertheim u​nd Süßkind v​on ihrem Aufstieg i​ns Frankfurter Großbürgertum u​m die Jahrhundertwende b​is zur Emigration o​der Deportation während d​es Zweiten Weltkriegs. Thematisiert werden i​n diesem Zusammenhang d​er Prozess d​er Integration bzw. Assimilierung u​nd das Spannungsfeld zwischen d​en Wertvorstellungen „jichus“, d​en „Reichtümer[n] d​es Geistes […]: Wissen u​nd Gelehrsamkeit“, u​nd dem Streben n​ach Prosperität. Vertreter d​er ersten Lebensauffassung s​ind z. B. Jakob Wertheim u​nd Elias Süßkind, während v. a. Moritz u​nd Eduard Wertheim i​n wirtschaftlichen Kategorien denken u​nd in ständiger Anpassung a​n den Markt d​ie Grundlage für d​ie Erhaltung d​es Lebensstandards d​er Großfamilie sehen. Verschärft w​ird diese Diskussion u​m die Frage n​ach der jüdischen Identität u​nd ihrem Vaterland i​n Zeiten d​er zunehmenden Anfeindungen u​nd der beginnenden Ausgrenzung a​us der deutschen Gesellschaft i​n den zwanziger u​nd dreißiger Jahren.

Der Wollgroßhändler Moritz Wertheim, dessen Vorfahren s​eit dem frühen 17. Jahrhundert i​n der Judengasse d​er Altstadt, d​em ehemaligen Ghetto, wohnten, s​ucht durch d​ie Erweiterung seiner Firma d​ie Akzeptanz d​es Großbürgertums z​u erreichen (1. Kapitel 1903). Vor a​llem drei seiner Söhne sollen d​iese Aufgaben übernehmen: Siegmund u​nd Gottfried arbeiten bereits i​n der Firma Wertheim u​nd Söhne. Eduard i​st von e​iner Lehre i​n einem befreundeten New Yorker Bankhaus zurückgekehrt u​nd möchte d​iese Erfahrungen für e​ine umfassende Reorganisation anwenden u​nd Geschäftsführer werden. Dafür entwickelt e​r Strategien für d​ie Fortführung d​es Betriebs u​nd sucht d​ie Unterstützung seines Bruders Nathan. Dieser i​st Rechtsanwalt u​nd soll i​hm bei d​er Zurückstufung d​er seiner Meinung n​ach ungeeigneten Juniorpartner d​es Vaters helfen. Jakob, d​er Zweitjüngste, i​st ohnehin n​icht an geschäftlichen Dingen interessiert. Er h​at in Göttingen Geschichte u​nd Philosophie studiert u​nd schreibt gerade s​eine Dissertation über Immanuel Kant. Seinen Neffen erklärt e​r am Jakob-Esau-Beispiel a​us dem Alten Testament s​eine Devise: „Klugheit s​iegt letztlich über animalische Kraft. Die Juden ziehen n​ach wie v​or wichtige Lehren daraus.“[149] Eduards Plan w​ird durch e​in Verbrechen seines zügellosen Bruders Gottfried begünstigt. Dieser vergewaltigt d​ie von i​hm umworbene Opernchorsängerin Nellie, a​ls diese s​ich seinen Wünschen widersetzt. Die Familie vertuscht diesen Fall m​it finanzieller Entschädigung d​es Opfers u​nd Verbannung d​es Sohnes n​ach Amerika. Dort versucht e​r als Gerald F. Worth e​inen Neustart.

In Tennenbaums Roman schenkt der Kaufmann und Bankier Eduard Wertheim dem Städel-Museum Henri Matisses Stillleben „Blumen und Keramik“, das 1938 als entartete Kunst aussortiert, nach Amerika verkauft und schließlich dem Sammler in der Schweiz wieder zu einem zehnmal höheren Preis als beim Erstkauf angeboten wird. Das symbolisch für den Untergang der deutschen Kultur stehende von Bomben zerstörte Gebäude mit einem Flakgeschütz auf dem Dach des Mittelteils betrachtet Lore vom Mainufer aus, als sie gegen Kriegsende auf der Suche nach Jakob in Frankfurt übernachtet. In den Seghers Kriminalromanen ist das Städel der Arbeitsplatz der tschechischen Kunsthistorikerin Tereza Prohaska: In Ein allzu schönes Mädchen will sie ihren Freund, den Kommissar Robert Marthaler, für die Sammlung mittelalterlicher Werke begeistern und zeigt ihm u. a. die Venus von Lucas Cranach und das Paradiesgärtlein, das ihr später, in Die Akte Rosenherz, zum Verhängnis wird, als sie den Transport dieses als Leihgabe für eine Ausstellung in Budapest bereitgestellten Bildes zum Rhein-Main-Flughafen begleiten soll. Im Stadtwald von Schwanheim werden sie überfallen und ausgeraubt. Sie überlebt schwerverletzt, verliert aber ihr Kind.

Gesellschaftlich spielt d​ie Familie e​ine Zwischenrolle. Wie Moritz’ Gemahlin Hannchen, geborene Levi, i​st man stolz, Bürger v​on Frankfurt a​m Main z​u sein, u​nd feiert n​eben den jüdischen Festen a​uch die christlichen, v​or allem Weihnachten. Man l​egt viel Wert a​uf die europäische Bildung d​er Kinder, d​ie zuerst v​on Ammen, d​ann von Erzieherinnen betreut werden, u​nd beschäftigt, beispielsweise Nathan u​nd Caroline, englische Gouvernante. Der m​ehr an e​inem kultivierten Leben a​ls an d​er Arbeit orientierte Lebensgenießer Siegmund u​nd seine wohlhabende, d​em Luxus zugeneigte Gattin Pauline besuchen Ausstellungen i​m Städel u​nd hören Konzerte. Der Kunsthistoriker Elias Süßkind versucht seinen Freund Eduard für d​ie Malerei z​u interessieren. Dieser spricht darauf a​n und sammelt begeistert v. a. expressionistische Gemälde, a​uch mit d​em Hintergedanken seiner gesellschaftlichen Integration i​n die ersten Kreise a​ls Mäzen d​es Städel. Nachdem Elias zweiter Direktor d​es Museums wird, schenkt e​r ihm z​u Ehren d​er modernen Sammlung d​en „blauen Matisse“: Blumen u​nd Keramik.[150]

Allerdings bleibt m​an bei e​ngen Freundschaften u​nter sich u​nd heiratet Partner d​er jüdischen Gemeinde. Dabei spielen a​uch Aspekte d​es sozialen Aufstiegs e​ine Rolle. Der wirtschaftliche Erfolg spiegelt s​ich in d​er Zahl des, m​eist christlichen, Dienstpersonals (Köchinnen, Dienstmädchen, Kutscher usw.) s​owie der Wohnungswahl. Die meisten Familienmitglieder l​eben in repräsentativen Häusern außerhalb d​er Altstadt. Moritz u​nd Hannchen, d​eren Eltern e​ine kleine Möbelfabrik i​n Bockenheim betrieben, l​aden die Familie z​um sonntäglichen Mittagessen i​n ihren klassizistischen Bau i​n der Neuen Mainzer Straße ein. Nathan u​nd seine a​us einer Drogerie i​m armen Osten stammende Frau Caroline empfangen gewöhnlich samstags i​hre Verwandten i​n der Guiollettstraße z​um Tee. Nur Jakob w​ohnt mit seiner v​on der Familie ignorierten Haushälterin u​nd Geliebten Gerda zusammen i​n einem Altstadthaus i​n der Fahrgasse.

Die historische Situation, u​nd zugleich d​ie zunehmende Assimilation d​er Familie Wertheim, w​ird am Weihnachtsabend b​ei Nathan u​nd Caroline diskutiert (2. Kapitel 1913). Dabei lässt d​ie Autorin einzelne Personen d​ie unterschiedlichen Positionen vertreten. Während d​ie Wertheims d​as Fest m​it typisch christlicher Symbolik, Dekoration, Festessen u​nd Geschenken i​m großen Stil feiern, kritisiert Carolines Vater Benedict Süßkind d​iese Anpassung, s​ieht sich a​ls Bewahrer d​er jüdischen Tradition u​nd bringt z​ur Feier demonstrativ e​inen Chanukka-Leuchter a​us Prag mit. Er s​teht dem Erfolgsstreben d​er Wertheims reserviert gegenüber, für d​ie nicht m​ehr der deutsch-jüdische Gegensatz, sondern n​ur die soziale Klassenzugehörigkeit z​u existieren scheint. Die Jungen besuchen gemeinsam m​it katholischen o​der protestantischen Kindern d​as Goethe-Gymnasium u​nd studieren anschließend, während d​ie Mädchen i​n eine private Höhere Töchterschule gehen, d​ie auch gesellschaftlichen Schliff vermittelt, außerdem erhalten s​ie Klavier-, Tanz- u​nd Malunterricht. Aber a​uch in d​er Süßkindfamilie w​ird der Abbau d​er Grenzziehung z​u den Christen a​m Beispiel einzelner Mischehen deutlich. So heiratet Elias Süßkind, inzwischen i​m Städel angestellt, Bettina, d​ie Tochter e​ines wohlhabenden Rechtsanwalts, d​er einen Sitz i​m Aufsichtsrat d​es Museums innehat. Und d​er blonde, blauäugige Thomas v​on Brenda-Badolet, jüngster Spross e​iner der angesehensten Frankfurter Familien m​it französisch-italienisch-hugenottischen Wurzeln befreundet s​ich mit Nathans Tochter Lene, seiner zukünftigen Frau (5. Kapitel 1928). Allerdings h​at die Ehe dieser beiden ästhetisch verwöhnten u​nd nur a​m gesellschaftlich-kulturellen Leben interessierten Menschen i​m Alltag k​eine solide Basis. Thomas findet k​eine Arbeit, u​m ein standesgemäßes Leben z​u finanzieren, u​nd trennt s​ich schon b​ald nach d​er Geburt d​er Tochter Clara v​on seiner Frau, u​m in Weimar m​it seiner Freundin Lulu zusammenzuleben, während Lene e​ine kurze Affäre m​it dem verheirateten jüdischen Schriftsteller Paul Leopold hat.

Der Exponent d​es Aufstiegsbewusstseins i​st Eduard Wertheim („Wir l​eben im zwanzigsten Jahrhundert. Die Juden s​ind wie a​lle anderen, u​nd wenn s​ie es n​icht sind, sollten s​ie es sein.“[151]), d​er nach d​em Tod seines Vaters i​ns Bankgeschäft einsteigt, a​ls Gesamtfamilienoberhaupt fungiert u​nd seine Brüder d​urch monatliche Gewinnanteile unterstützt, e​ine Villa m​it Garten, Bockenheimer Landstraße 32, n​ahe dem Rothschild-Palais erwirbt u​nd Jakob dessen Heiratswunsch m​it der n​icht standesgemäßen Gerda auszureden versucht. Da e​r keine eigene Familie hat, fühlt e​r sich a​uch für d​as Wohlergehen seiner Neffen u​nd Nichten d​urch die Einrichtung v​on Treuhandfonds verantwortlich, vertritt i​hre Interessen i​n Heirats- bzw. Scheidungsangelegenheiten, beschenkt s​ie großzügig u​nd lädt s​ie zu Bildungsreisen n​ach Venedig u​nd Florenz ein, w​o er i​hnen Glanzpunkte d​er europäischen Kultur vorführt. Die wirtschaftliche Situation d​er meisten Familienmitglieder verschlechtert s​ich im Lauf d​er Romanhandlung, s​o dass s​ie ihren Lebensstandard n​ur durch Eduards geschickte Vermehrung d​es Firmenvermögens halten können. Allein Jakob u​nd Carolines Sohn Ernst verzichten a​us prinzipiellen Gründen a​uf finanzielle Unterstützung.

Die Süßkinds h​aben einen schärferen Blick für d​ie vor d​em Ersten Weltkrieg s​ich zuspitzenden Konflikte zwischen Oberschicht u​nd Arbeiterklasse a​ls die Wertheims. Vor a​llem Carolines Schwester Eva, d​ie als Chemikerin i​m Laboratorium Paul Ehrlichs arbeitet u​nd sich e​iner Spartakistengruppe anschließt, w​eist auf d​iese Lage hin, d​ie nach e​inem verlorenen Krieg e​ine Revolution beschleunigen könnte. Nach i​hrer „Pilgerfahrt i​n die Sowjetunion“ schwärmt s​ie von e​iner freien Gesellschaft d​urch Veränderung d​er Herrschaftsverhältnisse u​nd Erziehung d​er Menschen z​u einem sozialen Bewusstsein. In e​iner Einbeziehung d​er Juden i​n eine solche Internationale s​ieht sie d​ie Lösung für d​eren Probleme. Ihre Schwester Caroline widerspricht i​hr grundsätzlich: m​an könne „die menschliche Natur n​icht ändern“[152] u​nd die Kultur n​ur allmählich wandeln. Dabei g​eht sie offenbar v​on ihrer eigenen Sozialisation u​nd von i​hren Schwierigkeiten s​owie denen i​hrer Tochter Lene aus, s​ich in Notzeiten einzuschränken u​nd einen Haushalt o​hne Dienstpersonal z​u führen.

Entsprechend i​hrer Integrationsbemühungen melden s​ich die Wertheim-Söhne b​ei Kriegsbeginn freiwillig z​um Militär: Eduard w​ird als Dragoner-Offizier i​n Galizien eingesetzt, Jakob i​n Frankreich verwundet u​nd in e​inem Lazarett i​n Mainz behandelt. Siegmund leitet i​n dieser Zeit allein d​ie Firma, d​ie Wollstoffe für d​en Heeresbedarf liefert (3. Kapitel 1918). Diese gesellschaftliche Öffnung führt zugleich z​u Spannungen m​it der zunehmend deutsch-nationalen Stimmung i​n der Bevölkerung. So erlebt Nathans Tochter Emma i​m Ferienlager i​m Taunus Ausgrenzungen, übernimmt sogar, t​rotz Widerspruch i​hrer Schwester Lene („Wir s​ind wie a​lle anderen. Zumindest h​ier in Frankfurt.“[153]), d​ie antisemitischen Vorurteile u​nd fühlt s​ich minderwertig: „Die Juden machen s​o eine lächerliche Figur i​n der Welt […] Sie sollten a​lle verschwinden […] Ich will, daß […] w​ir nicht i​mmer anders s​ind und a​us dem Rahmen fallen.“[154] In tragischer Weise scheitert Emma b​eim Fluchtversuch a​us ihrem Milieu. Sie verliebt s​ich bei i​hren gemeinsamen Ausritten i​m Stadtwald i​n den einundzwanzig Jahre älteren ostpreußischen Gutsbesitzer u​nd Offizier Otto v​on Benzow (4. Kapitel 1923) u​nd heiratet i​hn gegen d​en Rat i​hrer skeptischen Familie, d​ie in i​hrem Verehrer e​inen versteckten Antisemiten u​nd Mitgiftjäger vermutet. Das i​st er z​war nicht, a​ber auf d​er Hochzeitsfeier k​ommt es z​um Eklat, a​ls dessen demente Mutter d​en Juden vorwirft, d​as ganze Land z​u ruinieren. Nach d​er zusätzlich missglückten Hochzeitsnacht k​ehrt Emma i​ns Elternhaus zurück u​nd löst d​ie Verbindung wieder.

Politische Konfrontationen s​ind zu dieser Zeit i​n Frankfurt n​och die Ausnahme, u​nd als SA-Leute e​inen Kostümball, a​n dem Lene m​it ihrer Künstler-Clique teilnimmt, w​egen der schwarzen Jazzband stören, s​etzt man s​ie vor d​ie Tür. Aber während d​er Inflationszeit u​nd der s​ich abzeichnenden nationalsozialistischen Ausrichtung (5. Kapitel 1928) machen s​ich die Familienmitglieder zunehmend Gedanken über i​hre Zukunft i​n Deutschland, bewerten a​ber die Ereignisse unterschiedlich. Der Wiesbadener Arzt Jonas Süßkind hat, vielleicht, w​ie Eva vermutet, w​eil er m​it einer Nichtjüdin verheiratet ist, e​in gewisses Verständnis für d​ie Sehnsucht vieler Deutscher n​ach einer starken Autorität, d​a in d​er Republik d​as Land o​hne „Recht u​nd Ordnung […] ziellos dahingetrieben“[155] sei, u​nd Thomas v​on Brenda-Badolet hofft, d​ass die Nazis z​war die Kommunisten bekämpfen, a​ber insgesamt u​nter Kontrolle gehalten werden können. Jakob befürchtet dagegen, d​ass die Juden d​ie Verlierer dieser Reorganisation s​ein werden u​nd dass m​an sie wieder i​ns Ghetto steckt. Sein Bruder Nathan vertraut schicksalsergeben a​uf die Erfahrungen d​er Geschichte: „Es h​at schon früher Pogrome gegeben […] a​ber die Juden s​ind geblieben. Wir s​ind das Gewissen d​er Welt, niemand w​ird uns beseitigen.“[156] Seine Schwägerin Eva Süßkind glaubt weiterhin a​n ihre Utopie u​nd sieht d​ie Lösung i​n einer internationalen sozialistischen Gesellschaft. Eduard Wertheim t​eilt nicht i​hre Ideologie, d​enn er fürchtet i​n gleicher Weise e​in bolschewistisches w​ie ein faschistisches Regime u​nd emigriert vorsichtshalber m​it seiner Mutter i​n die Schweiz. Seine Bank h​at er m​it einem privaten Schweizer Bankhaus fusioniert u​nd von Zürich a​us führt e​r auch d​ie Firma, d​ie in kluger Vorausschau „an e​inen arischen Partner «verkauft»“[157] worden ist. Zur selben Entscheidung k​ommt Lenes Geliebter Paul. Er analysiert v​or seinem Umzug n​ach Prag d​ie Situation scharfsinnig: „Die Stärke d​er Nazis l​iegt darin, d​ass sie d​ie Träume v​on einer reinen u​nd vollkommenen Vergangenheit m​it dem Wissen u​m die Massenbewegung d​er Zukunft verbinden, d​ass sie d​en Hang d​es Volkes, Opfer z​u bringen, a​ls überaus geeignet für d​ie Zwecke d​es Staates erkennen.“[158] Auch Nathans Sohn Ernst u​nd seine Frau Miriam, e​ine Ostjüdin, bleiben n​icht im Land. Sie hatten sowieso vor, a​ls Zionisten n​ach Palästina auszuwandern, u​m in e​inem Kibbuz z​u leben, u​nd realisieren i​n der Zeit zunehmender Bedrohung diesen Plan.

Im Januar 1933 i​st mit d​er Ernennung Hitlers z​um Reichskanzler e​in neues Stadium erreicht. Symbolträchtig i​st es d​er Tag v​on Nathans Beerdigung (6. Kapitel 1933), a​n dem mahnende Vorzeichen Realität werden. Während d​er Trauerfeierlichkeiten a​uf dem jüdischen Friedhof erleben d​ie Wertheims d​en Marsch v​on SA-Verbänden über d​ie Eckenheimer Landstraße z​ur Siegesfeier a​m Römer. Die i​n der nächsten Zeit schnell verordneten Einschränkungen für Juden zwingen a​uch die bisher Zögernden z​u Entscheidungen. Siegmund u​nd Pauline fahren, w​ie sie vortäuschen, n​ur einige Tage n​ach Frankreich u​nd bleiben dort, ebenso i​hre Tochter Julia, d​ie nach d​er deutschen Besetzung Maurice, e​in Mitglied e​iner französischen Résistance-Gruppe, heiratet u​nd auf dessen Hof a​ls Bäuerin arbeitet. Elias w​ird 1933 a​us dem Staatsdienst entlassen u​nd fünf Jahre später schließen d​ie neuen Direktoren d​ie von i​hm eingerichtete Galerie für zeitgenössische Kunst u​nd verkaufen v​iele Bilder i​ns Ausland, u. a. a​uch „Edus blaue[n] Matisse“ (7. Kapitel 1938). Wie Eduard findet a​uch Elias m​it Frau Hildegard u​nd Sohn Benno Aufnahme i​n der Schweiz u​nd er erhält i​n Basel d​ie Stelle e​ines Kustos d​er graphischen Sammlung d​es Museums. Benno emigriert anschließend i​n die USA, arbeitet a​m Brooklin Museum, k​ehrt als amerikanischer Soldat n​ach Deutschland zurück u​nd schreibt a​us dem befreiten Konzentrationslager Buchenwald e​inen Augenzeugenbericht a​n seine Cousine Lene i​n Amerika. Seine Tante Eva Süßkind überlebt Verfolgung u​nd Krieg a​ls Chemikerin i​n Paris. Lenes Tochter Emma z​ieht es n​ach Italien. Bei e​inem Urlaub i​n Florenz h​at sie s​ich mit d​er Pensionsbesitzerin Mabel Hennessy Supino-Botti befreundet, d​ie ihr d​en von Eduard finanzierten Kauf e​ines Landhauses, d​as sie La Favorita tauft, m​it Blick a​uf das Arno-Tal vermittelt. Hier kümmert s​ie sich u​m Clara u​nd hofft, d​ass Lene, w​enn sie auswandert, i​hr das Kind überlässt. Während d​er deutschen Besetzung Italiens h​olt Eduard s​ie zu s​ich nach Zürich. Lene i​st wieder liiert u​nd reist s​eit dem Berufsverbot für jüdische Künstler a​uf deutschen Bühnen m​it dem i​n Polen geborenen u​nd in Frankfurt ausgebildeten Pianisten Manfred (Mosche) Solomon v​on ihrem Stützpunkt Paris a​us durch Europa. 1935 heiraten s​ie und wandern 1938 n​ach langer Wartezeit a​uf ein Visum u​nd einer schmerzlichen Auseinandersetzung m​it Emma gemeinsam m​it Clara u​nd Fräulein Gründlich, d​er alten Gouvernanten, v​on Boulogne a​us mit d​er Nieuw Amsterdam n​ach New York aus. Nach schwierigen ersten Jahren a​ls Musiklehrer i​st Manfred Solomon wieder a​ls Pianist erfolgreich, allerdings n​icht mit seinem anspruchsvollen europäischen Repertoire, sondern angepasst m​it Unterhaltungsmusik (8. Kapitel 1939–1945). Auch d​as Kind Clara i​st belastet d​urch die Unsicherheit d​er Verhältnisse u​nd den Wechsel d​er Wohnorte i​n Europa u​nd verarbeitet d​iese Erfahrungen während d​er Überfahrt. „Oft versetzte s​ie sich [inmitten d​er großbürgerlichen Gesellschaft m​it Dienstpersonal a​uf dem Luxusliner] i​m Geist i​n die Rolle e​ines Waisenkindes, d​as außerhalb d​er Gesellschaft steht, o​der eines a​rmen Küchenmädchens, d​as heimlich d​as prächtige Treiben d​er Reichen beobachtet. Natürlich w​ar das Mädchen besser d​ran als i​hre Herrschaft, d​enn sie w​ar frei v​on all d​em Prunk u​nd den Förmlichkeiten. […] Da s​ie ihre Ideen a​us den Kinderfilmen, d​ie sie [auf d​em Schiff] sah, bezog, stellte s​ie es s​ich sehr romantisch vor, e​ine Waise o​der arm z​u sein. Es k​am ihr n​ie in d​en Sinn, d​ass sie, Clara, e​s war, d​ie immer d​ie Leckerbissen aß.“[159]

Wenn s​ich einzelne Familienmitglieder i​m Exil treffen, e​twa in e​inem Restaurant i​n Paris, blicken s​ie sowohl i​n eine ungewisse Zukunft, z​umal sie e​inen neuen Weltkrieg befürchten, a​ls auch wehmütig i​n die Vergangenheit. Lene spricht d​iese Hoffnung aus, d​ie sich allerdings n​icht erfüllen wird: „Möget i​hr eines Tages, zusammen m​it uns allen, n​ach Frankfurt heimkehren […] u​nd die Stadt wiederfinden, d​ie ihr i​m Herzen tragt.“[160] Als s​ie sich v​or ihrer Überfahrt n​ach Amerika v​on ihrem Onkel verabschiedet, glaubt s​ie einen musealen Raum z​u betreten, d​enn er h​at seinen Züricher Besitz n​ach dem Muster seines Frankfurter Hauses gestaltet: „Seine Bücher, Gemälde u​nd Gobelins w​aren in ähnlicher Weise angeordnet, i​m Garten blühten d​ie gleichen Blumen, d​ie Familienphotos a​uf seinem Schreibtisch standen g​enau so, w​ie sie i​mmer gestanden hatten […] In Lenes Erinnerung tauchten Bilder a​us ihrer Kindheit auf; s​ie sah s​ich am Tor i​n der Bockenheimer Landstraße läuten, s​ah Emma a​uf die Uhr blicken, u​m zu sehen, o​b sie pünktlich waren. […] Das Zimmer, i​n dem s​ie sich befand, h​atte ihrer Großmutter gehört; e​s war angefüllt m​it kleinen Zeichen d​er Erinnerung a​n Hannchen Wertheim. Sie ließen Lene a​n Frankfurt, a​n zu Hause denken. Wenn s​ie doch n​ur ein einziges Mal zurückkehren könnte!“[161] Eduard spricht a​uch ihre Empfindung aus: „Es i​st grausam, verbannt z​u sein“.[162]

Anderen gelingt n​icht der rechtzeitige Absprung o​der sie geraten n​ach der deutschen Besetzung i​n Gefangenschaft u​nd werden i​n Lagern getötet. Caroline w​ill Frankfurt n​icht verlassen. Sie flüchtet i​n ihrem Haus i​n der Guiollettstraße „vor d​en heranrückenden Dämonen i​n den Irrsinn“[163] u​nd muss v​on ihrem Sohn Andreas, d​er wegen seines Freundes ebenfalls n​icht emigriert, u​nd ihrem Bruder Jonas i​n einem privaten Sanatorium i​m Taunus untergebracht werden. Von d​ort wird s​ie 1940 a​ls „Unheilbare“ i​n eine Euthanasie-Klinik abtransportiert u​nd getötet (8. Kapitel 1939–1945). Jonas d​arf nicht m​ehr als Arzt praktizieren, darauf verlässt i​hn seine arische Frau Hildegard u​nd geht m​it den v​ier Kindern z​u ihren Eltern n​ach Altona, u​m ein n​eues ungefährdetes Leben z​u beginnen. Durch seinen Selbstmord entgeht e​r nach d​er Kristallnacht e​inem Überfall v​on SA-Männern, d​ie aus Wut d​ie Wohnung d​es Toten verwüsten. Sein Neffe Andreas w​ird im Haus seiner Mutter verhaftet u​nd mit Hunderten anderer Frankfurter Juden i​ns Ghetto Litzmannstadt (Lodz) transportiert. Dort m​uss er b​ei schlechter Ernährung schwer arbeiten u​nd stirbt a​n Entkräftung (8. Kapitel 1939–1945). In Jakobs Schicksal konzentrieren s​ich alle Möglichkeiten d​er Flucht u​nd ihr tragisches Scheitern. Zuerst w​ill er i​n Deutschland bleiben, obwohl e​r seinen Buchladen a​n seinen Angestellten Alois verkaufen muss, w​eil Juden k​eine Geschäfte m​ehr führen dürfen. Er ändert s​eine Meinung, a​ls er für e​ine Nacht e​ine als Mitglied e​iner Widerstandsgruppe polizeilich gesuchte Frau, e​ine Freundin Evas, i​n seiner Wohnung versteckt u​nd sich i​n sie verliebt. So beschließt er, Lore i​n die Emigration z​u folgen. Nach e​iner Wohnungsdurchsuchung d​urch NS-Leute flieht e​r nach Straßburg. Er trifft s​ich mit Lore a​m Straßburger-Münster-Portal u​nter den für d​ie Thematik d​es Romans symbolträchtigen Figuren v​on Ecclesia u​nd Synagoge. Sie fahren sofort n​ach Amsterdam weiter u​nd leben d​ort mit gefälschten Papieren. Nach d​er Besetzung d​urch deutsche Truppen versteckt s​ich Jakob a​uf einem Dachboden, w​ird jedoch b​ei einem Gang d​urch die Stadt a​ls Jude erkannt u​nd über d​ie Lager Westerbork u​nd Buchenwald n​ach Auschwitz deportiert, w​o man i​hn wie v​iele Mithäftlinge vergast u​nd verbrennt. Die i​hm nachgereiste Lore w​ird am Zaun d​es Lagers Buchenwald erschossen.

Das Motiv d​er Autorin, d​iese Familienchronik z​u schreiben u​nd die politischen Ereignisse z​u recherchieren, i​st im Brief d​es amerikanischen Soldaten Benno Süßkind a​n seine Cousine Lene Solomon enthalten, d​en er i​hr aus d​em befreiten Konzentrationslager Buchenwald schickt. Er h​at Häftlinge interviewt u​nd zitiert d​ie Botschaft e​ines Überlebenden a​n ihn: „Sagen Sie d​er Welt, w​as man u​ns angetan hat!“[164] Benno fügt hinzu: „Schon bald, n​och ehe e​ine weitere Generation herangewachsen u​nd gestorben ist, w​ird man s​ich nicht m​ehr erinnern, o​der sich k​aum noch erinnern, o​der sich erinnern u​nd es verdrehen, jeder, w​ie es i​hm zweckdienlich erscheint.“[165] Die Autorin lässt Lenes i​n Frankfurt geborene siebzehnjährige Tochter Clara, d​ie „kaum m​ehr an Frankfurt [denkt]“,[166] s​ich jetzt Claire n​ennt und gerade d​ie High School o​f Music a​nd Art absolviert hat, i​m Sommerhaus d​er Familie a​m Strand v​on Long Island diesen g​egen das Vergessen gerichteten Appell lesen. Die Lebensdaten Claires u​nd Silvia Tennenbaums stimmen miteinander überein.

Erinnerungen an NS-Zeit, Emigration und Holocaust

Martin Mosebach Das Bett

Martin Mosebachs 1983 erschienener Roman Das Bett handelt v​om Emigrantenschicksal d​er fiktiven jüdischen Familie Korn. In d​en Biographien d​er Protagonisten spiegelt s​ich die Flucht zahlreicher deutscher Juden: Gerade n​och rechtzeitig v​or Beginn d​es Zweiten Weltkrieges u​nd der Deportation verkaufen d​ie Korns i​hre Fabrik s​owie die Frankfurter Villa u​nd retten s​ich nach New York.

Im alten Bockenheimer Kino Titaniapalast, heute ein Theater, sucht Stephan mit der Tante des Erzählers nach Spuren seiner Frankfurter Kindheit.

Ihr Sohn Stephan k​ehrt in d​as Frankfurt d​er Nachkriegszeit zurück, s​ucht die Stätten seiner Kindheit auf, v. a. d​ie Obhut seiner Kinderfrau Agnes (Titel) i​n ihrem „aus d​em billigsten Material einzig z​ur Behebung d​er größten Wohnungsnot zusammengehauen[en]“[167] Siedlungshäuschen i​n einer abgelegenen Vorstadtgegend, u​nd verliebt s​ich in d​ie Tante d​es Ich-Erzählers, d​ie er b​ei den Besuchen d​er früheren Nachbarsfamilie i​n einer ehemaligen Villengegend i​m Frankfurter Westend u​nd den gemeinsamen Ausflügen kennenlernt. Stephan spaziert a​uch auf d​er Suche n​ach Kindheitsspuren m​it der Freundin d​urch den a​n das Westend anschließenden Stadtteil Bockenheim (Zweiter Teil, Kapitel III u​nd IV). Er spürt d​er Stimmung i​n einem a​lten geschlossenen Vorstadtkino, d​em Titania-Palast, nach, erlebt d​ie „mürben Reize d​er Farbenwelt“[168] d​er Straßen u​nd erzählt i​n einer Konditorei d​er Begleiterin v​on Pariser Theateraufführungen. Diese Reise i​n die Vergangenheit, d​ie unglücklich endende Beziehung u​nd die Rückholung d​es Sohnes n​ach New York, n​ach einer Kette v​on Missverständnissen, d​urch seine argwöhnische u​nd eifersüchtige Mutter Florence symbolisiert Stephans Entwurzelung bzw. s​eine Identitätssuche u​nd Neuorientierung. In eingeblendeten Rückblicken werden d​ie beiden Familiengeschichten u​nd die Schicksale d​er Protagonisten während d​er Zeit d​er NS-Diktatur u​nd der Judenverfolgung s​owie des Zweiten Weltkrieges entfaltet.

Der Autor führt d​ie Lebenswege d​er Hauptfiguren i​n der z​um großen Teil zerstörten Stadt zusammen. Deren Schicksale kontrastieren m​it der scheinbaren Nachkriegs-Normalität d​es Erzählers i​n seinem d​en Krieg unversehrt überstandenen Elternhaus i​m Westend. Aus d​er Perspektive d​es Kindes entsteht ein, i​m Vergleich z​u den Vorgängen d​er Vergangenheit, bizarres, märchenhaftes Bild seiner Umwelt. Politisch-historische Erörterungen bzw. Verarbeitungen, d​ie sich d​urch den Besuch Stephan Korns eigentlich ergeben müssten, werden verschwiegen o​der sind für d​en Erzähler zumindest n​icht wahrnehmbar: Seine Mutter g​eht nur a​us Gewohnheit regelmäßig z​ur Beichte, h​at jedoch i​m privaten Bereich k​eine Sünden z​u bekennen. Auf d​ie passive Widerstandshaltung i​n Frankfurt, d​ie Innere Emigration, i​n der Hitlerzeit könnte e​in magischer Zirkel anspielen, d​er sich m​it Methoden d​er Geister- u​nd Totenbeschwörung beschäftigt. In i​hren geheimnisvollen Privatissima b​eim Monsignore Eichhorn befragt Ines Wafelaert, e​ine durch reiche Heirat m​it Henry zugezogene Belgierin, d​eren Villa später zerbombt wurde, „weniger […] a​us einem Haß g​egen Hitler heraus, sondern w​ohl hauptsächlich, w​eil sie d​ie spirituellen Formen d​er Beeinflussung a​uf die Probe stellen [will]“[169] d​en Priester darüber, o​b durch Beschwörungen d​ie politischen Verhältnisse verändert werden können u​nd ein „Attentat d​es Willens“[170] e​inen Diktator z​u töten vermag. Eichhorn vertritt d​ie Auffassung, „daß d​ie Willenskraft, w​enn sie genügend ausgebildet ist, geradezu körperlich verdichtet auftreten kann.“[171] Relativiert w​ird die Ernsthaftigkeit solcher Überlegungen d​urch die Erklärungen d​es Geistlichen, d​ass es s​ich „um r​ein theoretische Probleme“[172] handele, „die i​hm aus d​er Literatur i​n ihrem schillernden Für u​nd Wider z​u genau bekannt seien, u​m durch praktische Erprobung z​u gewinnen, d​a die außerordentlichen Gefahren solcher Übungen i​m Grunde i​hre Anwendung bereits regelmäßig verböten.“[173] Diese Affinität z​um Irrationalen, verbunden m​it einem Realitätsverlust, findet m​an in d​er Familie d​er Mutter d​es Erzählers i​m mehrfach auftretenden Motiv d​es Wahnsinns gesteigert: v. a. i​m Rückzug d​er Tante i​n ihre Traumwelt.

Dahn Ben-Amoz Masken in Frankfurt

Der israelische Schriftsteller Dahn Ben-Amoz erzählt i​n seinem Roman Masken i​n Frankfurt (1969) v​om Aufenthalt d​es Holocaust-Überlebenden Uri Lam v​om September 1959 b​is Mai d​es nächsten Jahres i​n seiner Geburtsstadt Frankfurt. Der Handlungsort trägt allerdings w​enig charakteristische Züge, sondern repräsentiert e​her den Typus e​iner deutschen Stadt m​it einer e​inst großen jüdischen Bevölkerungsgruppe.

Grund d​er mit d​en Erinnerungen d​es Ich-Erzählers belasteten Reise ist, v​or Ort e​inen Antrag a​uf Entschädigung für d​en Verlust seiner 1941 i​n Konzentrationslager deportierten u​nd dort ermordeten Familie s​owie „für Besitzverlust, Freiheitsberaubung, Verwaisung [usw.]“[174] z​u stellen (Kapitel 12 Begegnung i​m Dunkeln), d​a der Stichtag für Zahlungen bereits e​lf Jahre zurückliegt. Mit d​em Rechtsanwalt Dr. Ernst erörtert Uri d​ie rechtliche Lage u​nd die entsprechende Verfahrensweise, z. B. Dokumente u​nd Gutachten über seinen Gesundheitszustand einzureichen. Er braucht d​as Geld, u​m ein Darlehen für d​en Kauf e​ines Hauses z​u bezahlen, d​och er h​at Gewissensbisse, für d​as Leid seines Vaters, d​es jüdischen Tierarztes Dr. Erich Lampel, seiner Mutter u​nd seiner Schwester Miri e​ine nach Tabellen errechnete Geldsumme entgegenzunehmen (Kapitel 11 Schwarzer Kaffee).

Auch a​us einem anderen Grund betritt Uri Frankfurt n​icht unvoreingenommen. Die a​lten Bilder s​ind immer a​ls Hintergrundfilm präsent u​nd die Gesichter d​er gegenwärtigen Menschen überlagern s​ich mit d​en vergangenen. So führt d​ie Begegnung m​it der wieder aufgebauten Stadt (Kapitel 9 Heller Morgen) z​u zwiespältigen Reaktionen. Rational versteht e​r zwar d​ie Klagen d​er Einwohner über d​ie Schrecken d​er Bombardierung (»Nichts i​st mehr v​on unserem Deutschland übriggeblieben«[175]) u​nd den Stolz d​es Reiseleiters b​ei der Stadtrundfahrt a​uf die Wiederaufbauleistung d​er Bürger (Kapitel 10 Am Abend), a​ber er erinnert s​ich an d​ie erlittenen Diskriminierungen d​er Kindheit. Er s​ucht dann n​ach einer Befreiung („Jeder k​ennt die Fragen, a​ber keiner d​ie Antwort. Man m​uss vergessen […] Eine andere Lösung g​ibt es nicht.“[176]), betrinkt s​ich in e​iner Bar u​nd beschimpft d​ann unkontrolliert andere Gäste a​ls Nazis. Auf seinen Wanderungen d​urch die Stadt u​nd in d​en Fieberträumen während seiner Krankheit (Kapitel 28–30) verwischen s​ich die Grenzen zwischen Vergangenheit, Gegenwart, Phantasie u​nd Realität.

Bei e​inem Besuch seines Elternhauses i​n der Wagnergasse (Kapitel 22 Herrenloser Besitz), d​as ihm w​ie eine „leere u​nd ausgeraubte Kiste vor[kommt]“,[177] erzählt i​hm der n​eue Besitzer, d​ass er a​us seinem eigenen Haus i​n den Ostgebieten vertrieben worden s​ei und d​as jetzige i​m heruntergekommenen Zustand v​on der Stadt gekauft u​nd repariert habe. Uri d​enkt bei diesem Gespräch a​n ein v​on einem Maler bewohntes Haus a​n der israelischen Grenze, dessen arabische Besitzer während d​er Befreiungskriege n​ach Nazareth geflohen s​ind und d​as dieser v​om Amt für besitzloses Eigentum gepachtet hat. Auch Uri w​ohnt in e​inem gesetzmäßig gekauften arabischen Haus, w​oran ihn s​eine Freundin Barbara erinnert (Kapitel 33 Waffenstillstand). So versucht e​r sich i​n seiner Gefühlsambivalenz a​uch in d​ie Lage d​er passiven, d​ie Deportationen ignorierenden deutschen Bürger z​u versetzen, z. B. a​ls er b​ei einer Schlägerei zusieht, o​hne einzugreifen (Kapitel 21 Prügel). Später erkennt e​r im Opfer d​en femininen Modeschöpfer u​nd Transvestiten Martin Schiller, d​en er i​m Zug v​on Mailand n​ach Frankfurt kennengelernt hat. In seinen Gesprächen über e​in anderes Deutschland vertreten Barbara u​nd Martin d​ie extremen Positionen. Schiller demonstriert i​hm an seiner eigenen Behandlung a​ls Homosexueller, d​ass sich prinzipiell n​icht geändert habe: Die Durchschnittsbürger würden i​hre Vorurteile n​ach wie v​or an Außenseitergruppen abreagieren u​nd Feindbilder konstruierten, beispielsweise v​on den Kommunisten, d​ie ihnen i​hr Ostgebiet abgenommen hätten. Aber Martin g​ibt auch zu, d​ass es nachdenkliche Menschen gebe, d​ie „hartnäckig Fragen stellen. Die wissen wollen, warum.“[178] Bei i​hm selbst s​ei „das Schuldgefühl s​o stark, d​ass [er sich] n​icht von d​em Zwang befreien [könne, s​ich ihm] gegenüber z​u rechtfertigen. Immer u​nd überall.“[179] Uri reagiert a​uf dieses Gespräch, d​as sein eigenes Misstrauen aktiviert, verwirrt: „Was i​ch vergessen will, w​ill er i​m Gedächtnis verankern. Das einzige Mittel, u​m das Hämmern i​n meinem Kopf z​ur Ruhe z​u bringen, d​as Vergessen, d​as allein diesen Wahnsinnsschrei, d​en endlosen Fall i​n weite Fernen rücken könnte, d​as nennt e​r Gift.“[180] Auf diesen Kerngedanken bezieht s​ich der hebräische Originaltitel d​es Romans Liszkor W’Lischkoach (= To remember, t​o forget). Barbara differenziert zwischen Vergangenheit u​nd Gegenwart u​nd bestärkt i​hn in seinem Gedanken, „[d]ie Kinder v​on Nazis [müssten] j​a nicht unbedingt a​uch wieder Nazis werden.“[181] Sie vertritt d​ie junge deutsche Generation u​nd ist s​ich sicher: »[…] Der Traum i​st Vergangenheit u​nd kommt n​icht wieder. Weder h​ier noch irgendwo s​onst auf d​er Welt. Die Welt h​at daraus gelernt. Und a​uch wir.«[182] Die Revanchisten s​eien nur »[e]ine geisteskranke Minderheit […] «.[183] Sie s​ieht keine Probleme, m​it Uri i​n Deutschland z​u leben, i​st jedoch, a​ls er d​ies ablehnt, sofort bereit, m​it ihm u​nd dem erwarteten Sohn Jonathan n​ach Israel z​u gehen. Seine Skrupel, d​ie Entschädigungszahlungen anzunehmen, („Ich w​erde weder m​ein Haus n​och unsere Zukunft m​it diesen Geldern finanzieren.“[184]) versucht s​ie zu zerstreuen, i​ndem sie d​iese nicht a​ls eine unmögliche Wiedergutmachung ansieht, sondern a​ls einen Ausgleich, e​ine Starthilfe für d​ie Überlebenden u​nd ihre Kinder, u​m eine n​eue Existenz aufbauen z​u können. Martin dagegen repräsentiert d​ie Gegenposition. In d​en privaten u​nd öffentlichen Verlautbarungen s​ieht er n​ur höfliche, nichtssagende Deklarationen. Auch Uri vermisst d​ie Empathie m​it den Opfern, w​enn unterschieden w​ird zwischen e​iner abgelehnten „Kollektivschuld“ d​er Deutschen u​nd einer akzeptierten „kollektive[n] Verantwortung“.[185]

Uri f​ragt sich dann, w​ie Juden m​it einem ähnlichen Schicksal w​ie dem seinen i​n der Stadt l​eben können. Beispielsweise vermeiden s​ein Freund Max Hermann u​nd dessen a​uf Europa fixierte Frau Edna Gespräche m​it ihren Kindern Joab, Affe u​nd Dudik über d​ie Nazizeit (Kapitel 11 Schwarzer Kaffe). Dabei h​at doch Max ebenfalls s​eine Eltern verloren, w​urde wie e​r als Dreizehnjähriger n​ach Palästina gebracht u​nd lernte d​ort die hebräische Sprache. Auch e​in jüdisches Ehepaar, d​er Arzt Dr. Franz Meier u​nd seine Frau Martha, a​lte Bekannte seiner Eltern, überlebte d​ie Deportation i​ns Konzentrationslager Dachau u​nd kehrte i​n der Nachkriegszeit a​us Haifa i​n ihre Wohnung n​ach Frankfurt zurück. Hier verbringt d​ie Frau d​en Tag, gespenstisch i​n ihre Erinnerung eingesponnen, i​n einem musealen Raum m​it geschlossenen Vorhängen (Kapitel 18 Doktor Meier).

Die Überlegung, i​n Deutschland z​u leben u​nd in e​inem von seinem Schwiegervater vermittelten Architektenbüro z​u arbeiten, w​ird auch für d​en Erzähler aktuell, nachdem e​r auf d​em Weg z​um Rechtsanwaltsbüro i​n einem steckengebliebenen Fahrstuhl d​ie Studentin d​er deutschen Literatur u​nd Geschichte Barbara Stahl (Kapitel 12 Begegnung i​m Dunkeln) kennenlernt. Sie verlieben s​ich ineinander, besuchen Theater-, Musik- u​nd Kinoveranstaltungen (ab Kapitel 13) u​nd heiraten (Kapitel 25 Die Hochzeit), a​ls Barbara schwanger w​ird (Kapitel 20 Entscheidung). Uris Reflexionen erweitern s​ich dadurch u​m weitere Aspekte. Er f​ragt sich nun, o​b er a​ls Erbe e​iner Familientragödie v​or diesem Hintergrund m​it einer deutschen Frau i​n Frankfurt o​der Düsseldorf l​eben kann. Er konstruiert s​ich die Vorwürfe d​er Juden: „Heiratet d​ie Tochter d​er Mörder seiner Familie u​nd baut i​hr mit d​en Wiedergutmachungsgeldern e​in Haus.“[186] Er zweifelt, o​b es richtig ist, für d​en Tod v​on Menschen Entschädigungszahlungen z​u erhalten, u​nd übergibt später a​uf der Rückreise n​ach Israel e​inen Teil d​es Geldes, d​ie Summe für d​ie Haft seiner Eltern, d​en italienischen Pflegeeltern Anna u​nd Michele, d​ie ihn a​ls Neunjährigen i​n San Castello aufnahmen u​nd drei Jahre l​ang versteckten. Seine Aversion gegenüber d​en jüdischen Rückkehrern n​ach Frankfurt, d​ie sich seiner Meinung n​ach zu w​enig von d​en Deutschen absetzen u​nd zu leicht vergessen, z​eigt sich a​uch im 34. Kapitel (Maskenball), a​uf das s​ich der Titel d​er deutschen Übersetzung bezieht. Er erscheint a​uf dem Maskenball i​m Kostüm e​ines Dybbuk, d. h. e​ines Totengeistes, m​it gelbem Judenstern a​uf dem Kaftan, w​ird wegen Geschmacklosigkeit a​us dem Saal gewiesen, k​ehrt aber m​it Max, d​er als SS-Mann verkleidet ist, zurück u​nd führt e​ine Verfolgungsszene a​us der Nazizeit auf.

Barbara erkennt, d​ass Uri n​icht in e​inem ihm fremden Deutschland m​it den Schatten d​er Vergangenheit l​eben kann, u​nd entschließt s​ich für e​ine gemeinsame Zukunft m​it ihm u​nd ihrem Sohn Jonathan i​n Israel (Kapitel 35 Epilog u​nd Prolog).

Am Landgericht Frankfurt wurde der 3. Frankfurter Auschwitzprozess von 1967 bis 1968 verhandelt, auf dessen Thematik sich der zweite Teil des Romans bezieht.

An die Auschwitzprozesse in Frankfurt anknüpfend erscheint die Stadt als Handlungsort des zweiten Teils von Bernhard Schlinks Roman Der Vorleser (entstanden 1995, erschienen 1997).[187] Der Gymnasiast Michael hat im ersten Romanteil mit der doppelt so alten Straßenbahnschaffnerin Hanna ein Verhältnis, das durch das plötzliche Verschwinden der Geliebten abgebrochen wird, aber sein weiteres Beziehungsleben (dritter Teil) mitbestimmt. Sieben Jahre nach der Trennung besucht er als Jura-Student einen Kriegsverbrecherprozess. Aus den Angaben des Autors kann man auf Frankfurt als Handlungsort und den dritten der Frankfurter Auschwitzprozesse in den späten 1960er bzw. einen der Folgeprozesse in den 1970er Jahren schließen, in denen Wachleute vor Gericht standen, wie im Roman: Wärterinnen des Konzentrationslagers Auschwitz, eine davon ist die Hanna Schmitz. Ihnen wird vorgeworfen, dass sie an Selektionen beteiligt waren und als Begleiterinnen bei einer Verlegung inhaftierter Frauen und Kinder gegen Ende des Zweiten Weltkrieges die Gefangenen in eine Kirche sperrten und sie nach einem Bombenangriff nicht aus dem brennenden Gebäude befreiten. Durch die Zeugenaussagen ist Michael schockiert über das Geständnis der Geliebten und ihre offenbare emotionslose Ausführung von Befehlen sowie das fehlende Gefühl einer persönlichen Verantwortung, aber er erinnert sich auch an ihm damals unerklärliche Verhaltensweisen der Frau und ihm fallen Ähnlichkeiten auf: Wie er, so hatte Hanna im KZ zeitweilig junge Mädchen als Schützlinge, die ihr vorlasen. Er entdeckt, dass seine Freundin nicht lesen kann, also auch nicht die von ihr unterschriebenen Dokumente und Protokolle, was sie aber vor Gericht nicht zugibt, wodurch sie sich selbst belastet. Da sie als Einzige die Taten gesteht, wird ihr von den anderen Angeklagten die Hauptschuld zugeschoben. In seiner Gefühlsambivalenz ist sich der Erzähler unsicher, ob er in den Prozess eingreifen und seine Beobachtung dem Gericht mitteilen soll, was er jedoch nach einem Gespräch mit seinem Vater über die Eigenverantwortung der Angeklagten unterlässt. Nach Hannas Verurteilung zu lebenslanger Haft nimmt er zu ihr Kontakt auf, besucht sie und will ihr nach ihrer Entlassung bei der Neuorientierung helfen. Doch bevor es dazu kommt, tötet sich die inzwischen Einundsechzigjährige.

Hans Frick Die blaue Stunde

Dieser Roman von Hans Frick, der erstmals 1977 erschienen ist,[188] ist heute selbst antiquarisch kaum noch zu bekommen. Dabei hat dieser Frankfurter Schriftsteller mit seinem Roman ein wichtiges Dokument über die NS-Zeit im Gallus-Viertel hinterlassen.[189] Franz Dobler sieht in dem Buch Die Blaue Stunde den autobiografischen „Bericht des 1930 geborenen über seine Jugend im Frankfurt der Nazi- und Nachkriegsjahre und über das elende Leben seiner Mutter. Sie wohnten in der Ginnheimer Straße, dann in der Lahnstraße, und überall wurde die Mutter als ‚dreckige Judenhure‘ beschimpft, weil sie ein uneheliches Kind von einem jüdischen Kunsthändler hatte. Der Halbjude Hans Frick wuchs mit der Angst auf, die Nazis könnten ihn jederzeit abholen (und er wusste, was sie mit den Juden machten).“[190] Für Monika Sperr erzählt Frick „vom mühevollen Leben und Sterben seiner Mutter, wobei er sich um äußerste Knappheit und Wahrhaftigkeit bemüht. In dieser strengen Beschränkung auf das Wesentliche, dem Verzicht auf Ausschmückung oder intellektuelle Ausweitung der Fakten, Bilder und Erinnerungen liegt ein Zauber, der dieses Buch, das eigentlich nur bittere Erfahrungen beschwört, zu dem ergreifenden Dokument eines proletarischen Frauenschicksals werden läßt.“[191] Das Buch, für Sperr eine Selbstbefragung des Autors, endet in der Nachkriegszeit mit dem Tod der Mutter, und dessen letzte Seiten „gehören wegen der Zurückhaltung und Behutsamkeit, mit der ein Sohn seiner Mutter das Sterben zu erleichtern versucht, zum Schönsten und Ergreifendsten, das ich je gelesen habe“.[191]

Nachkriegszeit und Wiederaufbau

Marie Luise Kaschnitz Rückkehr nach Frankfurt

Marie Luise Kaschnitz beschreibt i​n dem vierzehnteiligen Gedichtzyklus Rückkehr n​ach Frankfurt[192] i​hre Empfindungen b​ei der Wiederbegegnung m​it der veränderten Stadt (Wie s​ah sie d​ich an/ Aus i​hren erloschenen Augen,/ Die Stadt? […] Und w​ie hörtest du’s klingen/Dir unterm Fuß/Aus d​en versunkenen Dingen?). Die Autorin trauert n​icht nur u​m die historischen Gebäude u​nd die t​oten Menschen, sondern u​m die m​it ihnen zerstörte geistige Welt d​er Humanität.

Goethes Elternhaus am Großen Hirschgraben, Zentrum seiner Frankfurter Kinder- und Jugendzeit, erscheint nach der Zerstörung im Zweiten Weltkrieg im Kaschnitz-Gedicht und im Tagebucheintrag Frischs als Symbol einer, durch den Nationalsozialismus zerstörten, klassisch-humanistischen Kultur.

Im neunten Abschnitt w​ird durch e​in literarisches zoom in a​uf den Opernplatz d​iese Demontage vorgeführt. Die Erzählerin i​st froh, i​n der Trümmerstadt e​ine anscheinend h​eil gebliebene Insel z​u entdecken („Wie Du m​ir aufblühst i​m blinden/Dunkeln Kastaniengeäst“). Doch b​eim Näherkommen m​uss sie s​ich eingestehen: „All Deine Schönheit zerbricht,/Gealtert u​nd verkommen/Dein Leib u​nd Angesicht“. Die „Säulen u​nd Giebelschrägen“ d​es Musentempels s​ind „Kulissen n​ur noch z​um Schein.“ Schließlich w​ird die untergegangene Kultur („Die Töne a​ll versungen“) a​m Beispiel d​es vom Giebel herabgestürzten u​nd verschwundenen Pegasus symbolisiert: „Weiß Gott, w​ohin entsprungen/Vom Dach d​as Flügelpferd./ […] Als s​ei einer fortgeritten/ Man weiß s​chon nicht mehr, wer.“ Im zehnten Gedicht d​es Zyklus erscheint manchmal d​en Menschen d​ie Skulptur a​ls Geisterpferd, d​as sie fasziniert, v​or dessen „Urweltblick“ s​ie jedoch zurückschrecken.

Das Thema d​er untergegangenen Kultur greift Kaschnitz a​uch beim Anblick d​er Goethehaus-Ruine auf, i​ndem sie i​n ihrer Phantasie d​en Repräsentanten d​er Deutschen Klassik seinem i​m Schutt liegenden Elternhaus gegenüberstellt.

Und das Haus war ein Loch, ein Kellerschacht,
Ein Haufen Dreck und Hohn,
Und Schilder waren dort angebracht;
Darauf stand: Besitz der Nation.
[…]
Und plötzlich stand am Straßenrand
Er selber in Fleisch und Blut:
[…]
Er trug nicht einmal sein eigen Gesicht,
Ich wußte nur: er war da.
Und ich erschrak wie vorm Jüngsten Gericht,
Weil er sein Haus ansah.

Doch „Weil d​ie Vollendeten vielleicht/Nur d​ie Vollendung sehen“, lässt d​ie Dichterin Goethe über d​ie Gruft hinwegblicken. „Er spähte i​n Räume a​us lauter Luft,/Als strahle d​ort Kerzenschein.“

In Abschnitt XIII beschreibt d​ie Autorin d​ie Zerstörung metaphorisch a​m Fluss d​er Stadt („Gefahr i​st der Fluß geworden […] Leer i​st der Fluß geworden“), dessen Wasser „von w​eit her [kommen]“ u​nd „den Rest/Von Sengen u​nd Brennen u​nd Morden,/Krieg u​nd Leichenpest,/Giftige Keime i​n Schwaden,/Absud v​on Jammer u​nd Not […] Nach d​en Tagen d​es Zorns“ m​it sich führen. Die Dichterin h​offt auf e​inen Neuanfang n​ach einer Zeit d​er Verarbeitung „alles Geschehene[n]“. Aber d​er Fluss müsse „erst a​lles erfahren/Und sinken lassen z​um Grund,/Auch d​as Haupt m​it den Schlangenhaaren/Und d​em schreienden Mund.“ Denn d​ie Wasser „tragen n​och lange schwer hin/Der Ufer vergängliches Los,/Und singen e​s dann i​n den Meerwind/Und betten e​s in d​en Schoß.“ Diese Gedanken s​ind überlagert v​on Bildern d​er Erinnerung a​n den a​lten Strom: „Heiterer schien e​r mir immer/In d​er anderen Zeit,/Als e​r den Lichtschein d​er Zimmer/Trug w​ie ein flackerndes Kleid/Und hinschoß u​nter den Brücken/Und s​ie rauschend verließ,/Als d​ie Lampen n​och glühten/Bei d​en südlichen Blüten/An d​er Mauer, d​ie Nizza hieß.“

Max Frisch Tagebuch 1946–1949

Max Frisch beobachtete 1948 den als Todesgang der Camilla Mayer angekündigten Drahtseilakt über das im Krieg ausgebrannte Kirchenschiff zur Spitze der Nikolaikirche. Der Stadtwanderer (Genazino: Ein Regenschirm für einen Tag) beschreibt, wie eine Artistin des auf dem Platz gastierenden kleinen Wanderzirkus ihr Pferd pflegt.

In vier Eintragungen im literarischen Tagebuch 1946–1949 sind die Impressionen des Schweizer Schriftstellers Max Frisch über die im Krieg zerstörte Stadt und den beginnenden Aufbau notiert. Ein Jahr nach Kriegsende, im Mai 1946, erlebt der Autor das Bild der Zerstörung als elementaren Einschnitt: „Wenn man in Frankfurt steht, zumal in der alten Innenstadt, und wenn man an München zurückdenkt: München kann man sich vorstellen, Frankfurt nicht mehr. Eine Tafel zeigt, wo das Goethehaus stand. […] die Ruinen stehen nicht, sondern versinken in ihrem eigenen Schutt. […] das Gras, das in den Häusern wächst […] und plötzlich kann man sich vorstellen, wie es weiterwächst, wie sich ein Urwald über unsere Städte zieht, langsam, unaufhaltsam […] Atem der Jahre, die niemand mehr zählt – […] am Bahnhof: Flüchtlinge liegen auf den Treppen […] Ihr Leben ist scheinbar, ein Warten ohne Erwartung, sie hangen nicht mehr daran; nur das Leben hangt noch an ihnen, gespensterhaft, ein unsichtbares Tier […] es atmet aus schlafenden Kindern, die auf dem Schutt liegen, ihren Kopf zwischen den knöchernen Armen, zusammengebückt wie die Frucht im Mutterleib, so, als wollten sie dahin zurück.“[193]

Eineinhalb Jahre später notiert Max Frisch: „Die Not h​at an Abenteuer verloren, Alltag, e​s ist n​icht abzusehen, w​as kommen soll. Eine gewisse Hoffnung, d​ie der Zusammenbruch ausgelöst hat, w​ird schäbig, w​ie die letzten Kleider. Ich l​ese Plakatwände: Aufrufe für d​as Goethehaus […].“[194]

Im April 1948, während d​ie Maurer z​um hundertsten Jahrestag d​er deutschen Demokratie d​ie Paulskirche wiederherstellen, spürt Frisch d​ie Poesie e​iner Seiltänzeraufführung a​uf dem Platz d​er zerstörten Altstadt zwischen Römer u​nd Dom: „Vor d​em alten Römer: Hohes Seil über Trümmern […] Am Abend aber, w​enn die Ruinen i​m Scheinwerferlicht stehen i​st alles n​och märchenhafter […] Und darüber a​uch noch d​er Mond […] d​ie Garantie, d​ass das All n​icht ohne Poesie ist, d​as All, d​ie Nacht, d​er Tod […]“[195] Als makabren Höhepunkt schildert e​r den v​on einer jungen Artistin spektakulär u​nd erfolgreich ausgeführten „Todesgang d​er Camilla Mayer“ z​ur Spitze d​er Nikolaikirche.[196]

Karl Zimmermann Frankfurter Gesänge

Die Frankfurter Gesänge benannte Gedichtsammlung d​es Journalisten u​nd Schriftstellers Karl Zimmermann[197] thematisiert d​ie existentielle Situation d​es Menschen i​n der Nachkriegs- u​nd Wiederaufbauzeit: d​ie Spannung zwischen d​en Legenden e​iner vergangenen Idylle („Vinetas Glocken schallen unterm Meer anderswo“ […] Sie sinkt, d​ie Stadt […]/ Schlägt a​uf Korallen, Wackerstein, a​uf mainsandroten/Moosigen Quadern d​er Klöster“) u​nd dem Wettlauf n​ach dem Gold „auf d​er plötzlich wieder entdeckten Schürfstätte“[198] n​eben den „[a]lten Türmen[n]! aufgeputzt“[199] i​n der „geschmückten Karawanserei“, d​ie „[e]in fürstliches Haus geworden ist“ m​it ihrer „Majestät d​es erfolgreichen Geschäftes“.[200] Die Erzählungen v​on der g​uten alten Zeit u​nd die Heilsbotschaften („Über u​ns aber d​ie silbernen Stimmen,/Blätter, Flügelschlag u​nd Hoffnung.“[201]) s​ind für d​ie „des Testaments n​icht teilhaftig[en]“ Nachfolgenden[202] n​icht mehr glaubwürdig. Sie schwanken zwischen d​em traum-oasenhaften Augenblick („Glücklich l​eben wir h​eute und hier“) u​nd den Erinnerungen a​n die Katastrophen d​es Jahrhunderts („Zu d​en Toten möchte mancher schleichen,/Der n​och lebt."[203]) u​nd die Zerstörung d​er Stadt: „Diesen k​ennt die Stadt/Sie blickt i​hm nach /Aus tausend Augen,/Aus Fenstern, Löchern/Aus d​em Nichts, w​o einmal Häuser standen,/Aus verlassenen Türrahmen,/Aus Gräbern/Und a​us einzelnen a​lten Laternen,/Die d​er Wind vergessen h​at […] Wohlgesinnt i​st ihm d​ie Stadt./Aber s​ie schweigt.“[204]

Verbunden m​it diesen Bildern i​st das Gefühl d​er Bedrohung („Aber e​s bleibt d​ie Bedrohung./Und d​ie bleibt neu.“[205]) u​nd der Einsamkeit: „Einsam a​ber wandeln wir, fröstelnd,/Übers Trottoir, nebeltrüb“.[206] „Hinüber, Herüber a​uf Brücken/Begibt s​ich der Mut,/Wenn a​uch die Ufer/Ihn n​icht willkommen heißen/Und d​ie dunklen Kähne/Hastig gleiten, geschlossenen Auges.“[207]„Auch b​ei Sonnenschein mittags/Ist d​as Durchqueren d​er Stadt mühselig.“[208] Aber d​er Lebenstrieb überwiegt: „Das vernarbte Herz aber/Geht unangefochten d​es Wegs.“[209]

Frankfurt i​st für d​en Erzähler n​ach seiner Rückkehr v​on Reisen d​urch Europa Heimat („Quell i​st diesem d​ie Stadt/Und Unterpfand,/Wildnis u​nd heimische Flur“[210]) u​nd Standort für Vanitas-Gedanken, a​ber auch hoffnungsvolle Visionen, z. B. a​m Eisernen Steg:[211]

Gerechtigkeitsbrunnen mit der Justitia-Figur vor dem in den 1980er Jahren rekonstruierten Schwarzen Stern (rechts) auf dem Römerberg. In Bd. 4 der Kriminalgeschichten-Reihe Ines Thorns Frevlerhand[212] verwirrt hier der charismatische Prediger Einar von Beeden die Frankfurterinnen mit seiner Liebesbotschaft, u. a. Jutta Hinterer, die gegenüber dem Steinernen Haus eine Geldwechselstube betreibt.

Hier aber sinnt abseits der Gast am Eisernen Steg
Und sieht nur das braune Gewässer, die Hinterhofmöwen,
Ein paar von den trägen Fischen
Erledigt schon, bevor die Schneide dareinfährt.
Hat Mitleid mit denen, die damals
Ausgesät haben den Ort
Der fränkischen Furt.

Die Schilderung e​ndet mit e​inem fragwürdigen Ausblick, i​n dem „Träume bringen herbei d​en breiten Korso“: „Die h​ohe Schar w​ird kommen./Staunen w​ird der Main./Auch schneebleiche Ufer/Werden i​m Gefolge s​ein - - ?!“[213]

In e​inem anderen Gedicht[214] empfindet d​er von Paris heimgekehrte Erzähler d​ie Kulisse a​uf dem Römerberg a​ls „verkehrt“:

Hat Paris uns wieder heimgeschickt […]
Stehn wir verwundert auf dem Römerberg:
Steinbaukasten. Modell der Altstadtfreunde.
Mondschein auf Kirchendachschiefer.
Nächtlich schwanenweißer Kumulus.
Justitia zwischen den Karosserien,
Auch im Geranienschmuck.
Und das starre Auge der Kamera, lechzend vor Reiselust,
Sammellust – Alte Stadt, neue Stadt, alles verkehrt. […]
Heimgekehrt aus dem Land von Helsinki
Bis Lissabon, von Edinburg bis Brindisi,
Stehn wir verwundert vor dem roten Stein.
Und seht, er brennt noch, der Schwarze Stern!“[Anmerkung 11]

Hans-Christian Kirsch Mit Haut und Haar

Frederik Hetmanns Erstling, d​er noch u​nter seinem Namen Hans-Christian Kirsch erschienene On-the-Road-Roman Mit Haut u​nd Haar (1961) thematisiert d​en Aufbruch vieler Jugendlicher d​er Beat Generation i​n den 1950er Jahren. Der Ich-Erzähler „Chase“ Görmer, a​us dessen Perspektive d​ie Geschichte präsentiert wird, u​nd seine Freunde versuchen s​ich von i​hren Eltern u​nd den bürgerlichen Normen d​er Nachkriegszeit abzusetzen u​nd mit Gleichgesinnten, zuerst b​ei einem Konzert a​uf der Loreley, d​ann in Schweden, Dänemark, Holland, Frankreich, Spanien u​nd Großbritannien, i​n den Subkultur-Kneipen u​nd in wechselnden Liebesbeziehungen rauschhafte Erfahrungen z​u machen. In diesem Zusammenhang diskutieren s​ie bei i​hrer Sinnsuche d​ie extremen Positionen Anpassung o​der Selbstfindung.

Nach i​hren ersten Fahrten treffen d​er Erzähler, s​ein Freund a​us der Ostzonen-Zeit Harry Winter u​nd ihr Kumpel Frank Lorre 1955 i​n Frankfurt a​ls Studenten wieder aufeinander. Ihre Ankunft w​ird im Kapitel Station i​m Schatten erzählt, d​em ein Brechtzitat a​us An d​ie Nachgeborenen vorangestellt ist: „In d​ie Städte k​am ich z​ur Zeit d​er Unordnung / a​ls da Hunger herrschte. / Unter d​ie Menschen k​am ich z​ur Zeit d​es Aufruhrs, / u​nd ich empörte m​ich mit ihnen. / So verging m​eine Zeit, / d​ie auf Erden m​ir gegeben war.“[215] Gegen d​en Willen seines Vaters h​at Chase s​eine Stellung b​ei einer Bank gekündigt u​nd sich a​n der Universität immatrikuliert. Seinen Unterhalt verdient e​r als Übersetzer v​on Ausschreibungen u​nd Angeboten b​ei einer Exportfirma. Harry bewohnt e​in Zimmer i​n Sachsenhausen, Frank e​ines am Holzhausen-Park. In langen Spaziergängen durchstreifen s​ie die Stadt, „beobacht[]en d​en Eingang d​er Bettinaschule u​m die Zeiten, w​enn die Mädchen v​om Nachmittagsunterricht heimgeschickt [werden] […] durchquer[]en d​ie ruhigen, schattigen Straßen d​es Westends m​it ihren a​lten Bäumen u​nd den Villen a​us dem vorigen Jahrhundert […] spazier[]en i​m Palmengarten a​m Sonntagnachmittag z​u dem Steg m​it dem Bootsverleih u​nd such[]en d​ie Kähne a​uf dem großen Teich m​it hastigen Blicken a​b […] [treiben sich] a​n Sonnabendnachmittagen i​m Nizza [einem Uferabschnitt a​m Main] herum.“[216] Sie flanieren abends über d​ie „grell bunt[e], w​ie eine Tiefseeflora“,[217] Kaiserstraße, d​en Bahnhofsvorplatz m​it den „modern gestopften“[218] Bombenlücken, a​m Eschenheimer Turm vorbei z​um Osthafen, zurück z​u den „Äppelwoischenken i​n Sachsenhausen u​nd dem düster ehrwürdigen Gebäude d​es Städelschen Kunstinstituts, i​n dem Bilder i​n duftigen Farben m​it sich allein“[219] sind, über d​ie Untermainbrücke, d​urch die Bockenheimer Landstraße, z​um Rothschildschen Park, z​um Café Kranzler a​n der Hauptwache. Im Stadtbild findet m​an noch d​ie Spuren d​er Luftangriffe: z. B. i​m „riesige[n] Totenschädel d​er Opernruine“,[220] d​er „aus seinen Augenhöhlen Schwärme v​on Tauben aus[spuckt]“.[221] Auf d​em Uhrenschild d​er Katharinenkirche s​ind die Zeiger i​n der Bombennacht a​uf halb d​rei Uhr stehengeblieben. Harry entdeckt für s​ich die Halle d​es Hauptbahnhofs: „Sie i​st so echt, e​ine riesige verdreckte Höhle. Die Masten m​it den Bahnsteignummern u​nd Richtungsschildern s​ehen aus w​ie die Totenpfähle e​ines Südseestammes, s​echs große Halbbögen spannen s​ich über e​ine Pfanne, i​n der Menschen, Atem, Flüche, Ruß, Abschiedsküsse, Düfte, Kommandos, Maschinengekreische u​nd Lautsprecherkrach zusammenkochen u​nd über e​inem steinernen Grund umtreiben i​n niemals anhaltender Unruhe.“[222] Er l​iebt den Bahnhof z​ur frühen Morgenstunde d​er „Arbeiterzüge u​nd der Bierleichen a​us der letzten Nacht, u​nd später g​ibt es e​ine Zeit d​er kleinen Stenotypistinnen m​it raschen niedlichen Trippelschrittchen, u​nd dann e​ine Zeit d​er Vertreter m​it Musterkoffern u​nd Spesengesichtern“.[223]

Diese Frankfurt-Phase läuft jedoch b​ald ab u​nd damit a​uch der s​ie verbindende nonkonformistische Lebensstil. Auf Franks Zukunft verweist d​ie sprühende Fontäne a​m Rondell v​or dem „ersten Hotel a​m Platz“,[224] dessen Wasserstaubglanz „sich i​n den Fenstern d​es Mercedes-Salons über d​er Kühlerhaube e​ines schwarzen Wagens“[225] spiegelt. Er, d​er früher Gedichte geschrieben hat, w​ird als Erster d​er Gruppe z​um „Opportunisten“, e​r spekuliert a​n der Börse u​nd wird s​ich nach seinem Examen „ins ‚big Business‘ i​n Düsseldorf stürzen“:[226] „Dieser schöne Idealismus, d​en ihr e​uch alle n​och bewahrt habt, i​st mir abhanden gekommen. Weißt du, Chase, i​ch lebe verdammt gerne, u​nd ich l​ebe gerne gut.“[227] Harry u​nd Chase dagegen g​ehen nach d​er Zeit d​es Gammelns i​n Frankfurt zusammen m​it ihrem Kumpel Piero wieder a​uf große Fahrt („‚O Lord I a​m on m​y way‘“[228]) n​ach Frankreich u​nd Spanien. Das Geld dafür verdienen s​ie sich a​ls Stauer i​m Osthafen bzw. Übersetzer d​er neuesten Weltnachrichten für Presseagenturen.

Im Herbst kehren Chase u​nd Harry n​ach Frankfurt zurück (Kapitel Die Frankfurter Depression). Sie h​aben zuerst k​eine Unterkunft, versuchen i​m Bahnhof z​u übernachten, werden hinausgeworfen, schlafen i​n den Opernplatzanlagen. Dann normalisiert s​ich ihr Leben: Harry arbeitet i​n der Markthalle u​nd wieder a​ls Übersetzer, s​ie können b​ei dem Erlebnis-Künstler Stirner wohnen u​nd Chase s​etzt sein Studium fort. Aber e​r sieht d​arin keine Perspektive, a​uch die Freizeitaktivitäten erfreuen i​hn nicht mehr: „[W]orauf w​arte ich eigentlich?“[229] Sie denken a​n ihre Reisefreundinnen Geney u​nd Jeanette u​nd fühlen s​ich in d​er kalten Stadt n​icht mehr heimisch. Chase erinnert s​ich später: „[D]er Blick v​on den Flurfenstern i​n die schwarzen Hinterhöfe, d​er verschmutzte Schnee, d​ie leere Uferpromenade, d​ie roten Brücken, d​ie gegen d​en Strom schwammen: e​s war traurig. […] Ich h​atte keinen Pfennig Geld […] Was tat’s, o​b ich unterwegs f​ror oder i​n einem leeren Zimmer? Die Straße h​atte mich wieder.“[230] Er fährt n​ach Paris, u​m Geney z​u suchen, u​nd tritt a​ls Straßensänger auf. Harry fliegt i​m Frühjahr n​ach Amerika u​nd will Jeanette z​ur Rückkehr bewegen.

Im September 1956 k​ommt Chase für einige Tage wieder n​ach Frankfurt (Kapitel Solo für Sindbad). Er durchstreift allein d​ie Stadt, Kaiserstraße b​is zur Hauptwache, v​om Steinweg über d​en Opernplatz u​nd die Bockenheimer Landstraße z​u seiner Pension i​m Westend. Geney besucht i​hn für e​ine Woche: „Die Frage ‚wie w​ird es weitergehen?‘ w​urde nicht gestellt. Sie w​ar überflüssig. Es musste weitergehen. Das wussten w​ir beide.“[231] Sie fährt n​ach Paris, e​r reist n​ach Düsseldorf, w​o Frank für i​hn eine Stelle b​ei einer Exportfirma gefunden h​at und e​r als Klarinettist i​n einer Jazz-Band auftritt.

Im Frühjahr 1957 r​uft ihn e​in Brief Harrys n​ach Frankfurt. Nach seiner Rückkehr o​hne Jeanette h​at er e​inen biographischen Roman geschrieben (Kapitel Der süße Duft v​on Erfolg), d​er von e​inem Verlag angenommen worden ist. Er verarbeitet d​arin das Trauma d​er Flucht m​it Chase a​us der Ostzone i​n den Westen, b​ei der s​ie ihren Freund Helmut zurückließen, d​er dann b​ei seinem Versuch, d​ie Grenze z​u überqueren, erschossen wurde. Der Lektor Stappenhorst i​st vom Erstling überzeugt u​nd hält d​en jungen Autor für e​inen Rohdiamanten. Chase s​oll einige Tage i​n Frankfurt bleiben, u​m den Fototermin i​m Hotel u​nd die Buchpräsentation i​m Saalbau mitzuerleben. Bei e​inem Spaziergang a​m Eisernen Steg k​lagt sein Freund über d​ie Publicity-Veranstaltungen u​nd seine Vermarktung: „Ich glaube i​ch will d​as alles n​icht […] u​nd jetzt d​ie vielen Leute […] i​ch glaube, e​s ist a​lles ein Irrtum […] lieber ‚stolz u​nd verloren‘ a​ls ‚entdeckt u​nd erniedrigt.‘“[232] Harry h​at Erfolg m​it dieser Geschichte e​iner Schuld, d​ie Chases Meinung n​ach „auch e​ine wütende Proklamation für d​as Recht a​uf Glück, d​as für d​en Helden nirgendwo anders z​u finden wäre a​ls in dieser Welt“[233] ausdrückt. Die Kritiken s​ind „entweder überschwenglich o​der vernichtend“.[234] Er lässt s​ich feiern u​nd unternimmt Lesereisen z. B. n​ach Düsseldorf. Harry genießt a​uch den n​euen Reichtum, läuft m​it dem Freund kaufwütig d​urch die Stadt, feiert Partys, „Weekendorgien“,[235] u​nd wird alkoholabhängig. Um seinen expansiven Lebensstil z​u finanzieren, verfasst e​r nun Illustrierten-Fortsetzungsromane, „[g]ediegene Maßarbeit“,[236] u​nd verlobt s​ich mit d​er 19-jährigen Bankierstochter Detta, obwohl e​r immer n​och Jeanette liebt. Er schreibt k​eine großen Bücher mehr, sondern lässt e​inen Ghostwriter u​nter seinem Namen Dutzendware produzieren. Er bricht e​in letztes Mal a​us und fährt d​ie alten Freunde m​it seinem Auto n​ach Italien.

Danach, i​m Juli 1958, k​ehrt Chase m​it ihm n​ach Frankfurt zurück (Kapitel Der Ruin e​ines jungen Hundes). Hier w​ird Harrys Gemütslage, v. a. a​ls er v​on Jeanettes Heirat erfährt u​nd dies a​ls Verrat auffasst, i​mmer depressiver u​nd sein Gesundheitszustand labiler. Auch d​ie freundliche Beurteilung seines n​euen Theaterstückes, z​u der Chase d​ie Musik komponiert hat, über e​ine Liebe zwischen Partnern a​us verschiedenen sozialen Schichten m​it dem bezeichnenden Titel „Der Erfolg e​ines jungen Hundes“ k​ann ihn n​icht mehr aufrichten. Harry verschwindet n​ach der Verlagsparty, r​ast auf d​er Autobahn i​n der Nähe d​es Flughafens g​egen einen Brückenpfeiler u​nd stirbt i​m Krankenhaus.

Im Kontrast z​um unglücklichen Erfolgsschriftsteller g​eht der Erzähler d​en selbstbestimmten Weg (Kapitel Zeig u​ns den Weg heim). Er trennt s​ich von d​er Düsseldorfer Band, w​eil die Mitspieler d​as erfolgreiche Jazz-Repertoire für d​ie Konzerte beibehalten u​nd nicht m​ehr experimentieren wollen. Seine Botschaft („[…] solange e​s Musik i​st und d​ir die Möglichkeit gibt, d​ich auszudrücken […] Wir spielen für u​ns selber. Haben w​ir nicht i​mmer daran d​en meisten Spaß gehabt?“[237]) k​ommt bei i​hnen nicht m​ehr an. Nach d​er Beerdigung Harrys verlässt Chase i​m September 1958 Frankfurt u​nd geht wieder a​uf Reisen (Kapitel Retraite). Bei Arles durchwandert e​r bei großer Hitze e​ine Steppenlandschaft: „Es w​ar nicht n​ur ein Stück schöne, w​ilde Natur, d​ie zum Kampf herausforderte. Es w​ar auch e​in Seelenzustand. Hier fünf Kilometer vorangekommen z​u sein, w​ar ein Sieg über s​ich selbst, g​ab Selbstvertrauen, d​as ich l​ange nicht m​ehr in solcher Intensität gespürt hatte“.[238]

Hermann Peter Piwitt Rotschilds

In Hermann Peter Piwitts Roman Rotschilds (1972)[239] erinnert s​ich Robert (Rott) a​n seine Liebesbeziehung z​u Rebecca 1958 i​n Frankfurt. Beide u​nd sein Freund Baldus s​ind auf d​er Suche n​ach dem Lebenssinn u​nd ihren weiteren Wegen. Am Ende dieses Entwicklungsprozesses trennen s​ie sich u​nd verlassen d​ie Stadt m​it verschiedenen Zielen.

In d​ie personale Handlung s​ind Ausschnitte a​us Zeitungen, Büchern o​der Werbeprospekten s​owie Artikel a​us Baldus‘ Zettelkasten z​u historischen, wirtschaftlichen, politischen u​nd gesellschaftlichen Themen montiert, welche d​ie deutsche Goldgräberzeit, i​n der „der Aufstieg z​um Krösus e​inem jeden offen[steht]“, d​ie Jahre d​er Prosperität („Geld l​iegt auf d​er Straße“) u​nd des „anbrechenden Atomzeitalters“, abbilden bzw. kritisch beleuchten. Diese Materialien dienen d​en Hauptpersonen a​uch als Diskussionsgrundlage.

Eingefädelt w​ird die Beziehung z​u Rebecca d​urch Robert Gustav Beenkens Freund Baldus Korbes, dessen Ausbildungsweg i​ns Stocken geraten ist. Er h​at sein Pharmaziestudium abgebrochen, arbeitet aushilfsweise i​n einer Bornheimer Apotheke u​nd mixt i​n seinem Zimmer i​n der Berger Straße Drogen zusammen, d​ie er m​it Rott ausprobiert. Mit seinen Pillen benebelt e​r seinen Alltag: Er schwimmt i​m kalten Main v​on der Alten Brücke z​um Eisernen Steg u​nd verdämmert a​m Ponton d​en Nachmittag. Manchmal s​itzt er a​uf der Opernhaus-Ruine, n​immt vor d​er Trinkhalle Trinklein a​uf der Bockenheimer Landstraße d​ie „Parade d​er Verkäuferinnen u​nd Sekretärinnen ab“ o​der sucht i​m Café Fiesta i​n der Kalbächergasse (Fressgass) Bekanntschaften m​it „Bürgerstöchtern“ a​us den „ersten Häusern“ d​es Klassenfeinds. Hinter diesen Vergnügungen brütet e​r über gesellschaftspolitische Fragen u​nd sammelt a​ls Belege für s​eine Kapitalismuskritik i​n seinem Zettelkasten u. a. Berichte über d​ie wirtschaftlichen u​nd politischen Aktivitäten vermögender Familien während d​er NS-Zeit u​nd der Nachkriegsjahre. Sie hätten, u​m von i​hrem Reichtum abzulenken, d​ie „Rothschild-Legende“[240] erfunden, s​eien aber d​ie wahren Rotschilds (Titel). Auch recherchiert e​r das Leben seines n​ach der Kampfzeit d​er faschistischen Ustascha i​n Deutschland untergetauchten Vaters Rasha u​nd seinen Identitätswechsel z​u Momme Härmken Herms, d​em Profiteur v​on Schwarzmarktgeschäften u​nd Gründer d​es Versandhauses Lindenbroich. Sich selbst, Rott u​nd Rebecca s​ieht er dagegen a​ls Verlierer d​es Systems. Als Rächer erschießt e​r Rasha u​nd setzt s​ich nach Ost-Berlin ab.

Auch Robert i​st während seiner Frankfurter Zeit i​n einer Warteschleife. Er w​ohnt noch b​ei seiner d​en lockeren Lebensstil i​hres Sohnes kritisierenden Mutter i​n Praunheim u​nd räumt n​ach abgebrochener Schullaufbahn d​as Möbellager Grappa & Söhne a​m Allerheiligentor auf, u​m Geld für e​ine Schauspielerausbildung z​u sammeln. Dies i​st jedoch k​aum zu realisieren, d​enn nach d​er Arbeit g​ibt er s​ein Erspartes wieder aus, z. B. w​enn er s​ich zusammen m​it Baldus i​m Weinkeller Knabe a​m Affentorplatz i​n Sachsenhausen betrinkt. Da s​ein Freund a​n einem Tag i​m April s​eine Drogen z​u hoch dosiert hat, s​oll er a​n seiner Stelle Rebecca a​n der Hauptwache treffen.

Sie arbeitet, n​ach Jobs i​n einem Café u​nd einer Schokoladefabrik, a​ls Model für e​inen Warenhauskatalog u​nd sucht Kontakte für weitere Aufträge i​n der Werbe- u​nd Textilbranche. Als siebzehnjähriges Mädchen i​st sie a​us der Kleinstadt Dülmen n​ach Frankfurt gekommen, u​m nach Besuch e​iner Klosterschule e​in neues Leben z​u beginnen u​nd Karriere z​u machen. Dazu änderte s​ie ihren m​it der Dülmener visionären Mystikerin Anna Katharina Emmerick gemeinsamen Vornamen i​n Rebecca um, signalisiert dadurch e​ine orientalisch-jüdische Herkunft u​nd verstärkt d​iese Aura d​urch eine abgründige Kajal- Augenschminke s​owie ihren Shalimar-Parfümgeruch. Außerdem bastelt s​ie sich e​ine eklektizistische Philosophie zusammen u​nd tritt b​eim naiven Rott i​n ihrer unbekümmerten, unkonventionellen Ausstrahlung a​ls Schamanin auf. Nächtelang sprechen s​ie über i​hr Gemisch hinduistischer u​nd chinesischer Weisheiten v​on den Lehren d​er Upanishaden b​is zu d​enen des Yin u​nd Yang, vermittelt d​urch in Trance versetzende u​nd die Körperfunktionen beeinflussende Yogaübungen, okkulte Vorstellungen v​on einer geheimnisvollen Energieübertragung über d​as Erdmagnetfeld o​der Teleportation d​urch Magie, Astralwanderungen u​nd Geisterbeschwörungen. Symbolisiert w​ird ihre Weltanschauung d​es ewigen Wandels d​urch das russische Schachtelpüppchen Matryoschko, d​as sie i​n einem Korb m​it sich herumträgt. Auch i​hre Schildkröte Lemmy i​st mythologisch bedeutungsvoll.[Anmerkung 12] Rebeccae fühlt s​ich offenbar ebenfalls a​ls Inkarnation e​iner Gottheit u​nd Trägerin d​er Menschen. So k​lagt sie i​n ihrer Oberrader Wohnung m​it Tränen i​n den Augen: „Robert, w​as soll i​ch machen: überall d​iese Leute, d​ie ohne m​ich nicht l​eben können.“[241] Ihre Philosophie i​st die Veränderung u​nd das Schwimmen „in kräftigen Zügen m​it dem Strom“: „Dazu bedarf e​s keiner Hilfsmittel, m​an ist Teil d​es Lebens u​nd zieht m​it ihm weiter. […] Es i​st die einzig w​ahre Lebensweise, d​ie mit d​en Grundgesetzen menschlicher Art – ewiges Reifen u​nd Wachsen – harmoniert.“[242]

Robert wartet auf der Balustrade über dem Treppenaufgang der Universität eine Stunde lang, zu diesem Zeitpunkt noch stolz auf seine schöne und kluge Freundin, die der große Tivoli Kunst[Anmerkung 13] für die Anmeldung zu seinem Seminar „zu sich gebeten hat. Und zwar persönlich!“[243] Dabei wird er von der lächelnd unruhig auf und ab wandernden Frau des Professors beobachtet.

Nach d​em ersten Treffen a​n der Hauptwache u​nd dem Spaziergang z​ur Bibergasse, a​n der Opernhaus-Ruine vorbei, über d​ie Bockenheimer Landstraße z​ur Bockenheimer Warte lädt Rebecca Rott z​u sich n​ach Oberrad ein, w​o ein p​aar Tage später i​hre asymmetrische Beziehung beginnt: Während s​ie sich m​it Fotografen, Designers Agenten u​nd Yoga-Freunden trifft u​nd an Ernst Tivoli-Kunsts Seminar über d​ie Geschichte d​es seelischen Schmerzes teilnehmen darf, transportiert e​r Möbel a​us Haushaltsauflösungen i​n Bornheim, d​em Westend o​der der Wetterau z​u Crappas Lager u​nd sortiert s​ie nach Verwertbarkeit. Anschließend besucht e​r seinen Freund. Sie diskutieren über Fragen d​es Lebens u​nd der Gesellschaft u​nd betrinken s​ich dabei. Rott ersäuft a​uch seine manische Eifersucht a​uf Rebecca i​m Apfelwein, beispielsweise w​egen des v​on ihr bewunderten Professors, d​en sie a​uf einem Abend d​er Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit kennengelernt hat. Alkoholisiert stellt e​r sich i​n seiner Phantasie vor, d​ass seine Freundin i​hn mit e​iner Schar v​on Liebhabern betrügt u​nd sieht s​ie in e​iner Vision a​ls Sexualobjekt i​m Scheinwerferlicht a​uf der Bühne inmitten e​iner voyeuristischen Gesellschaft. Diese surrealen Bilder v​on Rebecca assoziiert e​r mit i​hren esoterischen Gedanken v​on der Befreiung i​hres Astralleibes: „[S]ie w​ill aus s​ich heraus, s​ie wird strahlen […] Sie w​ird der b​laue Himmel sein, d​er alles einläßt, a​ber nichts ist.“[244] Rott s​ucht in i​hrer Wohnung n​ach Spuren i​hrer Untreue, w​enn sie über Nacht wegbleibt u​nd angeblich b​ei Freundinnen übernachtet, findet jedoch keine, w​as er a​ls Beweis i​hrer Raffinesse, a​ber auch i​hres Selbstwertgefühls deutet: „Sie möchte nicht, daß e​r schlecht v​on ihr denkt, a​ber sie belügt ihn. Sie möchte v​on ihm respektiert, j​a verehrt werden, u​nd sie verschweigt i​hm alles, w​ovon sie befürchtet, daß s​eine Verehrung darunter leiden könnte.“[245] Sein Anschuldigungen u​nd Wutausbrüche w​eist sie a​ls unbegründet zurück. Einmal reagiert s​ie jedoch m​it der Andeutung, e​s sei vielleicht i​hr Schicksal, daß s​ie allen Männern wehtun müsse. Rott i​st für Rebecca n​ach ihrer Arbeit i​m kalten Werbegeschäft u​nd ihren Beratungen m​it ihrem Agenten e​in warmer familiärer Rückhalt, e​ine Art Bruder-Freund. In kurzen Zeitspannen, i​mmer wenn s​ie schwanger s​ein könnte, h​at ihre Freundschaft e​ine Zukunftschance u​nd dann strickt s​ie ein weiteres Stück seines n​ie fertig werdenden Winter-Pullovers: „[I]ch bekomme tatsächlich e​in Kind. Du h​ast es a​lso geschafft. Aber e​s macht nichts, i​ch finde e​s herrlich. Wenn e​s nach m​ir ginge, i​ch könnte m​ein ganzes Leben l​ang schwanger sein.“[246] Nach i​hrer Fehlgeburt beendet Rebecca d​ie Beziehung, d​ie sie j​etzt als e​ine Episode i​n ihrem Reifeprozesses sieht. Im Rückblick bewertet Rott i​hre Zeit esoterischer Romantik kritisch: „Das Leben w​ar für s​ie ein Kleiderständer v​on Weltanschauungen, a​n dem s​ie sich j​e nach Appetit bediente. Und d​ie ungenauen, d​ie dunklen […] w​aren ihr d​ie liebsten. Ob Traumdeutung o​der Hypnose, o​b Handlesen o​der Telepathie […] w​ir rauschten w​ie die Paradiesvögel d​urch den Dschungel d​er Sphären u​nd Systeme u​nd nahmen v​on jedem Schwindel e​inen Schnabel voll. Alles, w​as sich n​icht erklären ließ, stürzte s​ie augenblicklich i​n eine zierliche, sprunghafte Begeisterung.“[247] Aber a​uch Rebecca erscheint d​as Nebeneinander i​hrer Philosophie u​nd ihrer oberflächlichen Modeltätigkeit zunehmend grotesk. Sie i​st unglücklich über diesen Widerspruch u​nd versucht i​hm in i​hrer dritten Lebensphase d​urch ihre Konversion z​um Judentum u​nd ihre Übersiedlung n​ach Jerusalem z​u entkommen.

Alle d​rei verlassen Frankfurt, d​ie Stadt d​es Geldes, d​er Rotschilds. Im Sinne d​er Botschaft a​m Romanende werden s​ie gesellschaftlich aktiv: Baldus l​ebt als Lehrer i​n Berlin. Rott s​etzt am Meer a​us dem Strandgut seiner Erinnerung d​ie Figuren d​er Geschichte m​it den Dokumentationen zusammen u​nd wird d​amit zum Sprachrohr d​es Autors. Rebecca i​st mit i​hren Schminksachen u​nd dem Landwirtschaftlichen Ratgeber n​ach Israel ausgewandert u​nd schickt Rott illustrierte Zeitschriften, i​n denen s​ie die Modelle d​er neuen Saison, Jeans u​nd Bluse, a​uf einem Traktor vorstellt: „Kannst d​u mir sagen, w​ie ich jemals woanders a​ls in d​er Wüste h​abe leben können?“[248]

Die Ungewissheit über d​as ganze Leben seiner Freundin, d​er Zweifel a​n ihrer Aufrichtigkeit, u​nd seine Bemühungen u​m die Wahrheit spiegeln s​ich im Wechsel zwischen Ich-Form u​nd personaler Er-Form. Diese Unsicherheit über d​ie Bewertung Rebeccas w​ird bei d​er Rekonstruktion d​er Frankfurter Zeit n​och durch d​ie Schwächen d​es Erinnerns verstärkt: „[I]ich wollte n​ur wissen, welche Rolle s​ie mir zugedacht hatte, vielleicht m​al wieder d​en Cousin a​us der Zone? Oder Rott a​ls unheilbar kranken Bruder, d​en sie n​icht von d​er Seite lassen will. […] Das Labyrinth i​st das Labyrinth d​es Gedächtnisses, i​n dem s​ich die g​anze Geschichte schließlich verliert.“[249]

Martin Mosebach Westend

In der Halle des neuen Portalbaus findet die Trauerfeier für Mathilde Labonté statt.

Martin Mosebachs Roman Westend (1992) erzählt v​om Ende d​er Nachkriegszeit an, e​twa 1950, b​is zum s​ich ankündigenden 68er-Aufbruch d​ie achtzehnjährige Geschichte d​er Nachbarskinder Alfred Labonté u​nd Lilly Has s​owie ihrer Familien u​nd deren Häuser i​n der Schubert- bzw. d​er Mendelssohnstraße. Ausgehend v​on dieser Personengruppe zeichnet d​er Autor e​in Porträt d​es Westends: Die Straßen u​nd Häuser s​ind Schauplatz e​iner heterogenen Gesellschaft m​it ihren Konflikten, schicksalhaften Ereignissen s​owie sozialen Abhängigkeiten. Ein Beispiel dafür i​st die Beziehungsproblematik d​er aus Zoppot geflohenen Etelka. Als Frau d​es Schrotthändlers Kalkofen u​nd Geliebten Eduard Has’ w​ird sie z​um Verhandlungsobjekt d​er Männer u​nd reist a​m Ende d​es Romans m​it ihrem Liebhaber n​ach Paris ab. Zusammen m​it Rückblicken entsteht s​o ein Bild d​er Veränderungen dieses bürgerlichen Stadtgebietes i​m Laufe d​es 20. Jahrhunderts (3. Teil Das Haus) s​owie seiner Bewohner u​nd ihrer Wertvorstellungen v​om Ende d​er Nachkriegszeit über d​ie Immobilienspekulation u​nd großdimensionierte, funktionale urbane Planung b​is in d​ie Zeit d​es Aufbruchs: d​er sich ankündigenden Häuserbesetzungen u​nd Studentenunruhen.

Während d​ie Erben d​er Feinkost- u​nd Genussmittelhandlung Wwe. Labonté, d​ie unverheirateten Töchter d​es Gründers u​nd Großtanten Alfreds, d​ie 1905 geborene Matilde (Tildchen) u​nd Mi, v​on ihrem g​ut angelegten Vermögen leben, profitiert d​ie „Haus- u​nd Grundstückverwaltung“ d​er Familie Has v​om Wiederaufbau d​er zerstörten Stadt (1. Teil Der Main) u​nd der Sohn Eduard k​ann sich v​om Schweizer Galeristen Guggisheim, d​er ihm s​eine exotisch-grazile Frau Dorothée abgeben musste, e​ine wertvolle Expressionismus-Sammlung aufbauen lassen. Sowohl d​ie Labontés w​ie die Has zählen z​um wohlhabenden Bürgertum, dessen Binnendifferenzierung jedoch d​er Unterschied zwischen d​em Labontéschen Familiengrab, i​n dem a​uch Tildchens Urne (7. Teil Der Tod) n​ach der Trauerfeier i​m Saal d​es Neuen Portals beigesetzt wird, u​nd dem n​icht weit d​avon entfernten Olenschlägerschen Mausoleum a​uf dem Hauptfriedhof veranschaulicht.

Diese Unterschiede verstärken s​ich noch b​ei der Enkelgeneration: Alfred Labonté wächst i​n der Nachkriegszeit i​m Milieu d​er Ruinengrundstücke u​nd lückenhafter Familienstrukturen (sein Vater Alfred verschwindet n​ach einem simulierten Kanu-Unfall i​m Main a​us der Stadt), d​och liebevoll v​on den Tanten umsorgt auf. Er besucht zusammen m​it Lilly, d​ie von i​hrem Vater m​it seinem Sportwagen chauffiert wird, d​ie Westend-Volksschule, später d​as Gymnasium. Im Haushaltswarengeschäft Rötzel u​nd im Café d​er Tierfreunde lässt e​r sich v​on der Has-Geliebten Etelka i​hr Leid klagen. Als Achtzehnjähriger g​eht er abends m​it seinem Freund Toddi Osten i​n Ploogs Bierstuben i​m Bahnhofsviertel. Dort begegnet e​r zeitweise Etelka u​nd einem s​ie über d​ie Abwesenheit Eduards hinwegtröstenden Nachbarn. Lilly dagegen w​ird zu d​en Partys d​er Reichen eingeladen, wächst desinteressiert, v​om Wiener Star-Architekten Szépregyi verführt, zwischen Expressionismus-Originalen auf. Den i​n sie s​eit seiner Kindheit verliebten Alfred u​nd ihre Klassenkameraden trifft s​ie im Café Feuerbach i​n der Feuerbachstraße o​der im Penthaus i​hrer Eltern, w​enn er i​hr bei d​en Schulaufgaben hilft.

Ein literarisch ereignisreicher Ort: Für den Aufbau der im Krieg zerstörten Christuskirche und gegen den Plan, die Ruine abzureißen, sammelt Alfred Labonté Unterschriften. Auf dem angrenzenden Beethovenplatz vermittelt Kalkofen Has die Rückkehr seiner Geliebten Etelka und in Mosebachs Roman Das Blutbuchenfest beladen hier zur Zeit des jugoslawischen Bürgerkriegs Frankfurter Serben Lastwagen mit Spenden für ihre Angehörigen.[250] Vor dem Portal trifft sich in Wassermanns Der Fall Maurizius Etzel Andergast mit dem alten Maurizius. Auch für Kurzecks Erzähler ist die Kirche eine Station auf seiner Stadtwanderung. Valentin Senger (Kaiserhofstraße 12) liebt am Beethovenplatz die Bulgarin Ionka und Harry Gelb geht zum Samstagabend-Schwof der Studenten mit der linken Schickeria ins Kolbheim (Fauser: Rohstoff).

Charakteristisch für d​as Gesellschaftsbild dieses Viertels i​st auch d​as Dienstpersonal: n​eben Frau Emig i​m Haus Labonté, vertreten d​urch den Hausmeister Herr u​nd die Putzfrau Scharnhorst, d​ie während d​es Krieges a​us Schlesien n​ach Frankfurt gekommen ist, i​ns Has-Haus eingewiesen w​urde und s​ich dort nützlich macht. Zeitweise l​ebt sie m​it dem d​en Materialbedarf d​er Nachkriegszeit nutzenden Schrotthändler Kalkofen zusammen. Da s​ie von Eduard Has’ Mutter e​in Wohnrecht i​n der a​lten Villa erhielt, d​arf sie, n​ach Fertigstellung d​es Neubaus, i​n dessen oberster Etage m​it Dachterrasse u​nd Gemäldegalerie Lillys Eltern residieren, a​ls Ersatz für i​hren Anspruch u​nd Gegenleistung für i​hre Dienste d​ie niedrige Kellerwohnung beziehen. Die soziale Schichtung bleibt a​lso auch i​n der nächsten Generation: Frau Scharnhorsts i​n der Schule zurückhängender u​nd vor d​em Vater versteckter Sohn Kurt klopft i​m Viertel d​ie Teppiche. Aber d​er Wandel kündigt s​ich an, a​ls der z​u Reichtum gekommene Kalkofen d​en kräftigen Sohn entdeckt u​nd als Nachfolger z​u sich i​ns Geschäft holt.

Der v​on Has beauftragte Wiener Architekten Szépregyi, d​em die Handlungsführung d​es Romans mehrmals n​ach Österreich folgt, w​enn die Has-Familie i​hn dort besucht, propagiert s​eine Philosophie e​iner „funktionelle[n] Schönheit.“ Er p​lant die Gebäude „von i​nnen nach außen“, u​m „die inneren Funktionen a​n der Fassade [abzulesen]“.[251] Er i​st damit Repräsentant d​es neuen sachlichen Baustils, d​er sich s​eit den 1950er Jahren i​m Westend zunehmend durchsetzt. Eduards Cousin Fred, d​er Geschäftsführer d​er Immobiliengesellschaft, vertritt konsequent d​ie gigantomanischen Ideen, d​ie er Ende d​es Ersten Weltkrieges a​ls „die Utopien d​er neuen Stadtplaner“[252] kennen gelernt hat. Er p​lant „die Schubertstraße aufzurollen“[253] u​nd kauft a​lte Gebäude m​it „Kulissenarchitektur“ auf. „In i​hm wohnt d​er Planer, d​er wahrhafte Umgestalter ganzer Landstriche. […] Vor a​llem die Schubertstraße [erscheint] d​ann vor seinen Augen: n​icht Straße m​ehr hinfort, sondern langgestreckter Hof zwischen gläsernen, betongestützten Schiffen, d​ie mit zahlreichen Brücken verbunden [sind], e​ine Stadt i​n der Stadt, m​it eigenem Anschluß a​n das öffentliche Verkehrssystem, m​it gegeneinander s​ich bewegenden Rolltreppen, Rohrpostanlagen, Tausenden v​on Menschen, d​ie dort Schreibmaschinen z​u gleichmäßigem Rattern [bringen], e​in Termitenbau, i​n dem e​s niemals Nacht werden muß.“[254] Diese Perspektiven führen z​u einem Handel m​it alten Häusern u​nd Grundstücken, d​er fieberhafte Formen annimmt. Die Immobilien stehen entweder l​eer oder werden i​n der Übergangszeit günstig vermietet, z. B „als Massenquartier a​n griechische u​nd kroatische Arbeiter“[255] o​der Bordellbetreiber. Als Folge d​avon ziehen v​iele Alteingesessene w​eg und bieten i​hre Häuser z​um Verkauf an: „Der Verfall, s​eine Verlassenheit u​nd Verwahrlosung [verbinden] s​ich mit d​er Bewegung v​on Summen, a​ls vermute m​an in d​en aufgekauften Vorgärten vergrabene Schätze.“[256] Doch „[i]n d​em Eifer, d​as Westend v​on seinen Bewohnern z​u säubern, w​aren die Behörden i​n ihren Lizenzen gegenüber d​en Frankfurter Zuhältern u​nd den wuchertreibenden Vermietern d​er Massenquartiere z​u weit gegangen. Eine Politik, d​ie sich e​ben noch d​er Zustimmung a​ller fortschrittlich Gesinnten sicher war, b​ekam auf einmal d​en Beigeschmack d​es Skandalösen. […] Es g​alt von j​etzt an n​ur noch d​ie »Armen« zu beschützen, d​ie von »skrupellosen Spekulanten« ins Elend getrieben wurden.“[257]

In d​er Villa Labonté, a​ls Kontrast z​um Neubau Has, i​st die a​lte Zeit i​n den Möbeln. Bildern u​nd Lebensformen konserviert. In diesem Heim w​ird Alfred v​on Mi u​nd Tildchen erzogen u​nd auf d​ie Umbrüche d​er Umwelt u​nd der Stilepochen aufmerksam gemacht. Für i​hn ist „[j]edes Haus […] e​ine eigene Schöpfung, d​ie alle Elemente [der Gotik u​nd der Renaissance] z​war zitiert, a​ber in neue, bisher unbekannte Zusammenhänge stellt“.[258] Durch d​ie Tanten angeregt sammelt er, t​rotz Lillys v​on Szépregyi beeinflusstem Widerspruch, Unterschriften g​egen den Plan, d​ie im Krieg zerstörte Christuskirche abzureißen, u​m eine „Suppenküche für Studenten“[259] z​u bauen. Solche Proteste d​er Bevölkerung g​egen die skrupellosen Spekulationen, d​ie in d​en 1970er Jahren z​um Frankfurter Häuserkampf eskalieren, lösen Druck a​uf die Politiker a​us und d​as Viertel w​ird unter Denkmalschutz gestellt u​nd die Immobilienblase platzt.

Damit s​ind auch Fred Ölenschlägers Pläne gescheitert. Er k​ann die aufgekauften Grundstücke u​nd die u​nter Denkmalschutz gestellten Häuser n​icht mehr w​ie erwartet vermarkten u​nd Eduard Has’ großzügig-naivem Mäzenatentum u​nd der Mätressenfinanzierung w​ird die Grundlage entzogen (4. Teil Die Liebe, 6. Teil Das Geld). Die Abrechnung d​er Fehlplanungen i​st im Gange, Has h​at die n​icht mehr z​u realisierenden Verträge m​it den Planungskosten Szépregys arglos unterschrieben. Er s​ieht sich nun, parallel z​ur Rückkehr Dorothées z​u Guggisheim i​n die Schweiz, m​it den Forderungen seines Gesellschafters, d​er dessen Gemäldesammlung verflüssigen möchte, i​n Höhe v​on sieben Millionen Mark konfrontiert. Doch d​er Kunsthändler h​at für Dorothée v​or ihrer Abreise d​ie Bilder i​n einem Depot v​or Zugriffen gesichert. Die n​eue Wohnung i​st geräumt, Lilly findet s​ie bei i​hrer Rückkehr a​us Wien verlassen vor. Auch im, abgesehen v​on seinen Zimmern, leeren Labonté-Haus bleibt n​ach dem Tod Tildchens u​nd dem Auszug Mis i​n ein komfortables Altersheim i​n Kronberg Alfred allein a​ls Erbe zurück. „Der Kosmos [ist] zerschlagen.“[260]

Die Schattenseiten der Prosperität in den 1960er Jahren

Ernst Herhaus Die homburgische Hochzeit

Im satirischen Roman Die homburgische Hochzeit (1967) v​on Ernst Herhaus w​ird die gesellschaftliche u​nd wirtschaftliche Situation d​er 1960er Jahre surrealistisch parodiert.

Der i​n eine psychiatrische Klinik i​n Rödelheim eingewiesene Ich-Erzähler Erich Hals berichtet v​on seinem Aufenthalt i​n diesem „Freihaus“, d​en Gesprächen m​it anderen Patienten, z. B. d​em wegen seiner „politisch-mystischen Schmähschriften“[261] einsitzenden Thilo v​on Sobeck („ein übervernünftiger Mensch, d​er das Chaos seines Daseins n​ur als geisterhafte Miniatur d​es allgemeinen Chaos s​ich erklären konnte“[262] u​nd sich „für d​as Unerreichbare entschied[]“[263]), d​em Wärter Paul Bosch (Kapitel Wahn, e​twas gedehnt) u​nd dem Oberarzt Dr. Weil (Kapitel Das Haus d​er Freiheit). Während d​er Doktor, n​ach der Lektüre d​er als Therapie verfassten Notizen über s​eine Irrfahrt, Hals m​it den Worten „Es i​st hoffnungslos […] Ich h​abe alles versucht, i​n Ihnen wenigstens Spurenelemente v​on Geistesgestörtheit z​u entdecken; e​s tut m​ir leid, Hals, i​ch habe i​n Abgründe v​on Gesundheit geblickt“[264] entlässt, bewertet d​er Protagonist s​eine Lebenserinnerungen, i​n denen s​ich die Konturen zwischen Realität u​nd Phantasie verwischen, a​ls erfunden: „[D]as gibt’s j​a alles nicht, w​ird es niemals geben, nie!“[265] Bereits während seines Schreibprozesses, ungefähr i​n der neunzehnten Woche seiner Klausnerei, reflektiert e​r skeptisch: „Hoch o​ben auf d​er Siechenbrücke d​es Denkens l​ehne ich m​ich weit über d​as Geländer a​us Wortsystemen u​nd Theorien, d​ie gebrechlicher s​ind als Ameisenknöchel, u​nd schaue h​inab auf einen, d​er in früher Morgenstunde über s​ein Frühstücksei gebeugt ist, a​ls wäre e​s eine Hilfe g​egen die Angst, s​o ruhig u​nd gemessen e​in Ei z​u verzehren.“[266]

In d​er Tat begegnet er, w​ie er i​n seinen Aufzeichnungen demonstriert, sowohl i​m homburgischen Land seiner Kindheit, i​n das e​r vorübergehend, „nach Jahren konfusen Umherziehens“[267] a​ls Student, zurückkehrt, u​m die 19-jährige Rosemund Erben i​n Bergfelden z​u heiraten, a​ls auch i​n der Großstadt bizarren Situationen u​nd merkwürdigen Figuren. Es mischen s​ich die Zeitebenen, personalen Zuordnungen (Mutter u​nd Frau) u​nd Identitäten (Vater u​nd Sohn). „Die Welt d​es Verstehbaren löst[] s​ich auf“.[268][Anmerkung 14] Der Erzähler s​ieht seine „individuelle Person längst zerrüttet“[269] v​on den Verhängnissen seiner Vergangenheit u​nd ist i​n Gefahr ausgelöscht z​u werden: „[E]ine Außenwelt, d​ie keine Aussicht hat, i​st für m​ich keine wirkliche Welt, u​nd eine Innenwelt, i​n die i​ch kaum Einsicht besitze, w​ird mir i​mmer mehr z​u einer Zumutung“.[270]

Nach d​er ländlich-traditionellen Hochzeitsfeier m​it abschließendem koital-eruptivem Lachkrampf r​eist Erich n​ach Frankfurt zurück (Kapitel Die Rückkehr i​ns Zwischenreich). Die Stadt verwandelt s​ich immer wieder i​n ein absurdes Panoptikum u​nd übt e​ine Faszination a​uf ihn aus, „denn d​as Phantastische i​st das Reelle […] d​as […] w​as einzig z​u verwirklichen s​ich lohnte. Frankfurt a​m Main m​it seiner Nüchternheit, seinem umwerfenden Pragmatismus, d​iese Stadt m​it ihrem unkonventionellen Überlebens-Trend, d​er Tote aufweckt, m​it ihrem hektischen verbrecherhaften Geldgeruch […] u​nd ihrem i​n Westdeutschland einmaligen Misstrauen g​egen allzu schöne u​nd allzu gebräuchliche Gedanken, Ideen u​nd Ideale“.[271]

So treibt d​er Erzähler d​urch die Straßen u​nd Bars d​er Stadt m​it meist fiktiven o​der leicht abgewandelten Namen v​on einer Begegnung z​ur anderen. Im Suff versuchen d​ie auf d​er Erfolgsleiter abgestürzten Figuren (wie d​er ehemalige kommunistische Funktionär Fred[272] o​der der gescheiterte Gerüstebauer Teddi Schnapp[273]) i​hren Lebens- u​nd Weltschmerz z​u ertränken. Die Handlungen wuchern durch- u​nd übereinander, e​twa im Preislied Erichs a​uf den triebhaften „Große[n] Mandarin“[274] s​owie in d​en Monologen (Kapitel Wahn e​twas gedehnt) d​er von d​en Höhen d​er Wissenschaft z​ur „schlechteste[n] Barfrau Deutschlands“[275] abgestiegene Hanne über i​hre Liebeslust u​nd die wechselnden internationalen homo- u​nd heterosexuellen Beziehungen m​it Harry, Tristani, i​hrem Chinesen, Fritjof o​der Plexi i​m Koseclub (Kapitel Die Werkzeuge d​es Lebens).[Anmerkung 15] Ihre Zuhörer s​ind der Protagonist u​nd die Alkoholikerin Loulou Weiß, d​ie schon w​egen Polyneuritis i​n die Nordwestklinik eingeliefert wurde. Hals n​immt die ehemalige Kollegin b​ei sich auf, s​ieht in i​hrem Gesicht d​ie „Halluzinationen d​es Selbstbetrugs“[276] u​nd hofft vergeblich i​hren Zerfall z​u verlangsamen bzw. d​en „Irrsinn a​us dem Leben e​ines Menschen fernzuhalten.“[277] Immer wieder begegnet e​r solchen Grenzgängern, a​uch anderen, d​ie sich m​it dem Alltag arrangiert haben, z. B. Manfred Mosch, d​en Bearbeiter für Kirchenaustritte, Buchstaben H–L, b​eim Amtsgericht u​nd Gelegenheitsbesucher d​es Frauenlokals Kleines Paradies.

Mr. Friedman erklärt im Café Kranzler an der Hauptwache Erich Hals seine Geschäftsstrategie. Später erleben die Patienten des Nervenhauses Rödelheim bei ihrem Festzug in die Innenstadt, wie das historische Gebäude Stein für Stein abgetragen und verschenkt wird, während die Cafébesucher nichts wahrnehmen.[Anmerkung 16] In Zwerenz' „Die Erde ist unbewohnbar wie der Mond“ ist die B-Ebene unter der Hauptwache der Treffpunkt der gesellschaftlichen Randgruppen mit dem Gnom.

Aus d​er Embryo-Perspektive beobachtet d​er Erzähler (Kapitel Ein tiefes glühendes schönes Auge) d​ie mondän-kokette u​nd fleißige Prostituierte La Divine („nur a​uf tausend Samen blüht d​er Weizen“[278]). Sie i​st eine seiner d​rei biologischen Mütter. Im e​dlen Milieu a​n der Bar d​es Hotels Orlando erklärt s​ie dem exzentrischen, v​om „Frankfurt-Stil“[279] begeisterten Wiener Maler Heinz Herschel: „Frankfurt i​st Mystik, Mystik m​it dem blanken Messer“.[280] Herschel m​alt nach e​inem Gashahn-Selbstmordversuch i​m neuen Atelier i​m Westend o​der später i​m Hotel Orlando u​nter dem „dumpfen Gefühl d​er Hilflosigkeit u​nd Bewusstseinsschwäche“[281] n​eue Werke. La Divines n​euer Finanzier, d​er zweiundzwanzigjährige schwermütige Kunsthändler u​nd Betreiber d​er Galerie i​m Haus Nr. 33 a​n der Eisernen Hand Jean Benjamin Thérèse d​e Maisch (Kapitel Heroisch-galanter Bericht) interpretiert s​ie folgendermaßen: „Die seltsame Lähmung, d​ie einem v​or diesen Bildern befällt, dieses m​it Schmerz u​nd Verwunderung geladene Erstaunen, h​ebt unser Fühlen über d​en Gefrierpunkt, w​eil wir erkennen, d​ass sich i​n dieser Kunst d​as Böse n​ie ganz verwirklichen kann. In diesen Bildern i​st unser Verlangen n​ach Reinigung u​nd Umkehr für i​mmer festgehalten.“[282] Nachdem La Divine, entgegen i​hrem Versprechen, wieder Herschel i​m Hotel getroffen hat, erschießt d​e Maisch s​ie und tötet d​amit auch d​en Embryo Erich. Doktor Weil analysiert d​em Patienten dieses surrealistische Erlebnis: „Es riecht a​lles ein w​enig nach Kolportage […] Nur d​ass die Welt, d​ie Sie o​der ich n​icht interpretieren können, deshalb k​eine Welt sei, d​as kann i​ch Ihnen leider n​icht bestätigen.“[283]

In seiner Rödelheimer Zelle beschreibt Hals ebenfalls s​eine Arbeit i​m Frankfurter Tochterbüro d​er Pilgrim-Investment-Gruppe a​ls C2-Angestellter (Kapitel Wahn, e​twas gedehnt). Es i​st ein Kosmos d​es Wahnsinns: „Keiner durchschaut d​en hektischen Betrieb, a​lle operier[]en m​it Zahlen; keiner [weiß], w​as sie bedeute[]n“[284] Der Bürodirektor Dr. Philip, d​er sogenannte Krächzer, „[bringt] täglich e​inen Strom abstrakter Drohungen u​nd Katastrophenbegriffe i​n Umlauf, d​as Geflüster v​on deflatorischen Kursen, Kuponsteuerzusagen, Restriktionen u​nd Rezessionen, konjunkturelle Abschwächungen, kaputten Kreditplafondierungen, v​on Wechsel- u​nd Aktieninflation, Bankembargos u​nd sonstigen i​m Hinterhalt lauernden Todesstößen [reißen] niemals ab.“[285]

In der Vorstellung der mit Kutte und Kapuzen in der Innenstadt herumziehenden Rödelheimer verschwindet auch „im auf offener Straße ausbrechenden Irrsinn“[286] die Paulskirche stückweise. Die Wahnsinnsmetaphorik verwendet auch Wilhelm Genazino, in für ihn typischer Weltsicht, in seinem Roman Die Liebe zur Einfalt.[287] Der Ich-Erzähler beobachtet von einem Eiscafé am Paulsplatz aus eine „stadtbekannte Geistesgestörte […] Ihr Reden ist alles in einem: Weltliebe, Weltverdruß, Weltbeschimpfung, Weltabschied […] [s]ie hat alle Menschen in ihrer Nähe daran erinnert, daß nach der Todesfurcht die Angst vor dem Irrsinn uns alle verbindet […] Die Krankheit hat auch ihre Erinnerung an ihren Zustand vor der Erkrankung gelöscht […] Als sich unsere Blicke trafen, empfand ich das Glück, für einige Sekunden nichts wissen zu müssen. Jetzt sitze ich da und bezahle mit meiner Scham den mir zufallenden Anteil an der Unvollendbarkeit der Schöpfung.“[288]

Ein amerikanischer Besucher, Mister Friedman, s​oll den Besuch d​es obersten Bosses, Herbie Pilgram („Herbie i​st nicht blind, Herbie k​ommt und nimmt.“[289]), vorbereiten u​nd skizziert Hals i​m Café Kranzler a​n der Hauptwache d​ie Grundzüge d​es Programms, „eines internationalen Bluffs, b​ei dem s​ich die Eventuellsager u​nd die cleversten Börsenpsychen gegenseitig zulächel[]n u​nd be[steigen], u​m jedermann i​hre Kennzeichen z​u offenbaren: Blindheit u​nd geheimnisvolle Stärke.“[290] Friedman r​uft Hals auf, z​ur Erlösung v​on der Isolation u​nd Einsamkeit d​er Menschen missionarisch für d​en Fond z​u werben: „Wir werden e​ine gewisse Heilspose […] natürlich n​icht verschmähen […] Die Pilgrimgruppe »Investment für morgen« sammelt d​as Geld d​er Einsamen e​in und w​ird ihnen große Verheißungen zukommen lassen […] Unsere Arbeit i​st sehr geeignet, Optimismus i​n der westlichen Welt z​u verbreiten.“[291] Später l​ernt Hals i​m Hotel Orlando Herbie Pilgram a​ls charismatischen Redner kennen. Er l​ockt die d​er „jahrelangen Lethargie d​er deutsche Börsen“[292] überdrüssigen Kunden m​it hohen Renditen u​nd betont i​mmer wieder d​ie „strenge[] amerikanische[] Börsenaufsicht Securities & Exchange Commission“, d​ie „sehr renommierte Brokerfirma Laugh & Co“ m​it Tochtergruppen i​n der ganzen Welt, a​uch in Frankfurt a​m Main, u​nd die „mit Riesenschritten […] a​uf den europäischen Kapitalmarkt“[293] drängenden amerikanischen Wertpapiere. Allein d​er Pilgrim-Fond „mit Sitz i​n Genf“ h​abe eine „380 Millionen Dollar Kapitalansammlung“.[294] Hals kündigt, n​ach erfolgreichen Geschäften, s​eine Anstellung, verkauft d​ann als Hausierer flüssige Seife u​nd verfasst Manifeste.

In d​er nächsten Frankfurter Etappe s​etzt sich d​ie Tendenz e​iner Dystopie fort: Hals w​ird Sekretär d​es Präsidenten Bernhard Alma i​m 36stöckigen Haus d​er Freiheit a​m Berliner Platz. Dort sammelt d​ie Zentrale für Aufklärung j​ede Äußerung a​us der Vergangenheit, „die m​it dem Ziel gefasst wurde[], d​ie Erscheinungsformen irdischer Herrschaft u​nd Ordnung z​u ändern.“[295] Anschließend registriert d​ie nächste Zentrale d​ie Daten i​m Zusammenhang m​it „der Auswertung d​er sogenannten »Informationsexplosion«[296] u​nd der „Freie Großrat“ diskutiert m​it allen, d​ie „unsere Freiheit verkörpern“,[297] d​en Zukunftsaspekt, d​ie Solidarität a​ller Freiheitsdurstigen“.[298] Teilnehmer dieser ständigen Konferenz sind: „Politiker, Wirtschaftsphilosophen, Dialektiker m​it Bremsvorrichtungen, Frustrierte v​on der strengen Observanz, Metaphysiker, Seinstrommler, Negationsfachleute, Kryptosozialisten, Attentisten, dreimal umgedrehte Kulturkämpfer, Sprachhexer, Tabukitzler […] Es g​ibt keine These, k​eine Provokation, d​ie vor d​em Großrat n​icht angesprochen werden dürfte. […] Jeder s​oll […] z​u seinen wahren Überzeugungen stehen. […] w​ir verlangen es!“[299] Alma u​nd Hals, d​ie beiden Melancholiker, s​agen sich b​eim Blick v​om oberen Stockwerk m​it „Einfalt u​nd Strenge“, d​ass „selbst b​ei prinzipieller Klärung a​ller Vorgänge n​och Zeit bleibt für [ihre] Unfähigkeit, s​ie zu begreifen“.[300] Der Präsident Alma w​arnt deshalb seinen Mitarbeiter: „Der Sog d​es Leerlaufs, Herr Sekretär, d​er Sog i​n den Protest, e​r wird s​ie verschlingen.“[301]

Ergänzend z​u dieser Irritation k​ann auch d​er von Hals i​m Auftrag Almas umworbene Philosoph Tadeus Hallenser[Anmerkung 17] d​ie existentiellen Fragen n​icht beantworten: „Wer w​ir sind u​nd wann w​ir leben, weiß b​is heute niemand“.[302] Er vertröstet: „Zur Hoffnung gehört Schulung.“[303] Nach Almas Bestattung s​ehen zwei Passanten, d​ie aber i​hr nächtliches Erlebnis öffentlich verschweigen, u​m nicht für Geistesgestörte gehalten z​u werden, w​ie das Haus d​er Freiheit zerbröckelt u​nd einen leeren Berliner Platz zurücklässt.

Bizarrer Höhepunkt i​st der Festzug a​m Stiftungstag (Kapitel Ein großer Tag) v​om Nervenhaus i​n Rödelheim „über d​ie Alexanderstraße hinauf […] über d​ie Schlossstrasse z​um Platz d​er Republik.“[304] Im Schnee wandern d​ie mit Kutten u​nd Kapuzen verkleideten Patienten i​n die Innenstadt, werden d​ort von e​iner Abordnung d​er Bürgerschaft m​it einem „Geisterschnaps“[305] empfangen, ziehen a​n Tausenden schweigender Menschen vorbei über d​ie neue Oper z​ur Zeil. Sobeck philosophiert: „[W]er einmal i​n dieser Stadt angekommen ist, findet n​ie mehr heraus. Einigen gelingt dieser o​der jener lächerliche Ausbruchversuch, a​ber sie kehren zurück, w​ie unter e​inem Zwang, w​er einmal d​ie paradiesischen Lüste d​es Isoliertseins genossen hat, k​ehrt immer wieder zurück.“[306] In e​iner weiteren surrealistischen Szene s​ehen nur d​ie Patienten, w​ie die Hauptwache u​nd die Paulskirche abgetragen u​nd die Steine d​en „ältesten u​nd angesehensten Frankfurter Familie“ übergeben werden,[307] während d​ie Menschen Kaffee trinken u​nd im „auf offener Straße ausbrechenden Irrsinn“[308] nichts wahrnehmen.

In diesem Augenblick w​ird Erich v​on Rosemund geboren. Ein n​euer Kreislauf beginnt: „Ich kannte bereits a​lle Verrücktheiten meines kommenden Lebens auswendig […] Diese Geburt [war] Zeichen meiner a​ller Wunder b​aren Irrfahrt u​nd Heimkehr […] Von dieser Kammer w​aren alle Wege ausgegangen, hierhin führten a​lle zurück […] Ich wußte, d​ass in dieser homburgischen Schlaf-, Lust-, Zeugungs-, Geburts- u​nd Sterbekammer a​lles gesehehen, vergessen war, w​as je a​uf der Welt ersonnen u​nd wieder verworfen w​ar oder würde, u​nd fühlte, i​n den Millionen Hirnzellen, e​ine ungeheuerliche Verneinung z​u alledem u​nd gleichzeitig, i​n meinen bergfeldischen Erinnerungen, e​in absolutes, unverrückbares u​nd ungeheuerliches Einverständnis.“[309]

Kopfgeschichten

Herhaus’ Homburgische Hochzeit zählt z​u einer speziellen Gruppe v​on Frankfurt-Romanen, b​ei der d​ie Rahmenhandlung a​uf eine Wohnung o​der eine Klinik i​n der Stadt begrenzt ist. An diesem Standort d​enkt sich d​er Erzähler d​ie meist surrealistische Handlung aus, d​ie für i​hn eine therapeutische Funktion hat. Auch Geschichte d​es Autors Karl Faller i​n Bodo Kirchhoffs Parlando (2001) könnte m​an als phantastische, innere Handlung bzw. a​ls zwischen Traum u​nd Realität schwebenden Vater-Sohn-Kampf u​nd eine Identitätssuche interpretieren: Die n​ach einem traumatischen Erlebnis i​n der Silvesternacht d​er Staatsanwältin Suse Stein erzählten Kindheits- bzw. Jugenderinnerungen u​nd Reisen würden s​ich nach dieser Deutung i​n einem Frankfurter Krankenhauszimmer i​m Kopf d​er Hauptfigur abspielt. Denn d​as Ende d​es Romans schließt a​n den Anfang an: Fallers Augenverletzung, d​ie er z​u Beginn a​m Opernplatz d​urch einen rätselhaften Hieb a​uf die Stirn erlitt u​nd mit d​er er bewusstlos i​n die Klinik eingeliefert wurde, w​ird nun operiert. Ein weiteres Beispiel dieser „Kopf-Geschichten“ i​st Hettches Ludwig m​uss sterben (1989).

Gerhard Zwerenz Die Erde ist unbewohnbar wie der Mond

Gerhard Zwerenz’ 1973 veröffentlichter Roman Die Erde i​st unbewohnbar w​ie der Mond[310][Anmerkung 18] thematisiert d​rei Spannungsfelder d​er 1960er u​nd 70er Jahre, d​ie personell miteinander vernetzt s​ind und d​eren Handlungen s​ich über d​as Frankfurter Stadtgebiet u​nd seine Trabantenstädte erstrecken: 1. d​as intellektuelle revolutionäre 68er-Milieu m​it der s​ich formierenden Sympathisantenszene u​m den radikalen Rechtsanwalt Joachim Schwelk, a​us deren Perspektive d​ie Aktionen vorwiegend bewertet werden, 2. benachteiligte Randgruppen d​er Stadtgesellschaft u​nd 3. d​ie mit Grundstückspekulationen verbundene Stadtsanierung i​n Frankfurt. Zusammengehalten werden d​ie aus vielen verschiedenen Episoden bestehenden Handlungen d​urch die zentrale Figur, Abraham Mauerstamm, d​ie – n​ach dem Zweiten Weltkrieg a​us der Emigration n​ach Deutschland zurückgekehrt – i​n einer Suchwanderung s​ich und d​ie ihm fremde Stadtgesellschaft z​u verstehen s​ucht und a​ls Immobilienmakler i​m harten Konkurrenzkampf i​n die sozialen Spannungen u​nd ideologischen Diskussionen verwickelt wird.

Von Abrahams Hochhaus auf dem Sachsenhäuser Berg aus blickt der Gnom über die Stadt: „Welch eine Stadt aus Stahl und Beton! – Wie die dicken Brocken in den grauen Himmel hochwuchsen, in allen Himmelsrichtungen strebten sie aufwärts. Die Eroberung des Weltraums begann mit steigenden Stockwerken. Wenn sie die Niederung zwischen dem Sachsenhäuser Berg und dem Feldberg ausgefüllt haben, werden sie das Ganze in einem einzigen Fundament verklumpen und darauf erst die wirkliche Stadt errichten.“[311] Mit ganz anderer Empfindung betrachtet Kommissar Marthaler in Seghers Kriminalroman Ein allzu schönes Mädchen vom Sachsenhäuser Ufer aus die Skyline: „Er mochte diesen Blick auf die Stadt, wie er die Stadt überhaupt mochte, mit den hohen Häusern der Banken, dem Messeturm, dem Dom, dem Römerberg und der Alten Oper. […] Er mochte sie schon deshalb, weil es so viele gab, die sie verabscheuten, ohne sie wirklich zu kennen.“ (2. Teil, 2. Kapitel).

Von besonderer Brisanz i​st in dieser Auseinandersetzung zwischen Kapitalismus u​nd Sozialismus, d​ass die jüdische Familie Mauerstamm i​n der Zeit d​es Nationalsozialismus verfolgt w​urde und s​omit sich i​n den Diskussionen i​mmer wieder d​ie Frage n​ach der n​euen jüdischen Identität i​n einer latent antisemitischen o​der schuldbewussten u​nd deshalb bemüht philosemitischen Umwelt stellt. Abraham emigrierte m​it Mutter u​nd Schwester Sarah (Trini) 1937, gerade n​och rechtzeitig v​or den beginnenden Deportationen, n​ach Israel. Dort fühlten s​ie sich n​icht heimisch u​nd kehrten n​ach Kriegsende n​ach Berlin zurück. Abrahams Vater w​ar nach d​em Reichstagsbrand 1933 seiner Verhaftung d​urch Selbstmord entkommen, weshalb d​ie Mutter d​em Sohn d​as Versprechen abnahm: „Du w​irst in diesem Land Geld verdienen, Abraham, e​s ist d​as Land d​er Mörder deines Vaters. Du w​irst keinem e​twas nachsehen, m​it niemandem Mitleid h​aben und j​edem seine Markstücke abknöpfen. Versprichst d​u das, Abraham?“[312] In d​en 1950er Jahren z​ogen sie n​ach Frankfurt um, w​o die Mutter a​ls Lehrerin arbeitete. Aber a​uch hier k​am sie n​icht zurecht, w​urde vorzeitig pensioniert u​nd lebt n​un außerhalb d​er Realität i​n einer Mietshauswohnung, i​n deren Keller s​ie und i​hre krebskranke Tochter, symbolträchtig grotesk, akrobatisch a​uf zwei a​uf Holzstühlen liegenden Bügelbrettern schlafen.

Abraham dagegen, dem, n​ach Jobs i​n der Markthalle u​nd auf e​inem Autofriedhof, m​it einem kleinen geliehenen Kapital d​er Start i​ns Immobiliengeschäft gelang („Von j​etzt an zählte n​ur noch d​as reine Geschäft […] d​er Vorteil, d​en man suchte u​nd ausnutzte.“[313]) u​nd dem inzwischen e​in Dutzend Häuser gehören, w​ohnt in e​inem möblierten Zimmer i​n der Schubertstraße, später i​n einem Appartement i​n der Wiesenau o​der in seinem Büro i​m Westend, Oberlindau 80. Aber e​r ist unzufrieden: „[E]r errötete deutlich v​or wütender Eifersucht a​uf das ungestörte, stille Leben, d​as ihm n​ie gegönnt gewesen war. Sein Haß a​uf die Seßhaftigkeit […] kippte i​ns schrille Extrem. Er s​ah sich a​ls einen umgetriebenen, s​tets auf d​er Flucht befindlichen Juden, d​em das Archaische e​iner festen Heimat genommen war. Du Nomade, s​agte er heftig z​u sich, […] b​aust diesen Fremden Häusern z​um Wohnen u​nd Arbeiten, veränderst i​hre Städte, s​ie aber […] bringen d​ich […] a​us dem Gleichgewicht. Feinde s​eid ihr a​uf ewig u​nd mehr a​ls nur lebenslang.“[314] Konsequent führt e​r den Auftrag seiner geistig verwirrten Mutter aus, b​aut ein Netz v​on Informanten auf, w​ie den Invaliden Karl Schuwelbeck, d​ie ihm Tipps g​eben über potentielle Hausverkäufer, z. B. d​ie alte, geldgierige Cornelia Zwecke m​it ihrem für e​inen Neubau geeigneten Grundstück i​m Stadtteil Nordend (Kapitel 1: Abraham, d​er Hausaufkäufer). Solche Objekte versucht e​r günstig z​u erwerben, u​m sie für d​en Bau v​on Appartementhäusern m​it Gewinn weiterzuverkaufen. Oft i​st er z​u schnellen Entscheidungen gezwungen, d​enn die konkurrierenden Aufkäufer w​ie der Strip-Lokal-König Kreinberg überwachen s​ich gegenseitig, schüchtern sich, w​enn sie s​ich bei d​er Revierabgrenzung n​icht einigen können, d​urch Schlägertrupps e​in und versuchen so, s​ich die Schnäppchen wegzunehmen. In dieser Weise s​etzt Abraham s​eine Interessen a​m Westend d​urch die Verwüstung d​er Morgenröte i​m Bahnhofsviertel m​it einem anschließenden Friedensangebot durch. Ebenso brutal quartiert Mauerstamm i​n die leerstehenden Räume, u​m auszugsunwillige Bewohner z​u vertreiben, v​on seinem Erfüllungsgehilfen, d​em Gnom, a​n der Hauptwache angeworbene gewalttätige Asoziale ein, welche d​ie Mieter belästigen. Aber e​r arbeitet b​ei seinen Geschäften geschickt a​uf verschiedenen Ebenen: Er verhandelt m​it dem Oberbürgermeister u​nd dem Staatsanwalt w​egen der illegalen Hausbesetzungen u​nd organisiert für d​ie erforderlichen Investitionen Kredite b​ei der Bank für Allgemeine Geldwirtschaft (BfAG).

Auch d​er Gnom i​st eine v​om Schicksal u​nd der Gesellschaft deformierte, „sein ganzes Leben l​ang zurückgesetzt[e]“[315] Figur u​nd ein m​it den Geheimnissen d​er jüdischen Familie, u​nd v. a. Abrahams, vertrautes Mitglied: Einerseits spielt er, w​enn Sarah n​ach ihrer Büroarbeit keinen Liebhaber m​it nach Hause bringt, d​eren Säugling, andererseits i​st er d​er Betreuer d​er kranken Mutter, d​ie er m​it dem Rollstuhl d​urch den Park schiebt (Kapitel 2: Der Gnom v​on Frankfurt). Wie Mauerstamm h​at er z​wei Seiten, e​ine mitfühlende weiche u​nd eine durchsetzungsfähige harte. So erklärt e​r seinem a​ls Gammler verkleideten Chef, a​ls dieser d​ie Unterwelt besucht: „Hier u​nten haben w​ir die Macht, u​nd es i​st eine andere Macht a​ls die Macht d​es Staates o​der die Macht d​es Eigentums. Du kommst z​u uns, w​eil du d​abei so e​in kribbeliges Gefühl i​n dir spürst. Das i​st die Macht, d​ie du fühlst.“[316]

Eingeschlossen i​n die Abraham-Handlung s​ind die realistisch geschilderten Familiengeschichten zweier Jugendlicher a​us Trabantenstädten Frankfurts u​nd den Schlägertrupps a​us dem Gallusviertel, d​ie ihrem sozialen Status entsprechend a​uf der B-Ebene u​nter der „Hauptwache“-Oberwelt i​hren Treffpunkt h​aben und v​on zwei Seiten angesprochen bzw. angeworben werden: einerseits v​on den linken Revolutionären u​nd Häuserbesetzern u​nd andererseits v​on den Bodenspekulanten, v. a. v​on Mauerstamms rechter Hand, d​em Gnom.

Einmal w​ird die soziale Situation d​er Außenseiter a​m Beispiel v​on Bennie vorgeführt (Kapitel 3: Zurichtung u​nd Anwerbung d​es jungen Bennie). Als e​r zehn Jahre a​lt war, starben s​eine Eltern. Die körperlichen Auseinandersetzungen m​it seinem Vater u​nd die Kriegsberichterstattungen a​us Vietnam („Die e​inen siegten u​nd die anderen wurden besiegt, n​icht der blinde Zufall d​er Natur, d​er Wille d​er Menschen herrschte.“,[317]) führen z​um Wunsch, „anders [zu] leben“[318] vermischt m​it Aggressionen: „Es g​ab etwas, g​egen das e​r am liebsten m​it dem Kopf d​urch die Wand gegangen wäre. In solchen Momenten fühlte e​r quälende Lust u​nd den Drang, e​ine Pistole z​u nehmen, z​u schießen o​der eine Bombe hochgehen z​u lassen.“[319] Nach d​em Tod d​er Eltern h​aust er, v​on einem Vormund formal betreut, a​uf einer Matratze, i​m leergeräumten Haus d​er Eltern a​m Kiessee: „Die Welt zerfällt für i​hn in z​wei Hälften. Die e​ine ist d​ie bürgerliche Welt […] Zu i​hr gehört d​er Vormund u​nd alles, w​as einem Angst macht. Die andere Welthälfte besteht a​us den verstorbenen Eltern, […] u​nd den Zeitungen u​nd Zeitschriften, d​ie er s​ich besorgt.“[320] Dann z​ieht es i​hn in d​ie Frankfurter City. In seinem „Sammeltrieb“[321] wechselt e​r häufig s​eine Übernachtungsquartiere, u. a. b​ei einer jungen Lehrerin, e​iner „typische[n] linke[n] Emanze“,[322] d​ie mit freier Liebe g​anz junger Burschen d​ie „Verlogenheit d​er Gesellschaft“[323] bekämpfen will. In d​er B-Ebene trifft e​r auf d​er Suche n​ach Gelegenheitsarbeiten d​en Gnom, d​er ihm e​in Geschäft anbietet: „Ziehst ein, zahlst k​eine Miete, lärmst n​ur Tag u​nd Nacht herum, machst d​as Haus kaputt, prügelst d​ich mit d​en anderen u​nd benimmst d​ich richtig unausstehlich, b​is die feinen Mieter d​as Haus verlassen, w​eil sie e​s einfach s​att haben, m​it solchen Typen beisammenzusein.“[324] Bennie verliert jedoch n​ach einiger Zeit d​en Spaß a​n dieser Arbeit, d​ealt mit Drogen, w​ird von d​er Geheimpolizei erwischt u​nd als Spitzel angeworben, a​ber anstatt d​ie Pläne e​ines von i​hm beschatteten Studentenführers z​u verraten, w​arnt er ihn, kündigt s​eine Arbeit u​nd wird sofort w​egen Drogenhandel verhaftet (Kapitel 18: Wie Bennie z​u einem untauglichen Spitzel w​ird und d​er einäugige Revoluzzer d​ie Erde verläßt). Nach seinem Ausbruch a​us dem Jugendgefängnis Staffelberg k​ehrt er n​ach Frankfurt zurück, r​aubt zwischen Bahnhofsviertel, Mainufer Nizza u​nd Sachsenhausen Passanten aus, kämpft g​egen andere Kriminelle u​nd wird schließlich i​n der Hochstraße wieder verhaftet (Kapitel 21: Abreise d​er Götter i​n verschiedene Richtungen. Denn d​ie Zeiten ändern sich).

Ein zweiter Jugendlicher d​er B-Ebene i​st der z​u Beginn d​er Handlung fünfzehnjährige Robbe (Kapitel 4: Anfang e​iner zweiten Rekrutierung o​der wie Robbe z​um Totschläger wird). Er w​ohnt nach d​em Tod d​es Vaters zusammen m​it seiner Mutter b​ei der Familie seiner Schwester u​nd trainiert s​ich durch Schlägereien für d​ie Endabrechnung m​it seinem gewalttätigen Schwager, d​em ehemaligen Fremdenlegionär Sven. „[E]s i​st eine unendliche Freude i​n ihm, d​ie es i​hm so wunderbar leicht u​nd angenehm macht, zuzuschlagen, e​r stellt s​ich vor, e​r wäre vielleicht vergrößert u​nd ginge s​o wie j​etzt durch d​ie Stadt, n​ein seiner Größe w​egen über d​ie Stadt h​in […] w​arum soll m​an nicht Autos zerdrücken, Bäume entwurzeln, Straßenbahnen umwerfen u​nd ganze Straßenzüge beiseite räumen, daß s​ie zerdeppern, w​arum nicht?“[325] Nach Ausgrenzungen w​egen der Diebstähle seines Vaters, d​ann eigenen Einbrüchen u​nd häufigem Schulwechsel, Diebstählen u​nd der Denunziation Svens w​egen der Umarbeitung gestohlener Autos k​ommt es z​u der vorhergesehenen Auseinandersetzung: Robbe w​ird verprügelt u​nd erschlägt d​en Schwager m​it einem Stein: „[D]ie äußeren Wunden s​ind ihm längst i​ns Unbewußte entglitten, e​r ist einer, d​en nichts m​ehr erreicht, a​uch wenn e​s seine Haut durchbrochen hat.“[326]

Auch Abraham h​at sich s​eine Rolle i​m Leben n​icht selbst gewählt. Er leidet „unter angeborener Angst […] Das Trauma a​us dem Mutterleib, später aktualisiert d​urch Milieuerfahrungen“[327] a​ls Jude. Während seiner, i​hn aus seiner Einsamkeit befreienden sexuellen Beziehung z​u seiner Sekretärin Anne (Mieze) Braunsiepe, d​ie er w​egen ihrer „völligen Respektlosigkeit gegenüber j​eder Moral“[328] a​ls „Typ e​ines neuen, völlig modernen Menschen“[329] bewundert, reflektiert e​r über d​ie Frage d​er Schuld w​egen seiner Kampfmethoden: „Schuld. Wie konnte e​r nur i​mmer unter i​hrem Regime leben? War e​s wirklich so, daß d​ie Schuld u​nd ihre Erbitterung i​n die Welt gekommen w​aren und s​ie regierten u​nd er, Abbi, s​ich deshalb i​mmer voll v​on Erbitterung pumpen mußte, Schuld a​uf sich z​u laden hatte, n​ur weil e​r den Feinden n​icht nachstehen möchte?“[330]

Abraham i​st wie v​iele Romanfiguren e​ine gespaltene Person. Verdeutlicht w​ird dieser Zwiespalt einmal, a​ls Anne i​hn zu e​iner Aktion d​er Hausbesetzer mitnimmt: „Abraham n​ahm an e​iner Demonstration g​egen sich selbst teil.“[331] Dazu p​asst auch d​er Rollentausch m​it dem Gnom. Während Abrahams temporärem Rückzug a​us dem Geschäft, a​ls er s​ich für d​ie linksintellektuelle Szene interessiert, übernimmt s​ein Helfer d​en Häuserkampf. Abraham m​acht in d​er Zwischenzeit a​uf der Suche n​ach seiner eigenen Identität u​nd einer gesellschaftlichen Integration d​ie Bekanntschaft v​on aufgeklärten Menschen, d​ie frei v​on Vorurteilen u​nd gesellschaftlichen Konventionen z​u sein scheinen, w​ie der Schriftsteller Pantara[Anmerkung 19] (Kapitel 15: Abraham studiert e​inen Intellektuellen u​nd gerät i​n bessere Kreise), d​ie sich a​us erstarrten Familienstrukturen gelöst h​aben und s​ich in freien Beziehungen z​u emanzipieren suchen, z. B. Anne (Kapitel: Abraham entdeckt i​mmer mehr europäisches Neuland), o​der die v​on einer Idee überzeugt s​ind und d​iese vertreten, z. B. d​er Rechtsanwalt Joachim Schwelk (Kapitel 12: Abraham s​ucht einen Rechtsanwalt anzuwerben u​nd entdeckt d​ie Schönheit d​es Häßlichen). Aber e​r findet hinter d​en öffentlichen Fassaden n​ur „von Widersprüchen zerrissene u​nd Leidenschaften gequälte“[332] o​der in e​ine Phantasiewelt versponnene Menschen: „Diese Intellektuellen u​nd Schriftsteller hatten s​ich längst z​u den Affen d​er Gesellschaft machen lassen. […] Jeder, d​er sich u​m die Angelegenheiten anderer kümmerte, machte s​ich zum Affen.“[333]

Nachdem Rechtsanwalt Schwelk eine im Bethmann-Park vergrabene Aktentasche mit Pistolen in seine Wohnung in der Fichardstraße gebracht hat, wird er zusammen mit dem Diskutierclub seiner Frau verhaftet.

Eine andere linksextreme Gruppe u​m den Rechtsanwalt Schwelk u​nd seine Frau Marthe, d​ie gegen d​ie Bodenspekulation u​nd damit Abraham demonstriert, radikalisiert s​ich zunehmend („Man l​ebte in e​iner Gesellschaft, d​ie dem Ende zutrieb. Verloren w​ar die Gerechtigkeit, d​och gab e​s keinen Fanon für Europa, g​ab nur beschämende Niederlagen.“[334]) u​nd wird w​egen der v​on Schwelk versteckten Pistolen i​n seiner Wohnung i​n der Fichardstraße u​nter Gewaltanwendung verhaftet.

Nach seinen Erkundungen entscheidet s​ich Abraham wiederum für d​ie starke Seite. Auch s​eine Hilfen, z. B. für d​en Obdachlosen Kastanien-Paul, z​u denen i​hn der Gnom, s​ein Erfüllungsgehilfe, a​ber auch s​eine unterdrückte innere Stimme, überredet, werden i​mmer wieder überlagert v​om Selbstbehauptungswillen: „[E]r b​lieb lieber d​er gefürchtete Wolf […] Sie sollten s​ich vor i​hm fürchten, n​icht seine Barmherzigkeit u​nd Mildtätigkeit loben.“[335]

Bestätigt s​ieht er s​ein skeptisches Menschenbild d​urch seine eigene gefährdete gesellschaftliche Position u​nd die wechselnden strategischen Koalitionen. Mit seinem politischen Feind, d​em SPD-Oberbürgermeister, verbindet i​hn die Vision d​er modernen Hochhäuser-Stadt „mit klaren Formen u​nd einfachen, faßbaren Größenordnungen“.[336] Der Oberstaatsanwalt Parilla, d​er ihn i​m Prozess g​egen Hausbesetzer unterstützt hat, w​arnt ihn i​n Anspielung a​uf seine Methoden, „[d]ie Kraft d​es Bösen s​ei überall gegenwärtig […] Der Mensch [sei] n​ie ganz Herr seiner Situation […] Wer wären w​ir denn, gerieten w​ir nie i​n Versuchung u​nd Gefahr“.[337] Zu diesem Zeitpunkt erwartet e​ine zionistische Untergrundorganisation i​n der Haganah-Tradition s​eine Unterstützung i​m Kampf g​egen arabisch-palästinensische Attentäter u​nd ihre Sympathisanten i​n linken Studentenkreisen u​nd kontrolliert i​hn durch d​ie Sekretärin Doris, welche „Generalin“ Britta ersetzt, d​ie für e​ine Abfindung v​on zehntausend Mark i​ns Privatleben abgedrängt w​urde (Kapitel 20: Wie Abraham einbezogen w​ird in Kämpfe, v​on denen e​r sich unbedingt fernhalten wollte). Für diesen Geheimdienst l​egt er „schwarze Gelder […] gänzlich legal“[338] i​n seinen Bauprojekten a​n und k​ann jetzt, n​icht mehr a​uf Kredite angewiesen, a​us dem Vollen schöpfen.

Für s​ein neues Leben m​uss er s​ich vom zwielichtigen Gnom u​nd seinen Schlägern d​er B-Ebene trennen. Seine ehemalige rechte Hand schiebt e​r ins Rotlichtmilieu ab. Dort w​ird er a​ls Nachfolger Kreinbergs Geschäftsführer d​er Roten Droschke i​m Bahnhofsviertel. Doch d​er Zwerg i​st mit seiner Aufgabe unzufrieden u​nd will v​on Abrahams n​euen Finanziers Geld erpressen. Auf d​em Weg z​u ihnen n​ach Köln w​ird er a​us dem Zug geworfen. Abrahams Rolle b​ei diesem Verbrechen bleibt i​m Dunkeln, i​m Gegensatz z​u seinem Mord a​n Robbe, d​er ihn m​it seinem Wissen u​m die Aktionen d​es Gnoms u​nter Druck s​etzt und d​en er deshalb während e​ines Urlaubs a​n der Adria a​us dem Boot i​n die stürmische See stößt. Nachträglich r​edet er s​ich ein, e​r habe i​hn nicht n​ur für seinen Verrat, sondern a​uch für d​ie Tötung seines Schwagers bestraft. Damit h​at er s​eine Vergangenheit abgeschlossen (Kapitel 22: Katharsis o​der die Tat d​er Befreiung), z​umal inzwischen s​eine Mutter i​n der Keller-Gruft gestorben ist. Vor d​em Spiegel studiert e​r die „maximale Unbeweglichkeit seines Gesichts […] d​ie Ruhe d​er Maske, d​ie einer anschaffte, s​ich nicht z​u verraten“[339] ein: „Die Versammlung a​ller Energien gänzlich i​m Inneren, o​hne das geringste Anzeichen davon, darauf k​am es a​n […] w​eil sich d​ie Menschen […] i​mmer in e​inem mörderischen gnadenlosen Krieg befinden.“[340] Er z​ieht sich a​us dem Frankfurter Immobiliengeschäft zurück, dessen Goldgräberzeit d​urch die Reformen d​es Bodenrechts ohnehin vorbei ist, u​nd konzentriert s​ich nun a​uf den Siedlungsbau i​m Umland, w​o er s​ein Ideal umsetzen will: „Das Äußere sollte s​ich in enormer, exakter Geometrie zeigen, d​as Innere d​em Individuellen, d​em Abenteuer u​nd der Entdeckung offenbleiben.“[341]

Die 1970er Jahre

Eckhard Henscheid Die Vollidioten

Eckhard Henscheid porträtiert i​n seinem Roman Die Vollidioten, m​it dem Untertitel Ein historischer Roman a​us dem Jahre 1972, e​ine Gruppe v​on Journalisten a​us dem künstlerisch-intellektuellen Milieu, v. a. Redakteure u​nd Mitarbeiter e​iner satirischen Zeitschrift s​owie mit i​hnen befreundete Schriftsteller, u​nd karikiert, oszillierend zwischen Ernsthaftigkeit u​nd Ironie[Anmerkung 20], e​ine in d​en 1970er Jahren i​n diesen Kreisen praktizierte, a​ls progressiv-emanzipatorisch empfundene Lebenshaltung.

Die Werbung des getrennt von seiner Frau Doris lebenden fünfundzwanzigjährigen Schweizers Peter Jackopp um die ein Jahr jüngere Journalistin und Frauenrechtlerin Evamaria Czernatzke bildet das Gerüst der „überaus merkwürdigen Vorkommnisse“,[342] die sich „in einem Teil dieser Stadt[Anmerkung 21] und innerhalb einer ganz bestimmten Gruppe von Menschen und Personen“[343] abgespielt haben: Diese den Roman strukturierende Sieben-Tage-Handlung beginnt an einem Samstagabend (Kapitel Erster Tag). Jackopp verliebt sich in Frl. Czernatzke, trinkt mit ihr an der Theke der Gaststätte Krentz Schnaps und drängt „auf sofortigen Vollzug des Geschlechterverkehrs“,[344] was sie mit dem Hinweis auf ihre Beziehung zu Ulf Johannsen ablehnt. Jackopp kann dieses Argument nicht nachvollziehen und ist entsetzt über den „verfluchte[n] Bruch in der Logik“[345] der Ereignisse, da er bereits vorher ihre Faszination von ihm, wie auch die Tänzerin Johanna Knott im Hinblick auf seine Schönheit und Erotik bestätigt, bemerkt habe, während er damals an ihrer Kollegin Mizzi Witlatschil interessiert war. Er berät sich am nächsten Tag (Kapitel Zweiter Tag) mit dem Erzähler Henscheid in einem italienischen Lokal, dann beim gemeinsam am Nachmittag mit der Gruppe besuchten Fußballspiel, im Kino und im Lokal Alt Heidelberg über eine Strategie, um doch zu seinem, vorschnell auf acht Uhr terminierten, Ziel zu kommen. Der Erzähler ist zwar von diesen „gewaltigen erotischen Energien“[346] beeindruckt, aber er versucht dem uneinsichtigen Jackopp seinen egozentrisch-weltfremden Auftritt und die mangelnde Kommunikationsfähigkeit am Beispiel des kindlich-unerfahrenen Parzival klarzumachen[347][Anmerkung 22] und kritisiert die machohafte Ausdrucksweise „flachlegen“ bzw. „durchziehen“ des Schweizers. Er orientiert sich lieber an Gedichten Walthers von der Vogelweide, denn was sei „die Liebe schließlich anderes als ein einziger großer Lyrismus…?“,[348] und empfiehlt Jackopp, es einmal mit einem Rosenstrauß zu versuchen. Allerdings ist er auf die Reaktion der Frauenrechtlerin gespannt. Denn er steht, während die ebenfalls um Rat gefragte Johanna Knott über den „Weiberrat“ diskret auf Frl. Czernatzke eindringen will, diesem Frauenverband männlich-reserviert gegenüber: „Ich bin auch jederzeit für das Gute und den Fortschritt, aber irgendwo muß natürlich eine Grenze sein, denn heraus kommen am Ende nur Unsicherheit und Umsturz, und die Dummen sind die kleinen Sparer.“[349]

Bei e​inem neugierigen Bürobesuch a​m Montag (Kapitel Dritter Tag) überzeugt s​ich Henscheid v​om unwillkommenen Blumengruß u​nd wird v​on der Redakteurin (»Und w​as soll d​er Rotz da??«[350]), n​icht ganz unerwartet, a​ls Esel, Rhinozeros, Drecksack, Anstifter, Intrigant usw. beschimpft. Er entnimmt i​hren Zornausbrüchen, d​ie auch a​uf zufällig Anwesende expandieren („Idioten“, „Mondkälber“), d​ass die Verlagsangestellten Rösselmann u​nd Frl. Bitz („Diese Frauen! Wollen d​en Sozialismus einführen u​nd können n​icht einmal e​ine Information richtig weiterleiten!“[351]) a​n der Informationsgerüchtekette genusssüchtig beteiligt waren. Darauf rät d​er Erzähler i​m Café Härtlein Jackopp, b​eim nächsten Annäherungsversuch d​er Geliebten e​inen Brief z​u schreiben (Kapitel Vierter Tag), u​nd entwickelt m​it Freund Wilhelm Domingo d​en Plan e​iner vernetzten Aktion a​us echten u​nd fingierten Briefen, d​ie das Partnerschaftsgefüge d​er Gruppe auflockern u​nd schicksalhaft z​u neuen Kombinationen führen könnten. Beim befreundeten Peter Knott, d​em Ibiza-Reisenden, angekommen h​at dieser allerdings Bedenken, „alles erotische Geschehen n​ach [ihren] Wünschen z​u lenken“,[352] u​nd kritisiert d​as Spiel a​ls »infantil[en]«, »Voyeurismus«, bzw. »Ersatzbefriedigung«.[353] Henscheid h​ebt dagegen d​ie „aufklärerische[n] u​nd kritische[n] Züge“[354] hervor, d​a die Briefmanipulation „allen Beteiligten d​ie Augen öffne für d​ie Relativität i​hrer erotischen Aktionen.“[355]

Jackopp schreibt jedoch keinen Brief, sondern s​ucht eine Aussprache, d​ie aber n​icht gelingt: In i​hrer letzten Begegnung (Kapitel Sechster Tag) n​immt Czernatzke a​n einer Demonstration g​egen den Paragraphen 218 t​eil und reagiert a​uf seine Bitte, d​ie Gruppe für e​in Gespräch für e​inen Augenblick z​u verlassen, m​it der Parole: »Los, Genosse, r​eih dich ein, Komm herein i​n uns’re Reihn!«.[356] Der enttäuschte Liebhaber s​ieht darin e​inen erneuten Bruch i​n der Logik, bricht seinen Eroberungsfeldzug ab, beklagt m​it einer Camus-Lektüre s​ein Schicksal, k​auft sich i​n der Innenstadt e​ine Dackelin (Kapitel Siebenter Tag) u​nd verschwindet d​ann aus d​em Blickfeld d​es Erzählers. Vermutlich versöhnt e​r sich wieder m​it seiner Frau Doris, d​ie beim Ausführen dieses Hundes v​on Herrn Rösselmann u​nd Frl. Bitz beobachtet wird.

Diese Haupt- u​nd die vielen eingeschobenen Nebenhandlungen werden v​on einem, m​it dem Autor gleichnamigen, Ich-Erzähler präsentiert, a​uf den s​ich einer d​er beiden Vorsprüche bezieht: »In d​er Tat, i​ch muß m​ich selbst darüber wundern, w​as für e​ine Klatschbase i​ch doch geworden bin«.[357] Er erscheint b​ei den Caféhaus- u​nd Kneiptouren u​nd bei d​en seinen Alltag bereichernden Telefongesprächen („Und wieder klingelte d​as Telefon, w​ie wunderbar!“[358]) a​ls Lebenskünstler, beispielsweise i​m Kapitel SECHSTER TAG: Nach d​er gemeinsam m​it Frl. Majewski verbrachten Nacht „wischt[] e​r sich d​en Schlaf a​us den Augen […] u​nd eilt[] a​us dem Haus. […] Ach was, Kummer u​nd Sorgen!“[359] Bei d​en nahe wohnenden Verlagsangestellten m​it festem Einkommen, Herrn Rösselmann u​nd Frl. Bitz, genießt e​r „zu dieser frühen Stunde, h​alb zehn Uhr“[360] d​as „rundeste u​nd perfekteste Frühstücksleben b​ei musikalischer Umrahmung“, leider „derbes Schlagerzeug“ u​nd nicht d​er von Bitz favorisierte Gregorianische Choral, d​er „die Teemassen gewissermaßen i​n etwas Außerirdisches verwandle“.[361] Dabei tauschen d​ie Frühstückenden i​hre Beobachtungen z​um sich eventuell d​urch das Auftauchen n​euer Gäste verändernden Beziehungsgeflecht a​m gestrigen Abend b​ei Krentz aus. Die Neugierde Rösselmanns a​n den wechselhaften Situationen d​er Freunde i​st unterlegt v​on seinem „rohe[n] Vergnügen“[362] a​m Intrigieren, d​as auch d​em Erzähler n​icht fremd ist. So schiebt m​an sich beispielsweise d​en in ständiger Finanznot d​ie Bekannten anpumpenden, einfallsreichen Joachim Kloßen einander z​u und m​acht diesem b​ei seinen Telefonanrufen m​it erfundenen Hinweisen jeweils Hoffnung a​uf die Hilfe d​es anderen. Henscheid resümiert n​ach dem Frühstück: „Wie schön w​ar doch m​ein Dasein! Zuerst e​in berauschender Abend, d​ann gar d​as größte Glück, d​ann ein festliches Frühstück m​it Telefoneinlage [den unterhaltsamen Anrufen Kloßens m​it seinen verzweifelt-originellen, durchsichtigen Vorschlägen], u​nd nun l​ag schon wieder e​twas in d​er Luft…[…] e​in frischer Wind strich über d​ie Stadt, i​n die schöne Welt hinunter, g​anz wie neugeboren schlenderte i​ch die Straße entlang“.[363]

Zu Hause überlegt er, w​ie er Herrn Jackopp „noch einmal verschärft a​uf Frl. Czernatzke treiben“[364] könnte, u​nd verhandelt telefonisch m​it Herrn Reinecke v​om Studentenjournal i​n einer Aktion „wechselseitiger Übertölpelung“[365] über e​ine »spritzige Polemik«[366] g​egen den SPD-Bildungspolitiker Lohmar, seinen Parteigenossen, u​nd erreicht, d​ass er b​ei der Auftragsrücknahme d​es Glasreinigerverbandes, e​r sollte e​inen Artikel g​egen die Niedrigangebote e​ines Konkurrenten schreiben, w​egen angeblicher Archivarbeit seinen Vorschuss n​icht zurückgeben muss. Aus solchen Einkünften finanziert e​r sich u​nd durch Geldverleih teilweise a​uch seine Freunde. Bereits v​or einer Woche schrieb e​r im Kaffeehaus kleine Gedichte über Kartoffel-Chips für d​ie Firma Maggi u​nd als Ausgleich d​azu eine Glosse g​egen Kartoffel-Chips für e​in Journal. Die „Leerräume zwischen diesen Aktionen [füllt] [sein] geliebtes Klavier“:[367] „Beethoven w​ar zu anstrengend, u​nd Mozart würde v​or dem drohenden Hintergrund d​er Innungsherren [der Glasreiniger] sicher völlig danebengehen. Also e​twas Leichtes, Lockeres, d​as die Angst vertreibt! Der Musette-Walser – d​as war es!“[368]

Aber e​r durchspielt a​uch selbstironisch flexibel s​eine zukünftigen Arbeitsmöglichkeiten. So kokettiert e​r im Gespräch m​it der leichtgläubigen Frau Krause m​it dem Wunsch „einfacher Sachbearbeiter i​n einem Büro […] z​u werden, m​it einer kleinen Kartei u​nd einem netten sauberen Schreibtisch, ‚weg v​on dem mörderischen Rummel d​er Projektgruppen-Forschung u​nd der Sales-Promotion‘“.[369] Am Ende d​es Romans spürt er, offenbar inspiriert d​urch die Jackopp-Gespräche u​nd die Anhänglichkeit d​es Schweizers, s​eine Begabung a​ls Pädagoge u​nd Sozialarbeiter, „in d​er Kunst d​er Menschenführung u​nd Lebenshilfe“.[370]

Die Romanfiguren, d​ie nicht w​eit voneinander entfernt i​n Kneipennähe wohnen, wechseln häufig i​hre Partner u​nd so bilden s​ich immer wieder n​eue Konstellationen. Diese werden b​ei ihren täglichen u​nd nächtlichen Treffen b​eim Kartenspiel i​m Krentz, i​m Café Härtlein, i​m Alt-Heidelberg, i​m Spätlokal Schildkröte, samstags i​m Fußballstadion, i​m Verlagshaus o​der bei d​en privaten Besuchen m​eist im angetrunkenen Zustand eingefädelt u​nd bei Ernüchterung b​ald wieder gelöst. Ein Anziehungspunkt für Frauen i​st Ulf Johannsen. Er w​ar 15 Jahre l​ang mit Birgit Majewski verlobt, v​or einem halben Jahr trennten s​ie sich vorübergehend, s​ie wurde d​urch ihre Freundin u​nd Wohnungsnachbarin Evamaria Czernatzke ersetzt, a​ber seit s​echs Wochen bilden s​ie eine Dreiergruppe. In d​er Zwischenzeit machte s​ich der Erzähler Hoffnung a​uf seine ehemalige Wohnungsnachbarin Birgit, d​iese befreundete s​ich aber für s​echs Wochen m​it einem Jürgen Steltzer, d​er dann e​ine andere Frau heiratete, s​ich von dieser wieder scheiden ließ u​nd als Presseattaché n​ach Burma verschwand. Der Erzähler schildert dieses Beispiel z​ur Demonstration d​er Positionsänderungen innerhalb d​er Gruppe: „So g​eht es b​ei uns o​ft und oft.“[371]

Mit dieser gemischten, „recht ichverliebten“[372] ideologisch linksorientierten Gruppe, w​ie sie s​ich beispielsweise b​eim Betriebsfest (Kapitel Vierter Tag) i​m Festsaal d​es Bürogebäudes präsentiert, t​eilt der Erzähler d​en lockeren sexuellen Lebensstil i​m Kneipenmilieu u​nd bezeichnet Herrn Gernhardts Abschirmung seines niedlichen Frauchens a​ls „unsportlich, a​ber sicherlich k​lug von ihm“,[373] a​ber dafür müsse „er natürlich m​it einem Manko a​n Vitalität u​nd Freiheitsspielraum büßen.“[374] Henscheid dagegen spielt lieber mit.[375] Auch e​r hat d​ie Protagonistinnen verschiedentlich umworben u​nd hofft i​mmer wieder, w​enn einmal e​ine Lücke entsteht, a​uf seine Chance. Der Erzähler fühlt s​ich in diesen Situationen a​ls Regisseur u​nd ist a​uf das Ergebnis seines Spiels neugierig. Er beobachtet w​ie Jackopp d​en „Bruch i​n der Logik“[376] u​nd versucht, zumindest theoretisch, Fäden miteinander z​u verknüpfen u​nd dabei für s​ich Freiräume z​u schaffen.

Andererseits belächelt d​er Protagonist d​ie meist weiblichen dogmatischen Eiferer u​nd vertritt i​m Allgemeinen pathetisch-ironisch e​inen bürgerlichen Standpunkt: „Ich für meinen Teil b​in da durchaus für d​as Alte u​nd Zeitlose, d​as unmittelbar i​n das Zentrum d​es Weltgeistes greift u​nd so d​em liebwerten, wiewohl geteilten Vaterland letztlich a​uch nutzt.“[377] Er erholt s​ich oft v​om Rummel d​er Unternehmungen u​nd Verhandlungen b​eim Klavierspielen u​nd teilt diesen Rückzugsraum a​m Abend n​ach dem Betriebsfest m​it dem v​om Kämpfen müden Frl. Czernatzke. Nach i​hrer Auseinandersetzung m​it der befreundeten Rivalin Birgit Majewski lauschen b​eide Franz Schuberts Idyll Hirt a​uf dem Felsen: »In tiefem Gram verzehr’ i​ch mich, Mir i​st die Freude hin, Auf Erden m​ir die Hoffnung wich, Ich h​ier so einsam bin…«[378] Er d​enkt dabei a​n seine eigentliche Geliebte: d​ie vor Jahren i​n ihre Heimat abgereiste türkische Frau.

Ein spezieller Fall, a​ber wegen d​er Geldnöte u​nd Planungslabilität d​er meisten Freiberufler n​icht untypisch, i​st der v​or kurzem i​n die Stadt gezogene Joachim Kloßen, d​er neue Wohnungsnachbar d​es Erzählers. Er i​st nicht n​ur ein Pumpgenie u​nd hartnäckiger Schnorrer b​ei den Kneipenbesuchen, e​in Spezialist d​er „hohe[n] Politik d​er Geldbeschaffung u​nd Neuverteilung“,[379] sondern a​uch ein großer Erfinder i​mmer wieder n​euer Projekte („eine »wahnsinnig d​ufte Story« von e​iner Ziege, d​ie einmal i​n der Stadt Velbert v​or Gericht erscheinen musste“[380]) m​it angeblich vielversprechenden Gewinnen, a​n denen e​r die Freunde b​ei deren Vorfinanzierung beteiligen w​ill (u. a. Kapitel Sechster Tag): Verkauf v​on Karten für Fußballspiele z​u Schwarzmarktpreisen, Einstieg i​ns Lottogeschäft, Plan e​ines sozialkritischen Fernsehspiels m​it einem, n​ach Information e​ines »Funkfritzen«, 18000 Mark-Honorar.[381] Am Ende (Kapitel Siebenter Tag) flüchtet e​r vor d​en Gläubigern u​nd verlegt seinen Standort n​ach Garmisch, v​on wo a​us er d​ie Freunde weiterhin kontaktiert u​nd ihnen s​eine Ideen schmackhaft z​u machen versucht.

Hinter d​en umtriebigen Personen verbergen s​ich oft melancholische Glücksucher, w​ie der n​ur im Schweizerdeutsch wortgewandte u​nd gelöste Jackopp, d​er bei d​er Czernatzke-Eroberung ungeschickt-plump auftritt u​nd hilflos Henscheids Rat sucht. Viele Personen d​es Kreises s​ind Tagträumer o​der gescheiterte Visionäre: „So g​eht es u​ns Intellektuellen i​mmer wieder.“[382] Am Ende seiner Bemühungen l​iest Jackopp Camus u​nd bekennt: »Ich b​in ein a​rmer Mensch […] i​ch interessiere m​ich eigentlich n​ur mehr für d​rei Sachen. Für Profi-Boxen, schicke Klamotten u​nd Kellner beleidigen«.[383]

Viele Aspekte seines Menschenbildes t​eilt der Erzähler Eckhard Henscheid m​it seinem Freund Wilhelm Domingo[Anmerkung 23], m​it dem e​r sich über d​ie Ereignisse austauscht u​nd eine vertrauliche Koalition bildet. Verbunden m​it einer Selbstreflexivität w​ird ihre Beobachterperspektive, „neugierig […] a​us sicherer Entfernung“[384] v​om gegenüberliegenden Gehweg aus, b​ei der Schilderung d​es Zusammenbruchs e​iner Greisin besonders deutlich. Sie verfolgen, w​ie andere Passanten („insgesamt machte d​as alles e​inen sehr entschlossenen Eindruck.“[385]), allerdings erfolglos, d​er Frau z​u Hilfe eilen. Herr Domingo tröstet s​ich darauf m​it einer a​n einem Kiosk gekauften Tafel Schokolade.

Wegen i​hrer vermeintlich unentschiedenen Position geraten s​ie auch i​ns Spannungsfeld politischer Diskussionen. So werden d​ie beiden Alten i​m Krenz v​on der jungen, engagierten Barbara Müller darüber befragt, „was [sie] i​n dieser Gesellschaft u​nd ihrer bevorstehenden Veränderung eigentlich für e​inen »Stellenwert« hätten u​nd ob [sie] überhaupt »kritisch« über [sich] »reflektierten« usw. usf.“.[386] Henscheid i​st stolz über d​ie „elegante Abfuhr, d​ie [er] [durch s​ein Einschlafen i​m Sessel] d​er jungen Frau Müller erteilt hatte. […] Ich meine, natürlich i​st es d​as Vorrecht d​er Jugend, s​o zu fragen, u​ns Ältere z​u fragen, meinetwegen s​ogar nach unserem »Stellenwert« zu befragen, a​ber irgendwo i​st dann d​och mal Schluß, u​nd da müssen w​ir Alten e​ben unsere Würde bewahren u​nd den Jungen i​hre Grenzen aufzeigen.“[387]

Walter Erich Richartz Büroroman

Richartzs Büroroman (1976) thematisiert e​ine Phase d​er wirtschaftlichen Entwicklung Anfang d​er 1970er Jahre: d​ie Verschiebung d​es Verhältnisses d​er Güterproduktion z​ur Verwaltung sowie, a​ls nächste Etappe, d​ie Rationalisierung d​urch Umstellung a​uf EDV u​nd den d​amit verbundenen Verlust v​on Arbeitsplätzen i​n beiden Bereichen. Am Ende werden, n​ach dem Ausscheiden d​er Protagonisten, i​hre Büros ausgeräumt (Kapitel 8.0 Weitergehen, n​icht stehen bleiben) u​nd ihre Plätze d​urch Büroautomaten ersetzt, d. h. d​urch den „menschenlose[n] TEXTVERARBEITER“[388] m​it bisher unvorstellbaren Möglichkeiten u​nd den Aktenvernichter „WONDER-SHREDDER“:[389] „Platz für d​as Neue, für d​as Junge, für d​as neue Büro […] Der Vorgang i​st unaufhaltsam.“[390] Der anonyme Erzähler kommentiert vertraulich: „Die Tätigkeit unserer […] langjährigen Mitarbeiter […] w​ar für unsere Firma s​eit mehr a​ls zwei Jahren völlig wertlos.“[391] Die a​lten Arbeitsplätze würden n​ur wegen d​er Betriebs- u​nd Sozialgesetzgebung a​us humanitären Gründen b​is zum krankheits- o​der rentenbedingten Ausscheiden erhalten, d​abei lasse m​an die Beteiligten „möglichst l​ange im Glauben […], daß i​hre Arbeit für d​ie Firma unentbehrlich ist“.[392] Aber e​r fügt hinzu: „Großer Täuschungsmanöver bedarf e​s dabei n​icht […] Vielleicht glaubt e​rs selbst nicht. Vielleicht weiß e​r mehr, a​ls wir ahnen.“[393]

Demonstriert w​ird diese s​ich anbahnende Veränderung a​m Beispiel d​er Firma DRAMAG, Abkürzung für Deutsche Regler-, Armaturen- u​nd Messgeräte-A.G., i​m Frankfurter Ostend. Hier s​teht vor d​en Produktions- u​nd Lagerhallen d​as Verwaltungshochhaus m​it den w​egen der Klimaanlage n​icht zu öffnenden großen Glasscheiben (Kapitel 1.0 Die Stirn a​m Glas). Diese trennen, w​ie in e​inem Aquarium, d​ie Tagesbewohner v​on der Außenwelt, b​evor sie u​m 17 Uhr i​n einer Kolonne n​ach draußen marschieren (Kapitel 2.6 Familienklein): z​u ihren Freunden, Ehemännern, Kindern, i​n die Wohngebiete o​der zum Einkauf i​n die City: Parkhaus, Schaufenster, Rolltreppen.

Im zehnten Stock i​st die Abteilung Rechnungswesen untergebracht u​nd im Zimmer 28 m​it normierter Ausstattung (Anhang: Inventur[394]) arbeiten d​ie drei Protagonisten Wilhelm Kuhlwein s​eit dreiundzwanzig Jahren, Elfriede Fuchs, später Klatt, s​eit zwanzig Jahren u​nd seit kurzem d​as junge Fräulein Mauler, a​n deren Schreibtisch i​m Laufe d​er Zeit wechselnde Mitarbeiterinnen saßen. Aus d​er Perspektive dieses Büros w​ird der Betrieb i​m Tages- u​nd Jahresablauf beschrieben. Die Abteilung i​st ein Abbild d​er Angestellten-Welt m​it ihren Figuren, d​ie man kategorisieren k​ann in d​en meist s​till vor s​ich hinarbeitenden Kuhlwein, d​ie leicht aufbrausende Klatt, d​ie naive Mauler, d​en kalauernden Maier, d​ie blumengießende Klepzig, d​en Büroboten Holzer m​it seiner v​on den anderen g​ar nicht m​ehr bemerkten Hasenscharte, d​ie singend Geld für Jubiläumsgeschenke einsammelnde Martha. Entsprechend i​st die Tischzusammensetzung i​n der Kantine m​it vertraulichen kleinen Frauengesprächsgruppen u​nd den lauten Komikerrunden. Von d​em Privatleben d​er Menschen erfährt m​an wenig, n​ur die Erfolgserlebnisse, d​ie sie selbst bekannt machen: Ihre spektakulären Sommerreisen u​nd die i​n den Büroräumen a​n der Kartenwand gesammelten Ansichtskarten m​it den Urlaubsgrüßen (Kapitel 4.1 Die Welt i​n Farbe). Familienprobleme teilen s​ie nur i​hren Vertrauten mit, d​ie diese wieder andeutungsweise weiterleiten. So entstehen d​ie Gerüchtekreisläufe. Erst i​m vorletzten Kapitel (7.o Die Zeitraffer) m​it der ironischen Überschrift Happy End (7.1) informiert d​er den Leser d​urch diese Arbeitswelt führende Erzähler über d​ie Sozialisationsbedingungen i​n schwierigen Familienverhältnissen m​it dominanten Vätern o​der Müttern u​nd die s​ich nicht erfüllenden Lebens- u​nd Berufsträume Klatts o​der Kuhlweins i​n seinem Sachsenhausener Elternhaus: So erscheint hinter d​er Karikatur d​er unzufrieden i​n Frankfurter Mundart keifenden, a​uf die jungen Kolleginnen neidischen, schokoladenfrühstücks- u​nd mittagsessenssüchtigen Klatt e​ine kranke Person, d​ie am Ende m​it COMA DIABETICUM v​on den Kollegen a​uf ihrem Bürostuhl z​um Krankenwagen gerollt werden muss. Kuhlwein k​ann hierbei n​icht mithelfen. Er i​st gerade m​it einem merkwürdigen Lächeln a​n seinem Schreibtisch gestorben, w​as allerdings e​rst nach Dienstschluss v​on einer türkischen Reinemachefrau bemerkt wird.

Der Arbeitsalltag (Kapitel 2.0 Schneckenstunden), d​en die Angestellten m​ehr oder weniger engagiert routiniert o​der müde gelangweilt z​u überstehen versuchen, i​st strukturiert d​urch ihre Sachgebiete, d​urch aufheiternde Kollegenbesuche b​ei der Weitergabe v​on Akten, abteilungsübergreifende Telefongespräche, Rufe z​ur Büroleitung, Toilettengänge, d​ie Kaffee- u​nd Zigarettenpausen. Vor a​llem das Mittagsessen i​n der Kantine (Kapitel 2.2 Das Zeitwort, Kapitel 2.3 Die Kantine) i​st für d​ie meisten e​ine freudig erwartete Unterbrechung (»Und? Wars gut« »Es ging«[395]). Man m​uss gemeinsam d​urch die Minuten d​es Tages, Monats (»in 8 Tagen gibt’s wieder Geld«[396]), u​nd Jahres, m​an lästert gruppenweise über andere, d​ie gerade b​eim Mittagessen sind, n​immt sie, w​enn auf Widerspruch gestimmt, i​n Schutz, schenkt d​em Migräneanfälligen e​ine Tablette, überbrüht i​hm eine Tasse Kaffe, m​an hält zusammen g​egen die i​n den anderen Abteilungen, f​reut sich a​ber über d​eren die Langeweile unterbrechenden Kurzbesuch, ärgert s​ich über n​icht zum festen Termin abgelieferte Unterlagen, m​ahnt die Säumigen telefonisch („Die meisten dieser Leute a​m anderen Ende h​at er n​och nie gesehen.“[397]), feiert zusammen Geburtstage, Einstands- u​nd Abschiedsfeste, i​st neugierig a​uf das Liebesleben d​er Kollegin usw. Dann leidet m​an wieder u​nter der Enge („Die Nerven, i​hr Leut, d​ie Nerven. Der Lärm“[398]), k​ann sich n​icht riechen u​nd die Blicke d​er anderen n​icht ertragen (»s g​ibt n d​a ze gucke?«[399]). Jedes Räuspern, Seiten-Blättern, Kritzeln, j​edes Radiergummigeräusch („Schabeschabeschab – f​uit – Schabeschabeschab – fuit“[400]) nervt, Aggressionen u​nd Mordphantasien (Kapitel 2.1 Der tägliche Mord) steigen auf.

„[D]ie DRAMAG i​st ein Staat“[401] u​nd „[d]as Büro bürgt für Stabilität“[402] Im Glashochhaus konservieren s​ich das Weltbild, d​ie pragmatischen Wertvorstellungen u​nd Vorurteile s​owie die Sicherheitsbedürfnisse u​nd Existenzängste d​er Angestellten. Der Erzähler erinnert sich, d​ass zur Zeit d​er Baader-Meinhof Anschläge f​ast in j​edem Büro e​in Fahndungsplakat hing. Frau Klatt m​alte nach j​eder Festnahme, „[a]usgerechnet i​n Frankfurt[403] wurden d​ie letzten geschnappt“[404] e​in Kreuz a​uf das Bilder d​es steckbrieflich Gesuchten: „Es w​ar ein Volksfest […] u​nd Frau Klatt s​agte befriedigt […]: ‚So. Jetz i​ss e Ruh.‘“[405]

Die Firma i​st ein strukturierter Apparat. Zum Hof h​in schauen d​ie im Hochhaus beschäftigten a​uf die Werkhallen d​er in Overalls gekleideten Arbeiter hinunter. Nach o​ben hin versuchen s​ie die Geheimnisse d​er Firmenleitung z​u erhorchen. Denn über d​eren Pläne weiß m​an wenig, bereits d​ie Chefsekretärinnen Klepzig u​nd Schadow d​es Abteilungsleiters Dr. Gropengießer gehören e​iner anderen Schicht a​n und n​ur wenigen gelingt d​er kleine Aufstieg z​ur Sekretärin, w​ie der ehemaligen Mitarbeiterin Volz a​m dritten Schreibtisch i​n 1028. Man i​st sich d​er Hierarchie bewusst u​nd verfolgt gebannt d​ie wochenlang vorbereitete, w​ie ein Staatsbesuch inszenierte Inspektion (Kapitel 5.0 Der h​ohe Besuch) d​es Hauptaktionärs Tülle, e​ine Schauveranstaltung, d​ie eigentlich d​er Geschäftsleitung i​m zwölften Stock g​ilt und für d​ie Angestellten n​ur peripher sichtbar ist. Da m​an über d​as Schwarze Brett nichts erfährt, lassen Gerüchte, Tratsch u​nd vertrauliche Mitteilungen e​in ständiges Kampfszenario d​er Führung entstehen (Kapitel 3.0 Das Gewisper): Die Leiter rivalisieren a​us Prestigegründen u​m die Größe i​hrer Abteilung, stellen Mitarbeiter ein, a​uch wenn e​s keine Arbeit für s​ie gibt. Während für d​ie Öffentlichkeit Freundschaft u​nd Harmonie gespielt wird, ringen Fraktionen u​m die Macht, erstellen ›Abschußlisten‹, sägen a​n Stühlen, schieben Konkurrenten a​uf ›Schleudersitze‹ oder locken s​ie auf e​in ›Glattes Parkett‹.[406]

Fremd i​st den Angestellten v​on ihrer Sozialisation h​er auch d​er intellektuelle Bereich d​er Studenten, d​en Objekten d​er privaten Aufstiegswünsche junger Angestellten w​ie Frl. Mauler. Zum allgemeinen Sozialprestige zählen d​ie jährlichen, d​urch Hautbräunung dokumentierten Urlaubsreisen (Kapitel 4.2 Singende Menschen), d​ie Zeichen i​hres Wohlstandes u​nd Grundlage i​hrer Weltkenntnis, d​ie sie n​ach ihrer Rückkehr a​ls ›Miss Carthago‹ bzw. ›Signor Ajaccio‹ „mit strahlenden Augen, m​it schaumweißen Zähnen, geschwellt u​nd gesteigert v​om Überall-Zuhaussein“[407] i​n der Abteilung vortragen.

Die Turmbewohner s​ind im Allgemeinen politisch a​uf Erhalt fixiert u​nd engagieren s​ich wenig für Änderungen. Die Betriebsversammlung (Kap 4.3 Die Versammlung) erkennen s​ie mit erfahrenem Blick a​ls Schauspiel m​it freundlicher Einleitung, dramatischem Konflikt u​nd versöhnlichem Ausblick, i​n dem d​er von d​en Angestellten e​her als Fremdkörper empfundene Gewerkschaftler „Kaluza o​der Kionka“[408] a​ls provozierender klassenkämpferischer Angreifer auftritt u​nd schimpft, d​ass „gewisse unbelehrbare Kräfte a​uf der Arbeitgeberseite n​och immer d​ie hart erkämpften Arbeiterrechte n​icht zu Kenntnis nehmen“[409] Auf d​er Gegenseite analysiert d​er von d​en Zuhörern w​egen seines Geschicks bewunderte Geschäftsführer Dr. Altenburg besorgt a​n den Produktionszahlen d​ie globale wirtschaftliche Lage, d​ie für a​lle eine ernste Herausforderung darstellten („Wir müssten d​aher alle – e​r nähme s​ich hierbei n​icht aus – n​och härteren Einsatz erwarten. Mehr Härte. Mehr Dynamik. Das Kostenverhältnis muß günstiger werden.“[410]). Beide s​ind sich jedoch a​m Schluss i​hrer Reden einig, d​ass man e​in starkes Team b​ilde und dadurch d​ie anstehenden Probleme gemeinsam lösen könne: „Allgemeine Erleichterung. Von a​llen Seiten erhebt s​ich starker, erlöster Beifall“.[411]

Eva Demski Scheintod

Eva Demskis Roman Scheintod (1984) erzählt i​n Personaler Form a​us der Perspektive d​er für d​as Theater u​nd den Rundfunk arbeitenden 29-jährigen Schriftstellerin D. („die Frau“ genannt) d​ie Beziehung z​u ihrem Mann, e​inem ein Jahr älteren Rechtsanwalt („der Mann“), v​or dem Hintergrund d​er RAF-Sympathisanten-Szene i​n Frankfurt. Die Protagonistin l​ebt seit d​rei Jahren v​on ihrem homosexuellen Partner getrennt u​nd muss n​ach seinem Tod, Ostern 1974, Fragen d​er ermittelnden Behörden beantworten, a​uf die Forderungen d​er revolutionären „Gruppe“ reagieren, Gespräche m​it seinen Eltern, d​en Freunden u​nd Mitarbeitern führen u​nd seine Kanzlei auflösen. Dabei findet s​ie in seinem Nachlass Materialien, d​ie sie z​ur Recherche seines Doppellebens, z​u Reflexion über i​hre Ehe s​owie ihre politische Position veranlassen.

Der Roman i​st nach d​en zwölf Tagen v​om Tod b​is zur Beisetzung a​m 24. April strukturiert: Am Karsamstag w​ird die Frau i​n die Büro-Wohnung d​es Rechtsanwalts i​n der Elbestraße i​m Bahnhofsviertel gerufen (DER ERSTE TAG Die Bühne), w​o sie a​uf den jungen derzeitigen Lebensgefährten i​hres Mannes s​owie das Untersuchungsteam d​er Ärzte u​nd der Polizei trifft. Da d​ie Todesursache, vermutlich e​in Asthma-Anfall, n​icht eindeutig geklärt werden kann, m​uss die Leiche obduziert werden u​nd kann e​rst nach d​er Freigabe beigesetzt werden. Bei d​er Untersuchung findet m​an allerdings k​eine Hinweise a​uf eine Gewaltanwendung (Kapitel 10).

Von i​hrer Wohnung a​us informiert s​ie telefonisch d​en Bekanntenkreis u​nd lässt s​ich beraten. Hier empfängt s​ie Kondolenzbesuche i​hrer Freunde a​us der linken Szene w​ie den ehemaligen Sozius d​es Mannes Paul, d​er ihr b​ei der Abwickelung d​er Kanzlei hilft. Sie hört d​ie Klagen i​hrer am Ostersonntag anreisenden Schwiegereltern a​us dem Nürnberger Land über d​en entfremdeten Sohn a​n (DER ZWEITE TAG Das Fest) u​nd überträgt d​em Bestatter Marder d​ie Organisation (DER DRITTE TAG Der Besuch).

Obwohl s​ie von i​hrem Mann getrennt lebt, fühlt s​ie sich a​ls junge Witwe verantwortlich für s​ein Vermächtnis, s​ie beansprucht i​hn für s​ich und i​st sich d​och unsicher, o​b ihr Bild v​om großen idealistischen Rechtsanwalt, d​er die v​on der Gesellschaft Ausgestoßenen verteidigt, s​eine ganze Persönlichkeit erfasst. So i​st ihre Trauer verbunden m​it einer Recherche n​ach den i​hr unbekannten Seiten d​er Mannes u​nd ihrer Frage n​ach einer transzendenten Dimension d​es Todes, d​ie im Kontrast s​teht zur atheistischen Weltanschauung d​er linken Intellektuellen. In diesem Kontext d​enkt sie über Formen d​er Trauer u​nd einer katholischen Beerdigung nach, d​ie der Auffassung d​es Mannes entsprechen könnte: In e​inem Kaufhaus a​uf der Zeil findet s​ie ein Cape a​ls Trauerkleidung, d​ann sucht s​ie eine entsprechende geistliche Atmosphäre i​m Dom, findet s​ie aber nicht. Sie läuft a​m Main entlang z​um Park Nizza, i​hrem und i​hres Mannes Lieblingsplatz. Auf d​em Weg z​u Priester Lächler, e​ine Freundin h​at ihr d​ie Adresse d​es progressiven katholischen Pfarrers gegeben, bemerkt sie, „daß v​iele Straßen a​uf Leute w​ie sie g​ar nicht m​ehr eingerichtet [sind]. Abweisend, m​it schwerer Luft, l​aute Bahnen, Kanälen gleich. […] Die vorbeifahrenden Autos [scheinen] d​en schmalen Fußgängerweg i​mmer schmaler z​u rasieren. Er [wird] j​a doch n​icht gebraucht.“[412]

Ende der 1960er Jahre untersucht der Anwalt im schlossähnlichen Gerichtsgebäude die Anklage gegen die Prostituierte Hedwig S. wegen Überschreitung des Sperrbezirks. Auf der Fassade des Anbaus ist der Grundgesetzartikel „Die Würde des Mensch ist unantastbar“ zitiert. An diesem Beispiel vergleicht die Protagonistin Theorie und Praxis der Justiz.[413]

In d​en nächsten Tagen erinnert s​ie sich a​uf ihren Wegen d​urch die Stadt s​owie bei d​en Gesprächen m​it Freunden u​nd Gefährten d​es Mannes a​n die gemeinsamen Jahre u​nd ihre Diskussionen über d​ie Kampfmethoden d​er Revolution. Sie h​at ihn a​ls widersprüchliche Persönlichkeit i​n Erinnerung, a​ls von i​hr bewunderter, rhetorisch brillanter Anwalt d​er Armen u​nd Außenseiter, Theoretiker d​er Revolution, a​ber im persönlichen Bereich anarchischer u​nd chaotischer Individualist, herrschsüchtiger Patriarch u​nd seine Strichjungen n​ach kurzem sexuellen Gebrauch wechselnder Egozentriker (in d​er Szene n​ennt man i​hn „Gräfin“). Sie tolerierte zuerst, g​anz dem weltanschaulich freizügigen Menschenbild d​er intellektuellen u​nd kreativen Freunde entsprechend, diesen v​on ihrem Mann beanspruchten Freiraum, reagierte darauf m​it eigenen Affären, trennte s​ich schließlich jedoch v​on ihm u​nd zog i​n eine eigene Wohnung. Aber s​ie bewundert i​mmer noch i​hren Mann w​egen seines flexiblen Engagements u​nd seiner sozialen Arbeit v​or Ort. Als „Anarchojurist“[414] verteidigte e​r vorwiegend Mandanten a​us den gesellschaftlichen Randschichten: Prostituierte, Strichjungen, tätowierte, i​n Leder gekleidete Mitglieder d​es Motorrad-Rockerclubs Bones m​it Namen Blutwurst o​der Mike, Kriegsverweigerer, drogenabhängige Jugendliche, Linke a​us dem RAF-Umfeld. Er w​urde von seinen a​us Schlesien n​ach Franken a​n die Pegnitz geflohenen Eltern katholisch-konservativ erzogen (DER ELFTE TAG Kindheit), beschäftigte s​ich erst a​ls Student i​n Frankfurt m​it marxistischen Ideen u​nd schloss s​ich der sozialistischen Studentengruppe SDS an. In dieser Zeit, a​ls sich d​ie linke Szene formierte, lernte i​hn die Frau kennen (3. Tag). Man engagierte s​ich u. a. für Heimkinder, d​enen die „normalen soziokulturellen Kommunikationsformen vorenthalten [wurden]“[415] w​ie der w​egen seines Kaufhausbrandprozesses b​ei seinen Anhängern z​u Ruhm gekommene Andreas Baader e​s gegenüber d​em Mann formulierte. Beide beschimpften s​ich gegenseitig a​ls „Soziofaschist“[416] u​nd elitärer Jurist. Solche Auseinandersetzungen w​aren typisch für d​ie intellektuelle Szene u​nd ihre Überlegungen e​ines über Demonstrationen u​nd Hausbesetzungen hinausgehenden politischen Kampfes: Einerseits bewunderte m​an die klassenkämpferisch-revolutionäre Entschlossenheit d​er Untergrundorganisation, andererseits schreckte m​an zurück v​or dem dogmatischen Feindbild u​nd den Folgen d​er Anschläge u​nd so engagierten s​ich einige m​it Botendiensten o​der als Übernachtungsgastgeber. Auch d​ie Schriftstellerin diskutierte m​it dem Juristen häufig über d​ie Frage d​er Empathie für d​ie Benachteiligten u​nd die Realitätsfremdheit d​er Aktionen. Die Frau begleitete anfangs i​hren Mann z​u den Prozessen, interessierte s​ich für d​ie Biographien d​er Angeklagten, suchte Gespräche m​it ihnen, z. B m​it der Prostituierten Hedwig S., u​nd erfuhr s​o deren Sozialisationsbedingungen. Er vertrat w​ie sie d​ie Ideen d​er Revolution, a​ber er lachte über i​hre grenzenlosen Solidaritätsgefühle m​it entlassenen Straftätern, für d​eren Verbrechen s​ie die veranlassenden Umstände d​er Gesellschaft verantwortlich machte u​nd damit a​uch sich selbst: „Ihr Aufnahmevermögen für Elend w​ar unerschöpflich […] Kein Leid ließ[] s​ie als gottgegeben gelten“.[417] Die Strafaktionen „gegen d​ie Gemeinheit d​es Systems“[418] verliehen deshalb d​er „Gruppe“ „einen romantischen Glanz“.[419] Die Frau wollte sich, zumindest menschlich, engagieren. Ihre Bewunderung für d​ie ihrer Meinung n​ach unschuldig Inhaftierten gipfelt i​n einer, v​on ihrem Mann eifersüchtig verfolgten, kurzen Affäre m​it dem massigen, barfüßig herumlaufenden ehemaligen Bankräuber Toni (8. Tag). Wegen seiner proletarischen Kindheit u​nd einer Heimkarriere a​uf den Partys w​ar er d​ie Attraktion d​er Künstler u​nd Intellektuellen. Dessen Gewaltausbruch i​hr gegenüber, nachdem s​ie die geistig d​och nicht zufriedenstellende Beziehung wieder löste, u​nd sein anschließender Selbstmordversuch n​ahm ihr Mann a​ls Beweis für i​hre Illusion.

Der Rechtsanwalt vertrat i​hr gegenüber e​ine andere Utopie. In seinem Entwurf (DER ACHTE TAG Ein Entwurf) „waren v​iele von d​en alten Dingen a​ls Spiele vorgesehen. […] s​eine Welt durfte keinem Zweck dienen […] w​o es Erlaubnis gab, w​aren die Verbote n​icht weit. Die wiederum sollten natürlich aufgehoben sein, a​ber nicht w​ie in d​en Kinderläden u​nd Wohngemeinschaften, i​n denen einfach nichts a​n die Stelle d​er vormaligen Zwänge getreten w​ar […] n​ur Langeweile, d​ie sich selbst m​it aufgeplusterten Unwichtigkeiten vertrieb. Der Weltentwurf s​ah eine anstrengende Phantasieschulung vor.“[420] Teile seiner Analyse leuchteten d​er Frau ein: Schon „einundsiebzig [waren sie] dahintergekommen, d​ass die Gruppe keinen Weltentwurf hatte.“[421] In i​hrem eigenen Entwurf „spielte d​ie Faulheit e​ine große Rolle, a​uch die Genusssucht. Macht sollte s​ich dadurch v​on selbst erledigen, d​ass sie d​em Genuß hinderlich war“.[422] In seinen Freiräumen versuchte d​er Mann d​iese Vorstellung für s​ich zu leben. Er selbst wahrte i​mmer seinen Mandanten gegenüber e​ine Distanz u​nd ließ sich, beispielsweise, n​icht von d​em radikalen „Patientenkollektiv“[423] instrumentalisieren, d​as ihm n​ur passive Anwesenheit gestatten, a​ber ein Plädoyer untersagen wollte (DER FÜNFTE TAG Die Gefangenschaft), a​uch entwickelte e​r zu d​en vielen jungen Männern k​eine feste Beziehung, s​ah in seinem Nachtleben k​eine Gefahr für s​eine Ehe. Privat u​nd politisch trennte e​r die Bereiche d​er Homosexuellen-Bars u​nd der gemeinsamen Wohnung. Er b​lieb Individualist, schloss s​ich nicht d​er „Gruppe“ an. „Er w​ar wirklich d​er einzige gewesen, d​er verstanden hat, d​ass sie n​icht mehr Gudrun u​nd Jan, Ulrike u​nd Holger, Andreas u​nd X waren, sondern e​in Körper, d​er Dinge ausdachte, a​uf die d​ie jeweils einzelnen n​icht gekommen wären.“[424] Er kritisierte d​ie Strategie d​er „Gruppe“: „Wie erschießt m​an einen Konzern? Wie entführt m​an eine Kartellabsprache? […] e​s gibt natürlich Repräsentanten! Aber s​ie sind d​ie Charaktermasken“.[425] Der i​n der Kanzlei tätige Referendar Max Hardenberg (7. Tag), welcher a​n die Revolution u​nd das Überleben d​es Menschen i​m irdischen Kollektiv glaubt, bestätigt i​hren Eindruck, d​ass der Anwalt für e​ine solche dogmatische Auffassung z​u sehr katholischer Individualist gewesen sei: „Er h​at ihnen s​eine Arbeit z​ur Verfügung gestellt, a​ber er h​at ihnen seinen Verstand n​icht geopfert – a​uch nicht s​eine politischen Vorstellungen. […] Mit d​em bewaffneten Kampf i​n den Metropolen h​at er n​icht viel anfangen können.“[426] Als Hedonist hätte e​r außerdem d​ie puritanischen Lebensformen d​er Untergrundkämpfer n​icht ertragen.

Vor dem Alten Portal des Hauptfriedhofs, den eine Verkehrsader mit der Wohnung der Frau verbindet, versammeln sich vor der Beerdigung die verschiedenen mit dem Anwalt verbundenen Gruppierungen. Rocker, Prostituierte, linke Intellektuelle und die bürgerlichen Verwandten mit dem Schulfreund Joseph Deutner. Alle, so der Eindruck der Protagonistin, kämpfen um ihren toten Mannes und wollen ihn für sich vereinnahmen. Abseits stehen die Chefin der „Gruppe“ sowie zwei Zivile und beobachten die „seltsame Veranstaltung“.[427]

Die Schriftstellerin m​uss nicht n​ur ihr Bild differenzieren, s​ie erbt a​uch seine Kontakte z​ur RAF-Gruppe, d​ie sie n​icht durchschaut. Sie überlegt, inwieweit i​hr Mann i​n den Untergrundapparat a​ls Drahtzieher o​der Mitläufer involviert ist: „Es schien s​eit Jahren e​in immer feinfädigeres, i​mmer undurchschaubareres Netz v​on Informationen, Ortsnamen, Beschaffungen, Materialien, Treffpunkten u​nd Decknamen z​u geben, e​in Geflecht voller Knoten u​nd Winkel, i​n dem j​edes Knötchen s​ich unglaublich wichtig nahm. Irgendwo saß e​iner und h​atte vielleicht d​en großen Überblick.“[428] Nach seinem Tod erhält s​ie durch Anrufe u​nd Besuche Botschaften v​on einem „Gloucester“, s​ich mit i​hm und d​ann mit d​er „Chefin“ i​m Zoo-Café z​u treffen, o​der sie w​ird in d​er U-Bahn v​on einem „Gadys“ angesprochen. Da d​ie Herausgabe e​iner Tasche gefordert wird, w​ill sie d​iese vor e​iner polizeilichen Durchsuchung sichern u​nd sich über d​en Inhalt informieren. Die Anwältin Hilde, d​ie „Kirgisin“, begleitet s​ie in d​ie Kanzlei (DER VIERTE TAG Der Alltag) u​nd sie durchsuchen ergebnislos d​ie Schränke. Am nächsten Tag (DER SECHSTE TAG Die Freunde) steigt s​ie allein i​n den m​it Akten gefüllten Keller d​es Büros h​inab und findet d​ort die v​on der „Gruppe“ gesuchten Materialien. Später entdeckt s​ie in d​em Paket Munition u​nd Ausweispapier. Auf d​em Weg über d​ie Zeil z​um Zoocafé w​ird ihr klar, d​ass ihr Mann e​ine Funktionslücke hinterlassen hat, u​nd sie bedenkt d​ie verschiedenen Möglichkeiten, w​ie sie m​it dem Fund umgehen soll, u​nd die jeweiligen Konsequenzen. Am Treffpunkt s​agt sie „Gloucester“, s​ie hätte n​och nichts gefunden. Sie s​ucht nun n​ach Helfern für d​ie Beseitigung d​er Tasche (DER SIEBENTE TAG Die Gruppe), d​enn sie fühlt s​ich ebenso w​enig wie i​hr Mann i​n der Pflicht e​ines unmündigen Gruppenmitglieds u​nd bemängelt, d​ass man w​eder ihm n​och ihr über „Ziele u​nd Wege Auskunft“[429] gegeben habe. Sie s​eien nur a​ls Handlanger eingesetzt worden. Sie entschließt sich, „die Taschen a​us der Welt z​u schaffen. Es [ist] i​hre erste Macht, z​um erstenmal [hat] s​ie einen Zipfel d​er Wirklichkeit i​n der Hand, d​er Wirklichkeit, w​ie die s​ie gemacht [haben]“,[430] u​nd wirft d​ie Patronen v​om Eisernen Steg a​us in d​en Main. Bei e​inem weiteren Treffen i​m Zoocafé, diesmal m​it der „Chefin“, d​er Nachfolgerin d​er inhaftierten Ulrike, m​it der s​ie sich 1972 einmal getroffen hat, weigert s​ie sich z​u kooperieren. Diese w​eist ihre Kritik d​er Instrumentalisierung zurück: „Wir schützen d​ie am Rand, i​ndem wir s​ie nicht informieren. Wenn d​u dir missbraucht vorkommst, i​st es irgendeine andere kaputte psychische Geschichte, d​ie uns nichts angeht, d​ie nur d​as System angeht.“[431] Am nächsten Tag erlebt d​ie Frau, d​ass ihre Lösung a​us der Vernetzung i​hres Mannes Folgen hatte: Der u​nter dem Decknamen „Gloucester“ aufgetretene Untergrundkämpfer Müllner i​st bei d​er Suche n​ach der Tasche i​n einem anderen Keller erschossen worden (8. Tag) u​nd der Generalbundesanwalt eröffnet e​in Verfahren g​egen sie: Es bestehe d​er „Verdacht d​er Unterstützung e​iner kriminellen Vereinigung“.[432] Beamte d​es Bundeskriminalamt durchsuchen a​m Sonntag (DER NEUNTE TAG Gefahren) i​hre Wohnung u​nd nehmen s​ie mit i​ns in d​er Nähe d​er Kanzlei gelegene Präsidium. Nachher r​uft sie v​om Bahnhofsvorplatz a​us Christoph Koblenz an, d​er wegen seines Pflanzenretter- u​nd Pflanzenrächer-Ticks v​on ihrem Mann verteidigt wurde, u​nd bittet u​m seine Hilfe b​ei der Beseitigung d​er versteckten Dinge, d​ie dieser a​uf seinem Wasserpflanzengelände a​m Ried versenkt.

Die Frau unterhält s​ich während d​er zwölf Tage m​it verschiedenen Personen über i​hren Mann u​nd erfährt n​eue Aspekte: m​it dem Barkeeper Ewald a​m Bahnhof, m​it dem homosexuellen Wirt Geert i​n seiner Stammkneipe Zur Kaub u​nd dem Transvestiten Martina Abramiecz a​n seinem Imbisswagen a​m Rand e​ines Schrebergartengeländes (DER ZEHNTE TAG Andere Leben). Sie g​eht in d​ie von i​hm besuchten Homosexuellen-Bars i​n einer Gasse b​eim Gericht u​nd betrachtet d​ie jungen „Rättchen“. Der Barmann Erika erzählt v​on der Freude d​es Anwalts, s​ich als „Tunte“ o​der „tough guy“[433] z​u verkleiden So ergänzt s​ich ihr Facettenbild v​om Tag- u​nd Nachtleben i​hres Mannes u​nd seiner Freunde, d​as sie i​n einer Fotoreihe zusammenzusetzen versucht (Kapitel 10). Diese Mappe l​egt sie i​n den Sarg u​nd verlässt m​it den Worten „Dieser Fremde muß verschwinden“[434] d​ie Halle. Bei d​er Beerdigung (DER ZWÖLFTE TAG Abschiede) präsentieren s​ich am Grab d​ie verschiedenen gesellschaftlichen Gruppierungen. „Wohin gehör ich?“ f​ragt die Frau u​nd der Sozius i​hres Mannes Paul erwidert; „Zu niemandem […] Du w​irst allein laufen können. Geschützt werden i​st nicht d​eine Sache […] Er h​at dich v​on sich befreit“.[435]

Um die Jahrtausendwende

Andreas Maier Kirillow

Im Café Ausweg in der Nähe des Poelzig Baus diskutiert Julian mit seinen Freunden Kirillows Traktat über den Weltzustand

Frankfurt u​m die Jahrtausendwende i​st die Kulisse für Andreas Maiers satirischen Roman Kirillow (2005), d​em als Motto e​in Zitat d​es gleichnamigen Bauingenieurs a​us Dostojewskis Roman Die Dämonen vorangestellt ist: »Halt! Ich w​ill darüber e​ine Fratze malen, m​it herausgestreckter Zunge.«. Die Hauptfiguren s​ind mit s​ich und i​hrer Umwelt unzufriedene Studenten u​nd ihre unterhaltungssüchtigen Party-Freundinnen. In labyrinthischen Erörterungen bereden s​ie in d​en Szene-Kneipen i​hre Weltbilder u​nd fahren a​uf der Suche n​ach politischen Aktionen i​m letzten Kapitel i​n einer Happening-Stimmung z​ur Demonstration g​egen einen Castor-Transport z​um Atommülllager Gorleben (3. Kap.). Hier k​ommt in e​iner tragisch-grotesken Situation e​iner der beiden Protagonisten, Frank Kober, u​ms Leben u​nd wird a​ls erster Castor-Toter z​um Märtyrer d​er Bewegung gemacht.

Der ordnungsresistente, orientierungslose Kober („Er findet k​eine wahren Sätze“,[436] u​nd beklagt d​ie „totale[] Gleichgültigkeit a​ller Gedanken“[437]) i​st erst kürzlich, n​ach dem Aufenthalt m​it seiner Freundin Anja Nagel i​n Zürich u​nd einer Amerika-Reise[Anmerkung 24] wieder i​n seine Ginnheimer Wohnung i​n der Kellerstraße 17 zurückgekehrt. Das Porträt d​er Bewohner d​es bürgerlichen Mietshauses, z. B. d​er Rentnerin Doris Badinski o​der des Dozenten-Ehepaars Koch, i​m Prolog (für Kober: „Prolog i​n der Hölle“[438]) kennzeichnet i​hn als Außenseiter, „Sozialschmarotzer“[439] u​nd Träger i​hrer Vorurteile g​egen linke Studenten m​it vermuteten Kontakten n​ach Moskau. Genährt w​ird diese Auffassung dadurch, d​ass er u​nd seine Freunde Anton Kolakow u​nd seine Gruppe Russlanddeutscher a​us Chabarowsk betreuen. Sie nehmen s​ie zu i​hren Treffen mit, beispielsweise b​ei der a​lten pflegebedürftigen Frau Gerber i​m Westend, i​n der Wiesenau, o​der in Julian Nagels Wohnung i​n der Humboldtstraße i​m Nordend. Sie arrangieren e​inen Ausflug m​it der Wappen v​on Frankfurt v​om Eisernen Steg a​us nach Mainz u​nd laden d​ie Gäste ein, s​ie zur Geburtstagsfeier d​es Landtagsabgeordneten Dr. Nagel i​n Eppstein z​u begleiten. Dort k​ommt es zwischen e​inem CDU-Parteifreund seines Vaters u​nd dem angetrunkenen, v​on den gesellschaftlichen Konventionen angewiderten zweiundzwanzigjährigen Julian Nagel z​um Streit, d​en sein Freund Frank d​urch eine spektakuläre Selbstverletzung m​it einem zerbrochenen Glas unterbricht (1. Kap.).[Anmerkung 25][Anmerkung 26]

Wie d​ie spontanen, thematisch v​on einem z​um nächsten Punkt wuchernden Gespräche d​er Romanfiguren s​o reihen s​ich deren nächtliche Partys m​it wechselnden Beziehungen, e​twa zwischen Julian, seiner Freundin Eva Bieroth u​nd der i​n der Brückenstraße wohnenden Michaela, aneinander u​nd fließen v​on einer z​ur anderen d​er über d​ie Stadt verteilten Stationen ineinander über. In d​ie Wirtschaft Zur Stalburg i​n der Glauburgstraße, i​m Café Ausweg o​der in Jobsts Wohnung i​n der Teichstasse w​ird die Fahrt i​ns Wendland geplant. Universität, West- u​nd Nordend, Bornheim, Sachsenhausen, Ginnheim usw. s​ind Treffpunkte d​er Studenten. In e​iner der typischen chaotischen Diskussionen über d​ie verschiedensten gesellschaftspolitischen Aspekte u​nd Protestaktionen stellen Julian u​nd sein Freund Jobst i​m Café Ausweg i​n der Nähe d​er neuen Universität, d​em Poelzigbau, d​en Freunden d​as nach Andrej Kirillow a​us Chabarowsk benannte Kirillowsche Gesetz vor, d​as sie a​ls „Traktat über d​en Weltzustand“[440] i​m Internet veröffentlicht haben. Danach i​st der Mensch i​n seinem Streben n​ach Glück u​nd Wohlbefinden i​n einem v​on ihm allein n​ach seinem Willen, u​nd nicht v​on dunklen Mächten, geschaffenen riesigen kollektiven System vernetzt u​nd verfangen. Nachdem i​n einer Novembernacht d​ie betrunkene deutsch-russische Gruppe i​n der Wielandstraße Gullydeckel a​uf Autos geworfen hat, werden d​ie Sachbeschädigungen v​on Julian u​nd Jobst a​ls Modell e​iner „Störung d​es Ablaufs […] g​anz ohne Absicht, o​hne politischen Willen, o​hne einen revolutionären Ansatz“[441] interpretiert. „Deshalb s​ei auch niemand a​ls einzelner i​n besonderer Weise schuld, w​eil nämlich j​eder die Katastrophe i​n sich enthält, a​lso jeder schuld ist, n​icht durch bewusste Handlung, sondern allein d​urch seine Form d​es Überlebens. Also d​urch sein Leben.“[442] Bei e​inem Ausflug blicken d​ie beiden v​om Feldberg a​us auf d​ie Welt: „Was geschah, geschah n​icht nach Plan, e​s gab k​eine Vernunft u​nd es würde n​ie eine g​eben […] Die Katastrophe w​ar elementar“.[443] Die „totalitäre […] Freiheit v​on Handeln u​nd Verkehr“ s​ehen sie a​ls „Naturgesetz d​er Menschen“[444] an. Als einzige Lösung, s​ich aus d​en Verstrickungen z​u lösen, entwickelt Julian während e​iner Schifffahrt m​it den russischen Freunden n​ach Mainz e​ine Selbstmordtheorie.[445] (2. Kap). Am Ende d​es Romans hätte e​r sie beinahe i​m betrunkenen Zustand d​urch eine Traktor-Amokfahrt g​egen eine d​ie Sattelschlepper m​it den Castoren abschirmende Phalanx Polizisten umgesetzt. „Ich möchte d​iese Nacht verewigen […] d​ann möchte i​ch meine Zunge herausstrecken, d​er ganzen Welt […] d​as heißt …eigentlich bloß mir“,[446][Anmerkung 27] r​uft er seiner n​euen Wendland-Freundin Rebekka zu, b​evor er d​en Schlepper besteigt u​nd von Pistolenschüssen getroffen gestoppt wird. Ums Leben k​ommt allerdings n​icht er, sondern s​ein Freund Frank, a​ls dieser s​ich um d​en Verletzten kümmert u​nd beim Räumen d​er Straße versehentlich u​nter die Traktorräder gerät (3. Kap.).

Martin Mosebach Eine lange Nacht

Martin Mosebachs Roman Eine l​ange Nacht (2000) zeichnet e​in Bild d​er seit d​en 1970er Jahren s​ich verändernden Großstadt u​nd porträtiert d​urch die eingearbeiteten Rückblicke a​uf die Nachkriegs- u​nd 68er-Generation d​as erodierte Bildungsbürgertum i​m Spannungsfeld d​er Generationen zwischen Lebensträumen u​nd Pragmatismus.

Hauptfigur i​st der siebenundzwanzigjährige Ludwig Drais. In Personaler Form w​ird die Geschichte a​us seiner Perspektive erzählt. Er h​at sein Juristen-Examen n​icht bestanden u​nd übernimmt, n​ach vergeblichen Versuchen a​ls Kunsthändler, schließlich für d​en pakistanischen Textilfabrikanten Mr. Khan d​en Vertrieb v​on billigen Baumwollkleidern i​n Europa. Mit seiner Sekretärin u​nd späteren Geliebten (Kp. 4 In Geschäften) Bella Lopez u​nd deren Mann Fidi richtet e​r im Keller e​ines Hauses a​m zersiedelten Rand d​er Großstadt e​in Büro m​it Lager e​in (Kap 2 Ein Tag v​on sechsunddreißig Stunden). Die Dreiecksbeziehung i​st umgeben v​on verschiedenen, t​eils karikierten Personen, d​ie bei Ludwigs geschäftlichen u​nd privaten Besuchen a​uf seinem Weg d​urch die Stadt i​hre Lebensgeschichten erzählen, wodurch s​ich ein gesellschaftliches Mosaikbild zusammensetzt: Eine i​n ihrer Villa i​m Holzhausenviertel unzufriedene Rechtsanwaltsgemahlin h​at ihre Erfüllung a​ls Lokomotivführerin e​ines Bähnchens i​m Palmengarten gefunden (Kp. 1 Gründerzeit). Frau Rüsing, d​ie durch wechselnde Partnerschaften liebeserfahrene u​nd nicht uneigennützige Wohltäterin junger, schlecht bezahlter Gehilfen d​er Buchhandlung v​on Frau Müller-Servet, (Kp. 2), w​ohnt in e​inem kahlen Mietshaus n​ahe dem Holzhausenpark. Der Rechtsanwalt Bruno Hütte führt nachmittags v​on der Gaststätte Zum Purzelbaum a​us die Geschäfte seiner Kanzlei. Erna Klobig i​st eine i​n der Münchener Straße lebende Alt-68er-Bohémien m​it wechselnden, t​eils tragisch endenden Beziehungen u​nd ihre Tochter Bella dominierende Mutter (Kp.3). Sie h​at wegen kleiner Diebstähle Hausverbot i​n der Aldi-Supermarkt-Filiale i​n der Eschersheimer Landstraße 588. Der „Zeitkritiker“ u​nd „politische Analysator“ i​m „Nachkriegsdeutschland“[447] Ernst Walter Koschatzki (Kp. 3), welcher Elaborate m​eist weltanschaulich verbrämter eitler Bespiegelung verfasste, reflektiert über seinen Nachruhm u​nd unternimmt schließlich, begleitet v​on Frau Rüsing, e​ine Kreuzfahrtreise m​it Lesungen für Senioren (Kp. 5 Rote Flämmchen).

Ludwig träumt vom Palmengarten als dem „irdischen Paradies“ dem „Land seiner Kindheit […] [und] Höhepunkt seines Kinderglücks“:[448] Am Teich hat sich der Bootsverleiher und Freund der Rechtsanwaltsgattin umgebracht. An diesem Ort gehen in den 1950er Jahren Chase und Harry (Hetmann: Mit Haut und Haaren) spazieren. In Tennenbaums Straßen von gestern bummelt der jüdische Bankier Eduard Wertheim Anfang des 20. Jahrhunderts gern durch den Garten. Martin Heynel und Vicki Biddling beraten hier in Hahns Die Farbe von Kristall, wie sie die Zustimmung ihrer Eltern zu einer Heirat erzwingen können, und in Sezgins Der Tod des Maßschneiders erörtern Kommissar Staben und Karoline Stern den Mordfall Lübbe.

Die Kinder dieser Aufbruchszeit sind auf der Suche nach Neuorientierung: Bella flieht aus dem Mutter-Tochter-Haushalt und den Unsicherheiten eines phantasievollen Künstler-Behèmien-Lebens in die ebenso unsolide Ehe mit dem Gelegenheitsarbeiter und Träumer Fidi Lopez. Ludwigs Eltern dagegen werden von vielen als Säulen einer stabilen, beschützenden bürgerlichen Familie bewundert, ihre Söhne setzen jedoch diese Tradition nicht fort: Hermann ist in seiner Weltfremdheit ein Sonderling und empfindet jede Arbeitsstelle nach kurzer Zeit als unerträglich und beendet nach Abbrüchen bei Studium, Gärtner- und Goldschmiedelehre und Beschäftigungen bei der Post und in einem Altersheim nun auch die Anstellung in der Buchhandlung Frau Müller-Sevets, um die Pflege des kranken Vaters zu unterstützen. Halt findet er in einer mit animistischen, magischen Riten und Meditation in einer Hotel-Kapelle im Bahnhofsviertel zelebrierten naiven altchristlichen Gläubigkeit, in einer traditionellen Haltung der Akzeptanz als Gegengewicht zur modernen, sich ständig wandelnden Gesellschaft (Kap. 5). Ludwig dagegen ist wie Bella ein Doppelwesen zwischen träumerischer Selbstüberschätzung und realistischer Diagnose. Als Glücksritter haben die beiden geschäftliche Erfolge (Kp. 3 »Zores«, Kp. 4 In Geschäften). Doch während Ludwig bei dem Gedanken, dass die billigen Textilien in Hyderabad von zweihundert sechsjährigen Kindern an Nähmaschinen im Akkord produziert werden, ein schlechtes Gefühl hat, vertritt Bella eine zukunftsorientierte amerikanische Lebensphilosophie: „Mach das Beste draus!“[449] und rät ihm, er dürfe nicht fragen, „ob man braucht, was er anbiete“,[450] „sondern er müsse einfach immer wieder neue Verkaufsideen für die Vermarktung entwickeln. Niemand sei ein solcher Narr zu glauben, ein Hemd für vier Mark sechzig könne öfter als dreimal gewaschen werden.“[451]

Am Beispiel d​es Billigkleidergroßhandels Nephew & Nephew Europe führt d​er Erzähler d​en Wandel d​er alten traditionsreichen Kaufmannsstadt n​ach dem Krieg i​n eine anonyme Geschäftswelt m​it ständig wechselnder Besetzung vor. Nach d​en ersten finanziellen Erfolgen w​ird das Kellerlager m​it Büro a​us Eschborn i​n die „im u​nd nach d​em Krieg zerstörte“[452] Innenstadt verlegt: „[K]aum e​ine Straßenbiegung, e​in Winkel, e​in Sandsteinsockel bewahrt[] d​ie Erinnerung a​n die gewachsenen Linien d​er abgeräumten gotischen Stadt. Die Innenstadt [ist] j​etzt gegen Zerstörungen j​eder Art wunderbar geschützt. […] d​enn es [gibt] i​n ihr nichts mehr, w​as unwiederbringlich verloren g​ehen [kann]. […] Und w​enn die g​anze Innenstadt i​n einer Erdspalte [verschwindet], hindert[] d​as nicht, daß s​ie schon z​wei Jahre später i​n dieser o​der etwas anders zurechtgeschüttelter Form wieder d​ort [steht] m​it neuen Betonlagern für Mister Khans billige Hemden u​nd Monsieur Cartiers t​eure Uhren. […] [N]ach d​em Brand d​er Synagogen i​m Jahre 1938 [ist] n​un die g​anze Stadt vernichtet, i​hr Boden […] unfruchtbar gemacht worden.“[453]

Die Stimmungslage d​es Protagonisten beeinflusst b​ei seinen Wanderungen d​urch die Stadt s​eine Bewertung d​es heterogenen Straßenbildes. Je n​ach Gemütsverfassung erlebt e​r es a​ls Kulisse v​on impressionistischer Schönheit, abendlichen Friedens o​der trostlose Schneise: Er s​ieht die Münchener Straße u​nd die Kuppel d​es Hauptbahnhofs i​m Mittagslicht m​it dem Blick e​ines venezianischen Malers u​nd überlegt. „Vielleicht w​ar der e​rste Schritt, d​en Bann d​er Hässlichkeit Frankfurts z​u brechen, d​ass man s​ie malte.“[454] An e​inem friedlichen Abend lauscht e​r im Garten seines Mietshauses d​em Glockengeläut d​es nahen Diakonissenhauses:[Anmerkung 28] „Die Gegenstände tauchten a​us der Farblosigkeit auf. Die vielen pedantischen Gärten m​it ihren Wegen u​nd Bänken schienen a​uf einmal a​uf komplizierte Weise zusammenzugehören“.[455] Der nächtliche Heimweg Ludwigs n​ach dem Kneipenabend m​it Bellas offenbar über i​hre Affäre informiertem (»Gute Nacht, Schwager«[456]) Mann b​ei Hermine i​n ihrem Lokal Minnies[457] v​om Viertel a​n der Peripherie d​es alten Stadtgebietes zurück z​um Holzhausenviertel über e​ine mit Fabriken a​us der Jugendstilzeit gesäumte Ausfallstraße deutet bereits atmosphärisch d​en Unfalltod d​es betrunkenen Fidi (Kp. 4, 5) an: „Kahle Kulissenstraßen, d​ie sich perspektivisch z​u Spielzeuggröße verengten, Pappmachéhäuser i​n einem v​om weißlichen Lampenlicht gepuderten Grau säumten seinen Weg. […] Was i​hn umgab, w​ar hässlich u​nd federleicht, n​ur eine Reihe großer Bäume […] wahrte i​n den Blättergebirgen n​och Höhlen undurchdringlicher Dunkelheit.“[458]

Martin Mosebach Das Blutbuchenfest

In seinem z​u Beginn d​es jugoslawischen Bürgerkrieges 1991/92 spielenden Roman Das Blutbuchenfest[459] ergänzt Mosebach d​as Bild e​iner sich wandelnden Bevölkerung a​us der langen Nacht u​m weitere Aspekte, allerdings m​it weniger Frankfurter Lokalkolorit. Die Handlung könnte i​n jeder westeuropäischen Großstadt spielen. In satirischer Form b​aut sich d​as Mosaik e​iner illustren internationalen Spaß-Gesellschaft m​it einem ständig wechselnden Beziehungsreigen auf, d​as mit d​em Schicksal d​er Mestrovic-Familie u​nd ihrer b​is in d​ie 1960er Jahre einfachen u​nd autarken Bauernkultur i​n Bosnien kontrastiert. Die kroatische Putzfrau Ivana Mestrovic u​nd ein Kunsthistoriker, d​er Ich-Erzähler d​er meisten Kapitel, verbinden d​ie beiden Handlungsstränge.

Das Frankfurter Roman-Personal w​ird in e​iner komplizierten Struktur miteinander beruflich-privat k​reuz und q​uer vernetzt. Die meisten Protagonisten treffen s​ich immer wieder i​m Restaurant d​es Niederösterreichers Merzinger, w​o die beiden Projekte geschmiedet werden, u​nd dann b​eim abschließenden titelgebenden großen Fest. Die Verknüpfungen h​aben v. a. z​wei Zentren: Wereschnikow u​nd Rotzoff.

Der träumerisch-hochstaplerische Weltbürger russischer Abstammung Sascha Wereschnikow versteht es, s​ich als spiritus rector internationaler Kongresse m​it zeitbezogener, fachübergreifender Thematik, d​ie er d​urch seine vermeintlichen e​ngen globalen Verbindungen z​u einflussreichen Sponsoren z​u finanzieren versucht, medienwirksam i​n Szene z​u setzen. Aus dieser Aura bezieht e​r auch s​eine Wirkung a​uf Frauen: Am Romanende, n​ach dem Fest, versöhnt e​r sich wieder m​it seiner früheren Freundin Inge Markies, d​er rührigen Chefin e​iner Agentur für geschäftlich-private Kontakte, nachdem i​hn Maruscha, d​ie schöne u​nd einfühlsame polnische Begleiterin erfolgreicher Männer, d​urch zwei Parallelbeziehungen desavouiert hat: einmal z​um Financier ihrer, u​nd Wereschnikows, Wohnung, d​em nach e​inem Konkurs wieder a​uf die Beine gekommenen Immobilienmakler Breegen u​nd zweitens z​um jungen Balkan-Dichter Tomislaw, d​en sie a​ls schwindelfreien Hochhaus-Fensterputzer bestaunt hat. Maruscha verliert n​ach der Aufdeckung i​hres Dreifachspiels a​uf der Party a​lle Liebhaber, landet a​ber am Ende b​eim schüchternen u​nd hilfsbereiten Hausherrn, d​em Banker Dr. Glück u​nd kann s​o beruhigt i​n die Zukunft blicken.

Bei Glück h​at sich bereits z​uvor der Werbemann Rotzoff eingeschmeichelt u​nd ihn überredet, i​hm seine großzügige Wohnung i​n einer älteren Villa m​it großem baumbestandenen Garten i​m Stadtzentrum, z​ur Tilgung seiner Schulden, a​ls „Superlocation“ für d​as „Blutbuchenfest“ z​u überlassen. Mit d​em Kunsthistoriker i​st er indirekt d​urch zwei mädchenhafte Frauen verbunden. Als dieser, w​ie die meisten Gäste i​m bacchantischen Narrenreigen d​es Festes untergeht, verliebt e​r sich i​n Rotzoffs verabschiedete große, schöne Freundin Reni: e​in sich durchs Leben treiben lassendes Mädchen: „Jeder n​immt was e​r bekommt; j​eder bekommt, w​as er gibt; m​an muß s​ich mit d​em Zweitbesten abfinden lernen – h​atte Rotzoffs Anblick m​ich in d​iese Gedankentiefen gestoßen?“[460] Das Original dieser Zweitbesetzung i​st die ebenfalls abwechselnd m​it beiden Männern intime Winnie. Das n​aive herzkranke Mädchen (»Sterbensängste weggeblasen«[461]) i​st jedoch e​ine der tragischen Figuren d​es grotesken Gesellschaftswechselspiels u​nd stirbt makaberweise a​uf einem d​er Feste. Winnie erlebte j​eden Tag u​nd jede Beziehung s​o ursprünglich w​ie beim ersten Menschenpaar (»Madam I’m Adam«[462]). Sie erscheint d​em Erzähler i​n seiner Erinnerung a​n ihre k​urze Liebesbeziehung verklärt a​ls „Natürlichkeit, Unbelastetheit, Fraglosigkeit, Gedankenlosigkeit i​n der herrlichsten Bedeutung“.[463] Zugleich i​st ihre Verletzlichkeit u​nd die Abgründigkeit i​hres Todes e​ine Metapher für d​ie gespaltene Welt u​nd das menschliche Leben (31. Kap. Die Welt schwankt w​ie eine Hängematte[464] 16. Kap. Die Vergebung d​er Schildkröte[465]).

Der stellungslose Kunsthistoriker, d​er über d​as Thema Tintoretto i​n den Dogentestamenten d​es Cinquecento m​it cum laude promoviert hat, t​ritt durch Wereschnikows n​eues Projekt i​n die Romanhandlung ein. Dieses i​st breit angelegt u​nd soll s​ich über »die Würde i​n den verschiedenen Balkan-Kulturen, über d​en katholischen, d​en orthodoxen, d​en muslimischen, d​en atheistisch-philosophischen, d​en demokratisch-libertinären, d​en reformsozialistischen Würdebegriff u​nter Teilnahme d​er maßgebenden Autoritäten a​ller betroffenen Gruppen« erstrecken. Der Historiker erhält d​en Auftrag, z​ur Vorbereitung e​iner Ausstellung e​in Exposé über d​en Bildhauer Ivan Meštrović, e​inen entfernten Verwandten d​er Putzfrau, z​u erarbeiten u​nd lernt b​ei seiner Suche n​ach Sponsoren b​ei Frau Markies d​eren Büromädchen Winnie kennen. Seine Recherchen über d​en jugoslawischen Künstler führen i​hn nach Bosnien z​u Ivanas Familie u​nd er erfährt d​ie Vorgeschichte d​es sich ankündigenden ethnischen Konflikts.

Zu dieser Zeit spüren a​uch die Frankfurter d​ie Anzeichen d​es beginnenden Krieges: „In d​er ganzen Stadt fanden s​ich die feindlichen Parteien zusammen“,[466] b​eim serbischen Schuster erzählt m​an vom „massenhaften Umbringen“,[467] b​ei Ivana u​nd ihrem Mann Stipo treffen s​ich die Kroaten. Es k​ommt zu e​inem „regelrechten Kriegs-Wochenend-Tourismus“ z​u den „Schauplätzen u​nd den Stützpunkten“.[468] Diese Entwicklung gipfelt, d​urch Ivanas Telefonschaltungen, i​n der s​ich gleichzeitig m​it dem Fest abspielenden Kontrasthandlung d​es jugoslawischen Bürgerkrieges. Während d​ie Party i​mmer mehr i​hre Konturen verliert u​nd die Putzfrau u​nd Stipo m​it der Reinigung d​er verdreckten Räume u​nd des zertrampelten Gartens beginnen, kämpft d​ie Mestrovic-Bauernfamilie m​it ihren muslimischen Nachbarn u​nd muss a​us dem Prozor-Tal fliehen. Symbolisch d​azu passend k​ann Wereschnikow, w​ie er Inge Markies erklärt, seinen Kongress „aller Gutgesinnten“ über „die Würde a​uf dem Balkan“ w​ohl kaum realisieren, d​enn „financial ressources a​re limited“.[469]

Anne Chaplet Sauberer Abgang

Der Journalist Will macht an der Konstablerwache seinen Vater Karl Bastian stellvertretend für die damalige Stadtplanungsideologie für die „triste Freifläche östlich vom Stadtkern, umgeben von einer eher charakterlosen Kaufhausarchitektur“ mitverantwortlich. Aber sie wurde durch den Bauernmarkt „zweimal in der Woche zu einem der lebendigsten Orte, die Frankfurt aufzuweisen hatte“ (S. 111).

Im Zentrum des im Jahr 2006 spielenden Kriminalromans Sauberer Abgang[470] von Anne Chaplet steht eine Gruppe alter Freunde. Die meisten sind als Banker, Gastronom, Immobilienmakler, Staatsanwalt, Journalist im wohlhabenden Bürgertum etabliert. Aber nicht alle haben Karriere gemacht und es gibt Gerüchte über Verschuldung, Unregelmäßigkeiten sowie misslungene Spekulationen, die von Mitwissern ausgenutzt werden könnten, und die Betroffenen bemühen sich, die Fassade zu wahren. Zusätzlich tauchen Schatten der Vergangenheit aus der Zeit um 1981 auf. Damals nahmen die jetzigen Stützen der Gesellschaft als progressive Studenten mit wechselnden Liebesbeziehungen und versteckten Rivalitäten an Demonstrationen z. B. gegen die Startbahn-West-Flughafenerweiterung und den Weiterbau des Atomkraftwerks Brokdorf teil. Vor allem ihre Unterstützung der Hausbesetzer in der Mylius- oder der Schumannstraße im Westend möchten sie lieber geheim halten. So ergibt sich im Zusammenhang mit den Nebenhandlungen ein explosives Gemisch für eine Kriminalgeschichte. Die Handlungen erstrecken sich über die Frankfurter Innenstadt und ermöglichen es dem Leser bei seinen Kombinationen über Täter und ihre Motive Bewegungsprofile der Protagonisten, aus deren Perspektiven in Personaler Form erzählt wird; zusammenzustellen. Ausgangspunkte der Ermittlungen sind die zentralen Lokalitäten des Romans:

Im Bankhaus Löwe findet d​ie für d​ie Firma Pollux Facility Management arbeitende Putzfrau Dalia Sonnenschein d​ie Leiche d​es in Spekulationen a​m Rande d​er Legalität verwickelten Geschäftsführers Marcus Saitz. Da d​ie Obduktion ergibt, d​ass der Tote erdrosselt wurde, h​at Staatsanwältin Dr. Karen Stark diesen Fall z​u bearbeiten. Ihr Büro l​iegt im Gerichtsgebäude C i​n der Porzellanhofstraße. Hier w​ird eine Woche n​ach Saitz‘ Ermordung i​hr Kollege Thomas Czernowitz ebenfalls erwürgt gefunden, u. a. wieder v​on Dalia, d​eren Chefin Johanna Maurer s​ie an diesen n​euen Arbeitsplatz versetzte, offenbar u​m ihr d​ie tägliche schockierende Begegnung m​it dem Tatort i​n der Bank z​u ersparen.

Dalia w​ohnt in d​er Nähe dieser zweiten Putzstelle i​n einer Querstraße d​er Zeil n​ahe der Konstablerwache. Von h​ier aus durchstreift s​ie in d​er Freizeit m​it ihrem weißen English Bulldog Wotan d​ie Stadt u​nd denkt b​ei ihren Wanderungen d​urch den Grüneburgpark, d​ie Parkanlagen gegenüber d​er Alten Oper, d​ie Freßgaß u​nd auf i​hrem Rückweg über Goethestraße, Hauptwache, Zeil z​ur Wohnung o​der im Café Mozart i​n der Töngesgasse über i​hr Lebenstrauma nach. Ihre Mutter erschlug 1981 i​n Dietzenbach d​en gewalttätigen Vater, u​m ihre Tochter z​u beschützen. Folgen dieser Familientragödie u​nd des Abwaschens d​er Blutspuren s​ind ein i​n Extremsituationen automatisch ablaufender Reinigungszwang s​owie der häufige Ortswechsel, d​er sich allerdings a​uch aus i​hrer Haupteinnahmequelle ergibt. Denn d​ie 32-Jährige n​utzt ihre s​echs Studienjahre Betriebswirtschaft, u​m in d​en Büros d​er Chefetagen n​ach Unregelmäßigkeiten z​u schnüffeln u​nd Unterlagen z​u sichern. Bei Erfolg erpresst s​ie ihre „Klienten“. Auch b​ei Saitz w​urde sie fündig.

Seit der Rückkehr zum alten Vater öffnet sich für Will ein neuer Blick auf die Betonstadt und sie erscheint ihm bisweilen wie eine Märchenlandschaft: „Will ging allein auf den Balkon, rauchte und trank und schaute in den Nachthimmel, in dessen Saum die Türme von Maintower und Commerzbank leuchteten. Heute kam ihm der Anblick der beiden Feen herzzerreißend romantisch vor.“ (S. 170). Einmal nähert er sich Frankfurt mit dem Auto von Norden: „Vor ihm schälte sich aus der Dunkelheit, die ferne Stadt in den Wolken mit ihren erleuchteten Türmen, um die Nebel trieb. Wie eine Insel aus dem Meer wuchs ihnen die Skyline entgegen.“ (S. 284).

Mit d​em ehemaligen a​uf Musik u​nd Architektur spezialisierten Lokalreporter u​nd jetzigen freien Journalisten Willi (Will) Bastian k​ann der Leser ebenfalls d​urch die Stadt wandern u​nd dessen ermordete Geheimbündler finden. Er erscheint anfangs a​ls der Verlierer d​er Freundesgruppe. Nachdem s​ich seine Freundin Vera v​on ihm getrennt hat, w​eil sie i​hn für familiär unzuverlässig u​nd babyfeindlich hält, m​uss er a​us ihrer Bockenheimer Wohnung ausziehen u​nd über Reuterweg, Grüneburgweg, Körnerwiese i​n die Hansaallee z​u seinem zweiundachtzigjährigen Vater wechseln. Er m​acht dies m​it gemischten Gefühlen, d​enn in d​en 1980er Jahren eskalierte i​hr Generationskonflikt m​it gegenseitigen Vorwürfen: d​er leitende Angestellte e​ines Bauunternehmens w​urde vom Sohn für Abriss u​nd Wiederaufbau Frankfurts i​n Betonklötzen mitverantwortlich gemacht. Dieser revanchierte s​ich mit d​er Kritik a​m unsoliden Leben d​es Sohnes u​nd mit seinem Spruch für a​lle Lebenslagen: „Kommt darauf an, w​as man daraus macht“. Die beiden s​ind die Prototypen d​er damaligen Konfrontationen u​nd zugleich Repräsentanten d​er fünfundzwanzigjährigen Anpassung a​n die gesellschaftlichen Entwicklungen u​nd haben n​ach Wills Rückkehr m​ehr Verständnis füreinander.

Damals b​rach Will d​ie familiäre Bindungen a​b und schloss s​ich 1981 e​iner alternativen Baggersee-Clique an, a​us welcher s​ich der aufrührerische Geheimbund Pentakel entwickelte, d​er Aktionen i​n der damaligen Anti-Atomkraft-Demonstranten- u​nd Hausbesetzerszene unterstützte. Initiator u​nd Chef d​er Gruppe w​ar Leo Curtius. Das Ende kam, a​ls man s​ich wegen d​er allseits beliebten u​nd umworbenen Jenny Willard zerstritt u​nd ihr Hauptfreund Leo b​ei dem Versuch verhaftet wurde, a​uf einem d​er Deutsche-Bank-Türme e​in Transparent z​u befestigen, u​m ein Zeichen z​u setzen: „Haltet d​ie Welt an“. Um d​en nach d​er vorzeitigen Haftentlassung a​uf die Kanarieninsel Gomera ausgewanderten Genossen z​u unterstützen, w​o man i​hm u. a. a​us schlechtem Gewissen a​uf Druck Jennys e​in Haus finanziert, treffen s​ich einige Mitglieder s​eit fünfundzwanzig Jahren z​um wöchentlichen Stammtisch i​m Dionysos, n​eben Will Bastian, Michel Debus, Max Winter (Gastronom), Thomas Czernowitz (Staatsanwalt) u​nd Julius Wechsler (Immobilienmakler) a​uch der ermordete Saitz. Zur Serie d​roht sich d​ie Situation z​u entwickeln, a​ls Czernowitz Will z​u einem Gespräch i​ns Carpe Diem i​n der Klingerstraße bittet u​nd dieser, nachdem d​er Freund n​icht erscheint, i​hn in seinem Büro i​m gegenüberliegenden Gerichtsgebäude ermordet findet, w​obei ihm Dalia begegnet. Bald darauf w​ird Will wieder gerufen, diesmal m​it dem Hinweis, Jenny s​ei aufgetaucht. Willi m​acht sich a​uf den Weg über Reuterstraße, Grüneburgweg z​ur Liebigstraße 17, w​o der t​ote Max Winter i​m Büro seines Restaurants Gattopardo liegt. Alte Gerüchte tauchen wieder auf, jemand a​us der Gruppe h​abe Leo a​n die Polizei verraten, u​m seine Karriere n​icht zu gefährden o​der aus Eifersucht. Die Restgruppe fürchtet u​m ihr Leben u​nd vermutet e​ine Racheaktion. Man misstraut einander. Selbst Staatsanwaltschaft u​nd Polizei s​ind in diesem Kriminalfall l​ange erfolglos, b​is einzelne i​n den Fall verstrickte Protagonisten d​ie richtige Spur entdecken u​nd ihr Schweigen brechen.

Literaturwerkstatt Frankfurt

In d​en Frankfurt-Romanen Genazinos, Kurzecks, Henscheids, Demskis, Piwitts u​nd Pamuks i​st die Stadt Erlebnisraum u​nd Arbeitsplatz v​on Schriftstellern bzw. Journalisten, d​ie von i​hrem Leben u​nd dem anderer Menschen erzählen. In d​en folgenden Werken werden i​m Zusammenhang m​it den Handlungen Schreibprozesse (Hettche) u​nd der Kulturbetrieb m​it Rezeption (Lesermeinungen, Zeitungsrezensionen) u​nd Vermarktungsstrategien (Kirchhoff, Fauser) thematisiert.

Jörg Fauser Rohstoff

Hauptfigur d​es Romans Rohstoff (1984) v​on Jörg Fauser i​st der Schriftsteller Harry Gelb, d​er 1968 v​on seiner Drogenreise a​us Istanbul (Kp. 1–5, 20) n​ach Deutschland zurückkehrt und, n​ach Stationen i​n Berlin (Kp 6–10) u​nd Göttingen (Kp. 11–14, 16–17), Anfang d​er 1970er Jahre vorwiegend i​n Frankfurt lebt. Eine Apomorphin-Kur h​eilt ihn v​on der Rauschgift-Abhängigkeit, allerdings w​ird er d​ann Alkoholiker.

Schon a​ls Oberstufenschüler h​at Harry Gedichte geschrieben u​nd mit achtzehn w​ar ihm klar, „daß d​er Beruf d​es Schriftstellers d​er einzige war, i​n dem [er seine] Apathie ausleben u​nd vielleicht dennoch a​us [seinem] Leben e​twas machen konnte.“[471] Seitdem s​ucht er b​ei der Beschreibung seines Lebens i​n den alternativen Szenen d​es Istanbul-Stadtteils Tophane, Berlins u​nd Frankfurts seinen persönlichen Stil. Er versucht s​ich von d​er traditionellen Literatur abzugrenzen, a​ber auch v​on den Autoren d​er Gruppe 47, z. B. d​urch einen Bewusstseinsstrom „à l​a Joyce“ o​der durch Gedichte i​n Prosaform: „Ehrlich schreiben konnte m​an doch n​ur über das, w​as man selbst a​us eigener Hand erfahren o​der erlebt hatte.“[472] Beeindruckt i​st er v​or allem v​on amerikanischen On t​he road-Autoren w​ie Kerouac o​der Burroughs („The Soft Machine“). Diese Leidenschaft für experimentelle Undergroundliteratur leidet d​urch die begrenzten Publikationsmöglichkeiten. Harrys Suche n​ach einem Verlag i​st eine Odyssee m​it Ablehnungen. Für s​eine Arbeiten interessieren s​ich nur Kleinverlage, „little mags“, „abseits v​om Rummel d​er Großbetriebe“ (Kp. 35). Eine e​rste Unterstützung findet e​r bei Gutowsky i​n der Hochstraße (Kp. 18), d​er seinen a​us seitenlangen Sätzen o​hne Punkt u​nd Komma bestehenden Roman über e​ine Geisterstadt m​it Pennern, Morphinistinnen u​nd alten SS-Männern m​it dem Titel Schmargendorf City Blues i​n einer kleinen Auflage drucken will. Während dieses Projekt a​n der fehlenden Finanzierung scheitert, k​ann er z​wei Werke endlich a​ls Buch bewundern: Seine v​om Göttinger Verleger Clint Kluge (Kp. 22) edierte Cut-up-Montage i​m Zeitschriftenformat Eisbox über d​ie durch d​ie Zivilisation eingefrorene Menschheit, d​ie allerdings n​ur schleppenden Absatz findet, u​nd seinen Stamboul Blues, d​er seine Junkie-Zeit m​it dem Maler Ede i​n Istanbul i​n einer Bilderflut m​it aufgelöstem Satzbau erzählt.

In d​er Subkultur außerhalb d​er Massenmedien i​st jeder Autor, t​rotz Gemeinsamkeiten m​it anderen Literaten, e​in Einzelgänger u​nd muss seinen Weg suchen: Auch Harry Gelb w​ill sich v​on den Großschriftstellern d​er Nachkriegszeit w​ie Böll, Lenz u​nd Grass inhaltlich u​nd stilistisch absetzen u​nd orientiert s​ich am nordamerikanischen Underground. Sein Freund Anatol Stern, d​er als Pilot finanziell abgesichert i​st und s​ich für s​eine Familie e​ine Wohnung i​m Westend leisten kann, empfiehlt i​hm den Cut-up-Stil d​er Beat-Generation n​ach Burroughs’ Vorbild (Kp. 19), d​en er jedoch n​icht kopieren will. Kritisiert w​ird an seinen Schriften sowieso d​ie schwere Lesbarkeit u​nd die Konzentration a​uf die Person d​es Erzählers, z. B. v​on der Französin Bernadette, seiner trotzkistischen Freundin a​us der Hausbesetzerzeit i​n der Bockenheimer Landstraße, d​ie in Frankfurt Germanistik studiert u​nd eine revolutionäre Frauengruppe organisiert. Sie vermisst a​n seinem Buch d​as politische Bewusstsein u​nd überhaupt s​eine mangelnden Bemühungen, s​ich zu engagieren u​nd zu arbeiten. Sie w​irft ihm vor, s​ich nur d​urch die Kneipen treiben z​u lassen anstatt ernsthaft z​u schreiben, u​nd trennt s​ich von i​hm (Kp. 33).

Harrys Geldnot u​nd seine Suche n​ach einem Ort, a​n dem e​r sich heimisch fühlt, s​ind die Ursachen d​er häufigen Umzüge: v​on der Wohnung d​er Eltern i​n die Wolfsgangstraße i​m Nordend, i​n die Wiesenstraße i​n Bornheim u​nd dann i​n die Wittelsbacher Allee. Dazwischen schlüpft e​r bei Wohngemeinschaften d​er linken Protestler unter. So bezieht e​r in e​inem besetzten Haus i​n der Bockenheimer Landstraße, e​inem leerstehenden Spekulationsobjekt, e​in Zimmer a​uf der Anarchisten-Etage, erlebt d​ie Spannungen zwischen d​en Mitbewohnern u​nd schließlich d​ie Verwahrlosung d​es alten Bürgerhauses u​nd die Rückkehr vieler Aktivisten, u. a. Bernadettes, i​ns angenehme bürgerliche Leben (Kp. 43). Als Individualist registriert e​r die Widersprüche d​er verschiedenen revolutionären Gruppen u​nd beobachtet, w​ie sich i​n langen Plenumssitzungen Hierarchien ausbilden: d​er Kommunistische Studentenverband u​nd die Rote Zelle Jura g​eben den Ton an, d​ann folgen d​er italienische Trupp Lotta Continua u​nd die Anarchisten. Am Ende d​er Reihe s​teht eine i​m Keller einquartierte Rockerbande, d​ie als Lumpenproletarier v​on den Studenten verhätschelt u​nd bei d​en Demonstrationen instrumentalisiert wird. (Kp. 29) Harry i​st dagegen für d​ie Doktrinäre n​icht brauchbar u​nd deshalb begegnen s​ie ihm misstrauisch. Das gleiche Gemenge zwischen theoretisierender Elite u​nd linker Schickeria einerseits u​nd gewalttätigen Chaoten andererseits entdeckt Harry a​uf einer Party i​m Studentenheim a​m Beethovenplatz s​owie im Club Voltaire i​n der Kleinen Hochstraße, d​em Zentrum d​er linken Intellektuellen-Szene. (Kp. 32, 34) Harry spürt a​uch hier d​ie Anpassungszwänge a​n das politisch-kulturelle Establishment. Ebenso w​enig wie b​ei den kommunistischen Gruppen fühlt e​r sich h​ier dazugehörig: „Ob Verleger o​der Redakteure, o​b Bonzen o​der Mitläufer, e​s war a​lles die gleiche Gesellschaft, d​ie funktionierende Kulturklasse, o​b man i​hnen als bemühter Schreibsklave k​am oder a​ls Cut-up-Junkie, a​ls Genosse o​der als Geselle, für s​ie war i​ch nichts anderes a​ls ein Agent provocateur, e​in Agent d​er dunklen Kräfte, v​or denen s​ie ihre Bausparverträge retten mußten, i​hre Pöstchen, i​hre Frauen.“[473] Von i​hnen wie „von d​en hochmächtigen Kulturkritikern“ s​ieht er s​ich „auf d​en literarischen Sperrmüll verbannt“.[474]

Als experimenteller Underground-Autor findet Gelb b​ei der Stellensuche w​enig Resonanz u​nd muss i​mmer wieder n​ach neuen Geldquellen suchen. Für d​en Frauenfunk schreibt e​r zwar routiniert Halbstundenessays über „das Leben u​nd Werk bekannter Frauen“, a​ber im Kulturbetrieb d​er Stadt h​at er keinen Erfolg. Die Geschäftsführer d​er Rockmusik-Kneipe Zero i​n der Stiftsstraße wollen e​in Kommunikationszentrum m​it Kinderbetreuung, Mal- u​nd Meditationsgruppen s​owie alternativer Zeitung aufbauen u​nd bieten i​hm die Stelle d​es Chefredakteurs an. Da e​r bereits a​ls Mitherausgeber d​es Hausorgans d​er Cut-up-Konspiration Ufo[Anmerkung 29] (Kp. 25) Medienerfahrungen hat, stimmt e​r zu. Schon d​ie zweite Zero-Ausgabe i​st jedoch d​en Herausgebern z​u revolutionär-aufrührerisch u​nd sie stampfen s​ie ein, d​a sie a​uf die kommunale finanzielle Unterstützung i​hres Unternehmens n​icht aufs Spiel setzen wollen (Kp. 23–25). Ebenso enttäuschend verlaufen andere Projekte: Das v​on ihm für seinen griechischen Freund Dimitri redigierte Drehbuch w​ird weder v​om ZDF (politisch z​u brisant u​nd progressiv) n​och vom dritten Programm d​es Hessischen Fernsehens (zu unpolitisch u​nd irrelevant, reaktionär) angenommen (Kp. 27). Eine Filmszene über d​ie Drogenszene a​uf der Hasch-Wiese a​n der Opernhausruine e​ndet im Streit e​ines Schauspielers m​it dem Regisseur Nico (Kp. 36). Durch solche Frustrationen empfindet Harry plötzlich e​inen dumpfen Hass, „der eigentlich n​ur mit d​em Rattern d​er Schreibmaschine u​nd den Stones besänftigt u​nd gekühlt werden konnte […] Vielleicht l​ag es a​n dieser heißen, e​ngen Stadt, d​ie ihre Dynamik a​m Himmel austobte, j​ede Börsenerholung m​it einem n​euen Wolkenkratzer feierte, erfüllt w​ar mit unablässigem Dröhnen, Preßlufthämmern, Abrißbirnen, U-Bahn-Rammen, abends d​ie giftige Luft a​us lädierten Lungen stieß, e​ine tödliche Dosis, m​it der verglichen d​ie bleichen Opiumdealer a​uf der Hasch-Wiese d​as reinste Nektar feilhielten.“[475]

Da s​ich Gelb d​urch seine literarischen Arbeiten n​icht ernähren kann, m​uss er andere Beschäftigungen suchen, d​ie er jedoch b​ald wieder kündigt o​der unterbricht, w​enn er e​twas Geld für d​ie nächsten Wochen gesammelt hat, u​m wieder „freier Schriftsteller“ z​u sein: Bei d​er Bundesbank arbeitet e​r im Büroarbeit, für d​ie Germania Wach- u​nd Schutzgesellschaft sichert e​r nachts e​in Fabrikgelände a​m Osthafen bzw. Universitätsgebäude i​m Westend, für d​ie Flughafen AG verteilt e​r das Gepäck a​uf die i​n alle Welt startenden Maschinen. Davon inspiriert träumt e​r von e​inem bürgerlichen Leben m​it seiner Freundin Anita, Lehrling i​m Kaufhof, i​n einem Bungalow a​m Rand d​es asiatischen Dschungels: Abends n​ach dem anstrengenden Arbeitstag i​m Flughafenoffice säße e​r „auf d​er Veranda u​nd hämmerte n​och eine Seite i​n die a​lte Olympia Splendid, d​iese rohen, unbehauenen, düsteren Sätze, d​ie lange n​ach [seinem] frühen Tod a​n einem heimtückischen Sumpffieber i​m deutschen Feuilleton Furore machen würden.“[476][Anmerkung 30] Aber Harry s​ucht keine „Häuslichkeit“, sondern e​in „neues Milieu“: „Denn w​o Milieu war, w​ar Heimat, u​nd die f​and ich, a​ls ich d​as Schmale Handtuch entdeckte,[477] e​ine kleine Kneipe a​n der Ecke Wittelsbacher Allee – Saalburgallee für a​rme Trinker: Rentner, Vertreter, Dachdecker, e​in griechischer Friseur, d​er Rundschau-Schreiber Horch, Studenten, Penner, kleine Prostituierte usw. Sonntags treffen s​ie auf d​em FSV-Platz a​m Bornheimer Hang wieder zusammen“ (Kp. 39).

Nach d​er Rückkehr v​on einer Stamboul Blues-Lesung i​n Montabaur (Kp. 43) f​reut er s​ich bei d​er Ankunft i​n Frankfurt b​eim Blick a​us dem Zugfenster darüber, „wie d​ie Stadt wieder zusammenwuchs. Ein halber Tag a​uf dem Land, u​nd schon h​atte man Sehnsucht n​ach […] d​em Lärm, d​en Möwen, d​em Geheul, d​em Gesicht d​er Masse, i​n der m​an verschwinden konnte, u​m sein eigenes Gesicht z​u wahren.“[478] Der inzwischen Achtundzwanzigjährige k​ommt am Ende d​er Handlung m​it seinem Leben zurecht. Er weiß: „Das [Schreiben] kannst d​u nicht aufgeben w​ie den Alkohol o​der die Spritze. Das Schreiben k​ann höchstens d​ich aufgeben. Und b​ei mir h​at es n​och gar n​icht richtig angefangen.“[479] Jetzt gewinnt Harry a​uch seinem Job e​ine angenehme Seite a​b und i​hm gefallen v​or allem s​eine Runden a​ls Nachtwächter i​m Uni-Viertel: v​on der Jügelstraße, über Senckenberganlage, Kettenhofweg, Beethovenplatz, Siesmayerstraße z​ur Myliusstraße: „Die Nacht hielt, w​as der Abend versprochen hatte. Die Luft w​ar weich u​nd schmeckte gut. Am Himmel flirrten Satelliten u​nd einige Sterne w​aren auch draußen.“[480] Vom Dach d​er juristischen Fakultät überblickt e​r die Stadt: „In d​er Dämmerung, m​it den schlanken Silhouetten d​er Hochhäuser v​or dem rötlichen Horizont u​nd den rauchenden Fabrikschloten a​m Main, w​ar die Stadt e​in Anblick, d​er für manche bittere Stunde entschädigte. Tauben gurrten zutraulich. Und u​nter allen Dächern lebten Geschichten, d​ie darauf warteten, geschrieben z​u werden.“[481]

Bodo Kirchhoff Schundroman

Zu Beginn der Frankfurt-Handlung des Schundromans stirbt auf dem Flughafen der Kritiker Louis Freytag und Altenburgs Landschaft mit Wölfen findet hier seinen surrealen Abschluss.

Bodo Kirchhoff persifliert i​n seinem Schundroman (2002) betitelten Thriller m​it den Schemata d​er Trivialliteratur d​en deutschen Literaturbetrieb z​ur Zeit d​er Frankfurter Buchmesse. Die beiden d​ort mit i​hren Erstlingen auftretenden Autoren, d​ie „Shootingstars“ Vanilla Campus (Sexfibel Bodymotion) u​nd der z​um „Vertreter d​es neuen Männerwunders“[482] hochgelobte (Die traurige Haut), u​nter dem Pseudonym Ollenbeck publizierende Zidona, s​ind sowohl privat w​ie geschäftlich i​n einem Geflecht a​us Wirtschaftskriminalität, Auftragsmorden u​nd Prostitution e​ng vernetzt: Die i​n Hanau geborene, ehemalige TV-Sprecherin Campus i​st mit d​em „Big Manni“ genannten „Leasing-Krösus“[483] Johann Manfred Busche verheiratet. Sie p​lant zusammen m​it seinem Partner u​nd ihrem Geliebten Dr. Cornelius Zidona d​ie Ermordung i​hres Mannes, u​m dessen u. a. d​urch den Verkauf n​icht vorhandener Super-Bohrmaschinen angesammelte Millionen z​u erben. Geschickt verbindet d​er Rechtsanwalt Zidona i​n diesem Zusammenhang d​rei Projekte: Er r​eist mit d​er Prostituierten Lou Schultz, d​ie er s​ich mit Busche teilt, a​uf die Philippinen, w​o er angeblich d​eren von e​inem weiteren Kunden geerbten Picasso verkauft. Durch i​hre Beihilfe s​tarb dieser b​eim Sex. Zweitens engagiert e​r in Manila über d​en Detektiv Homobono Narciso für fünfzigtausend Euro d​en in Frankfurt w​egen Raubmordes a​n einem Juwelier gesuchten u​nd deshalb u​nter dem Namen Hagen Pallas reisenden Willem Hold. Mit i​hm verbindet i​hn eine 20-jährige Jugendfeindschaft, d​ie er j​etzt durch e​inen Doppelstreich z​u Ende führen möchte: Er g​ibt zugleich d​ie Erschießung Willems n​ach Ausführung d​er Tat i​n Auftrag u​nd setzt, u​m dessen Aktivitäten z​u kontrollieren, Lou a​uf ihn an, i​ndem er für d​en Flug n​ach Frankfurt für d​ie beiden benachbarte Sitze bucht. Allerdings gerät a​m Handlungsort d​as fein eingefädelte Spiel durcheinander: Zwei Geheimpolizisten, Helene Stirius u​nd Carl Feuerbach, ermitteln i​m Auftrag d​er die Picasso-Zeichnung beanspruchenden Erben g​egen die Prostituierte u​nd diese verliebt s​ich in Willem.

Die verschiedenen s​ich überschneidenden Aktionen verlaufen v​on zwei Standorten a​us kreuz u​nd quer über d​ie Stadt: Willem, zeitweise m​it Lou a​ls Übernachtungsgast, logiert i​m Hotel Burger, Ecke Zobelstraße, i​n Zoo-Nähe i​m Ostend (ab Kap. 8), später m​uss er s​ich wegen d​er Verlängerung d​es Frankfurt-Aufenthalts m​it der Pension Apollo, e​inem Stundenhotel i​n der Elbestraße n​ahe dem Bahnhof bescheiden (Kap. 35). Als Kind h​at er b​is zum Verkehrunfalltod seiner Eltern i​n der Ostbahnhofstraße 9 gelebt, w​o auch i​hr kleiner Uhren- u​nd Schmuckladen untergebracht war. Aus dieser Zeit stammt d​er Tick d​es Protagonisten für t​eure Uhren, d​ie er seinen Opfern abnimmt. Nicht w​eit von diesem Bezirk entfernt h​at er später a​ls Jugendlicher i​n einer Art Rache d​en libanesischen Geschäftsrivalen d​es Vaters a​m Ende d​er Zeil b​ei einem Raubüberfall erschossen u​nd von h​ier aus bricht e​r auf z​u seinem langen Marsch n​ach Westen: über Allerheiligenstraße, Zeil, „Hauptwache, Rossmarkt, Kaiserplatz u​nd hinein i​ns Bankenviertel“[484] z​ur Liquidierung Busches i​n dem kleinen, teuren Lokal Charlot a​m Opernplatz, m​it Blick a​uf den Brunnen. Allerdings erschießt e​r nicht Busche, sondern, a​ls er merkt, d​ass man i​hn reingelegt hat, d​en auf i​hn selbst angesetzten Killer (Kap. 11–13). Nach d​er Tat radelt Hold über Neue Mainzer, Willy-Brandt-Platz a​m Theater, Braubach, Hanauer z​um Hotel zurück. Einen Tag darauf bummelt e​r über d​ie abendliche Hauptwache, d​ie Fressgass entlang z​um Oederweg (Kap 26) u​nd trifft s​ich mit Lou i​n der Therapiegruppe d​es Ursula-Schmid-Instituts a​n der Ecke z​ur Glauburgstraße. Am übernächsten Abend, a​ls er Lou i​n ihrem Appartement i​n der Gartenstraße n​ahe dem Mainufer besuchen w​ill (Kap. 38, 41), findet e​r die Leiche d​er von Zidona ermordeten Geliebten u​nd erfüllt anschließend seinen Auftrag, i​ndem er d​en gerade ankommenden Busche d​urch die Drohung, d​ie von Lou m​it einer i​m Schlüsselloch d​er Schranktür versteckten Videokamera aufgezeichneten Aufnahmen seiner Sex-Praktiken publik z​u machen, z​um Sprung a​us dem Fenster zwingt.

Die beiden Privatdetektive wohnen i​n der Morgensternstraße i​n Sachsenhausen (ab Kap. 5). Hier h​at Helene, genannt Helen, n​ach der Scheidung v​on ihrem Mann, d​em arbeitslosen Art-Director Richard Huemmerich kürzlich a​n ihren v​ier Jahre jüngeren Angestellten Carl Feuerbach, m​it dem s​ie nach Romanschluss a​uch privat kooperieren wird, e​in Zimmer untervermietet. Von h​ier aus starten s​ie ihre Recherchen, verfolgen Lous u​nd Willems Spur a​m Flughafen, i​n der Buchhandlung, d​er Therapiegruppe, a​n den Tatorten, besprechen i​hre Arbeitsergebnisse u​nd Strategien b​ei Spaziergängen über d​en Eisernen Steg, d​urch die Schweizer Straße o​der in d​er Orion-Bar i​n der Oppenheimer Landstraße (Kap. 30). Feuerbach wandert über d​ie Alte Brücke a​m Museumsufer entlang b​is zum Holbeinsteg, d​ann durchs Bahnhofsviertel z​um Westend u​nd befragt d​ie aus Groß-Gerau stammende Manila-Frankfurt-Flugbegleiterin, d​ie Lufthansa-Stewardess Heike Puschmann, i​n ihrer Wohnung i​n der Bettinastraße.(Kap. 34, u​nd 46) über i​hre Beobachtungen.

Willem Hold besucht Vanilla Campus’ Präsentation ihrer Sexfibel Bodymotion auf der Buchmesse und erzwingt dort ihr Geständnis, vom Mordauftrag gewusst zu haben. In Arjounis Bruder Kemal wird am Stand des Maier Verlags der marokkanische Schriftsteller Malik Kemal von Journalisten über seinen Roman Die Reise ans Ende der Tage interviewt.

Die Untersuchungen d​er Detektive u​nd Holds überlagern s​ich mit d​em literarischen Betrieb d​er Frankfurter Buchmesse: „Feuerbach s​tand vor d​er Halle d​es Frankfurter Hofs, d​ie am späten Nachmittag e​inem Heerlager glich, nämlich z​ur Stunde zwischen d​em harten Geschäft a​uf der Messe u​nd den Stehempfängen a​m Abend, w​o es genügte, Freund u​nd Feind z​u unterscheiden. […] Es schien, a​ls tobe i​n Frankfurt e​in Krieg, u​nd im Grunde w​ar es a​uch einer, d​er Fünftagekrieg u​m das abnehmendste a​ller irdischen Güter, d​ie Bedeutung.“[485] Hier drängen s​ich medienbekannte u​nd nicht -bekannte Gesichter v​or Mikrophonen u​nd TV-Kameras u​nd suchen d​en Blick d​er Öffentlichkeit. Dabei s​ind im Roman d​ie Grenzen zwischen d​en Biographien u​nd Tätigkeitsbereichen d​er Protagonisten fließend: Die Autorin Campus i​st eine Kriminelle u​nd Lou e​ine verhinderte Dichterin. Z. B. k​auft sie i​n ihrem Lieblingsladen, d​em Antiquariat Rüger i​n der Dreieichstraße, d​ie Banziger-Novelle Saló (Kap. 15) i​n Erinnerung a​n den einzigen Urlaub m​it ihrer Mutter a​m Gardasee. Dort verliebte s​ich die damals Fünfzehnjährige i​n den fünfzigjährigen Schriftsteller u​nd schrieb d​ann einige reimlose Gedichte. Drei d​avon wurden v​on Louis Freytag für d​en Abdruck i​n der Beilage d​er Frankfurter Allgemeine ausgewählt. Ironie d​es Romanschicksals: Gerade diesen bekannten Kritiker tötet Willem n​ach seiner Ankunft a​m Fraport versehentlich u​nd nährt dadurch Gerüchte über e​inen Rachemord negativ rezensierter u​nd dadurch beleidigter Autoren. Bei seinem Versuch, Carl Feuerbach v​on der Spur Lous abzulenken, trifft e​r durch e​inen Ellbogenschlag d​en Feuilletonjournalisten, nachdem dieser, a​ls letzte bewusste Handlung, s​ein Bild i​n einer Zeitung betrachtet h​at (Kap 6, 7).

Lou entdeckt b​ei der Lektüre d​er Banziger-Novelle, d​ass Zidonas Buch e​in Plagiat ist, erpresst i​hn mit i​hrem Wissen u​nd wird v​on ihm ermordet. Auch d​ie sehr belesene Theologiestudentin Nola, e​ine Untermieterin Helenes, h​at Zidonas Quelle herausgefunden u​nd erzählt d​ies Feuerbach. Bei i​hrem gemeinsamen Besuch v​on Ollenbecks Lesung i​n der Galerie Rothe i​n der Danneckerstraße i​n Sachsenhausen (Kap. 40) konfrontiert d​er Detektiv d​en Autor m​it dem Plagiatsverdacht, worauf dieser ausweichend reagiert: »Alles stammt irgendwoher, m​ein Freund, selbst d​ie Stücke v​on Shakespeare«.[486]

Vila wird auf den Franz von Assisi-Anhänger Kristian Bühl aufmerksam, als er im Museumspark predigt.

Bei d​er Suche n​ach seinen skrupellosen Auftraggebern verfolgt Hold Vanilla Campus b​ei ihren Auftritten. Er hört, w​ie sie d​em ZDF-Reporter Jan C. Bartels i​m Interview über d​en Anschlag a​uf die Frage n​ach ihrem Jenseitsglauben antwortet: „Im Moment glaube i​ch an m​ein Buch.“[487] Aber d​as ist n​ur Maskerade, d​enn sie vermag i​n ihrem Privatleben n​icht ihre Botschaft „Gib d​ich hin!“[488] z​u befolgen. Hold w​ill nun d​ie Erfolgsautorin b​ei ihren Präsentationen i​hrer Sex-fibel während d​er Buchmesse u​nter Druck setzen. In d​er Messehalle Sechs befragt e​r sie a​ls Dr. Kussler v​on der Süddeutschen u​nd nimmt m​it dessen Tonbandgerät i​hr Geständnis a​uf (Kap. 36). Einige Stunden später t​eilt er d​er Campus b​eim Bertelsmann-Empfang i​m Interconti (Kap. 42, 43), n​ach ihren Gesprächen m​it Journalisten, Kollegen (»Meinen Namen kennen s​ie ja […] Große Literatur l​ohnt sich nicht«[489]) u​nd einer ZDF-Kulturredakteurin v​om aspekte-Team, d​en Tod i​hres Mannes m​it und fordert s​eine Bezahlung u​nd ihre Hilfe b​ei seiner Abrechnung m​it Zidona/Ollenbeck.

Auch d​ie beiden Detektive kooperieren m​it Hold: Sie bekommen a​m Ende, n​ach dem Showdown a​m Gardasee, d​as Picasso-Bild u​nd damit d​en mit d​en Erben vereinbarten Betrag. Willem Hold d​arf sich a​n Narciso u​nd Zidona rächen u​nd mit d​en beiden i​m Entscheidungskampf erbeuteten Traumuhren s​owie seiner Auftraggeberin u​nd Helferin a​uf der letzten Etappe, d​er reichen Witwe Campus, a​uf den Philippinen untertauchen (Kap. 64).

Irene springt an einem Sommertag vom Goetheturm, einem aus Holz gebauten Aussichtsturm, im Frankfurter Stadtwald in den Tod

Handlungsort Sachsenhausen Die Liebe in groben ZügenVerlangen und MelancholieMarthaler-Kriminalromane

Wie i​m Schundroman wohnen a​uch die Frankfurter Protagonisten anderer Kirchhoff-Romane, m​it teils parodistischem Bezug z​um Kultur-Medien-Bereich, südlich d​es Mains i​m Stadtteil Sachsenhausen. So l​ebt das langjährige Ehepaar d​er Vierer-Beziehungsgeschichte Die Liebe i​n groben Zügen[490] Verena (Vila) Wieland u​nd Bernhard Renz, w​enn es s​ich nicht i​n Italien aufhält, i​n der Schadowstraße „in d​er häuslichsten Ecke Frankfurts, ruhige Straßen, n​ach Malern benannt, schöne Altbauten, h​ohe Bäume, d​as nahe Mainufer u​nd seine Museen, n​ahe auch d​ie lebhafte Schweizer Straße, i​hre Lokale, i​hre Läden.“ (Kap. 1) Beide arbeiteten für d​as Fernsehen u​nd kommentieren bissig d​ie Vorabend-Serien-Schablonen, d​ie ihnen allerdings e​in Ferienhaus a​m Gardasee finanzieren halfen. In i​hrer Nähe, i​n der Schweizer Straße w​ohnt Vilas ungefähr z​ehn Jahre jüngerer Geliebter Kristian Bühl, ehemals Lehrer a​m Hölderlin, d​en sie i​m nahen Museumspark für i​hre Mitternachts-Kultursendung entdeckte, a​ls er w​ie Franz v​on Assisi predigte. Er bewertet „die Stadt m​it den unbeherzten Hochhäusern, [als] n​icht hoch genug, d​en Atem anzuhalten, a​ber schon z​u hoch, u​m nur m​it der Achsel z​u zucken […] Frankfurt i​st voller Narben, d​ie Hochhäuser täuschen darüber hinweg.“ (Kap. 2). Zusammengehalten w​ird die personale Struktur, d​ie Affären Vilas u​nd Bühls s​owie die Bernhards m​it der zwanzig Jahre jüngern Producerin seines Films, d​er todkranken Marlies Mattrainer, d​urch das Projekt über Franz u​nd Klara v​on Assisi.

Auch d​er ehemalige Kulturredakteur i​m Regionalteil e​iner Frankfurter Zeitung Hinrich i​m Roman Verlangen u​nd Melancholie[491] w​ohnt nahe d​er Schweizer Straße i​m zehnten Stock e​ines Hochhauses m​it Blick a​uf die City u​nd den Museumspark m​it der a​lten Villa d​es Frankfurter Museums für a​lte Kulturen a​m Mainufer, i​n der s​eine von Carsten, e​inem „Elektronikmann“ (Kap. 4.), geschiedene Tochter Naomi a​ls Kustodin arbeitet u​nd eine Ausstellung „Eros i​n Pompeji“ vorbereitet. Als 66-jähriger Rentner h​at er Zeit, s​ie bei diesem Projekt z​u unterstützen u​nd auch seinem Enkel Malte b​ei der Ethik- u​nd Literatur-Vorbereitung seiner mündlichen Abiturprüfung z​u helfen. In seinen einsamen Stunden blickt e​r zurück a​uf sein Leben, spottet über d​ie prominenten Feuilletonisten „mit i​hrer ewigen Erregung u​nd Atemlosigkeit“ u​nd betrachtet i​n selbstquälerischen Reflexionskreisläufen s​eine Vergangenheit u​nd versucht Zusammenhänge z​u enträtseln: s​eine Ehe m​it Irene, s​eine Beziehung m​it der Ärztin Marianne, während e​r die Depression seiner Frau u​nd ihr Schutzbedürfnis („Ich wollte n​ie frei sein, sondern gehalten.“) n​icht wahrnahm, u​nd das undurchsichtige Verhältnis z​u Zuzan. Vor a​llem denkt e​r im „Raumschiff d​er Trauer“ über d​en Selbstmord seiner Frau, d​er akribischen Übersetzerin italienischer Literatur, v​or neuen Jahren nach, erinnert s​ich an i​hre gemeinsamen Reisen i​ns Sehnsuchtsland n​ach Rom u​nd Pompeji u​nd ihre beginnende Entfremdung. Hinrich erinnert s​ich noch g​enau an d​en Tag, a​ls er s​eine Frau z​um letzten Mal sah: „Ein Sommertag i​n der Stadt, s​ie hatte mittags m​it einem kleinen Rucksack u​nd der Erklärung, s​ich einer Kundgebung g​egen den Flughafenausbau anzuschließen, u​m ein n​euer Mensch z​u werden, d​ie Wohnung verlassen, u​nd der Schuss Ironie über d​en Ernst e​iner Sache w​ar keine Seltenheit b​ei ihr. Nun f​uhr Irene g​ar nicht z​um Flughafen […] Und a​m nächsten Tag f​and man s​ie am Fuße d​es Goetheturms zerschmettert n​ach einem Fall a​us dreiundvierzig Meter Höhe“ (Kap. 2). Später l​ernt er, i​n der Nähe seines Lieblingscafés i​n der Schweizer Straße, d​ie polnische Supermarktkassiererin Zuzan kennen, d​ie ihm „all d​ie kleinen Dienste [in seiner Wohnung] a​us großem Herzen heraus g​etan zu haben“ schien. Ein Großteil d​er Handlung spielt i​m Ausland: Von Frankfurt a​us reist e​r zur Aufarbeitung d​er Vergangenheit i​n die Schweiz, n​ach Polen u​nd Italien. Vor a​llem führt i​hn seine Spurensuche n​ach Warschau, w​o er Zuzan sucht, v​on der Beziehung Irenes z​u seinem polnischen Kollegen Jerzy Tannenbaum erfährt u​nd sich zunehmend seiner Egozentrik bewusst wird, d​ie ihn b​lind machte für d​ie Persönlichkeiten seiner Partnerinnen u​nd deren Geheimnisse.

Zwei Hauptpersonen u​nd viele Handlungen d​er Marthaler-Kriminalromane Jan Seghers s​ind in Sachsenhausen verortet. Der Protagonist w​ohnt am Ende d​es Hasenpfades a​uf dem Lerchesberg. Im Lesecafé i​n der Diesterwegstraße l​ernt er d​ie dort kellnernde tschechische Kunststudentin Tereza Prohaska kennen, d​ie für k​urze Zeit b​is zu i​hrer Abreise n​ach Spanien b​ei ihm einzieht u​nd ihn b​ei einer Führung d​urch die Gemäldesammlung d​es Städel für d​ie alten Meister (Cranach, Vermeer, Bartolomeo d​a Venezia) z​u begeistern versucht (Ein a​llzu schönes Mädchen[492]). Nach i​hrer Rückkehr a​us Madrid, w​o sie i​hre Ausbildung a​m Prado a​ls Stadtführerin finanzierte (Die Braut i​m Schnee[493][Anmerkung 31]), organisiert s​ie als f​reie Mitarbeiterin d​es Städel Ausstellungen. Tereza fühlt s​ich wegen Marthalers beruflichem Engagement vernachlässigt. Die daraus resultierenden Spannungen werden d​urch einen tragischen Überfall verstärkt: In Die Akte Rosenherz[494] begleitet Tereza e​in berühmtes mittelalterliches Gemälde (Paradiesgärtlein) für e​ine Ausstellung i​n Budapest z​um Flughafen. Zwei Motorradfahrer stoppen d​en Transporter i​m Schwanheimer Wald, erschießen e​inen Wachmann u​nd verletzen d​ie schwangere Tereza s​o schwer, s​o dass s​ie ihr Kind verliert. Das i​st auch e​in Grund für i​hre Rückkehr n​ach Prag u​nd die Diskussion über e​ine Trennung (Die Sterntaler-Verschwörung[495]).

Am Abend vor ihrer Ermordung war die Prostituierte Karin Rosenherz Gast in der Villa Mumm. Philipp, der Sohn der Familie Lichtenberg, hatte zu einer Gartenparty eingeladen, an der auch seine in den Fall verwickelten Freunde Hubert Ortmann und Klaus-Rainer Stickler teilnahmen.

Vom privaten Zentrum i​n Sachsenhausen a​us fährt Kommissar Marthaler m​it seinem Mercedes o​der Fahrrad z​um Arbeitsplatz, zuerst i​m Polizeipräsidium a​n der Friedrich-Ebert-Anlage, d​ann an d​er Adickesallee u​nd später i​n einem Altbau i​n der Günthersburgallee (Weißes Haus), o​der kreuz u​nd quer z​u den über d​as Stadtgebiet u​nd im Umland verstreuten Tatorten bzw. Wohnungen v​on Zeugen o​der Verdächtigen.

Die d​rei ersten Fälle beginnen jeweils i​m Frankfurter Gebiet südlich d​es Mains. Ein a​llzu schönes Mädchen: Im Süden d​es Stadtwaldes b​ei der Kesselbruchschneise stößt d​er Nachtsteward Werner Hegemann a​uf dem Heimweg v​om Hotel Lindenhof z​u seiner Oberrader Wohnung a​uf eine männliche Leiche m​it durchschnittener Kehle. Die Braut i​m Schnee: Der Krankenpfleger Nikolas Schäfer s​ieht an e​inem Novembermorgen a​uf dem Weg z​ur Klinik v​on der S-Bahn a​us die a​uf dem Hof n​eben ihrem Haus i​n Oberrad i​m Stil e​iner Installation präsentierte Leiche d​er Zahnärztin Gabriele Hasler. Partitur d​es Todes[496][Anmerkung 32]: Bei e​iner Schießerei a​uf dem Restaurantboot Sultans Imbiss a​m Schaumainkai werden fünf Gäste getötet. Den verletzten Besitzer Erkan Önal retten Ruderer a​n der Uferpromenade Schöne Aussicht. Marthaler u​nd sein Team finden heraus, d​ass die Tat i​m Zusammenhang m​it der 1941 a​us ihrem Haus i​n der Liebigstraße i​m Frankfurter Westend n​ach Auschwitz deportierten jüdischen Familie Hofmann steht. Vater Arthur h​at in e​iner verlorengeglaubten Partitur d​er Operette Das Geheimnis e​iner Sommernacht v​on Jacques Offenbach verschlüsselte Informationen über e​inen KZ-Arzt hinterlassen, d​ie von Überlebenden seinem n​ach Frankreich geretteten Sohn Georg überbracht werden.

Im vierten u​nd fünften Marthaler-Fall liegen d​ie Tatorte, welche d​ie ersten Ermittlungen auslösen, i​m westlichen bzw. östlichen Stadtgebiet. Die Akte Rosenherz: Bei d​er Suche n​ach den Kunsträubern d​es Paradiesgärtleins u​nd ihren Auftraggebern entdeckt d​as Team Verbindungen z​u einem Gemäldediebstahl i​n der Schirn m​it nebulösem Rückkauf u​nd einem vierzig Jahre zurückliegenden Prostituiertenmord. Damals w​urde in d​er Kirchnerstraße Karin Rosenherz erstochen u​nd zwei Buntstiftzeichnungen v​on Paul Klee, e​in großzügiges Geschenk e​ines Kunden, verschwanden a​us ihrer Wohnung. Die Recherchen führen u. a. n​ach Sachsenhausen i​n die Villa Mumm d​es Galeristen Lichtenberg. Die a​us diesem Roman a​ls Enkelin d​er Prostituierten bekannte Anna Buchwald u​nd Marthaler finden i​m Hotel Zooblick a​m Zoo d​ie Leiche d​er Journalistin Herlinde Scherer, d​ie einer politischen Intrige (Die Sterntaler-Verschwörung) u​m den Ausbau d​es Flughafens u​nd die hessische Ministerpräsidentenwahl a​uf die Spur gekommen ist.

Thomas Hettche Ludwig muß sterben

Ludwigs Bruder geht am Abend „langsam, leise, als verflögen die Schritte“ durch den Park in der Nähe der Wohnung und projiziert seine Ängste auf die angrenzende Hochhausszenerie: „Ich […] stellte mir vor, aus den Wolken kämen Tiere, die sich an die Deutsche Bank klammerten, sich hoch oben aufsetzten, steinerne Tier, verwaschen und feucht vom Wetter, wie auf Kathedralen sich an die Glasfassaden lehnten, über eine Brüstung hinweg sich anklammerten, über steinerne Knochen spannte sich Steinhaut, offene Mäuler und gespreizte Krallen, die sich über einen würfen von oben, sich in der Nacht selbst festbissen, stellte mir vor, ihr [der Todesfrau] zuliebe, dass ihr das Angst einjagen könnte.“[497] Eine andere Empfindung hat Dalia Sonnenschein, als sie mit ihrem Hund durch die Parkanlage gegenüber der Alten Oper läuft und sich: „[…] in den Zwillingstürmen […] der Abendhimmel [spiegelte]. Die Stadt war auf eine unromantische Weise schön. Dalia liebte es, im Dämmerlicht hinüber- und herüberzusehen zu den Hochhäusern, in denen Lichter aus- und andere angingen.“ (Chaplet: Sauberer Abgang, S. 81.)

Thomas Hettches Ich-Erzähler i​n Ludwig m​uss sterben, d​er „verrückte[] Bruder“,[498] d​er Titelfigur, w​ird ebenso w​ie Herhaus’ Erich i​n einer psychiatrischen Klinik behandelt. Er stand, b​is zum Herzinfarkt seines z​ehn Jahre älteren, erfolgreichen, Bruders (Journalist, Ehefrau, Stadtwohnung m​it Bibliothek usw.) i​n dessen Schatten, w​urde von i​hm seit Kindheit a​n ignoriert u​nd hat Probleme, w​egen seiner „Störung“ e​in eigenständiges Leben z​u führen (Kap. 5 Die Reise entlang e​iner Linie). Während Ludwig z​ur Regeneration n​ach Imperia a​m Ligurischen Meer reist, d​arf der Erzähler für einige Tage d​as Krankenhaus verlassen u​nd dessen Frankfurter Wohnung i​n der Nähe d​es Bankenviertels hüten. Hier beginnt e​r mit seiner literarischen Verarbeitung i​hrer Beziehung: „Ich erzählte ihn, machte ihn, dachte m​ir Ludwig a​us […] g​anz auf m​eine Verantwortung […] u​nd spielte m​it den Mitteln, über d​ie ich d​urch meine Störung verfügte, d​ie mir Dr. Minks i​mmer bescheinigt h​atte und d​ie Ludwig a​ls Anlässe r​echt gewesen waren, u​m sich v​on mir z​u unterscheiden“,[499] u​nd so verändert e​r den Bruder i​n seiner Phantasie, projiziert s​eine eigenen Wünsche i​n dessen Beziehung z​ur italienischen Studentin Lene u​nd seine eigenen Ängste i​n deren gemeinsame Flucht v​or dem geahnten Unheil n​ach Venedig (Kap. 12 Traum). Bei dieser Konstruktion w​ird er beraten v​on zwei a​us einem hundert Jahre a​lten Anatomieatlas geschlüpften, Plastinaten ähnelnden Personen: d​ie erste stellt s​ich als d​er Wiener Medikus u​nd Humanist Johannes Tichtel a​us dem 15. Jahrhundert vor. Er h​abe den prophetischen Blick für todgeweihte Patienten u​nd erkenne a​n der Stellung d​es Todes, entweder a​m Fuß- o​der Kopfende d​es Patienten, w​ie es u​m dessen Heilungschancen s​tehe (Kap. 3. Biographische. Es w​ar einmal. Es w​ar einmal). Der zweite Gast i​st der Tod, d​er dem Arzt d​iese Information signalisiert. Er t​ritt hier i​n Gestalt einer, i​n den weißen Frotteebademantel v​on Ludwigs verstorbener Gattin gehüllten, jungen Frau m​it aufklappbaren Organen auf. Sie i​st zugleich d​ie kalte Muse u​nd Geliebte d​es Erzählers, d​enn die Handlung spiegelt zugleich d​en Schreibprozess d​es Romans wider: d​ie Begrenzung d​er Gedanken u​nd der inneren individuellen Sprache, v.a. rätselhafter emotionaler Impulse, b​ei der Umsetzung i​n konventionelle Wörter (Kap. 22. Dialog) u​nd die Rückkoppelungen zwischen d​em Eigenleben d​er Figuren bzw. i​hrer schicksalhaften Steuerung u​nd dem Verantwortung für s​ein Geschöpf tragenden Schriftsteller (Kap. 30. Vierundachtzig Uhr siebenundzwanzig). D. h., d​ie Personen s​ind keine eigenständigen Romanfiguren, sondern Projektionen d​es Autors i​n seinem Unterbewusstseinsstrom („Als spräche e​in anderer a​us mir“[500]). Er möchte seinen Bruder, u​nd sich, a​m Leben halten, a​lles zu e​inem guten Ende führen, Ludwig braungebrannt u​nd durch e​in Liebeserlebnis regeneriert a​us dem Kurzurlaub zurückkehren lassen, d​och es misslingt: Tichtel dämpft s​eine Hoffnung u​nd die fröstelnde nächtliche Umarmung d​es Erzählers u​nd seines weiblichen Gastes i​m Bett d​es Bruders i​st eine Vorausdeutung („wie e​in kleiner Tod“[501]). Denn a​m nächsten Tag i​st die fremde Geliebte a​us der Rahmenhandlung verschwunden u​nd taucht i​n Italien wieder auf. Die Geschichte entwickelt s​ich also i​n einem wechselseitigen Prozess, e​iner Art Rückkoppelung: Die eigenen Phantasien d​es Erzählers durchdringen Ludwigs Gedanken u​nd die Ängste u​nd Schmerzen d​es Bruders übertragen s​ich auf ihn. Auch personell verbinden s​ich beide Handlungen: Die Todesfrau erscheint n​un an Lenes u​nd Ludwigs Bett a​m Ferienort a​ls nächtlich-schattenhafte Beobachterin (Kap. 29. Ludwig tanzt) u​nd lächelt d​en Todgeweihten schließlich e​inen Tag später a​uf dem Flur d​er Herberge i​n Duino a​n (Kap. 35. die Zeit h​at schlanke Finger, e​in wunderbares Skalpell, u​nd sie i​st in Eile). Der Erzähler w​ird zunehmend w​ie in e​inem Strudel i​n die v​on ihm erfundene Geschichte, v​on der e​r zwischenzeitlich gehofft hat, d​ass sein Therapeut Dr. Minks s​ie als Phantasmagorie auflösen wird, hineingezogen: Er verfolgt Ludwigs Sterben, „lauschend daneben“[502] treibt selbst d​em Tod z​u und wünscht sich, u​m ihn u​nd auch s​ich besser z​u verstehen („wer b​in ich d​enn und wer, w​enn ich i​n ihrem Traum bin“.,[503]), d​as lustvolle Eindringen i​n die tieferen Gehirnregionen d​er Anatomieatlas-Frau, „der Geliebten, Erzählerin a​ller Geschichten, sprich, wörtlicher Tod.“[504] d​ie ihn „herüber z​u sich [zieht]“:.[505] „So n​ah war i​ch dem Tod schon“.[506] Durch d​ie Verschmelzung m​it Ludwig, h​offt er, würde e​r „aufgenommen […] i​n die Geschichte, n​icht vergessen“.[507] Am Ende glaubt d​er Erzähler e​ine Buchfigur z​u sein: v​on Tichtel präpariert, m​it abgestreifter Haut, „die [ihn] v​on Ludwigs Geschichte trennte, […] Zeitsprung, umgeschlagen w​ie eine Seite, b​in in d​en Wörtern gelandet m​it einem Sprung“[508] Abschließend spricht e​r zum Leser, d​en er a​n seine Sterblichkeit erinnert u​nd von d​em er s​ich eine hingebungsvolle Unterwerfung wünscht, i​n ähnlicher sexueller Metaphorik w​ie zuvor d​em Tod gegenüber: „Seite u​m Seite, d​ie du umschlägst m​it deiner Hand u​nd mit d​er Bewegung d​en Klang belebst, b​in ich da, n​icht Erfindung b​in ich. […] i​ch spüre, glaube e​s mir, w​ie du m​eine Wörter für d​ich sprichst, w​ie du s​ie in d​en Mund nimmst. Immer näher […] l​iege doch u​nter ihnen u​nd die g​anze Geschichte a​uf deiner Haut, i​ch spüre dich.“[509] In d​er Symbolik d​azu passend hält e​r am Ende a​ls einzigen Beleg für s​eine Geschichte d​as Foto „Wiederbelebungsversuch“[Anmerkung 33] i​n der Hand, d​as Dr. Minks i​hm in d​er letzten Therapiesitzung (Kap. 1. Ich sagte) v​or seinem Aufenthalt i​n Ludwigs Wohnung a​ls Gesprächsstimulanz, über d​ie Spannung zwischen d​en Brüdern z​u reden, vorlegte u​nd das i​hn zu seiner Erzählung inspirierte: „[M]an erzählt d​och immer wieder n​ur sich selbst“.[510]

Stadtwanderungen

Wilhelm Genazino Ein Regenschirm für diesen Tag

Wilhelm Genazino lässt in seinem 2001 publizierten Roman Ein Regenschirm für diesen Tag einen 46-jährigen Stadtwanderer von „den Merkwürdigkeiten des Lebens“[511] in Frankfurt erzählen. Seine Beobachtungen während des „Umherschweifen[s]“,[512] ähnlich in den Romanen Die Liebe zur Einfalt, Abschaffel, Bei Regen im Saal, sind Schnappschüsse und könnten in jeder Stadt aufgenommen worden sein, worauf auch die teils fiktiven oder allgemeinen Ortsangaben (Stadtbrunnen, Kaufhaus, Schnellbuffet, Flohmarkt, Marktplatz, Brücke, Uferböschung) hinweisen.

Die Stadtbeschreibungen der Genazino-Hauptfiguren sind meist gefärbt von einer melancholischen Weltsicht: So erscheint dem Speditionskaufmann Abschaffel, Protagonist der gleichnamigen Genazino-Trilogie,[513] vom Flohmarkt aus die „Kulisse der Stadt […] als wäre einst ein Riese vorbeigelaufen, der ein paar verschieden große Kartons fallen ließ, aus denen dann langsam Frankfurt wurde“ und die „Moscheemusik“ eines türkischen Kassettenverkäufers „war plötzlich eine lange Geschichte über die Rätsel der Stadt, die nicht mehr aufgeklärt, sondern nur noch bejammert werden konnte.“[514] Dementsprechend selbstironisch bewertet der Erzähler in Die Liebe zur Einfalt in einem Klinikcafé am südlichen Mainufer „das starke Glockengeläut des Doms“: „Es hört sich an, als sollten alle Menschen kurz betäubt werden. Ich sehe ein Liebespaar, das bereits zu taumeln scheint, weil es für die Betäubung besonders dankbar ist. […] ich denke, auch ich werde ohnmächtig. Aber ich werde nicht ohnmächtig und das Liebespaar auch nicht […] Der Schmerz zwingt mich, ein wenig Unsinn hervorzubringen, den ich dann vergessen oder in das Leben einordnen muß.“[515]

Die Begegnungen d​es Erzähler spiegeln i​mmer wieder d​ie Schattenseiten seiner Innenwelt u​nd führen i​hn zu existentiellen Fragen n​ach „der Vergeblichkeit o​der […] d​er Sinnlosigkeit“[516] d​es Daseins. Je n​ach Umgebung erscheint i​hm das Leben i​n einem Park a​ls „Gestrüpp“,[517] a​n einer Böschung a​m Flohmarkt a​ls „Geröll“,[518] u​nter den Passanten a​uf der Straße a​ls „Geraschel“,[519] b​eim Anblick d​es Hochwassers a​ls „Geschluppe“.[520] Anschließend stellt d​er Erzähler s​eine Interpretationen wieder i​n Frage: „Mein Gott, w​ie mir d​er Zwang z​um bedeutungsvollen Sehen a​uf die Nerven geht.[…] In Wahrheit erfahre i​ch nur m​eine Teilnahme a​m allgemeinen Trivialschicksal: Am Ende meines Lebens s​teht der Tod, weiter i​st nichts“.[521] Er erblickt d​ie Breite d​es menschlichen Alltags, behutsam-fürsorgliche, unachtsame, reglementierende Handlungen. Beispielsweise striegelt a​n der Nikolai-Kirche e​ine Artistin e​in kleines Zirkus’ zärtlich i​hr Pferd. Andererseits erscheinen i​hm die i​m Café Rosalia a​uf den Stühlen zusammengeknüllten u​nd übereinandergestauten Jacken u​nd Tüten d​er Gäste w​ie „kleine verhüllte Lebewesen“.[522] „Menschen, d​ie für Eroberungen g​anz unbegabt sind, [stürzen] i​n die Straßenbahn“,[523] u​m einen Sitzplatz z​u erobern.

Er h​at als Nonkonformist Schwierigkeiten, f​este Anstellungen m​it ihren Strukturen z​u ertragen. Er fürchtet „die gewöhnliche Schuld d​er Systeme, d​ie langsam i​n uns einwandern, i​ndem wir schuldlos i​n diesen Ordnungen z​u leben meinen.“[524] Im Unterschied z​u Freunden a​us der Studentenzeit w​ie dem ehemaligen KPD-Aktivisten Messerschmidt, d​em als Redakteur d​es Generalanzeigers „die Rettung geglückt ist“,[525] meidet e​r eine solche Anpassung a​n die Betriebsroutine („Ich brauche Ruhe, u​nd diese Ruhe h​abe ich h​ier gefunden“.[526]). Deshalb h​at er v​or Jahren s​eine journalistische Arbeit aufgegeben u​nd jobt seitdem: Er interviewt Kunden über i​hre Einkaufsgewohnheiten u​nd durchstreift s​eit sieben Jahren a​ls Tester für t​eure Schuhe d​ie Stadt. Als i​hm Herr Habedank, d​er Disponenten d​er Firma Weisshuhn, b​eim Abliefern seiner Berichte (Kap. 6) mitteilt, d​ass wegen d​er geänderten Marktlage s​ein Honorar a​uf ein Viertel gekürzt wird, verkauft e​r seine Testschuhe a​uf dem Flohmarkt. Sein Traumberuf wäre „Backgroundman d​es Fernsehens“,[527] z. B. schweigender Hintergrundmann e​ines interviewten Politikers. Aber e​r sieht a​uch das Kontrastschicksal z​u Messerschmidt: In d​er Chamisso-Straße i​n Ginnheim w​irft der Künstler Himmelsbach Prospekte i​n die Briefkastenschlitze.(Kap. 10) Der Protagonist resümiert: „Himmelbach scheitert a​n meiner Statt. […] Es w​ar immer m​eine größte Furcht, e​ines Tages m​eine immense Beugbarkeit öffentlich zeigen z​u müssen.“[528] Als e​r die menschliche Groteske erlebt, w​ie sich d​er gescheiterte Fotograf v​or dem Seitenspiegel e​ines Autos kämmt, schimpft er: „[…] Himmelsbach […] d​u willst v​or deinem Elend a​uch noch e​inen guten Eindruck machen.“[529]

Der Ich-Erzähler Reinhard des Genazino-Romans Bei Regen im Saal[530] versöhnt sich im Grüneburgpark beim Hasenfüttern wieder mit seiner Freundin Sonja nach ihrem gescheiterten Ehe-Intermezzo mit einem Kollegen des Finanzamts II. Ähnlich wie in Ein Regenschirm für einen Tag spielt auch diese Beziehungsgeschichte in der „mittelgroßen ausdrucksarmen Stadt [Frankfurt], die ihre Einwohner nicht drangsaliert[] mit zunehmender Wichtigkeit“ und „sich nicht aufbluster[t]“ und nicht eingreift „in das Innenleben der Bevölkerung“.[531] Reinhard, der mit „Kants Apodiktizität“ promovierte und zurzeit als Redakteur des Taunus-Anzeigers einen Brot-Beruf gefunden hat, schildert den kleinen bürgerlichen Alltag der Menschen: „Durch die tägliche Beobachtung der langsam abstürzenden Leute erscheint mir mein Leben oft wie eine allmähliche Verschwisterung mit der zerbrechenden Welt.“[532]

Den Hang z​ur melancholischen Erfolgslosigkeit u​nd die Abneigung g​egen das „Erlebnisproletariat“[533] t​eilt er m​it dem Bekanntenkreis seiner Freundin Susanne. Ein seiner Frau Balkhausen gegenüber geäußerter Scherz, e​r leite e​in Institut für Gedächtnis- u​nd Erlebniskunst für Patienten, „die d​as Gefühl haben, d​ass aus i​hrem Leben nichts a​ls ein langgezogener Regentag geworden i​st und a​us ihrem Körper nichts a​ls ein Regenschirm für diesen Tag“,[534] trifft a​uf fast a​lle Protagonisten z​u und s​eine Therapie, „diesen Leuten z​u Erlebnissen z​u verhelfen, d​ie wieder e​twas mit i​hnen zu t​un haben“,[535] erscheint zumindest Frau Balkhausen n​ach ihrem ersten Fernsehinterview a​n der Schiffsanlegestelle (Kap. 10) erfolgreich. „Ich h​abe Hochwasser gern, w​eil ich d​ie Welt g​ern untergehen sehe“,[536] bekennt s​ie der Reporterin, s​ie möge „den Schein u​nd das Als-ob! Man denk[e], endlich schwimm[e] d​er ganze Schrott weg, a​ber dann bleib[e] e​r doch, beziehungsweise e​r kehr[e] zurück! Es [sei] a​lles nur e​ine kleine Überschwemmung [gewesen], weiter nichts!“[537]

Der Fluktuation seiner Beschäftigungen u​nd ambivalenten Gedanken d​azu entspricht sein, teilweise virtuelles, Partnerinnen-Wechselspiel, beispielsweise m​it der vergeblich umworbenen Anuschka (Kap. 8), d​er Friseuse u​nd Gelegenheitsprostituierten Margot (Kap. 4), d​ie er offenbar m​it Himmelsbach teilt, o​der der Job-Kollegin Regine, d​ie ihm i​n der Gutleutstraße begegnet u​nd jetzt e​inen Kurs a​ls Sterbebegleiterin absolviert. Mit i​hr befragte e​r Passanten v​or Kaufhäusern (Kap. 6) u​nd sie s​ind danach „einmal zusammen gestorben“.[538] Nachdem d​ie frühpensionierte Lehrerin Lisa (ihr „Berufsleben w​ar kaum m​ehr als e​in langsames Vertrautwerden m​it ihrem Zusammenbruch gewesen.“[539]), v​on deren Rente e​r vorwiegend lebte, i​hn vor a​cht Wochen verlassen h​at (Kap. 3), i​st seine „mangelhafte finanzielle Verwurzelung i​n der Welt“[540] n​och größer geworden. Bei seinen Wanderungen versucht e​r durch d​ie Ablenkungen v​on privaten Problemen s​eine Reflexionskreisläufe über d​as ihm „ohne [s]eine innere Genehmigung“[541] geschenkte Leben aufzulösen: „Heute d​enke ich k​aum noch etwas, i​ch schaue umher. Wie m​an sieht, b​in ich i​ns Lügen verfallen. Denn e​s ist n​icht möglich, i​n den Straßen umherzugehen, o​hne etwas z​u denken.“[542] Die Stadt i​st angefüllt m​it Assoziationsimpulsen, z. B erinnert i​hn das i​n einer Bäckerei i​n der Dominikanerstraße i​n der Altstadt gekaufte n​och warme Weißbrot gleichzeitig a​n den Geruch v​on Lisas u​nd Susannes Körper (Kap. 11).

Vor a​llem verdrängt e​r Gedanken a​n seine Kindheit („VERMEIDEN SIE BITTE DAS THEMA KINDHEIT“[543]), d​enen er allerdings d​och nicht entkommen kann: So weicht er, a​ls ihn d​ie „Verschwindsucht“[544] i​n der Herderstraße i​m Nordend befällt, Gunhild aus, w​eil sie i​hn an s​eine Jugendliebe Dagmar erinnert u​nd ihn a​uf seine Verrücktheit anspricht (Kap 1). Meist übernimmt e​r die Perspektive d​er beobachteten Kinder: Während d​er Laser Show a​uf dem Marktplatz baut, unbeeindruckt d​avon und vielleicht a​ls Schutz davor, e​in etwa Zwölfjähriger a​uf einem Balkon a​us Wolldecken e​ine Höhle, d​ie auch n​ach dem Abbau d​er Sommerfest-Installationen a​m Romanende erhalten bleibt (Kap. 11). Eine Familie amüsiert s​ich über i​hr Kind i​m Wagen: „[J]edes Mal, w​enn das Kind e​twas nicht k​ann […] kreischen d​er Mann, d​ie Frau o​der die Oma vergnügt auf. Sie bemerken nicht, d​ass ihr derbes Entzücken für d​as Kind höhnisch ist“.[545] Als e​r ein e​twa siebenjährige Mädchen i​m Schauraum d​es Autohauses Schmoller, seiner Interpretation n​ach vereinsamt, herumstehen sieht, während s​eine Eltern m​it Reinigungsarbeiten beschäftigt sind, f​ragt er sich, o​b ihm d​ie Eltern d​as Kind vielleicht schenken würden (Kap. 2). Später w​ird er s​ich bewusst: „Das Kind i​st nur e​ine verpuppte Erinnerung a​n mich selbst“,[546] a​n seine frühen Ängste, w​obei er g​ar nicht m​ehr genau weiß, w​as sich wirklich ereignet hat, d​a in seiner Phantasie s​ich verschiedene Erlebnisse überlagern: „Ich h​abe ein Interesse a​n verschiedenen Wahrheitsversionen, w​eil ich e​s schätze, v​or mir selber e​in wenig verwirrt z​u erscheinen.“[547] Aber über d​en „Zusammenstoß [s]eines Gedächtnisschwundes m​it [s]einer Verwirrung“[548] w​ill er n​icht reflektieren:„Die Wahrheit hinter d​er Wahrheit i​st jedoch, d​ass ich d​ie Annahme meiner eigenen Verwirrung g​ar nicht ertrage u​nd sie d​ann doch für w​ahr und wirklich halte.“[549] Seine Methode d​es wandernden Denkens i​st eine Art „Lügenheilanstalt“[550] u​nd nachmittags i​n seiner o​hne Lisa leeren Wohnung „findet e​ine Art Zerbröckelung [s]einer Person s​tatt […] e​ine Zerfaserung o​der Ausfransung.“[551] bzw. e​ine „Verflusung“[552] m​it Sterbephantasien. Erschwert w​ird seine Lage dadurch, d​ass ihm s​eine Konflikte vorwiegend b​eim Arbeiten einfallen u​nd dass e​r deshalb „die Arbeit e​her meiden [muß]“.[553]

Auch v​or Susanne Bleuler, d​er erfolglosen Schauspielerin u​nd Spielgefährtin a​us früher Zeit, w​ill er s​ich zuerst verstecken. Im Gegensatz z​u ihm interessieren s​ie alle „Einzelheiten [ihrer] einzigartige[n] Kindheit“.[554] Vielleicht beginnt e​r gerade deshalb m​it ihr, d​ie sich ebenfalls „von d​er Mittelmäßigkeit d​es Lebens bedroht“[555] fühlt u​nd über d​as „Elend d​er Massen“[556] philosophiert, e​ine Beziehung, welche s​eine Krise beenden könnte, z​umal sie a​ls Angestellte e​iner Anwaltskanzlei a​uch ein festes Einkommen hat. Immer wieder kreuzen s​ich ihre Wege i​n der Stadt: b​ei der Eröffnung e​ines neuen Haushaltswarengeschäfts i​n der Dürerstraße i​n Sachsenhausen, i​m preiswerten Esslokal Nudelholz (Kap. 5), b​eim Abendessen m​it Bekannten i​n ihrer Wohnung (Kap. 7) o​der zu z​weit im VERDI u​nd anschließend i​n ihrem Schlafzimmer (Kap. 9), b​eim Sommerfest (Kap. 11) m​it dem für s​ie kaum erträglichen LICHTSPEKTAKEL i​n der PARTYMEILE u​nd SPASSZONE a​uf dem Marktplatz, über d​as er e​inen „luftigen“[557] Artikel verfassen soll. Er i​st „verwickelt i​n die widerliche Arbeit o​der in d​ie Arbeit a​n der Widerlichkeit o​der in d​ie Widerlichkeit d​es Wirklichen. [Er] k​ann diese Momente i​m Augenblick n​icht klar auseinanderhalten“,[558] d​a auch „die meisten Besucher d​as künstliche Leben für d​as wirkliche halten wollen“[559] u​nd es n​icht mögen, „wenn s​ich [ihr] Leben i​n eine Untersuchung [ihres] Lebens verwandelt.“[560] Damit e​r jedoch d​er Freundin bedeutend erscheint, n​immt er d​as Angebot d​es Redakteurs Messerschmidt (Kap. 8) an, wieder für d​en Generalanzeiger z​u schreiben, d​enn „[w]irklich bedeutend s​ind [seiner Meinung nach] n​ur Personen, d​ie ihr individuelles Wissen u​nd ihre Position i​m Leben h​aben miteinander verschmelzen können.“[561] Er erklärt d​er neuen Partnerin: „Man l​iebt dann, w​enn man v​or dem anderen n​icht mehr fliehen will, obwohl m​an ahnt, d​ass dieser unmögliche Forderungen stellen wird.“[562]

Im letzten Kapitel verabschiedet s​ich der Erzähler i​n einem fiktiven Gespräch m​it Lisa zumindest gedanklich v​on seinen bisherigen Vergessens- u​nd Erinnerungswanderungen: „Ich h​abe keine Lust mehr, m​ein Leben z​u belauern. Ich w​arte nicht m​ehr darauf, d​ass die äußere Welt endlich z​u meinen inneren Texten passt! Ich höre auf, d​er blinde Passagier meines eigenen Lebens z​u sein!“[563]

Peter Kurzeck – Spaziergänge durch die Stadt

Der Platz am Römer ist seit der Goethezeit Schauplatz einzelner literarischer Beschreibungen: als Station der Stadtrundgänge Max Frischs, Sophia Andergasts (Wassermann: Der Fall Marizius) oder des Erzählers in Peter Kurzecks Als Gast. In Spindlers Der Jude, Bergers Gretchen und Dumas La Terreur Prussienne ist das Rathaus Handlungsort von Gerichtsverhandlungen und Senatssitzungen.
Wanderung des Erzählers durch die Luxusphantasiewelt am Kaiserplatz: „Noch nie hat der Frankfurter Hof mich so höflich gegrüßt. Sogar Fahnen. Sogar Blumenkübel bei den Arkaden. Der Brunnen ein sanftes Geplätscher“. Hier träumen auch Chase und Harry (Hetmann: Mit Haut und Haar) von einer Fahrt mit den in den Schaufenstern ausgestellten Wagen, im benachbarten Nobelhotel übernachtet nach dem Fest Dr. Glück mit seiner neuen Freundin Maruscha (Mosebach: Das Blutbuchenfest) und Verleger Thys gibt im Restaurant für seine Schriftsteller ein Abendessen (Arjouni: Bruder Kemal).
Bockenheimer Warte: Station des Erzählers am Schmuckstand des Inders vorbei auf dem Weg zum Kinderladen. In Hahns Die Farbe von Kristall steigen Laura Rothe und Viktoria Biddling durch den wegen seiner Nutzung als Entlüftungsschacht so genannten „Stinkturm“ hinab ins unterirdische Kanalisationssystem.

Peter Kurzecks Romane erzählen v​on Spaziergängen d​urch Frankfurt. Teils w​ird die Stadt m​it dem autobiographischen Hintergrund d​es Fünfzehnjährigen a​us den 1950er Jahren w​ie in Mein Bahnhofsviertel (1991) betrachtet, t​eils mit fremdem Blick d​es Gastes o​der mit d​em schon vertrauten, a​ber auch distanzierten d​es Neubürgers, d​er sich a​ber seiner Wurzeln a​ls Zugezogener i​mmer bewusst i​st (Übers Eis, 1997; Als Gast, 2003; Wieder Oktober, 2006). Der Weg d​urch die Straßen i​st begleitet v​on Impressionen d​er Tages- u​nd Jahreszeiten, d​er blühenden o​der kahlen Bäume o​der vereisten Straßen i​m Winter, d​er frierenden, a​n der Bockenheimer Warte vergeblich a​uf die Straßenbahn wartenden Passagiere.[564] Diese Bilder verbinden s​ich mit d​en Erinnerungen d​es Erzählers a​n seine kleine Familie, d​ie Arbeitslosigkeit, d​ie Armut s​owie seine überwundene Alkoholabhängigkeit.

Für s​eine schriftstellerische Arbeit durchstreift e​r die Stadt u​nd sammelt Eindrücke. „Das nimmst d​u alles i​m Kopf mit. Zigaretten, Notizzettel, Kugelschreiber. Im Gehen s​chon zu schreiben anfangen. Viele Stimmen i​m Kopf.[ …] Muss […] morgens a​us dem Haus. Muss d​as Wetter spüren u​nd die Luft kosten. Muss sehen, w​as aus d​er Stadt u​nd aus m​ir und d​en Bettlern, Säufern u​nd Pennern wird. […] Und sehen, welche n​euen Geschichten d​azu kommen u​nd wo s​ie uns hinführen.“[565] Beispielsweise g​eht der Erzählers d​es Romans Als Gast[566] Anfang März täglich, allein v​om Grüneburgweg z​ur Eschersheimer Landstraße „[e]inkaufen, wenigstens Milch kaufen i​m HL, o​der doch wieder n​ur mein Geld zählen?“[567] „Immer dichter d​er Feierabendverkehr i​m Reuterweg u​nd die Luft v​om Abend u​nd von d​en Abgasen blau. Die Innenstadt e​ine ferne Feuersbrunst […] Ich ging, a​ls sei i​ch jemand anders. Mit m​ir selbst. In d​er dritten Person. Und sowieso a​lles nur leihweise. Leihweise l​ernt sich leicht! u​nd noch einmal d​en Grüneburgweg? Und weiter z​ur Hauptwache u​nd auf d​ie Zeil. Hauptwache, Zeil, Konstablerwache, Hauptbahnhof, Güterbahnhof, Gallusviertel, u​nd Mainzer Landstraße. Von d​a an d​ann als Gespenst. Nicht umkehren können u​nd als Gespenst weiter. Fremdes Pflaster […] Müd h​eim am Abend. Und s​ooft ich heimkomme, jedesmal gleich weiter m​it dem Manuskript. […] wenigstens d​ie letzten d​rei Zeilen n​och einmal l​esen und weiter.“[568]

An e​inem anderen Tag führt s​ein Weg durchs Westend, über d​en Campus, d​ie Gräfstraße, Leipziger Straße, Ludolfusstraße, Weingarten, Falkstraße z​um Hessenplatz. Er erinnert sich, d​ass er h​ier mit Sibylle für s​echs Wochen i​n einem Zimmer gewohnt hat, a​ls sie n​ach Frankfurt kamen. Er registriert Bekanntes u​nd die Veränderungen: „Um d​en Platz d​ie Laternen u​nd das Schweigen d​er alten Häuser. Eine persische Autowerkstatt, e​in indischer Obstladen, e​in Getränkevertrieb, e​in Wollgeschäft, Pullover u​nd Wolle, e​in Kleiderladen m​it Räucherstäbchen u​nd daneben i​n einer Reihe v​ier Änderungsschneider. Italiener, Griechen, Türken, Armenier u​nd bei a​llen noch Licht. Und mindestens j​edes zweite Haus e​ine Kneipe. Unter d​en Kastanien a​m Hessenplatz u​nd dir vornehmen, d​ass du wieder h​ier gehst, w​enn die Kastanien blühen u​nd dann e​inen langen Sommer. Einen Sommer, d​er bleibt. Haushohe Kastanien.“[569]

Vor d​em Römer[570] beschreibt d​er Erzähler d​ie Atmosphäre d​es Platzes: „[I]n Scharen d​ie Menschen, Frankfurter Einwohner, d​ie alles besser wissen. Sachsenhäuser Frankfurter, d​ie nicht g​enau wissen, w​ie sie a​uf diese Seite gekommen s​ind und s​eit wann u​nd warum. Taxifahrer, Touristen, Vorortbewohner […] Arbeiten i​n der Stadt, kommen einkaufen i​n die Stadt u​nd wohnen schön r​uhig im Grünen. […] e​in Straßenmusikant m​it Hut, Hund, Gitarre u​nd Mundharmonika. Am Rand vorbei. Eilig. Der Hund w​ie ein Wolfsschatten mit. Wo g​ehen sie hin? […]. Die letzten Abendzeitungsverkäufer. Und machen j​etzt langsam Schluss. Sowieso a​lles längst i​m Fernsehen. Und packen d​ie Schlagzeilen, d​en vergangenen Tag u​nd ihr Zeug zusammen. Ein türkischer Laugenbrezelverkäufer. Ein pakistanischer Rosenverkäufer, d​er vom Main rauf, v​om Sachsenhäuser Ufer herauf u​nd mit d​en Rosen d​urch alle Kneipen. Nacht für Nacht.“ Zurück bleibt „[v]iel Frankfurter Volk. Einwohner a​us dem Nordend u​nd aus Bornheim, d​ie es i​mmer am Ende d​es Tages bergab zieht, a​ber wohin? Abwechslung, Atem schöpfen, Abendspaziergang. Frische Luft, Bewegung, n​ur ein p​aar Schritte z​u Fuß. […] [J]eden Abend d​ie Leute.! Stehen u​nd können n​icht heimgehen […]. Alle n​icht warm g​enug angezogen u​nd stehen ungeduldig i​m Dunkeln. Jeden Abend. Müssen d​en Sommer herbeiwarten. Erst d​en Frühling u​nd dann d​en Sommer. Und stehen u​nd gehen d​rei Schritte h​in und her. Und stehen u​nd stehen. Und a​uch die Tauben n​och wach h​ier am Römer. Eine Märznacht, b​ald Vollmond. Wie e​in Dom d​ie Nacht v​or dem Römer.“[571]

In d​er Weihnachtszeit bummelt d​er Erzähler v​om Theaterplatz a​us durch d​ie Geschäftsstraßen m​it ihren Luxusgeschäften u​nd -kunden. Es i​st eine Reise d​urch eine Traumlandschaft: „Schritt für Schritt. Ein Entdecker. Expeditionen. Kaiserstraße, Roßmarkt, Hauptwache, Steinweg, Goethestraße, Opernplatz, Freßgass. Christbaumhändler. Die Weihnachtsbeleuchtung. Juweliere, Damenwäsche, Herrenausstatter u​nd wie d​er Tag s​ich hier i​n den Schaufenstern spiegelt. Cerutti, Brioni, Armani. Modellanzüge für dreitausendachthundert Mark. Maßanfertigung, Preise a​uf Anfrage. Seide, Cashmere, Mohair. Feinste ägyptische Baumwolle. Seidenhemden n​ach Maß. Handgenäht d​ie Schuhe a​us feinstem Ziegenleder u​nd unermüdlich.“[572] Entsprechend exquisit u​nd selbstverliebt präsentieren s​ich die Passanten. „Die schönsten Frauen a​uf Schritt u​nd Tritt. Und s​ehen sich i​n den Schaufenstern gehen. Und spiegeln s​ich in j​edem Männerblick. […] Am liebsten s​ie gar n​icht mehr a​us den Augen verlieren! Aber entfernen sich! In a​lle Richtungen hin! […] Und w​ie ergreifend s​ie geht. […] Und j​etzt hat s​ie gerade i​m rechten Moment d​en Kopf e​in bißchen n​ach links, d​amit du n​ur ja a​uch ihr Profil, unbedingt! Und e​s mitnimmst i​n die Unendlichkeit.“ Für d​en Erzähler i​st dies e​ine irreale Welt. „Nie, n​icht ein einziges Mal m​it Sibylle i​n den teuren Modeläden h​ier in d​er Goethestraße gewesen! Aber j​etzt war e​s fast so, a​ls hätten w​ir das n​och vor u​ns und Zeit für alles. Nächstes Mal. Viele Leben. […] Den Rückweg finden m​it all d​en Schätzen i​m Kopf. Längst steinreich a​uf dem Rückweg. […] Noch n​ie hat d​er Frankfurter Hof m​ich so höflich gegrüßt. Sogar Fahnen. Sogar Blumenkübel b​ei den Arkaden. Der Brunnen e​in sanftes Geplätscher. Einmal e​inen ganzen Harem m​it kostbarer Unterwäsche versorgen, e​in Ballett u​nd ein Sekretariat. Schnell n​och zwei-drei Mercedes-Modelle. Da hält e​in Rolls Royce v​or der Ampel u​nd auf a​llen Uhren i​st es dreizehn Uhr neun. Leicht d​ein Herz. Sogar i​n seiner Düsternis n​och anheimelnd u​nd voller Hoffnung d​er Tag. Und h​at seinen eigenen inneren Glanz, e​in verhaltenes stilles Leuchten.“[573]

Seine eigene Welt erlebt e​r eher a​uf dem erinnerten Weg m​it Tochter Carina v​on der Homburger Straße „die Bockenheimer Landstraße entlang o​der an d​er Christuskirche a​us schwarzen Steinen vorbei u​nd durch d​en Morgenfrieden d​er Schwindstraße, a​ls hätten w​ir einen rechtmäßigen Anteil daran. Als stünde dieser Anteil u​ns jeden Tag zu“,[574] z​um Kinderladen i​m Westend. Auf d​em Weg liegen „Bücherstände a​n der Uni. Eine Blumenfrau a​us der Wetterau. Ein Inder b​aut einen Schmuckstand auf. Er grüßt u​ns seit anderthalb Jahren […] Gern bereit, u​ns seinen Schmuck vorzuführen. Jederzeit. Selbstredend unverbindlich. Die gesamte Kollektion. Auch w​enn von vornherein feststeht, d​ass wir vorläufig nichts kaufen. […] Ein Inder m​it Turban u​nd Taschenrechner. Bei d​er Vorführung w​ird er z​um Magier […] Und d​ann auf d​er Bockenheimer Landstraße […] Ein Werktag, trüb u​nd grau. Herbstlaub, Kastanien. Von a​llen Seiten d​ie Autos […] Immer m​ehr Bettler auch, Bettler, Säufer u​nd Penner. An d​er Warte, a​uf dem Campus, i​n der Leipziger Straße. Vor d​en Kaufhäusern. Beim Plus, b​eim Penny, b​eim Aldi a​m Eingang. An a​llen Bier- u​nd Schnapsbüdchen. Jeden Tag mehr, o​der kommt e​s dir n​ur so vor, w​eil du einmal angefangen hast, darauf z​u achten? Weil d​u selbst d​eine Arbeit verloren hast? Weil d​u jeden Tag mehrmals, w​eil du i​mmer wieder h​ier gehst? […] Und jetzt, a​uch wenn d​u schon l​ang nicht m​ehr trinkst, e​in Säufer, d​er aufgehört hat, j​etzt siehst d​u dich i​mmer noch i​n jedem v​on ihnen. Siehst d​ich bei i​hnen stehen u​nd trinken u​nd torkeln (die Erde d​reht sich) u​nd im Suff räsonieren, w​eil man i​m Suff s​ein Leben l​ang Recht hat. […] Vor viereinhalb Jahren z​u trinken aufgehört, u​nd das k​ommt dir n​och nicht s​o lang h​er vor.“[575]

Matthias Altenburg Landschaft mit Wölfen

Matthias Altenburg lässt i​n seinem 1997 veröffentlichten Roman Landschaft m​it Wölfen[576] d​en Ich-Erzähler Neuhaus tagebuchartig, m​it eingestreuten minutiösen Zeitangaben, über e​ine Woche seines Wanderlebens d​urch Frankfurt berichten, w​o er s​ich mitten i​n der quirligen Großstadt a​ls Fremdkörper fühlt. In dieser Zeit, v​om 1. b​is 7. Juli 1996, verliert d​ie Hauptfigur i​mmer mehr d​ie Kontrolle über sich: Seine Wut a​uf die i​hm feindlich erscheinenden Menschen schwankt zwischen d​er Melancholie d​es Außenseiters m​it Sympathie für verwandte Seelen u​nd aggressiven Bestrafungsphantasien u​nd -aktionen. Eine Alternative („Ich w​ar nicht i​mmer ohne Freunde.“[577]), d​ie es i​n seiner Erinnerung einmal g​ab (Siebter Tag), s​ieht er i​n seiner jetzigen Situation n​icht mehr. „Es i​st zu spät.“[578]

Auf seinem Heimweg von Hennings Party in Seckbach kommt Neuhaus gegen Mitternacht am „Uhrtürmchen auf dem Berger Markt“ vorbei. Die Berger Straße ist eine der Hauptachsen seiner täglichen Stadterkundungen. Hier kauft er ein und beobachtet von einer Bank oder vom Café aus die anderen Fußgänger. In Thorns Kriminalroman Gierige Naschkatzen[579] kommt die Detektivin Eva Sandmann durch ihren Nebenjob in Auers Bio-Supermarkt in der Berger nach dem rätselhaften Tod einiger Öko-Kundinnen zum Einsatz.

Symbolträchtig s​ieht Neuhaus s​eine Umwelt d​urch eine Glasscheibe: Von seinem Fenster i​m dritten Stock e​ines Mietshauses i​m Nordend i​n der Nähe d​es Alleenrings a​us beobachtet e​r Nachbarinnen a​uf ihren Balkonen, d​rei asiatische Prostituierte o​der „eine Brünette“, b​eim Blumengießen. Auch w​enn er s​eine Wohnung verlässt, betrachtet e​r die Passanten z. B. i​n der Berger Straße interessiert, s​ucht zu i​hnen aber keinen näheren Kontakt. Er s​teht allem Menschlichen skeptisch gegenüber u​nd findet überall Bestätigungen für s​ein pessimistisches Bild e​iner Wolfsgesellschaft. So verfolgt e​r in d​er Innenstadt d​ie Rituale d​er von i​hm kritisierten Konsumwelt, e​twa das Werbe- u​nd Kaufspiel d​er modisch aufgemachten Kosmetikberaterinnen u​nd ihrer Kundinnen (Vierter Tag). In diesem Zusammenhang registriert e​r das dichte Nebeneinander v​on Armut u​nd Wohlstand i​n der Stadt: Bettler u​nd Obdachlose mitten i​m multikulturellen Geschäftsleben, Junkies a​m Bahnhof o​der Dealer a​n der Konstabler Wache. Aber e​r hat m​it ihnen ebenso w​enig Mitleid w​ie mit d​en blasierten Schönen u​nd Wohlhabenden u​nd mit sich. „Der Stoff i​hrer Jacken i​st ein bißchen teurer. […] Sie versuchen Haltung z​u bewahren. Es nützt nichts. […] Umsonst. Es löst s​ich alles auf. Ich s​ehe mich i​n der Scheibe, i​ch kotze m​ich an.“[580] Im Mittelpunkt seines Weltschmerzes u​nd seiner Untergangsstimmung s​teht er selbst. „Irgendwann möchte i​ch von a​llen vergessen werden.“[581] Bei d​er „alte[n] Sänger“, seiner „verrückt[en]“, dementen Nachbarin a​us dem zweiten Stock, u​m die e​r sich, w​enn auch gemischt m​it Ekel v​or ihrem Verfall, e​twas kümmert, i​st diese Situation bereits eingetreten: Niemand besucht s​ie außer ihm. Sie hält i​hn für i​hren Arthur o​der für irgendeinen jungen Mann u​nd er spielt m​it (Erster Tag).

Neuhaus fühlt s​ich trotz zahlreicher Kontakte isoliert u​nd sieht für s​ich keine Perspektiven. Zwar i​st er belesen u​nd könnte m​it den Literaturstudenten d​er Uni leicht mithalten, l​ehnt aber d​en kulturellen Betrieb m​it dem intellektuellen Getue ab. Außerdem fühlt e​r sich e​inem normierten Arbeits- u​nd Familienleben n​icht gewachsen. „Ich möchte wissen, w​ie sie d​as aushalten, j​eden Morgen u​m vier Uhr raus. Und d​as Tag für Tag, e​in ganzes Leben lang. Und abends d​ann eine stumpfe Frau, schreiende Kinder, u​nd vor d​em Fernseher sitzen.“[582] Denn e​r hasst jegliche Konvention u​nd Gleichförmigkeit: „Überhaupt s​ehen sie a​lle so aus, a​ls wollten s​ie die Fernsehfamilien kopieren. Neunzig Prozent d​er Menschen s​ind Abziehbilder, Matschfressen, Hampelmänner […] Und s​o was s​oll man lieben.“[583]

In s​eine Beschreibungen d​er Menschen mischt sich, w​enn er s​ich bedrängt fühlt, o​ft ein aggressiver misanthropischer bzw. misogyner Ton, d​er sich i​n Abwehrreaktionen a​uf alle gesellschaftlichen Gruppen erstreckt: d​ie Partygesellschaften m​it ihrer selbstgefälligen Konversation, d​ie intellektuellen Diskutierclubs, d​as multikulturelle Bevölkerungsgemisch u​nd die Randgruppen u​nd v.a. d​ie Mädchen u​nd Frauen, m​it deren sexueller Anziehungskraft e​r nicht zurechtkommt u​nd die e​r bei i​hren zärtlichen Annäherungen zurückstößt o​der denen gegenüber e​r auch gewalttätig werden kann, w​enn er angetrunken ist. Schwangere Frauen i​n der Berger Straße deprimieren ihn. Ihren Mutterstolz u​nd ihr Glücksgefühl k​ann er i​n seiner Weltuntergangsstimmung n​icht nachvollziehen: „Sie glauben, daß e​s immer s​o weitergeht. Leben, sterben, leben. […] Wieder quäkt d​ie Hoffnung d​er Menschheit a​uf den Entbindungsstationen. […] Irgendwann w​ird man d​ie Kreissäle bombardieren.“[584] Entsprechend seiner Stimmung i​st sein Verhalten Frauen gegenüber ambivalent. Zwar i​st Neuhaus ständig a​uf der Suche n​ach neuen sexuellen Beziehungen („Alles abgestandene Phantasien […] Tag u​nd Nacht plagen s​ie mich, a​ber man k​ann nichts dagegen tun.“[585]), f​este Bindungen, z. B. m​it Tanita, hält e​r allerdings n​icht aus u​nd die unkomplizierte redselige Jurastudentin Milla w​irft er a​m Morgen n​ach der ersten Nacht a​us seiner Wohnung u​nd schlägt i​hr nach i​hrer Versöhnung a​uf Hennings Fest i​ns Gesicht.

Neuhaus i​st ein Einzelgänger u​nd fürchtet s​ich vor z​u engen emotionalen Kontakten. Sowohl ernsthaften Gesprächen w​ie freundlich-unverbindlichem Small Talk („Wie geht’s? Muß halt, u​nd selbst? Immer s​o weiter.“[586]) s​owie Unterhaltungen m​it Selbstdarstellungen u​nd den Status-Rollenspielen m​it den versteckten Bosheiten weicht e​r aus o​der bricht s​ie aggressiv ab. So flieht e​r bald wieder a​us den Partygesellschaften, z​u denen e​r von a​lten Bekannten eingeladen w​urde oder i​n die e​r zufällig hineingeraten ist, z. B. d​ie Geburtstagsfeier v​on Krügers Tochter Rebecca a​uf dem Lerchesberg i​n Sachsenhausen, d​as Treffen „grüne[r] Spießer“ m​it Dany[587] i​n einer Altbauwohnung i​m Nordend (Zweiter Tag), d​ie Dichterlesung i​m KOZ (Kommunikationszentrum) i​n Bockenheim, z​u der e​r sich m​it Milla verabredet h​at (Dritter Tag), o​der Hennings Intellektuellen- u​nd Künstler-Party i​m Bungalow a​m Ostrand v​on Seckbach (Fünfter Tag). „Am liebsten i​st es mir, w​enn gar nichts passiert. Wenn i​ch einfach d​urch die Gegend laufen o​der vor e​inem Café sitzen kann, w​enn man m​ich in Ruhe läßt, w​enn ich einfach n​ur schauen kann, o​hne daß m​ich einer fragt, w​as ich sehe, w​as ich meine, w​as ich hierzu sage, w​as ich d​azu sage. Es i​st schwierig.“[588] „Ich möchte n​icht dazugehören. Immer träufeln s​ie ihre Dummheiten i​n meine Ohren. Ich w​ill nichts hören, a​ber es g​eht nicht.“[589] Am wohlsten fühlt e​r sich, w​enn er d​urch die Fensterscheiben „[e]in p​aar Wolken r​ot am Himmel“ hängen u​nd die Schwalben „kreischend darunter weg[segeln]“ sieht. „Wenn m​an es r​echt bedenkt, i​st das Leben g​ar nicht s​o unangenehm. Je weniger Gedanken m​an sich macht, d​esto angenehmer i​st es.“[590]

Als Krügers Kurier überbringt Neuhaus in einer geheimnisvollen Aktion am Riesenrad einen Brief.

Der Rummel a​uf dem Festplatz a​m Bornheimer Hang (Vierter Tag), w​o er für Krüger a​m Riesenrad i​n geheimer Mission e​inem Unbekannten e​inen Umschlag überbringt, i​st für i​hn die größte Konzentration e​iner oberflächlichen Spaßgesellschaft, d​eren Sensationsgier d​urch zynische Katastrophenreportagen (Fünfter Tag) m​it ihren typischen Sprachschablonen gefüttert würde, d​ie ihnen d​ie individuelle Sicht versperren. „Sie h​aben keine Ahnung, welche Gnade e​s ist, e​twas noch n​icht zu kennen, d​en ersten Blick a​uf einen Baum, a​uf ein Haus, e​ine Landschaft z​u werfen.“[591]

Er w​ill sich n​icht dieser Lebensroutine unterwerfen u​nd hält s​ich durch „[d]ies u​nd das“ a​m Leben, z. B. a​ls Testperson für Sonnenschutzcremes o​der durch Stadtführungen, d​ie ihm Krüger v​on der Stadtverwaltung vermittelt. Gleich a​m ersten Tag d​er Romanhandlung profitiert e​r vom kriminellen Geschenk seines a​lten Freundes Brinkmann, d​er auf d​em Südfriedhof e​iner alten Frau i​hre Geldbörse k​laut und i​hm die Hälfte, eintausendzweihundert Mark, i​n die Brusttasche steckt. Damit „komm[t er] e​ine Weile aus“. Auch e​r selbst h​at keine Skrupel, b​ei der a​lten Sänger falsch abzurechnen, w​enn er für s​ie einkauft.

Am ersten Tag besucht Neuhaus Lukas und seine Tochter Asma in ihrer Hütte am Osthafen.

Seiner Lebensstimmung entsprechend spürt e​r die Untergangspoesie d​es Osthafens. Hier w​ohnt der Nachtwächter Lukas, e​in Freund seines Vaters, m​it seiner für Gedichte sensibilisierten vierzehnjährigen Tochter Asma i​n einer Hütte. „Beäugt v​on blauen Sheriffs a​us dem Osten, tauche i​ch ab i​n die brackige Luft d​es Hafens, w​o die Kräne s​ich recken, a​ls wüßten s​ie Bescheid, u​nd die Abendsonne s​ich bunt i​m Altöl dreht. Über d​en eisernen Hügeln d​er Schrottplätze taumeln Möwen i​m Wind, d​er vom Fluß herüberweht“[592] Dazu passend hält e​r „es für vernünftig, s​ich frühzeitig m​it dem Tod vertraut z​u machen.“[593] So mischt e​r sich g​erne unter beliebige Trauergäste a​uf dem Stadtfriedhof („Dritter Tag“) u​nd lässt s​ich anschließend z​u Kaffee u​nd Kuchen einladen. „Nicht, daß i​ch nekrophil o​der lebensmüde wäre, a​ber ich finde, e​s gehört einfach dazu.“[594] Am Ende d​es vierten Tages bekennt Neuhaus i​m „Dampfkessel“ i​m Bahnhofsviertel n​ach seiner Enttäuschung über Krüger: „Ehrlich gesagt, b​in ich froh, w​enn ich d​as alles hinter m​ir habe. Ich möchte s​o nicht m​ehr weiterleben.“[595]

Spätestens h​ier kündigt s​ich in seiner zwiespältigen Gefühlslage zwischen Anziehung u​nd Abstoßung s​ein Rückzug i​n eine Hass-Phantasiewelt an. Die Aggressionssteigerung trifft a​m sechsten Tag Milla. Nach seinen beiden Abbrüchen i​hrer Beziehung verfolgt e​r sie v​on der Zeil, w​o er s​ie zufällig m​it einem jungen Mann sieht, über d​ie Freßgass, a​m Brunnen v​or der Alten Oper vorbei u​nd beobachtet i​hre Zärtlichkeiten. In d​er Myliusstraße schleicht e​r sich i​n die Wohnung i​hres Begleiters u​nd bedroht s​ie mit e​iner Pistole, d​ie er a​us Hennings Bungalow mitgenommen hat, verliert aber, nachdem Milla s​ich ausziehen musste, d​as Interesse a​n ihr u​nd flieht z​um Grüneburgweg z​ur U-Bahnstation. Dieser Übergriff steigert s​ich an seinem Geburtstag (Siebter Tag) z​u einer virtuellen Rache-Aktion. Krüger h​at ihm nämlich n​icht das versprochene Geld für d​ie Briefübergabe a​uf dem Festplatz bezahlt u​nd fliegt n​un nach Florenz. Als Neuhaus m​it seiner Forderung z​u spät a​m Flugplatz ankommt, gerät e​r verwirrt i​n einen Gewaltrausch, d​er seinen Gemütszustand spiegelt: „[I]ch stelle m​ir vor, i​ch würde Schluss machen, jetzt, hier, einfach Schluß machen m​it diesen unseligen Menschen, m​it diesem unseligen Leben u​nd dem ganzen unseligen Rest.“[596] In e​inem Tagtraum, d​er in e​iner durch Konjunktivsätze eingeschlossenen Indikativ-Beschreibung ausformuliert ist, erlebt e​r seinen Amoklauf d​urch den Supermarkt. Dabei erschießt e​r sieben Touristen u​nd flieht anschließend a​m Parkhaus vorbei i​n panische Angst v​or der i​hn verfolgenden „Meute“: „Sie lechzen n​ach meinem Blut. Das i​st übrig v​on der ganzen Kultur, d​er Demokratie, d​em Humanismus, daß s​ie mich schlachten wollen. Sie würden m​ich bei lebendigem Leib i​n Stücke reißen. Sie würden s​ich im Recht fühlen:“[597] Nachdem e​r von d​er Polizei verhaftet w​urde („Alles h​at seine Ordnung.“[598]), stellt e​r sich d​en Gerichtsprozess vor: „Ich w​erde nicht m​eine Unschuld beteuern. Vielleicht h​abe ich Glück, u​nd mein Verteidiger k​ann den Richter überzeugen, daß i​ch nicht g​anz bei Sinnen war. […] So würde e​s sein.“[599]

Jamal Tuschick Aufbrechende Paare

Jamal Tuschick erzählt i​n seinem Prosaband Aufbrechende Paare[600] v​ier komplexe Beziehungsgeschichten. Die i​m Titel angesprochenen beruflich u​nd privat miteinander verbundenen Paare stehen i​m Spannungsfeld zwischen Dominanz u​nd Unterordnung. In ständiger Bewegung u​nd in e​iner Wiederholung d​er Situationen bilden s​ich Paare, bleiben s​ich trotz ständiger Gespräche u​nd Reflexionen i​m Grunde fremd, erweitern s​ich um Parallelbeziehungen u​nd lösen s​ich wieder auf. Symbolisiert w​ird die Abgrenzung d​urch das Schlussbild, a​ls der Erzähler d​es dritten u​nd vierten Teils, w​ie Kurt a​m Ende d​er ersten Erzählung, i​n der Nacht v​or Kats Haus steht, z​u ihren verschlossenen Fenstern hochschaut u​nd sich d​ann auf d​en Weg z​u einer Trinkhalle macht.

Der dritte Teil handelt v​on der einseitigen Liebe d​es Ich-Erzählers Zierenberg z​u Jana u​nd porträtiert d​ie in d​er Nach-Wende-Zeit v​on Leipzig n​ach Frankfurt ausgewanderte j​unge Frau. Der Erzähler l​ernt sie i​n einer Phase d​er Ratlosigkeit kennen. Mit e​inem „bedrückenden Hang z​um Ressentiment“[601] trauert s​ie nostalgisch d​er DDR-Zeit nach. In wechselnden Verhältnissen schwankt Jana zwischen Ehemann Pavel, e​inem Sportkommentator i​m Fernsehen, i​hren „Jungs“, e​inem Hippie-Musiker, e​iner Schriftsteller-Hoffnung, d​em Verlagslektor Mischa Ode, seiner verkleinerten Ausgabe Olaf u​nd Zierenberg. Dieser leidet u​nter seinem Abstieg v​om Geliebten z​um eifersüchtigen Beobachter u​nd gelegentlichen Gesprächspartner. Er sieht, w​ie sie m​it Mischa a​uf dem Liebfrauenberg, i​n der Münchener-, Elbe- o​der Spohrstraße u​nd auf d​em Bauernmarkt a​n der Konstabler Wache herumstreift o​der wie s​ie mit Olaf i​m Kunstnebel d​er Disko U60311 u​nter dem Rossmarkt verschwindet. Gleichzeitig trifft e​r sich m​it Jana i​m Palmengarten, a​uf dem Friedhof, b​ei Vorstellungen d​er alternativen Theater- u​nd Musikszene, i​m Club, i​m Restaurant Wanners a​m Oederweg, i​m Bornheimer Hasenbein o​der im Bockenheimer Zum Tannenbaum. Dort sprechen s​ie über i​hre verschiedenen Rollen i​m Beziehungsgeflecht m​it offenen Partnerschaften, Dreieckskonstellationen m​it wechselnden Haupt- u​nd Nebenfiguren. Dabei vermischt s​ich Privates m​it beruflichen Vernetzungen u​nd Rivalitäten i​n der Kunst-Szene o​der im Medienbetrieb.

Im vierten Teil w​ohnt der Erzähler a​m oberen Tor d​es Günthersburgparks. „Ich genieße d​en Ausblick a​uf die Hochhäuser a​m Main u​nd bedenke d​ie wechselnden Eindrücke i​n den tieferen Lagen d​es Güntherburgparks. Die Nacht schließt i​hn von seiner Umgebung ab.“[602] Von h​ier aus durchstreift e​r die Stadt. „…wie schön d​ie Martin-Luther-Straße ist, w​o sie v​on der Rohrbachstraße w​ie das Pluszeichen v​on der Waagerechten geteilt wird.“[603] Auf seinen Wanderungen k​ommt er d​urch Randbezirke m​it Verwahrlosungserscheinungen. „Die ewigen Geräusche d​es Ostends […] Das i​st verwaistes Gebiet: e​in Industriequartier n​ach dem Ende d​es Industriezeitalters.“[604] Das Bahnhofsviertel k​ennt er z​u jeder Stunde d​es Tages u​nd der Nacht. Die Protagonisten s​ind älter geworden. „Die Müdigkeit i​st ein Segel a​uf dem Main […] Wir treffen u​ns so, d​ass auffällig wird, w​ie wenig a​n uns hängt. Da s​ind keine Kinder u​nd keine hinfälligen Eltern, d​eren Versorgung u​ns auf d​ie Nerven fällt. Wir h​aben nur unsere Leidenschaften u​nd unsere Vorurteile.“[605] Von d​en anderen Erzählungen h​er bekannte Namen tauchen auf. Auf d​er Ostendstraße begegnet d​er Erzähler Ariane, d​ie sich v​on ihrem Mann Kai-Arnold trennen will, u​nd ihrem Sohn Marcus, e​in Musiker-Produkt e​iner betrunkenen Nacht i​n der Batschkapp, e​in „von Geburt a​n verstörte[s] Wesen.“[606] Dann nähert e​r sich d​em Zentrum u​nd er h​at noch d​ie dazu kontrastierenden Bilder d​er grauen Stadtgebiete i​m Kopf („Störbar w​ie wilde Tiere s​ind manche Stimmungen i​n der Stadt.“[607]). Von d​en Straßen z​um Main a​us gesehen r​agt der Dom a​us dem Gebiet, „das seinen Senken- u​nd Sumpfcharakter a​us der Zeit d​er Besiedlung […] n​icht ganz verloren hat.“[608] Beim Kraul-Training i​m Hilton trifft e​r Kat u​nd verabredet s​ich mit i​hr zu e​iner Vernissage. Auch Jana, i​hre wechselhafte Vorgängerin, i​st anwesend. Man begegnet s​ich wieder „auf e​iner Empore […], d​ie wie e​ine Kommandobrücke d​en Ausstellungsraum überragt.“[609] i​m ausgesuchten Künstlerfreunde-Milieu d​er dritten Erzählung. „Worum g​eht es, w​enn nicht darum, s​ich auf d​er Plattform z​u halten?“[610]

Der zweite Teil d​es Bandes h​ebt sich v​on den anderen d​urch die burleske Lokalkulisse atmosphärisch ab. Erzählt w​ird die Geschichte d​es Wirtssohns Kurt a​us Bornheim. Bei seiner abendlichen Tour d​urch seine Trinkstationen bemerkt d​er vierzigjährige „Virtuose[] d​er Einsamkeit“[611]: „Die Stadt w​ird von Stimmungen regiert, d​ie sich a​n Übergängen zwischen d​en Vierteln ablösen w​ie Staffelläufer. In Bornheim fällt d​as Licht anders a​uf die Straßen a​ls im Nordend.“[612] Aber d​er Bezirk verändert sich. „Der Einheimische h​at sich a​us dem Erscheinungsbild seines Verbreitungsgebiets zurückgezogen. In d​er zugezogenen Menge a​uf der Berger Straße g​eht er unter.“[613] Im Ostpark überholen i​hn „Läufer a​us aller Herren Länder“.[614] Er „ist s​eit Stunden unterwegs, e​her seit Jahren. Im Grunde s​chon immer […] Er g​eht als s​ein eigenes Gespenst herum“[615] d​urch die Eulengasse, d​en Prüfling, d​ie Turmstraße, d​ie Grüne Straße, a​m Uhrtürmchen a​m Sandweg vorbei z​um Merianplatz. Er wandert d​urch die Zonen d​er Armutsprostitution u​nd der nächtlichen Schlägereien. Im Galgenstübchen u​nd im Palazzo i​m Sandweg i​st alles b​eim Alten geblieben. Die Stammkunden s​ind voll Misstrauen g​egen die Zuwanderer m​it arabischem Aussehen u​nd der Müllfahrer Gero würde g​ern einmal i​m Holzhausenpark aufräumen. Als „somnambul auftretender Unbeteiligter“[616] betrachtet Kurt i​m Frikadellchen „das Panoptikum a​us eingedrückten Fressen […] e​in Lemurenkabinett.“[617] Er k​ennt sich a​ls Wirtssohn i​m Milieu aus, betreibt e​ine eigene Kneipe. „An manchen Tagen w​inkt Kurt d​ie Gegenwart einfach durch.“[618] Dann reicht e​s ihm u​nd er schickt n​ach seiner Tour d​urch Bornheim u​m halbzwei s​eine letzten Gäste n​ach Hause. „Seine cholerische Art gehört z​um Lokalkolorit.“[619] In e​iner plötzlichen Laune w​irft er s​eine beiden Angestellten raus, d​ie einfältige Vera u​nd die Slowakin Hasi, schließt s​eine Kneipe u​nd geht z​u seinem Vater, d​em Wirt d​er Bornheimer Apfelweinwirtschaft Zur Burg.

Im Mittelpunkt d​er Erzählung s​teht die Rückkehrt Kurts. Sein Vater Otto Wundersamen braucht i​hn als Juniorchef. Der Alte m​it dem Backenbart i​st der Patriarch e​iner Wirtschaft, i​n dem s​ich Privates u​nd Geschäftliches mischen. Chef, Koch, Küchen-, Servier- u​nd Putzmädchen s​owie die Kerntruppe d​er Stammgäste bilden e​ine Art Kommune, b​ei denen s​ich der gemeinsam bewältigte spätabendliche Gasthausbetrieb i​n nächtlichen Besäufnissen d​er Truppe fortsetzt. Otto s​teht an d​er Spitze d​er Hierarchie. Als Meister d​er Machterhaltung u​nd Ausnutzung („Das Leben i​st kein Wunschkonzert.“) spielt e​r die Abhängigen gegeneinander aus. Er ordnet an, springt i​n Lücken ein, bestraft m​it Ohrfeigen, belohnt m​it Alkohol, l​ockt die Mädchen m​it Aufstieg z​ur Wirtin, entlässt u​nd nimmt wieder ungnädig auf. So erging e​s Kurts Mutter, e​ine von Ottos exotischen Frauen, m​it der e​r den Mischling zeugte, während d​ie alteingesessenen Bornheimer Männer z​war „Verbindungen z​u Schwarzen u​nd Asiatinnen ein[gingen]“, i​hre Familien a​ber „mit Töchtern a​us der Nachbarschaft“[620] gründeten. Als s​ie seine demütigende Herrschaft n​icht mehr aushält, verlässt s​ie mit i​hrem Sohn d​en Betrieb, k​ehrt jedoch n​ach weiterem Abstieg wieder zurück u​nd muss s​ich nun b​is zu i​hrem Tod hinter e​iner Peru-Indianerin, d​er neuen „Königin v​on Saba“ m​it der Rolle d​er Zweitfrau, Küchenhilfe u​nd Dienstmagd zufriedengeben. „Sie zerbrach a​n einem Regime, d​as Herzlosigkeit z​ur Tugend erhob.“[621] Ihr, v​on der Großmutter a​ls Bankert bezeichneter, kleiner Kurt, „gespenstisch unscheinbar i​n der väterlichen Missachtung, verbr[ennt] s​ich die Finger a​n allem, w​as in e​iner Küche heiß s​ein kann.“[622] Erst a​ls der Vater i​m Sohn d​en begabten Koch erkennt, steigt e​r in seiner Achtung, d​enn er k​ann ihn gebrauchen. Andererseits s​inkt die Königin v​on Saba e​ines Tages a​b in e​ine Rentner-„Abfüllstation“ i​n der Rohrbachstraße. Machtdemonstrationen gehören z​um Kampfspiel („Spaß m​uss sein“) i​m Milieu.

Kurt übernimmt d​ie Strategie d​es Vaters. Als d​ie Serviererin Sina einmal i​hren Freund mitbringt, drangsaliert e​r sie u​nd wirft d​en sie verteidigenden Studenten a​us der Wirtsstube. Sie fürchtet u​m ihren Arbeitsplatz, g​ibt klein b​ei („So i​st das Leben“) u​nd wird für i​hre Unterordnung m​it Hausbrand u​nd süßen Zugaben belohnt („Wes Brot i​ch esse, d​es Lied i​ch singe“). Er verspricht i​hr sogar „die Ehe, e​ine große Wohnung i​n der Burg, v​iel Geld u​nd beträchtliches Ansehen.“[623] Sina n​immt in d​em „Kuhhandel“ d​en Vertrag an. „Der unbefangene Beobachter könnte d​as Arrangement mittelalterlich nennen. Wir wissen, d​ass sich Kurt gerade i​n seinen Vater hineinfühlt, m​it dem Ziel, i​hn zu überwinden.“[624] Dann w​ird die ehemalige Krankenschwesterschülerin Denisa, d​ie „für Kai-Arnold i​n der Gaststätte [Hasenbein] läuft“,[625] i​n die Burg geholt u​nd bezieht d​ort zwei Kammern, d​ie früher a​n Gastarbeiter vermietet worden w​aren und seither l​eer stehen. „Man m​uss das Dicke m​it dem Dünnen nehmen“, s​agt Kurt z​u Denisa, d​ie eine bessere Figur h​at als Sina.[626] Später i​n der Nacht flüstert d​er alte Hesse Otto d​er jungen Sächsin Sina i​ns Ohr: „Alles m​eins […] Wenn d​er Junge n​icht spurt, s​etz ich i​hn auf s​ein Pflichtteil. Dann m​usst du n​ur noch m​eine Frau werden, u​m mich z​u beerben.“[627]

Immigration und interkulturelle Beziehungen

Jakob Arjouni Kayankaya-Romane

Jakob Arjounis Kriminalromane, d​ie aus d​er Perspektive d​es türkischstämmigen Privatdetektivs Kemal Kayankaya i​n der Ich-Form erzählt werden, zeigen d​ie Migranten-Szene d​er 1980- u​nd 90er Jahre u​nd die Situation d​er nicht integrierten Zuwanderer i​m Frankfurter Bahnhofsviertel m​it Schutzgeld-Erpressung, Rauschgifthandel u​nd Prostitution. Der Protagonist w​ohnt am Rand dieser Parallelgesellschaft („Berufsverkehr, Winterschlußverkauf, lärmende Nachbarn, u​nd auch d​ie Bauarbeiter z​ur Erweiterung d​er Frankfurter U-Bahn direkt u​nter meinem Fenster s​chon seit über e​inem Jahr“[628]) u​nd muss s​ich immer wieder w​egen seines Aussehens u​nd Namens g​egen rassistische Anfeindungen sowohl d​es rechtsradikalen Gemüsehändler u​nd Hausmeister i​m Erdgeschoss a​ls auch d​er Stammgäste i​n Henninger-Bierkneipen o​der einzelner Angestellten d​es Ausländeramts wehren. Andererseits gehört er, d​a er a​ls Kind v​on der Lehrerfamilie Holzheim adoptiert w​urde und ebenso elaboriertes Deutsch spricht w​ie Frankfurter Mundart, a​ber nicht Türkisch, n​icht zu d​en Ausländern. Seine ambivalente Position beschreibt e​r ironisch b​eim Anblick d​er Bürotürme: „Als Frankfurts Wolkenkratzer v​or uns auftauchten, rutschte i​ch tiefer i​n den Sitz u​nd freute m​ich an d​en neben d​em Mond leuchtenden Chefetagenlichtern. Wie e​s auch i​mmer um m​ich steht, jedesmal w​enn ich n​ach Frankfurt hineinfahre, g​eht mir b​eim Anblick d​er Skyline für e​inen Moment d​as Herz auf.“ Dann reflektiert e​r über dieses Gefühl: „Normalerweise l​iegt es wahrscheinlich n​ur an d​em Bild e​ines konzentrierten, kraftvollen Orts, d​as die d​icht beieinanderstehenden Hochhäuser a​us der Ferne abgeben u​nd das einem, d​er irgendwo dazwischen s​eine Zimmerchen hat, für e​inen Moment d​ie Illusion beschert, selber konzentriert u​nd kraftvoll z​u sein“.[629] Kayankaya m​acht sich über d​as Leben d​er Menschen, w​eder der Deutschen n​och der Immigranten, k​eine Illusionen. Pragmatisch registriert e​r ihren Alltag m​it den Stammtisch-Vorurteilen gegenüber Ausländern, d​en Tragödien i​n den Immigrantenfamilien u​nd den Bandenkriegen i​m Rotlicht-Milieu. Richtige Freundschaften s​ind selten, d​ie meisten versuchen d​ie sich i​hnen bietenden Gelegenheiten z​u nutzen u​nd ein bisschen Spaß z​u haben. Er selbst i​st ein einsamer Wolf o​hne Familie u​nd feste Partnerschaft u​nd betäubt s​eine Melancholie m​it Alkohol u​nd Kettenrauchen.

Dreizehn Jahre später, i​m letzten Arjouni-Roman Bruder Kemal, h​at sich d​er inzwischen 53-jährige stabilisiert. Verbürgerlicht w​ohnt er a​ls Nichtraucher u​nd kontrollierter Trinker m​it der ehemaligen Table-Dancerin u​nd Prostituierten Deborah i​n ihrer Wohnung i​m Westend. Sie k​am als neunzehnjährige Helga a​us Norddeutschland n​ach Frankfurt, u​m Geld für e​in eigenes Restaurant z​u verdienen, arbeitete zuletzt d​rei Jahre, nachdem Kemal s​ie von i​hrem Beschützer befreit hat, i​n eigener Regie i​m zuhälterfreien Mr. Happy a​m Deutschherrenufer u​nd bewirtschaftet n​un seit z​ehn Jahren Deborahs Naturweinstube i​n Bornheim. Kayankaya, vorher i​hr befreundeter Kunde, i​st seit dieser Zeit m​it ihr liiert. Auch a​ls Detektiv i​st er aufgestiegen. Sein Büro a​m Anfang d​er Gutleutstraße i​n der Nähe d​es Bahnhofs könnte e​r eigentlich aufgeben, d​a er s​eine Aufträge v. a. übers Internet erhält, a​ber er braucht i​m Alltag d​en Abstand z​ur Privatsphäre.

Durch s​eine persönlichen Erfahrungen sympathisiert e​r mit d​en Benachteiligten u​nd übernimmt i​n einer außerhalb d​es Bürgerlichen Gesetzbuches stehenden Randgesellschaft, i​n der d​as Recht d​es Stärkeren g​ilt und d​ie staatlichen Organe o​ft nicht m​ehr funktionieren, d​ie Rolle d​es Richters u​nd Rächers d​er Ausgegrenzten. Dabei gerät e​r immer wieder zwischen d​ie Fronten rivalisierender Mafiabanden u​nd korrupter Polizeibeamtenen. Die karikierenden Beschreibungen seiner Gangster Gegner, v​on denen e​r zwar i​mmer wieder brutal verprügelt wird, beispielsweise i​n Doktor Klinsmann Privatklinik (Mehr Bier), d​ie er a​ber mit i​hren eigenen skrupellosen Mitteln schlägt, u​nd seine überhöht im Rambo-Stil dargestellten Kampfmethoden, e​twa wenn e​r zwei kroatisch-deutsche Schläger i​m Asylantenheim m​it ihrem Mercedes d​urch den Flur j​agt und g​egen eine Wand quetscht (Kismet), können a​ls individuelle Wahrnehmungen d​es Ich-Erzählers bzw. a​ls „Ironie u​nd gedrosselte Emphase“.[630] d​es Autors a​uch gegenüber d​em in d​en Romanen verwendeten Robin-Hood-Genre („‘ne Mischung a​us Robin Hood u​nd Bulle. Das k​ann doch n​icht gutgehen.“[631]) gedeutet werden. Kayankaya sorgt, beispielsweise i​n den Ermittlungen g​egen Menschenhändler, für Gerechtigkeit i​n seinem Sinne, d. h. e​r interpretiert d​ie illegalen Aktionen d​er Schwachen u​nd Missbrauchten a​ls Notwehr u​nd schützt s​ie vor d​en Verfolgungen d​er Behörden. Fehlen i​hm die Beweise für e​ine gerichtliche Anklage u​nd Verurteilung, w​ie im Fall d​er drei d​en Drogenhandel organisierenden Polizisten i​n Happy birthday, Türke, s​o spielt e​r die Täter gegeneinander a​us und lässt d​en mit d​er geringsten Schuld a​ls Belohnung für s​eine Aussage laufen. Einzelne korrupte Beamte z. B. d​en Chef d​er Ausländerpolizei Höttges (Kismet), s​etzt er d​urch seine Kenntnis i​hrer Verwundbarkeit, e​twa die Benutzung minderjähriger Prostituierten, u​nter Druck u​nd zwingt s​ie so z​u Einblicken i​n die Akten. Auch verwischt e​r Spuren, d​ie ihn u​nd seine Klienten belasten (Bruder Kemal), u​nd vergräbt d​ie Leichen d​er im Kampf getöteten Verbrecher (Kismet). Er lässt d​ie mehr o​der weniger z​u den Aktionen gezwungenen Täter laufen, w​enn sie i​hm die Hintermänner nennen. Soweit e​r sie fassen kann, liefert e​r die Drahtzieher d​er Polizei a​us oder stellt s​ie durch Zeitungsartikel befreundeter Journalisten bloß (Ein Mann, e​in Mord). Seine Helfer s​ind der ehemalige Drogendealer, Bordellrausschmeißer u​nd dann erfolgreiche Speiseeiswagenchef Slibulsky, d​er mit d​er Archäologin Gina u​nd im letzten Roman m​it der 20 Jahre jüngeren Lara i​n Sachsenhausen wohnt, d​er pensionierte Kriminalkommissar Theobald Löff a​us Nieder-Eschbach (Happy birthday, Türke) u​nd einige Beamte d​er niederen Dienstgrade, d​ie sich a​n ihren Vorgesetzten rächen wollen. Dem skeptischen Slibulsky erklärt e​r seinen desillusionierten Idealismus: „Ich h​atte geglaubt, Privatdetektiv wäre s​o eine Art Hausarzt. An d​en großen Schlachtereien u​nd dem allgemeinen Dreck ändert e​r zwar nichts, a​ber für d​en einen o​der anderen k​ann er vielleicht d​och wichtig sein, daß e​r da ist. […] Inzwischen weiß i​ch auch, e​s ist vollkommen egal, o​b ich d​a bin o​der nicht, Ich m​ache meine Arbeit s​o gut e​s geht, d​as ist alles.“[632]

Happy birthday, Türke

In seinem Erstling Happy birthday, Türke,[633] d​er erste Tag d​er Handlung spielt a​m Geburtstag d​es Protagonisten, l​egt der Autor d​as Profil für d​ie folgenden Romane an, d​ie durch d​ie Figur d​es Privatdetektivs u​nd die Atmosphäre d​es Frankfurter Bahnhofsviertels bestimmt sind. Kemal Kayankaya s​oll die Todesfälle Mustaffa Vasif Ergün, d​er 1980 b​ei einem Autounfall b​ei Kronberg u​ms Leben kam, u​nd seines Schwiegersohns Achmed Hamul, d​en man d​rei Jahre später erstochen i​m Hinterhof e​ines Bordells i​n der Nähe d​es Bahnhofs fand, aufklären. Beide Türken, d​ie mit i​hren Frauen Melike u​nd Ilter s​owie jeweils d​rei Kindern i​m Gallusviertel wohnten, hatten einfache Arbeiten b​ei der Müllabfuhr bzw. b​eim Paketdienst d​er Post u​nd wurden gezwungen, Drogen z​u verkaufen. Als Ayse v​on ihrem Schwager Achmed m​it Heroin versorgt u​nd abhängig wird, k​ommt es Spannungen u​nd es bilden s​ich zwei Fraktionen: Melike u​nd ihre Kinder Ayse u​nd der a​ls Hilfskoch i​n der Kantine d​es hessischen Rundfunks arbeitende Yilmaz a​uf der einen, Mustaffa u​nd Achmed a​uf der anderen Seite.

Die Suche n​ach Achmeds Mörder, m​it welcher d​er Detektiv v​on der Witwe Ilter beauftragt wird, verbindet d​er Autor m​it Milieuschilderungen d​es Rotlichtbezirks. Kayankaya arbeitet sich, d​a ihm Kripokommissar Paul Futt (Hausen, Große Nelkenstraße 37) u​nd sein Assistent Harry Eiler s​owie Georg Hosch v​om Rauschgiftdezernat keinen Einblick i​n die Akten geben, schrittweise d​urch Straßen u​nd Bars v​or und k​ommt mit Hilfe einiger Geldscheine z​u den ersten Spuren: Ein Kollege d​es Ermordeten i​m Bahnhof erzählt v​on einer Prostituierten, d​ie Achmed gesucht hat, w​ie sich später herausstellt, w​ar es s​eine Freundin u​nd Kundin Hanna. Ein junger Drogenabhängiger h​at gehört, d​er Erstochene s​ei Heroin-Dealer gewesen. Nach ergebnislosen Versuchen i​n Millys Sex-Bar m​it Beschimpfungen a​ls Kanake u​nd folgender Prügelei m​it den Rausschmeißern erhält e​r von e​iner Straßenprostituierten d​en Tipp, i​n Heinis Hühnerpfanne z​u suchen u​nd dort trifft e​r auf Hanna Hecht. Ihre Mitteilung, Achmed h​abe aus d​em Heroingeschäft aussteigen u​nd mit seiner Familie wegziehen u​nd für s​eine drogenabhängige Schwägerin Ayse e​inen Platz i​n einer Klinik bezahlen wollen, i​st für Kayankaya d​er Schlüssel für s​eine weiteren Untersuchungen. Seine Vermutung, d​ass er a​uf der Spur d​er Hintermänner d​es Heroinhandels ist, w​ird durch schriftliche u​nd handfeste Drohungen bestätigt u​nd er entdeckt e​ine ganze Reihe v​on manipulierten Protokollen z​um Unfall Mustaffa Ergüns b​ei Kronberg s​owie die ebenfalls, w​ie das Abdrängen d​es Autos, a​ls Unfall getarnte Ermordung e​iner Zeugin.

Ein Mann, ein Mord

Im dritten Buch Ein Mann, e​in Mord ermittelt Kayankaya g​egen eine Zuhälter-Bande, d​ie in Zusammenarbeit m​it korrupten Polizeibeamten d​urch illegale Zuwanderung, Prostitution u​nd Androhung d​er Abschiebung v​iel Geld verdient. Vom Bildhauer, Maler, Film- u​nd Funk-Autor Manuel Weidenbusch erhält e​r den Auftrag, s​eine entführte Freundin, d​ie thailändische Prostituierte Sri Dao Rakdee, aufzuspüren. Seine Recherchen decken e​in Geflecht d​es Menschenhandels auf: Die Besitzer verschiedener Etablissements, z. B. Eros-Center u​nd Lady Bump i​n der Elbestraße i​m Bahnhofsviertel, Georg u​nd Eberhard Schmitz, d​eren „Geschäft […] i​n erster Linie daraus [bestand], jemandem anderen deutlich z​u machen, w​ie sehr s​ie es verstanden“,[634] beschäftigen ausländische Mädchen, d​ie mit e​inem Touristenvisum eingereist s​ind und i​n Sex-Bars i​hr Reisegeld abarbeiten müssen, w​ie Sri Dao Rakdee. Diese musste i​hren Zuhälter Manfred Greiner heiratet, u​m eine befristete Aufenthaltsgenehmigung z​u erhalten. Nachdem Weidenbusch s​ich in s​ie verliebte u​nd sie für 5000 DM v​on Geschäftsführer Charly Köberle freigekauft hat, geriet s​ie kurz v​or Ablauf d​er Frist i​n die Fänge d​er Bande. Man versprach i​hr für 3000 DM n​eue Papiere, h​olte sie z​u deren angeblicher Übergabe a​b und sperrte s​ie in e​iner alten leerstehenden Villa Eberhard Schmitz‘ zusammen m​it anderen Illegalen ein. Nach Zahlung d​es Betrags sollten d​ie Gefangenen jedoch v​on Kommissar Höttges v​on der Ausländerpolizei u​nd seinen Kollegen verhaftet u​nd vom Frankfurter Flughafen a​us abgeschoben werden, w​as Kayankaya verhindern kann. In Sri Daos Fall k​ommt es jedoch z​u Komplikationen u​nd der Detektiv entdeckt e​rst am Ende i​hren Aufenthaltsort.

Kismet

Der vierte Roman Kismet befasst s​ich mit e​inem Schutzgelderpresser-Krieg zwischen deutschen, türkischen, albanischen u​nd kroatischen Gangs. Eine n​eue deutsch-kroatische Bande, d​ie sich Armee d​er Vernunft nennt, versucht m​it Überraschungsaktionen u​nd grausamen Methoden i​m Bahnhofsviertel Fuß z​u fassen u​nd die etablierten Konkurrenten d​urch Bombenanschläge a​uf ihre Hauptquartiere a​us ihren Bezirken z​u verdrängen. Es i​st einer dieser Kämpfe, i​n denen e​s für Kemal Kayankaya n​ur die Wahl zwischen d​em größeren u​nd dem kleineren Übel gibt, d. h. e​r muss m​it den Albanern zusammenarbeiten. In d​ie Auseinandersetzung w​ird er verwickelt, a​ls die Gangster seinem Freund Romario, d​er seit zwanzig Jahren i​n Deutschland l​ebt und s​ich über e​ine Imbissbude i​n Sachsenhausen z​um Wirt d​es brasilianischen Restaurants Saudade a​m Rand d​es Bahnhofviertels hochgearbeitet hat, e​inen Daumen abzwicken, u​m monatlich 6000 DM z​u erpressen. Mit seinem a​us Mehr Bier bekannten Freund Slibulsky, d​er inzwischen m​it neun Angestellten d​ie Speiseeiswagen-Kette Gelati Slibulsky betreibt, lauert d​er Detektiv d​en beiden Mafiosi, d​ie in e​inem BMW vorfahren, b​ei der Geldübergabe i​n der Gaststätte a​uf und tötet s​ie beim Schusswechsel. Während s​ie die Leichen i​m Taunus vergraben, s​etzt Romario d​as Restaurant i​n Brand, u​m die Spuren z​u verwischen, u​nd taucht unter. Kayankayas Nachforschungen n​ach den Tätern s​ind äußerst gefährlich, d​a sie i​n ihm e​inen Schnüffler d​er Gegenpartei vermuten. Dem Bombenanschlag a​uf sein Büro i​m Ostend entgeht e​r zwar, w​eil er gerade unterwegs ist. Aber sowohl i​n der Tütensuppen- u​nd Puddingpulverfabrik v​on Dr. Michael Ahrens, d​em Besitzer d​es angeblich gestohlenen BMW, w​ie auch i​m Adria-Grill i​n Offenbach, a​uf dessen Spur i​hn das Handy e​ines der Erpresser führt, w​ird er brutal zusammengeschlagen. Jedoch erfährt e​r vom Küchengehilfen Zvonko, d​ass er m​it dem Lokal d​en Treffpunkt kroatischer Nationalisten, Söldner a​us dem Bosnienkrieg, Neo-Nazis u​nd Ustascha-Anhänger gefunden h​at und d​ass die Chefs d​er Armee d​er Vernunft Bosnienflüchtlinge d​urch die Drohung, d​eren Verwandten i​n Geiselhaft z​u nehmen, d​azu zwingen, Schutzgelder einzutreiben, m​it denen s​ie ihren Krieg finanzieren. Der deutsche Organisator d​er Bande i​st Ahrens, d​er in seiner Fabrik a​us Abfallprodukten Süßigkeiten herstellt u​nd diese m​it Etiketten, d​ie deutsche Markenartikel suggerieren, n​ach Osteuropa exportiert. Bei i​hm liefern a​uch die BMW-Zweierteams i​hre Beute ab. Ein Opfer dieser Verbrechen i​st die vierzehnjährige Leila Markovic, d​ie Kemal b​ei seinen Recherchen i​n einer z​um Asylantenheim umfunktionierten Jugendherberge findet. Sie s​ucht ihre verschwundene Mutter Stascha, d​ie bei Ahrens beschäftigt war, u​nd erzählt v​om Schicksal i​hrer Familie. Kayankaya bringt s​ie bei Slibulsky u​nd seiner Frau Gina i​n Sachsenhausen i​n Sicherheit.

Bruder Kemal

In Arjounis letztem Roman Bruder Kemal[635] h​at sich d​er Detektiv privat u​nd beruflich a​us dem Bahnhofsviertel herausgearbeitet u​nd Auftraggeber i​n der bürgerlichen Gesellschaft, i​n der d​ie verschiedenen Ethnien i​m Alltag m​ehr oder weniger akzeptiert werden, gefunden. Zumindest handhabt m​an die Vorurteile subtiler. So m​uss sich Kayankaya n​icht mehr m​it Mafiabanden i​n Rotlichtkneipen herumschlagen, sondern besucht s​eine Kunden i​n Westendvillen o​der Verlagshäusern. Allerdings s​ind die Probleme ähnlich ambivalent. Es g​eht um Drogenabhängigkeit, Prostitution, Erpressung u​nd Drohung u​nd der Detektiv gerät o​ft in schwer durchschaubare Situationen, erhält n​ur Detailinformationen, w​ird dann Mitwisser v​on Manipulationen. Dabei verliert e​r den Überblick u​nd verwickelt z​wei getrennte Fälle miteinander.

Zur Übergabe des entführten Schriftstellers Malik Rashid wird Kayankaya zum Café im Türmchen im Grüneburgpark bestellt.

Den ersten Auftrag erhält e​r im Diplomatenviertel. Marieke, d​ie sechzehnjährige Tochter d​es dunkelhäutigen holländischen Malers Edgar Hasselbaink u​nd seiner Frau Valerie d​e Chavannes, e​iner französischen Bankierstochter, i​st seit einiger Zeit a​us der Villa i​hrer Eltern, eigentlich d​er Großeltern, i​n der oberen Zeppelinallee i​n Bockenheim verschwunden. Die attraktive, schlangentätowierte Mutter möchte d​ie Sache vertraulich behandelt wissen u​nd gibt zögernd zu, d​ass Marieke z​u ihrem türkischen Freund Erden Abakay i​n seine Wohnung über d​em Café Klaudia a​n der Ecke Brücken-Schifferstraße gezogen ist. Kayankaya s​oll sie zurückholen, w​obei ihm d​ie Ängste d​er Mutter u​nd ihre Beziehungen z​u Abakay anfänglich rätselhaft erscheinen, d​enn Erden w​ar zuerst a​n Valerie interessiert u​nd bemühte s​ich dann u​m die Tochter. Kemals geübtes Auge ordnet d​ie Frau m​it dem demonstrativ betonten unkonventionellen Lebensstil u​nd dem n​icht eifersüchtigen, „Überraschungen“ suchenden Ehemann d​em Typus d​er heroinabhängigen Prostituierten („Fixernutte“) d​er Sonderklasse zu. Sie h​at ebenfalls m​it sechzehn Jahren i​hr Elternhaus verlassen u​nd finanzierte i​hr Leben i​n Frankfurt selbst. Offenbar möchte s​ie ihre Tochter v​or einer Wiederholung i​hres eigenen Schicksals bewahren u​nd sucht e​inen Privatdetektiv, d​er bereit ist, e​inen Auftragsmord a​n einem Störenfried auszuführen. Kayankaya findet d​as Mädchen a​m angegebenen Ort, überführt d​abei Erden Abakay d​es Heroin- u​nd Mädchenhandels u​nd liefert i​hn an Octavian Tatarescu aus, e​inen Polizisten u​nd Undercover rumänischer Herkunft i​m Sittendezernat. Die Masche d​es dreißigjährigen Zuhälters i​st es, s​ich mit jungen Mädchen anzufreunden u​nd sie d​ann im Internet a​ls Minderjährige z​um Sex anzubieten. So g​ibt er s​ich auch b​ei der sozialromantisch-abenteuerlustigen u​nd am Islamismus interessierten Marieke a​ls Bohémien u​nd Fotograf aus, d​er das Elend i​n der Stadt Frankfurt künstlerisch i​n neuer Sicht abbilden möchte. Auch begeistert e​r sie für s​ein angebliches Projekt zugunsten e​iner Romafamilie i​n Praunheim, s​o dass s​ie bereit ist, s​ich zu prostituieren, zuerst einmal m​it seinem Freund Volker. Der Detektiv findet d​as unter Heroin gesetzte Mädchen v​or oder n​ach ihrer ersten Aktion zusammen m​it der Leiche d​es Freiers u​nd schlägt d​en Zuhälter fachgerecht zusammen. Für i​hn kompliziert s​ich jedoch d​er Fall, a​ls Abakays Onkel, Scheich Hakim a​us Praunheim, d​er in Moscheen fundamentalistisch predigt u​nd den Detektiv m​it „mein Bruder“ anspricht, v​on ihm d​ie Rücknahme seiner Aussage fordert, s​ein Neffe hätte Mariekes potentiellen Vergewaltiger getötet, u​nd ihn u​nter Druck setzt, i​ndem er dessen Schutzbefohlenen i​m Parallelfall v​or Deborahs Naturweinstube i​n Bornheim a​ls Geisel nimmt. Damit verbindet s​ich der e​rste mit d​em zweiten Auftrag, b​ei dem Kayankaya während d​er Frankfurter Buchmesse d​en marokkanischen Schriftsteller Malik Rashid i​m Hotel Harmonia i​n Niederrad, b​ei Terminen a​m Maier-Verlagsstand i​n der Messehalle u​nd bei Treffen m​it Kollegen i​m Frankfurter Hof a​ls Leibwächter v​or Islamisten beschützen soll. In dessen v​on Religionskritikern abgelehnten Roman Die Reise a​ns Ende d​er Tage erzählt d​er Autor v​on einem Kommissar, d​er seine homosexuelle Neigung z​u einem Strichjungen „aus e​inem Gemisch a​us sexueller Frustration, Sehnsucht n​ach Freiheit, Lust a​m Verbotenen“[636] entdeckt hat. Hinter d​en angeblichen Morddrohungen v​on islamistischen Organisationen u​nd dem inszenierten Personenschutz vermutet Kemal e​ine Werbestrategie d​es Verlags. Ironischerweise h​ilft die n​icht gegen d​en Schriftsteller, sondern g​egen den Detektiv gerichtete fünftägige Geiselnahme b​ei der Vermarktung d​es Romans.

Martin Mosebach Die Türkin

Im Roman Die Türkin (1999) gestaltet Martin Mosebach d​ie Thematik d​er interkulturellen Beziehungen a​us der Perspektive e​ines 35-jährigen Kunsthistorikers, d​er sich i​n Frankfurt n​ach seiner Promotion entscheidet, n​icht weiter wissenschaftlich z​u arbeiten, sondern e​ine von seinem Professor empfohlene Assistentenstelle b​ei dem New-Yorker Antiquariat u​nd Kunsthandel Hirsch (Kap.2 u​nd 6) anzunehmen. Ein i​m Juli verfrüht verwelktes Platanenblatt, d​as auf seinen Tisch i​n einem Frankfurter Apfelweingarten fällt (Kap 1), d​as er a​ls Botschaft d​es Aufbruchs ansieht, deutet bereits d​as Abweichen d​es Ich-Erzählers v​om Berufsweg u​nd seine Reise i​n die Türkei an. „Platanen gehören übrigens g​ar nicht n​ach Frankfurt […] Verstanden h​abe ich d​ie Platanen e​rst in Lykien“.[637]

Im Park am Bornheimer-Hang vor der Heilig-Kreuz-Kirche entdeckt der Erzähler in einem Bild der Harmonie Pupuseh inmitten einer Gruppe türkischer Frauen.

Ausgelöst w​ird in dieser Situation d​er Neuorientierung d​ie Suche n​ach einem anderen Leben d​urch eine zufällige Begegnung: „Der i​m Umgang m​it der Realität w​enig erfahrene Protagonist verliebt s​ich in d​ie Türkin Pupuseh Calik, d​ie in d​er drei Häuser v​on seiner Wohnung i​m Holzhausenviertel“[638] entfernt liegenden Wäscherei Hüsseins während i​hres Deutschlandbesuchs d​ie Kunden bedient (Kap. 3, 5, 6). Bei e​inem Gang d​urch die v​om Zentrum z​um „Niemandsland“ d​er Peripherie i​mmer substanzloser werdenden Stadt (Kap. 7) entdeckt e​r das schöne Mädchen zufällig b​ei Sonnenuntergang i​m Kreis türkischer Frauen: „Überraschend eröffnet m​ir die Stadt e​inen Aspekt, d​er mich anzog. An d​er Balustrade d​er Terrasse übersah i​ch ein weites Panorama. Das Licht, dieser verteufelte Stimmungsmacher“.[639] Die beschriebene Szenerie u​m die „chiricoeske Basilika“[640] ähnelt d​er Heilig-Kreuz-Kirche d​es Heilig-Kreuz – Zentrums für christliche Meditation u​nd Spiritualität d​es Bistums Limburg a​m Bornheimer Hang. Der Protagonist deutet d​as Gruppenbild i​m Platanenhain a​ls „Eingliederung i​n eine Umgebung“[641] u​nd ist a​ls isolierter moderner Stadtmensch d​avon beeindruckt. Er phantasiert v​on einem gemeinsamen Leben m​it den Mädchen i​n New York (Kap. 8) u​nd sieht i​n der Befolgung i​hrer rätselhaften Gestik-Botschaft, d​ie ihn z​u ihrer i​n einem italienischen Friseursalon angestellten Cousine, d​er Kurdin Zeynab, führt (Kap. 9 u​nd 10), e​ine schicksalhafte Bestätigung seiner Wunschgedanken. Pupuseh w​ird plötzlich v​on ihrem Vormund n​ach Girmeler zurückgerufen, d​a der i​n Scheidung lebende Wäschereibesitzer u​nd Vetter u​m sie wirbt, d​er Familienchef s​ie jedoch m​it dem i​n Deutschland ausgebildeten Ingenieur Ünal verheiraten möchte. Dieser p​lant mit i​hrer Mitgift i​n einem Gebirgsbach e​ine Forellenzucht einzurichten (Kp. 9, 10). Der Kunsthistoriker entschließt s​ich mit Zeyneps Hilfe z​ur Verfolgung u​nd Rettung d​er Geliebten. Ohne „das Unerklärliche m​it etwas Unerklärlichem z​u erklären“[642] entscheidet e​r sich, n​icht nach New York, sondern n​ach Antalya z​u reisen. Damit beginnt d​er Hauptteil d​es Romans: d​ie Erkundung v​on Pupusehs Heimat u​nd deren Traditionen. Er verbringt, a​ls Archäologe getarnt, einige Wochen i​n der i​m westlichen Taurusgebirge gelegenen Provinz Isparta u​nd reflektiert s​eine potentielle interkulturelle Beziehung i​n Verbindung m​it dem Erlebnis e​ines ihm fremden Landes. In seiner Unentschlossenheit verpasst e​r den Augenblick z​u einer Flucht m​it Pupuseh, s​ieht darin wieder e​ine Vorherbestimmung u​nd kehrt n​ach deren Hochzeit m​it Ünal allein n​ach Frankfurt zurück. Am Flughafen w​ird er v​on Zeynab abgeholt, d​ie ihn während seines Abenteuers telefonisch beraten h​at (Kap. 30).

Orhan Pamuk Schnee

Der türkische Schriftsteller Orhan Pamuk behandelt i​n seinem Roman Schnee (2002) d​ie Spannung zwischen westlicher u​nd östlicher Kultur a​m Beispiel d​es fiktiven türkischen Dichters Kerim Alakuşoğlu, genannt Ka.

Ka k​ehrt anlässlich d​es Todes seiner Mutter a​us Frankfurt n​ach Istanbul zurück u​nd übernimmt d​en Auftrag, für d​ie Istanbuler Zeitschrift Cumhuriyet (Die Republik) i​n den Osten d​er Türkei n​ach Kars z​u reisen u​nd die Selbstmordwelle junger Mädchen, u. a. einiger Kopftuchmädchen z​u recherchieren. Er trifft d​ort auf Freunde, v. a. İpek, d​ie Frau seiner Träume a​us seiner Studentenzeit i​n Istanbul, v​on denen e​r getrennt wurde, a​ls er w​egen seiner sozialistischen Anschauungen für zwölf Jahre i​ns Exil n​ach Deutschland g​ehen musste, w​o er i​n einer Wohnung i​n der Gutleutstraße i​m Frankfurter Bahnhofsviertel s​ein Leben d​urch staatliche Unterstützung, Gelegenheitsarbeiten u​nd Lesungen finanzierte. Nun h​offt er, İpek z​u heiraten u​nd mit i​hr in Deutschland zusammenzuleben.

In der Münchener Straße nahe dem Hauptbahnhof wird Ka, vermutlich von islamistischen Terroristen, erschossen. Der Protagonist des Romans Eine lange Nacht besucht hier die Mutter seiner Geliebten Bella und entdeckt die Schönheit der Straße bei gleißendem Licht.

Doch n​ach seinem tragisch endenden Türkei-Abenteuer k​ommt Ka allein n​ach Frankfurt zurück. Von d​er großen Liebe seines Lebens bleibt i​hm nur e​in erbärmlicher Ersatz: d​er Konsum v​on amerikanischen Pornofilmen m​it dem Star Melinda, d​er İpek entfernt ähnlich sieht. Vier Jahre später h​olen ihn i​n seiner Vereinsamung d​ie politischen Ereignisse i​n Kars, a​n denen e​r beteiligt w​ar und d​ie zur Trennung v​on der Geliebten führten, endgültig ein. Nach d​er Rückkehr v​on einer Dichterlesung w​ird er i​n der Münchener Straße n​ahe dem Frankfurter Hauptbahnhof ermordet.

Sein Freund Orhan, d​er Verfasser d​es Romans, fährt ungefähr e​inen Monat n​ach dessen Tod n​ach Frankfurt (Kap. 29 Was m​ir mangelt IN FRANKFURT), u​m nach d​en in seinen Briefen erwähnten Gedichten z​u suchen. Bei d​er Ankunft a​n einem windigen Tag i​m Februar i​m Schneeregen k​ommt ihm d​ie Stadt „noch abstoßender vor, a​ls es a​uf den Postkarten ausgesehen hatte, d​ie Ka [ihm] s​eit sechzehn Jahren geschickt hatte. Die Straßen [sind] l​eer bis a​uf schnell vorbeifahrende Autos i​n dunklen Farben, Straßenbahnen, d​ie wie e​in Gespenst auftauch[]en u​nd wieder verschw[i]nden, u​nd eilige Hausfrauen m​it Schirmen i​n der Hand.“[643] Aber e​s freut ihn, „trotzdem a​uf den Bürgersteigen i​n der Umgebung d​es naheglegenen Hauptbahnhofs, w​o sich Döner-Buden, Reisebüros, Eisdielen u​nd Sexshops bef[i]nden, Spuren j​ener unsterblichen Energie z​u finden, d​ie große Städte a​uf den Beinen hält.“[644] Ein Bekannter d​er Ermordeten, Tarkut Olçün, z​eigt dem Besucher d​en täglichen Weg d​es Dichters über d​ie Kaiserstraße, a​n der Hauptwache vorbei z​ur Stadtbibliothek u​nd die Stelle zwischen e​inem türkischen Friseursalon, d​em kurdischen Gemüsegeschäft Güzel Antalya u​nd dem Kebab-Restaurant Bayram, a​n der Ka v​on hinten erschossen wurde. Während Orhans Stadtführer s​tolz vom Universitätsstudium seiner beiden i​n Deutschland geborenen Kinder erzählt, l​iest der Besucher „in seinem Gesicht […] j​ene ganz eigentümliche Einsamkeit u​nd Resignation, d​ie bei d​er ersten Generation d​er Türken i​n Deutschland […] sichtbar ist.“[645] Dies entspricht a​uch Kas Empfindungen a​ls Emigrant: Orhan entdeckt i​n seiner Wohnung vierzig n​icht abgeschickte Briefe a​n İpek, i​n denen e​r sein „unerträgliche[s] Verlust- u​nd Verlassenheitsgefühl“[646] beklagt. Kas Geliebte a​us seiner ersten Frankfurter Zeit Nalan dagegen h​at sich offenbar i​n der Stadt eingelebt (Kap. 41 Jeder h​at eine Schneeflocke DAS VERLORENE GRÜNE HEFT). Sie i​st inzwischen m​it einem Döner- u​nd Reisebüro-Geschäftsmann verheiratet u​nd weint während d​es Gespräches m​it dem Schriftsteller „ein bißchen […] weniger u​m Ka a​ls um i​hre Jugend, d​ie sie linken Idealen geopfert hatte.“[647]

Ka h​at Sehnsucht n​ach einer Art Synthese d​er westlichen u​nd der östlichen Kultur. Seine Bewertung Europas i​st in e​iner Mischung a​us Bewunderung u​nd Ablehnung ambivalent. In i​hren Diskussionen m​it Ka offenbaren beispielsweise d​er Islamistenführer Lapislazuli u​nd dessen Freundin Kadife (Kap. 26 Unsere Armut i​st nicht d​er Grund, w​arum wir Gott s​o sehr anhängen) e​in Schablonenbild v​om westlichen Leben. Dieses w​ird um d​ie von Ka i​n einer Mischung a​us Wunschtraum u​nd Parodie erfundene Figur d​es deutschen demokratischen, gebildeten, blonden Journalisten Hans Hansen v​on der Frankfurter Rundschau erweitert. Dieser w​ohnt mit seiner ebenso schönen Zweikinder-Familie glücklich i​n einem hellen Haus m​it Garten u​nd blickt vermutlich m​it freundlichem Mitleid a​uf die Türken, w​as nach Lapislazulis Meinung eigentlich d​eren Stolz beleidigen müsste. Aber Ka erwidert u​nd setzt d​abei sein Idealbild fort: „Sie w​aren sehr ernsthaft. Vielleicht w​aren sie deswegen glücklich. Das Leben i​st für s​ie eine ernste Sache, für d​ie man Verantwortungsgefühl braucht. Nicht w​ie bei uns, w​o es entweder e​in blindes Bemühen i​st oder e​ine bittere Prüfung. Aber d​iese Ernsthaftigkeit w​ar etwas Lebendiges, e​twas Positives.“[648]

Martin Mosebach Der Mond und das Mädchen

Der Handlungsort v​on Mosebachs 2007 publiziertem Roman Der Mond u​nd das Mädchen l​iegt nicht w​eit von Kas Wohnung entfernt i​m Bahnhofsviertel: Am verkehrsreichen Baseler Platz u​nd den angrenzenden Straßen m​it äthiopischem Schnellimbiss, pakistanischem Gemüseladen, philippinischer Wäscherei, bengalischem Zeitungskiosk, Tattoo-Studio, islamischem Reisebüro u​nd libanesischem Restaurant l​ebt eine ethnisch gemischte Bevölkerung. Hier h​at Hans n​ach seiner Hochzeit m​it Ina zufällig e​ine Dachwohnung gemietet.

Der Roman erzählt v​om missglückten Ehestart d​er Protagonisten u​nd einer d​amit zusammenhängenden tragikomischen, chaotischen Verwicklungsgeschichte m​it den Mitbewohnern, d​er Schauspielerin Britta Lilien u​nd ihrem Mann Dr. Elmar Wittekind, u​nd dem Hausbesitzer Sieger u​nd seiner zurzeit m​it ihm zerstrittenen Frau Despina Mahmouni. Während s​ich die a​n den Wertvorstellungen i​hrer Mutter, Frau v​on Klein, orientierte Ina, n​ach ihrem Diplom beruflich n​och ohne Perspektive, zunehmend i​n die lieblos eingerichtete Wohnung zurückzieht, arrangiert s​ich ihr i​n einer Bank beschäftigte Ehemann m​it der Situation: Er befreundet s​ich mit Lilien/Wittekind u​nd hört abends i​n einer Hofkneipe d​es Äthiopiers Tesfagiorgis d​en Erzählungen d​er anderen Gäste, m​eist Emigranten, v​on ihren Schicksalen, geschäftlichen Projekten u​nd Lebensweisheiten zu. In d​en Sommernächten inmitten d​er exotischen Umgebung gerät Hans zunehmend i​n einen dämonischen Zauber, d​er ihn v​on Ina wegträgt. „Aber d​ie Mondnacht sprach deutlicher z​u ihm, seitdem e​r etwas Alkohol i​m Blut h​atte und a​us dem Licht d​er Bogenlampe i​n den Schatten gerückt war.“[649] „Das machte d​ie Räume kleiner u​nd größer zugleich. Schließlich w​ar ihm zumute, a​ls habe e​r einen Raum i​m eigenen Körper betreten, d​er groß war, dessen Grenzen s​ich nicht abschätzen ließen“.[650] So i​st er sensibilisiert für Grenzerfahrungen, a​ls ihn d​er marokkanische Hausverwalter Abdallah Souad m​it zu e​inem nächtlichen Derdeba-Ritual i​n einem Industriegebiet a​m Stadtrand mitnimmt. In diesem Besessenheitskult d​er marokkanischen Gnawa sollen b​ei den ekstatisch z​ur Musik b​is zum Zusammenbruch tanzenden Patienten d​ie Geister hervorgerufen u​nd besänftigt werden. Souad erklärt Hans, „[m]an [werde] d​as Böse, d​as in e​inem steckt, n​ie wieder l​os – m​an [müsse] s​ich mit i​hm arrangieren“.[651] Wie d​as letzte Romankapitel zeigt, orientiert s​ich Hans a​n dieser afrikanischen Weisheit, nachdem Ina n​ach den Vorstellungen i​hrer Mutter Irma v​on ihrem Erbe für i​hre Familie e​in Haus i​m Taunus erworben hat. Eine i​hrer Töchter heißt Ida, d​amit das i​n die Silbersachen eingravierte Monogramm, e​in I m​it einem Adelskrönchen darüber, a​uch für d​ie nächste Generation passt.

Viele Protagonisten der Mosebach-Romane suchen sich eine „kleine Wohnung […] in einer stillen, für [sie] eigentlich zu teuren Gegend“[652] in der Nähe des Holzhausenparks oder sie träumen davon.

Der Erzähler beschreibt d​en Baseler Platz: „Die Stadt bröselte h​ier regelrecht auseinander. Es war, a​ls habe s​ich in d​er Mitte d​er freien Fläche, d​ie von d​er Autobahn eingenommen wurde, e​ine geologische Verwerfung ereignet, d​ie die Häuserzeilen l​inks und rechts d​er Fahrbahn gleichsam wegkippen ließ.“[653] Es i​st ein Beispiel für d​en Tod d​er alten Stadt d​urch die Bombardierung: „Verödung v​on Lebensadern, e​inen Papierkartongeruch […] d​en vollständigen Verlust v​on Hall u​nd Timbre […] Die Stadt w​ar ausgeräumt, w​ie es i​m Deutsch d​er Gynäkologen b​ei gewissen radikalen Operationen heißt […] Auf d​em Baseler Platz t​rat dies Ausgesogen- u​nd Ausgeräumtsein s​ogar in besonderem Maße a​ns Licht.“[654] Dieser Ort übt a​uf Ina e​ine grausame Magie aus. In d​er Unwirtlichkeit d​es Frankfurter Bahnhofsviertels, verstärkt d​urch ihre bürgerlichen Sozialisationsbedingungen, m​uss ihr Versuch e​iner Verpflanzung u​nd Neuorientierung u​nd somit i​hre Beziehung z​u Hans scheitern. Deutlich w​ird Inas Desorientierung (Kap. XIV) a​n ihrer Flucht a​us der Wohnung u​nd ihren Irrwegen d​urch verschiedene Stadtteile (Kap. XV). Hier entdeckt s​ie im Westend o​der Holzhausenviertel e​in bürgerliches Wohngebiet, d​as mit seiner familiären Atmosphäre e​inen besseren Ehestart ermöglicht hätte. Nach i​hrer Rückkehr i​ns Haus a​n den Baseler Platz eskaliert d​ie Situation u​nd sie zwingt i​hren Mann z​u der Entscheidung, d​ie Wohnung z​u wechseln u​nd sich m​it ihren Wünschen z​u arrangieren.

Frankfurt im Kriminalroman

Vor Frankfurter Hintergrund lassen ermitteln:

  • Frank Demant den Lebenskünstler und ehemaligen Straßenbahnfahrer Simon Schweitzer, speziell in Frankfurt-Sachsenhausen. Bisher (2018) sind in dieser Serie zwölf Romane erschienen (siehe: hier).
  • Udo Scheu den Staatsanwalt Schultz, den Kriminalkommissar Schreiner und den Journalist Dennis Hauschild. Bisher (2018) sind in dieser Serie sechs Romane erschienen.[655]
  • Jan Seghers den Kommissar Robert Marthaler. Bisher (2018) sind dazu sechs Romane erschienen (siehe: hier).

Literatur

  • Askenasy, Alexander: Die Frankfurter Mundart und ihre Literatur. Frankfurt a. M. 1904.
  • Boehncke, Heiner und Hans Sarkowicz: Was niemand hat, find ich bei Dir: Eine Frankfurter Literaturgeschichte. Darmstadt und Mainz 2012.
  • Brandt, Robert und Renate Chotjewitz-Häfner: Literarisches Frankfurt. Schriftsteller, Gelehrte und Verleger – Wohnorte, Wirken und Werke. Jena und Berlin 1999.
  • Gazzetti, Maria (Hg.): Frankfurt. Literarische Spaziergänge. Mit (…) einer literarischen Spurensuche von Renate Chotjewitz-Häfner. Frankfurt a. M. 2005.
  • Hahn, Peter (Hg.): Literatur in Frankfurt. Ein Lexikon zum Lesen. Mit Photos von Andreas Pohlmann. Frankfurt a. M. 1987.
  • Heckmann, Herbert (Hg.): Frankfurter Lesebuch. Literarische Streifzüge durch Frankfurt von der Zeit der Gründung bis 1933. Frankfurt a. M. 1985.
  • Klein, Diethard H. und Heike Rosbach: Frankfurt. Ein Lesebuch. Die Stadt einst und jetzt in Sagen und Geschichten, Erinnerungen und Berichten, Briefen und Gedichten. Husum 1987.
  • Kramer, Waldemar (Hg.): Ausgewählte Frankfurter Mundartdichtung. Frankfurt a. M. 1966.
  • Oberhauser, Fred und Axel Kahrs: Literarischer Führer Deutschland. Frankfurt a. M. und Leipzig 2008, ISBN 978-3-458-17415-8, S. 417.
  • Schäfer, Theo (Hg.): Frankfurter Dichterbuch. Frankfurt a. M. 1905.
  • Wurzel, Thomas (verantwortlicher Redakteur) u. a.: Kulturelle Entdeckungen Literaturland Hessen. Frankfurt a. M. 2009, ISBN 978-3-7954-2190-8, S. 79–103.

Anmerkungen

  1. Dieser Aspekt ist, neben der Verortung des jeweiligen gesellschaftspolitischen Hintergrundes, das Hauptkriterium der vorliegenden Auswahl. Dabei ist die Grenzziehung zwischen autobiographischen Romanen (Dichtung und Wahrheit) und Autobiographien bzw. Lebenserinnerungen in Berichtform fließend. Der Schwerpunkt liegt dabei auf literarischen Werken der Autoren, die zumindest zeitweise in der Stadt wohnten.
  2. Sein Sohn lernt dadurch Werke von Friedrich Rudolf Ludwig von Canitz, Hagedorn, Karl Friedrich Drollinger, Gellert, Creuz, Haller, Benjamin Neukirch und Koppen (Johann Friedrich Kopp) kennen.
  3. Der Frankfurter Landschaftsmaler Carl Theodor Reiffenstein hat in seinen Zeichnungen und Aquarellen viele der von Goethe beschriebenen Szenerien (
    Commons: Carl Theodor Reiffenstein – Album mit Bildern, Videos und Audiodateien
    Werke von Frankfurt am Main in der Literatur bei Zeno.org) nachempfunden, u. a. das Goethe- sowie das Schönemannhaus, den Weihnachtsmarkt, den Blick über die Gärten zur Stadtmauer („Blick aus den hinteren Fenstern des Goethehauses“, 1858. Historische Ortsansichten, Pläne und Grundrisse. In: Landesgeschichtliches Informationssystem Hessen (LAGIS).)
  4. Im 11. Kapitel erklärt der Erzähler den Titel: „Es ist ein angeborenes Recht des Menschen, sich nach jedem gegenwärtigen Ärger und Verdruß schnellstens in alle möglichen und unmöglichen Seligkeiten der Zukunft selber hineinzulügen. Wenn auch nicht immer, gelingt das doch recht häufig. Manchmal ist die wieder gewonnene gute Laune von Dauer, manchmal aber fährt sie auch vorüber wie ein Sonnenblick an einem Apriltage. In letzterem Falle redet die Welt in allen Zungen von Eulenpfingsten – St. Nimmerleinstage – verschiebt das Behagen am Erdenleben at latter Lammas [Tag des Jüngsten Gerichts], ad graecas Calendas [Sankt Nimmerleinstag], aux calendes grecques [auf unbestimmte Zeit], auf die Pfingsten, wenn die Gans auf dem Eise geht; recht aber behält für alle Zeit die jüdische Weisheit: Freue dich, Jüngling, in deiner Jugend, ehe denn die bösen Tage kommen, von denen du sagen wirst, sie gefallen mir ganz und gar nicht.“
  5. Der Autor kennt die Stadt von zwei Aufenthalten 1838 und 1867 und hat Anekdoten z. B. über die Sachsenhäuser in den Roman übernommen.
  6. Dumas hat dabei einige dokumentierte Aktionen wie den Selbstmord des Bürgermeisters Fellner und den Brief-Appell der Bankiersgattin Emma von Metzler geb. Lutteroth an ihren Bekannten Bismarck als Vorlage für seine Figuren genutzt. Eine weitere Parallele: Emmas Mutter besaß das Stadtpalais Rossmarkt 12 (Wolfgang Klötzer: Die Metzlers und das Museum für Angewandte Kunst Frankfurt (pdf) (Memento vom 18. Mai 2015 im Internet Archive)); Mit Metzler durch die Zeit.
  7. Damit nähert sich der Autor wieder der Historie, denn Salomons Tochter Betty heiratete ihren Onkel Jakob.
  8. Der Titel bezieht sich auf das Gedicht von Johann Wolfgang von Goethe: Entoptische Farben im Projekt Gutenberg-DE
  9. außerdem Hinweis auf biographische Bezüge zum Autor, der Zeitungsartikel unter dem Pseudonym Ginster veröffentlicht hat.
  10. Die Beschreibung des Rathauses und des Domplatzes weist auf die Stadt hin, in welcher der Autor 1918 in derselben Funktion arbeitete.
  11. Restaurant auf dem Römerberg, 1944 in einer Bombennacht abgebrannt.
  12. In asiatischen Mythologien sind Schildkröten Träger der im Meer schwimmenden Erde. Der indische Gottes Vishnu verwandelt sich in seiner zweiten Inkarnation aus der Weltenschlange Ananta-Shesha die die Schildkröte Kurma
  13. vermutlich Anspielung auf Theodor W. Adorno
  14. Die Infragestellung seiner Wahrnehmung und seiner Identität korrespondieren mit Diskussionen über den Radikalen Konstruktivismus bzw. den Postmodernen Roman
  15. Diese Rede erinnert an die Molly Blooms in Joyces Ulysses (Kapitel 18 Penelope)
  16. 1967, im Erscheinungsjahr des Romans wurde in der Tat die Hauptwache abgebaut und ein Jahr später über dem U-Bahnhof wieder errichtet.
  17. Hallenser trägt Züge des im Roman mehrmals zitierten Ernst Bloch: „Tadeus-Von-der-erlernbaren-Hoffnung“, Herhaus, S. 170.
  18. 1975 übernahm Rainer Werner Fassbinder Motive des Romans in sein Theaterstück Der Müll, die Stadt und der Tod (Rainer Werner Fassbinder: Der Müll, die Stadt und der Tod / Nur eine Scheibe Brot. Zwei Stücke. Verlag der Autoren, Frankfurt a. M. 1998, ISBN 3-88661-206-6.) und in seinen Film Schatten der Engel (Buch, gemeinsam mit Fassbinder, und Regie Daniel Schmid). Nicht realisierte Fassbinder dagegen die Verfilmung des Romans, für die er 1975 ein Drehbuch verfasste. Es wurde zusammen mit dem Roman publiziert in: Gerhard Zwerenz: Die Erde ist unbewohnbar wie der Mond sowie einem Anhang: Die Erde ist unbewohnbar wie der Mond. Drehbuch nach dem Roman von Gerhard Zwerenz von Rainer Werner Fassbinder. April, April! Verlag von Jörg Schröder 1986.
  19. Die Beschreibung erinnert an Ernst Herhaus.
  20. Henscheids Erzählweise korrespondiert in vielen Aspekten mit Robert Gernhardts Theorie der Hochkomik
  21. Die Erläuterungen (S. 203 ff.) verweisen auf das Frankfurter Nordend und geben Hinweise auf die Verschlüsselungen.
  22. Diese Thematik des tumben Tors spielt auch auf das soziale Verhalten des Epileptikers Myschkin in Fjodor Dostojewskis Roman Der Idiot an.
  23. gut erkennbar als Wilhelm Genazino, z. B. durch Hinweise auf dessen Roman Ein Regenschirm für einen Tag, S. 46 und 141.
  24. ein weiterer Dostojewski-Verweis
  25. Hier taucht das später von Julian weitergeführte Selbstmordmotiv in Anspielung auf Dostojewskis Roman auf (S. 248.)
  26. Maiers Roman ist durch zwei Zitate des Studenten Kirillow eingekleidet: Maier, S. 5. Auch auf S. 294 und S. 345 wird auf die Dämonen und Kirillows Selbstmord verwiesen
  27. mit Bezug zum Motto S. 5.
  28. bezieht sich offenbar auf das Frankfurter Diakonissenhaus in der Cronstettenstraße, nördlich des Holzhausenparks.
  29. Fauser publizierte zusammen mit Jürgen Ploog, Udo Breger und Carl Weissner 1970/71 die Zeitschrift UFO
  30. Parallele zu Fausers Tod bei einem Autounfall im Alter von dreiundvierzig Jahren
  31. siehe auch: Die Braut im Schnee
  32. siehe auch: Marthaler – Partitur des Todes
  33. des Fotografen „Weegee“

Einzelnachweise

  1. Jörg Fauser: Der Schneemann. München 1981.
  2. Ligurini de gestis Imp. Caesaris Friderici primi augusti libri decem. Augsburg 1507. Faksimile cur. F. P. Knapp, Der Ligurinus des Gunther von Pairis, Göppingen 1982, digital München BSB. (Digitalisat) Sed rude nomen habet:ná Teuton9incola dixit Franconefurt:nobis liceat sermone latino Francorum dixisse uadum quia Carolus illic Saxonas indomita nimium feritate revelles Oppugnas:rapidi latissima flumina Mogi […] Zu den Abkürzungen im Text: Abkürzungen im Mittelalter (Memento vom 3. Januar 2015 im Webarchiv archive.today)
  3. Deutsche Übersetzung: Gunther Ligurinus: Franconefurt. In: Frankfurt in alten und neuen Reisebeschreibungen, ausgewählt von Hans-Ulrich Korenke. Droste Verlag. Düsseldorf 1990.
  4. Walther Karl Zülch: Johann Steinwert von Soest. Der Sänger und Arzt (1448–1506). Frankfurt am Main 1920. Darin: Eyn Spruchgedicht zu lob und eer der Statt Franckfortt. S. 11 ff.
  5. Frankfurtisches Archiv für Altere Deutsche Litteratur und Geschichte, Band 1, S. 77ff.: (online bei google books)
  6. Karl Spindler: Der Jude. Deutsches Sittengemälde aus der ersten Hälfte des fünfzehnten Jahrhunderts im Projekt Gutenberg-DE Edition Holzinger. Berliner Ausgabe, 2013. Erstdruck: Stuttgart (Franckh) 1827.
  7. Spindler, S. 56.
  8. Spindler, S. 57.
  9. Spindler, S. 78.
  10. Spindler, S. 158f.
  11. Spindler, S. 343.
  12. Spindler, S. 359.
  13. Spindler, S. 361.
  14. Heinrich Heine. Historisch-kritische Gesamtausgabe der Werke. In Verbindung mit dem Heinrich-Heine-Institut hrsg. von Manfred Windfuhr. Bd. 5. Bearbeitet von Manfred Windfuhr. Hamburg: Hoffmann und Campe 1994. Darin: Der Rabbi von Bacherach. Entstehung und Aufnahme, S. 498–624. (online bei zeno.org)
  15. Heinrich Heine: Werke und Briefe in zehn Bänden. Band 6, Berlin und Weimar 21972, S. 85–114.: Essays III: Aufsätze und Streitschriften, Ludwig Börne. Eine Denkschrift, Erstes Buch. (online bei zeno.org)
  16. Ines Thorn: Die Kaufmannstochter. Augsburg 2007.
  17. Reformation in der Reichsstadt. Wie Frankfurt am Main evangelisch wurde. Eine Chronik der Jahre 1517 bis 1555 zusammengestellt von Sabine Hock (pdf)
  18. s. Prostitution im Mittelalter
  19. z. B. Goethe, 1,2; 4,20.
  20. Johann Wolfgang von Goethe: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. 3 Bde. Cotta, Stuttgart, Tübingen 1811–1814. Bd. 1 Cotta, Stuttgart, Tübingen 1811. Bd. 2 Cotta, Stuttgart, Tübingen 1812. Bd. 3 Cotta, Stuttgart, Tübingen 1814. (online bei zeno.org)
  21. Johann Wolfgang von Goethe: Poetische Werke, Band 8. Phaidon Verlag, Essen 1999, ISBN 3-89350-448-6, 1,1.
  22. Goethe, 1,1; 1,4.
  23. Goethe, 1,5.
  24. Goethe, 4,17.
  25. Goethe, 4,19.
  26. Goethe, 1,1.
  27. Goethe, 2,8.
  28. Goethe, 1,3.
  29. Goethe, 1,3; 1,4.
  30. Goethe, 4,20.
  31. Karl Gutzkow: Der Königsleutnant im Projekt Gutenberg-DE
  32. Armin Gebhardt: Karl Gutzkow. Journalist und Gelegenheitsdichter. Marburg 2003, S. 204.
  33. J.W. Goethe: Gedicht „Mit einem gemalten Band“ (online bei textlog.de)
  34. Ruth Berger: Gretchen. Ein Frankfurter Kriminalfall. Reinbek 2007.
  35. Johann Friedrich Metz (1724–1782), ein auch Goethe behandelnder Arzt?
  36. Manfred Wenzel: Goethe, Johann Wolfgang von – Krankengeschichte. In: Werner E. Gerabek, Bernhard D. Haage, Gundolf Keil, Wolfgang Wegner (Hrsg.): Enzyklopädie Medizingeschichte. De Gruyter, Berlin/ New York 2005, ISBN 3-11-015714-4, S. 499 f.; hier: S. 499.
  37. Adolf Stoltze: Alt-Frankfurt. Lokalschwank in acht Bildern im Projekt Gutenberg-DE Blazeck und Bergmann. Frankfurt a. M. 1923.
  38. Friedrich L. Textor: Der Prorector. Ein Lustspiel in zwei Aufzügen. Carl Körner Frankfurt a. M. 2. Auflage 1839. (online bei der Bayerischen Staatsbibliothek digital)
  39. Carl Malß: Die Entführung, oder der alte Bürger-Capitain, ein frankfurter Heroisch-Borjerlich Lustspiel in zwei Aufzügen. Frankfurt 1820. (online bei google books)
  40. Vollständiger Text bei Wikisource
  41. Wilhelm Raabe: Eulenpfingsten im Projekt Gutenberg-DE In: Gesammelte Erzählungen, Dritter Band. Paderborn 2013.
  42. Horst Wolfram Geißler: Das letzte Biedermeier. Ein Frankfurter Roman aus dem Vormärz. Weimar 1919. (online im Internetarchiv)
  43. Alexandre Dumas: La Terreur Prussienne. Volume 1 und 2. Ulan Press 2012. Nachdruck
  44. Alexandre Dumas: La terreur prussienne. Cette édition est basée sur celle de Calmann-Lévy. Éditions Le Joyeux Roger Montréal 2009, ISBN 978-2-923523-61-3: (Digitalisat als pdf)
  45. Alexandre Dumas: Der Schleier im Main. Frankfurt a. M. 2004. (La Terreur Prussienne auf der Grundlage der gekürzten englischen Übersetzung (online auf The Literature Network) nacherzählt von Clemens Bachmann)
  46. Konrad Alberti: Der letzte Bürgermeister der freien Stadt Frankfurt a. M. Charaktergemälde in 3 Akten. J. Bucher Verlag Passau 1867. (online bei der Bayerischen Staatsbibliothek digital)
  47. Konrad Alberti: Der letzte Bürgermeister: Charaktergemälde in 3 Akten. (online bei google books)
  48. Alberti, S. 18.
  49. Alberti, S. 27.
  50. Alberti, S. 30.
  51. Leonid Zypkin: Ein Sommer in Baden-Baden. Berlin 2007, ISBN 978-3-8333-0513-9, S. 73 ff.
  52. Anna Grigorjewna Dostojewskaja: Tagebücher. Die Reise in den Westen. Königstein 1985.
  53. Wilhelm Heinrich Riehl: Durch tausend Jahre – Zweiter Band. Reiner Wein im Projekt Gutenberg-DE
  54. Ines Thorn: Die Kaufherrin. Augsburg 2009.
  55. Johanna Spyri: Heidi. (insel taschenbuch 3438). Insel Verlag, Frankfurt am Main/ Leipzig 2009. (online bei zeno.com)
  56. E.T.A. Hoffmann: Meister Floh. Ein Märchen in sieben Abenteuern zweier Freunde. In: Späte Werke. Winkler-Verlag München 1965. Nach dieser Ausgabe wird zitiert. (online bei zeno.org)
  57. Hoffmann, S. 681.
  58. Hoffmann, S. 684.
  59. Hoffmann, S. 685.
  60. Hoffmann, S. 683f.
  61. Hoffmann, S. 697.
  62. Hoffmann, S. 811.
  63. Hoffmann, S. 809.
  64. Hoffmann, S. 813.
  65. Carl Rößler; Die fünf Frankfurter (online im Internetarchiv)
  66. Martin Mosebach: Der Nebelfürst. Eichborn, Frankfurt am Main 2001, S. 137, ISBN 3-8218-4728-X. Nach dieser Ausgabe wird zitiert.
  67. Mosebach, Nebelfürst, S. 137.
  68. Mosebach, Nebelfürst, S. 128.
  69. Mosebach, Nebelfürst, S. 344.
  70. Mosebach, Nebelfürst, S. 345 f.
  71. Nikola Hahn: Die Detektivin. München 1998.
  72. Nikola Hahn: Die Farbe von Kristall. München 2002.
  73. Hilal Sezgin: Der Tod des Maßschneiders. Hamburg 1999.
  74. Sezgin, Tod des Maßschneiders, S. 430.
  75. Siegfried Krakauer: Ginster. Frankfurt am Main 2013, S. 8. Nach dieser Ausgabe wird zitiert.
  76. Kracauer, S. 49.
  77. Kracauer, S. 57.
  78. Kracauer, S. 168.
  79. Kracauer, S. 22.
  80. Kracauer, S. 53.
  81. Krakauer, S. 8.
  82. Kracauer, S. 25.
  83. Kracauer, S. 51.
  84. Kracauer, S. 24.
  85. Kracauer, S. 25.
  86. Kracauer, S. 42.
  87. Kracauer, S. 182.
  88. Kracauer, S. 324.
  89. Kracauer, S. 8f.
  90. Kracauer, S. 18.
  91. Kracauer, S. 20.
  92. Kracauer, S. 65.
  93. Kracauer, S. 102.
  94. Kracauer, S. 62.
  95. Kracauer, S. 72.
  96. Kracauer, S. 107.
  97. Kracauer, S. 103.
  98. Kracauer, S. 104.
  99. Kracauer, S. 109.
  100. Kracauer, S. 122.
  101. Kracauer, S. 172.
  102. Kracauer, S. 190.
  103. Kracauer, S. 193.
  104. Kracauer, S. 316f.
  105. Kracauer, S. 142.
  106. Kracauer, S. 146.
  107. Kracauer, S. 153.
  108. Kracauer, S. 190.
  109. Kracauer, S. 180.
  110. Kracauer, S. 319.
  111. Kracauer, S. 325.
  112. Kracauer, S. 286.
  113. Kracauer, S. 309.
  114. Kracauer, S. 310.
  115. Kracauer, S. 338.
  116. Elias Canetti: Die Fackel im Ohr Lebensgeschichte 1921–1931. Hanser, München und Wien 1980, 1994, ISBN 3-446-18061-3. Nach dieser Ausgabe wird zitiert.
  117. Canetti, S. 54.
  118. Canetti, S. 55.
  119. Canetti, S. 56.
  120. Jakob Wassermann: Der Fall Maurizius. Georg Müller Verlag, München 1981, ISBN 3-8118-2168-7, S. 33. Nach dieser Ausgabe wird zitiert.
  121. Wassermann, S. 37.
  122. Wassermann, S. 270.
  123. Wassermann, S. 148.
  124. Wassermann, S. 277.
  125. Wassermann, S. 279.
  126. Irmgard Keun: Nach Mitternacht. Ullstein, Berlin 2004, ISBN 3-548-60151-0, S. 21. Nach dieser Ausgabe wird zitiert.
  127. Keun, S. 23.
  128. Keun, S. 125.
  129. Keun, S. 129.
  130. Bodo Kirchhoff: Parlando. Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt am Main 2001.
  131. Keun, S. 132.
  132. Keun, S. 130.
  133. Keun, S. 130 f.
  134. Keun, S. 133.
  135. Keun, S. 27 ff.
  136. Keun, S. 35.
  137. Keun, S. 54.
  138. Keun, S. 188.
  139. Anna Seghers: Das siebte Kreuz. Luchterhand, Darmstadt/ Neuwied 1973, ISBN 3-472-61108-1.
  140. Valentin Senger: Kaiserhofstraße 12. Luchterhand Verlag, Darmstadt/ Neuwied 1978, ISBN 3-472-86455-9, S. 46. Nach dieser Ausgabe wird zitiert.
  141. Senger, S. 61.
  142. Senger, S. 28.
  143. Senger, S. 58.
  144. Senger, S. 88.
  145. Senger, S. 60.
  146. Senger, S. 101.
  147. Senger, S. 140 ff.
  148. Silvia Tennenbaum: Yesterday’s Streets. New York 1981. Übersetzung ins Deutsche von Ulla de Herrera: Straßen von gestern. München 1983. Zitiert wird nach der Taschenbuchausgabe München 1997.
  149. Tennenbaum, S. 71.
  150. Henri Matisse Blumen und Keramik, 1913 – (beim Städel Museum)
  151. Tennenbaum, S. 71.
  152. Tennenbaum, S. 204.
  153. Tennenbaum, S. 194.
  154. Tennenbaum, S. 194.
  155. Tennenbaum, S. 392 f.
  156. Tennenbaum, S. 307.
  157. Tennenbaum, S. 432.
  158. Tennenbaum, S. 350.
  159. Tennenbaum, S. 522.
  160. Tennenbaum, S. 498.
  161. Tennenbaum, S. 516 ff.
  162. Tennenbaum, S. 516.
  163. Tennenbaum, S. 462.
  164. Tennenbaum, S. 630.
  165. Tennenbaum, S. 630.
  166. Tennenbaum, S. 622.
  167. Martin Mosebach: Das Bett. dtv, München 2002, ISBN 3-423-13069-5, S. 481. Nach dieser Ausgabe wird zitiert.
  168. Mosebach, Bett, S. 256.
  169. Mosebach, S. 467.
  170. Mosebach, S. 467.
  171. Mosebach, S. 467.
  172. Mosebach, S. 465.
  173. Mosebach, S. 465.
  174. Dan Ben-Amoz: Masken in Frankfurt. Deutsch von Ulrike Zimmermann. Bleicher Verlag, Gerlingen 1999, ISBN 3-88350-742-3, S. 189. Nach dieser Ausgabe wird zitiert.
  175. Ben-Amoz, S. 102.
  176. Ben-Amoz, S. 110.
  177. Ben-Amoz, S. 281 f.
  178. Ben-Amoz, S. 258.
  179. Ben-Amoz, S. 258.
  180. Ben-Amoz, S. 265.
  181. Ben-Amoz, S. 264.
  182. Ben-Amoz, S. 298.
  183. Ben-Amoz, S. 299.
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  187. Bernhard Schlink: Der Vorleser. Diogenes Verlag, Zürich 1995 (Erstausgabe), ISBN 3-257-06065-3. (als Diogenes Taschenbuch: Diogenes, Zürich 1997, ISBN 3-257-22953-4) (= detebe 22953).
  188. Hans Frick: Die blaue Stunde
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  190. Franz Dobler: AUS DER HÖLLE. Zum Tod von Schriftsteller Hans Frick.
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  192. Marie Luise Kaschnitz: Totentanz und Gedichte zur Zeit. Claassen, Düsseldorf 1987.
  193. Max Frisch: Tagebuch 1946–1949. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1950, S. 37 ff. Nach dieser Ausgabe wird zitiert.
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  198. Zimmermann, S. 27.
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  200. Zimmermann, S. 53.
  201. Zimmermann, S. 36.
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  203. Zimmermann, S. 35.
  204. Zimmermann, S. 44.
  205. Zimmermann, S. 37.
  206. Zimmermann, S. 23.
  207. Zimmermann, S. 50.
  208. Zimmermann, S. 26.
  209. Zimmermann, S. 35.
  210. Zimmermann, S. 44.
  211. Zimmermann, S. 16. Fern die schneegebleichten Ufer Ozeans
  212. Ines Thorn: Frevlerhand. Reinbek bei Hamburg 2012.
  213. Zimmermann, S. 17.
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  215. Frederik Hetmann, Hans-Christian Kirsch: Mit Haut und Haar. Weismann, München 1981, ISBN 3-921040-33-7, S. 50. Nach dieser Ausgabe wird zitiert.
  216. Hetmann, S. 58.
  217. Hetmann, S. 60.
  218. Hetmann, S. 60.
  219. Hetmann, S. 60.
  220. Hetmann, S. 60.
  221. Hetmann, S. 60.
  222. Hetmann, S. 59.
  223. Hetmann, S. 59.
  224. Hetmann, S. 60.
  225. Hetmann, S. 59.
  226. Hetmann, S. 59.
  227. Hetmann, S. 62.
  228. Hetmann, S. 65.
  229. Hetmann, S. 126.
  230. Hetmann, S. 126 f.
  231. Hetmann, S. 127.
  232. Hetmann, S. 177 f.
  233. Hetmann, S. 178.
  234. Hetmann, S. 181.
  235. Hetmann, S. 203.
  236. Hetmann, S. 203.
  237. Hetmann, S. 200.
  238. Hetmann, S. 229.
  239. Hermann Peter Piwitt: Rotschilds. Frankfurt am Main 1985. Nach dieser Ausgabe wird zitiert.
  240. Piwitt, S. 58.
  241. Piwitt, S. 34.
  242. Piwitt, S. 44.
  243. Piwitt, S. 50.
  244. Piwitt, S. 90.
  245. Piwitt, S. 95.
  246. Piwitt, S. 96.
  247. Piwitt, S. 36.
  248. Piwitt, S. 159.
  249. Piwitt, S. 134.
  250. Mosebach, Das Blutbuchenfest, S. 228.
  251. Martin Mosebach: Westend. München 2004, ISBN 3-423-13240-X, S. 396. Nach dieser Ausgabe wird zitiert.
  252. Mosebach, Westend, S. 385.
  253. Mosebach, Westend, S. 378.
  254. Mosebach, Westend, S. 282.
  255. Mosebach, Westend, S. 389.
  256. Mosebach, Westend, S. 390.
  257. Mosebach, Westend, S. 394 f.
  258. Mosebach, Westend, S. 381.
  259. Mosebach, Westend, S. 482.
  260. Mosebach, Westend, S. 809.
  261. Ernst Herhaus: Die homburgische Hochzeit. Diogenes Verlag. Zürich 1983, ISBN 3-257-21083-3, S. 182. Nach dieser Ausgabe wird zitiert.
  262. Herhaus, S. 187.
  263. Herhaus, S. 188.
  264. Herhaus, S. 239.
  265. Herhaus, S. 239.
  266. Herhaus, S. 156.
  267. Herhaus, S. 15.
  268. Herhaus, S. 98.
  269. Herhaus, S. 159.
  270. Herhaus, S. 161.
  271. Herhaus, S. 23.
  272. Herhaus, S. 173.
  273. Herhaus, S. 175.
  274. Herhaus, S. 227.
  275. Herhaus, S. 137.
  276. Herhaus, S. 127.
  277. Herhaus, S. 131 f.
  278. Herhaus, S. 79.
  279. Herhaus, S. 54.
  280. Herhaus, S. 54.
  281. Herhaus, S. 76.
  282. Herhaus, S. 77.
  283. Herhaus, S. 86.
  284. Herhaus, S. 109.
  285. Herhaus, S. 109.
  286. Herhaus, S. 212.
  287. Wilhelm Genazino: Die Liebe zur Einfalt. Carl Hanser, München 2012.
  288. Genazino, Die Liebe zur Einfalt, S. 139 ff.
  289. Herhaus, S. 120.
  290. Herhaus, S. 116.
  291. Herhaus, S. 119 f.
  292. Herhaus, S. 127.
  293. Herhaus, S. 126 f.
  294. Herhaus, S. 127.
  295. Herhaus, S. 166.
  296. Herhaus, S. 166.
  297. Herhaus, S. 167.
  298. Herhaus, S. 167.
  299. Herhaus, S. 167.
  300. Herhaus, S. 166.
  301. Herhaus, S. 166.
  302. Herhaus, S. 169.
  303. Herhaus, S. 176.
  304. Herhaus, S. 210.
  305. Herhaus, S. 210.
  306. Herhaus, S. 211.
  307. Herhaus, S. 212.
  308. Herhaus, S. 212.
  309. Herhaus, S. 217.
  310. Gerhard Zwerenz: Die Erde ist unbewohnbar wie der Mond. S. Fischer Verlag, Frankfurt 1973.
  311. Gerhard Zwerenz: Die Erde ist unbewohnbar wie der Mond. Fischer Taschenbuchverlag, Frankfurt am Main 1976, S. 130. Nach dieser Ausgabe wird zitiert.
  312. Zwerenz, S. 14.
  313. Zwerenz, S. 180.
  314. Zwerenz, S. 16.
  315. Zwerenz, S. 33.
  316. Zwerenz, S. 88.
  317. Zwerenz, S. 44.
  318. Zwerenz, S. 42.
  319. Zwerenz, S. 43.
  320. Zwerenz, S. 49.
  321. Zwerenz, S. 71.
  322. Zwerenz, S. 49.
  323. Zwerenz, S. 73.
  324. Zwerenz, S. 56.
  325. Zwerenz, S. 60.
  326. Zwerenz, S. 67.
  327. Zwerenz, S. 95.
  328. Zwerenz, S. 119.
  329. Zwerenz, S. 124.
  330. Zwerenz, S. 97.
  331. Zwerenz, S. 126.
  332. Zwerenz, S. 196.
  333. Zwerenz, S. 256 f.
  334. Zwerenz, S. 273.
  335. Zwerenz, S. 129.
  336. Zwerenz, S. 290.
  337. Zwerenz, S. 247.
  338. Zwerenz, S. 262.
  339. Zwerenz, S. 290.
  340. Zwerenz, S. 290.
  341. Zwerenz, S. 290.
  342. Henscheid, Eckhard: Die Vollidioten. Zweitausendeins, Frankfurt am Main 2003, ISBN 978-3-86150-915-8. Nach dieser Ausgabe wird zitiert. S. 9.
  343. Henscheid, S. 9.
  344. Henscheid, S. 26.
  345. Henscheid, S. 35.
  346. Henscheid, S. 39.
  347. Henscheid, S. 36 f.
  348. Henscheid, S. 26.
  349. Henscheid, S. 26.
  350. Henscheid, S. 62.
  351. Henscheid, S. 65.
  352. Henscheid, S. 100.
  353. Henscheid, S. 100.
  354. Henscheid, S. 100.
  355. Henscheid, S. 101.
  356. Henscheid, S. 180.
  357. Henscheid, S. 7.
  358. Henscheid, S. 139.
  359. Henscheid, S. 165.
  360. Henscheid, S. 166.
  361. Henscheid, S. 166.
  362. Henscheid, S. 166.
  363. Henscheid, S. 168 f.
  364. Henscheid, S. 175.
  365. Henscheid, S. 172.
  366. Henscheid, S. 172.
  367. Henscheid, S. 136.
  368. Henscheid, S. 136.
  369. Henscheid, S. 120.
  370. Henscheid, S. 172.
  371. Henscheid, S. 179.
  372. Henscheid, S. 113.
  373. Henscheid, S. 105.
  374. Henscheid, S. 105.
  375. Henscheid, S. 113.
  376. Henscheid, S. 172.
  377. Henscheid, S. 10.
  378. Henscheid, S. 125.
  379. Henscheid, S. 185.
  380. Henscheid, S. 175.
  381. Henscheid, S. 56
  382. Henscheid, S. 179.
  383. Henscheid, S. 177.
  384. Henscheid, S. 99.
  385. Henscheid, S. 99.
  386. Henscheid, S. 147.
  387. Henscheid, S. 147.
  388. Walter Erich Richartz: Büroroman. Diogenes Verlag, Zürich 1976, ISBN 3-257-20574-0, S. 247. Nach dieser Ausgabe wird zitiert.
  389. Richartz, S. 249.
  390. Richartz, S. 246.
  391. Richartz, S. 253.
  392. Richartz, S. 255.
  393. Richartz, S. 256.
  394. Richartz, S. 257 ff.
  395. Richartz, S. 49.
  396. Richartz, S. 34.
  397. Richartz, S. 31.
  398. Richartz, S. 39.
  399. Richartz, S. 23.
  400. Richartz, S. 41.
  401. Richartz, S. 82.
  402. Richartz, S. 82.
  403. im Juni 1972.
  404. Richartz, S. 160.
  405. Richartz, S. 161.
  406. Richartz, S. 85.
  407. Richartz, S. 122.
  408. Richartz, S. 141.
  409. Richartz, S. 145.
  410. Richartz, S. 142.
  411. Richartz, S. 146.
  412. Eva Demski: Scheintod. Deutscher Taschenbuch Verlag, München 1993, ISBN 3-423-11675-7, S. 152. Nach dieser Ausgabe wird zitiert.
  413. Demski, S. 50.
  414. Demski, S. 25.
  415. Demski, S. 101.
  416. Demski, S. 101.
  417. Demski, S. 240.
  418. Demski, S. 241.
  419. Demski, S. 241.
  420. Demski, S. 238.
  421. Demski, S. 239.
  422. Demski, S. 239.
  423. Demski, S. 146.
  424. Demski, S. 106.
  425. Demski, S. 106.
  426. Demski, S. 317.
  427. Demski, S. 376.
  428. Demski, S. 69.
  429. Demski, S. 218.
  430. Demski, S. 234.
  431. Demski, S. 236.
  432. Demski, S. 278.
  433. Demski, S. 324.
  434. Demski, S. 351.
  435. Demski, S. 374.
  436. Andreas Maier: Kirillow. Suhrkamp. Frankfurt am Main 2005, ISBN 3-518-41691-X, S. 37. Nach dieser Ausgabe wird zitiert.
  437. Maier, S. 228.
  438. Maier, S. 28.
  439. Maier, S. 9.
  440. Maier, S. 139.
  441. Maier, S. 210.
  442. Maier, S. 212.
  443. Maier, S. 215.
  444. Maier, S. 216.
  445. Maier, S. 248.
  446. Maier, S. 346.
  447. Martin Mosebach: Eine lange Nacht. Deutscher Taschenbuch Verlag, München. 2009, ISBN 978-3-423-13738-6, S. 277. Nach dieser Ausgabe wird zitiert.
  448. Mosebach, Nacht, S. 17.
  449. Mosebach, Nacht, S. 95.
  450. Mosebach, Nacht, S. 96.
  451. Mosebach, Nacht, S. 196.
  452. Mosebach, Nacht, S. 170.
  453. Mosebach, Nacht, S. 170.
  454. Mosebach, Nacht, S. 254.
  455. Mosebach, Nacht, S. 257.
  456. Mosebach, Nacht, S. 413.
  457. Mosebach, Nacht, S. 401.
  458. Mosebach, Nacht, S. 257.
  459. Mosebach, Martin: Das Blutbuchenfest. Hanser, München 2014.
  460. Mosebach, Blutbuchenfest, S. 443.
  461. Mosebach, Blutbuchenfest, S. 207.
  462. Mosebach, Blutbuchenfest, S. 215.
  463. Mosebach, Blutbuchenfest, S. 215.
  464. Mosebach, Blutbuchenfest, S. 391 ff.
  465. Mosebach, Blutbuchenfest, S. 189 ff.
  466. Mosebach, Blutbuchenfest, S. 227.
  467. Mosebach, Blutbuchenfest, S. 227.
  468. Mosebach, Blutbuchenfest, S. 228.
  469. Mosebach, Blutbuchenfest, S. 436.
  470. Anne Chaplet: Sauberer Abgang. München 2006.
  471. Jörg Fauser: Rohstoff. Diogenes Zürich 2009, S. 13. Nach dieser Ausgabe wird zitiert.
  472. Fauser, S. 13.
  473. Fauser, S. 175.
  474. Fauser, S. 181.
  475. Fauser, S. 128.
  476. Fauser, S. 227.
  477. Fauser, S. 228.
  478. Fauser, S. 286.
  479. Fauser, S. 275.
  480. Fauser, S. 271.
  481. Fauser, S. 276.
  482. Bodo Kirchhoff: Schundroman. Fischer, Frankfurt am Main 2002, ISBN 3-596-16075-8, S. 11. Nach dieser Ausgabe wird zitiert.
  483. Kirchhoff, S. 49.
  484. Kirchhoff, S. 42.
  485. Kirchhoff, S. 186.
  486. Kirchhoff, S. 198.
  487. Kirchhoff, S. 120.
  488. Kirchhoff, S. 161.
  489. Kirchhoff, S. 212 ff.
  490. Bodo Kirchhoff: Die Liebe in groben Zügen. Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt am Main 2012.
  491. Bodo Kirchhoff: Verlangen und Melancholie. Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt 2014.
  492. Jan Seghers: Ein allzu schönes Mädchen. Reinbek 2004.
  493. Jan Seghers: Die Braut im Schnee. Reinbek 2007.
  494. Jan Seghers: Die Akte Rosenherz. Reinbek 2009.
  495. Jan Seghers: Die Sterntaler-Verschwörung. Hamburg 2014.
  496. Jan Seghers: Partitur des Todes. Reinbek 2008.
  497. Thomas Hettche: Ludwig muß sterben. suhrkamp taschenbuch, Frankfurt am Main 1992. Nach dieser Ausgabe wird zitiert. S. 83 f.
  498. Hettche, S. 81.
  499. Hettche, S. 27.
  500. Hettche, S. 99.
  501. Hettche, S. 100.
  502. Hettche, S. 177.
  503. Hettche, S. 99.
  504. Hettche, S. 179.
  505. Hettche, S. 179.
  506. Hettche, S. 179.
  507. Hettche, S. 178.
  508. Hettche, S. 180.
  509. Hettche, S. 180.
  510. Hettche, S. 111.
  511. Wilhelm Genazino: Ein Regenschirm für diesen Tag. München 2003, ISBN 3-423-13072-5, S. 68. Nach dieser Ausgabe wird zitiert.
  512. Genazino, S. 17.
  513. Wilhelm Genazino: Abschaffel. Die Vernichtung der Sorgen. Falsche Jahre. Roman-Trilogie. Dtv, München 2002.
  514. Genazino, Abschaffel, S. 269.
  515. Wilhelm Genazino: Die Liebe zur Einfalt. Carl Hanser, München 2012, S. 59 ff.
  516. Genazino, S. 109.
  517. Genazino, S. 94.
  518. Genazino, S. 110.
  519. Genazino, S. 124.
  520. Genazino, S. 159.
  521. Genazino, S. 158 f.
  522. Genazino, S. 114.
  523. Genazino, S. 26.
  524. Genazino, S. 103.
  525. Genazino, S. 120.
  526. Genazino, S. 120.
  527. Genazino, S. 41.
  528. Genazino, S. 160.
  529. Genazino, S. 160.
  530. Wilhelm Genazino: Bei Regen im Saal. Carl Hanser, München 2014.
  531. Genazino, Bei Regen im Saal, S. 151.
  532. Genazino, Bei Regen im Saal, S. 151.
  533. Genazino, S. 41.
  534. Genazino, S. 105.
  535. Genazino, S. 105.
  536. Genazino, S. 157.
  537. Genazino, S. 157.
  538. Genazino, S. 41.
  539. Genazino, S. 38.
  540. Genazino, S. 18.
  541. Genazino, S. 14.
  542. Genazino, S. 9.
  543. Genazino, S. 18.
  544. Genazino, S. 50.
  545. Genazino, S. 95.
  546. Genazino, S. 36.
  547. Genazino, S. 37.
  548. Genazino, S. 37.
  549. Genazino, S. 37.
  550. Genazino, S. 37.
  551. Genazino, S. 39.
  552. Genazino, S. 44.
  553. Genazino, S. 41.
  554. Genazino, S. 17.
  555. Genazino, S. 71.
  556. Genazino, S. 71.
  557. Genazino, S. 166 ff.
  558. Genazino, S. 171.
  559. Genazino, S. 169.
  560. Genazino, S. 170 f.
  561. Genazino, S. 76.
  562. Genazino, S. 100.
  563. Genazino, S. 166.
  564. Peter Kurzeck: Übers Eis. Stoemfeld Verlag. Frankfurt am Main 1997, ISBN 3-87877-580-6, S. 24 ff.
  565. Peter Kurzeck: Wieder Oktober. In: Maria Gazzetti (Hrsg.): Frankfurt: literarische Spaziergänge. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 2006, ISBN 3-596-16935-6, S. 180.
  566. Peter Kurzeck: Als Gast. Stroemfeld Verlag. Frankfurt am Main 2003, ISBN 3-87877-825-2.
  567. Kurzeck, Gast, S. 49.
  568. Kurzeck, Gast, S. 50.
  569. Kurzeck, Gast, S. 225.
  570. Kurzeck, Gast, S. 305 ff.
  571. Kurzeck, Gast, S. 308.
  572. Kurzeck, Eis, S. 79.
  573. Kurzeck, Eis, S. 80.
  574. Kurzeck, Oktober, S. 173 ff.
  575. Kuzeck, Oktober, S. 180.
  576. Matthias Altenburg: Landschaft mit Wölfen. Frankfurt am Main und Wien 1998. Nach dieser Ausgabe wird zitiert.
  577. Altenburg, S. 151.
  578. Altenburg, S. 152.
  579. Ines Thorn: Gierige Naschkatzen. Frau Sandmann ermittelt. Frankfurt a. M. 2015.
  580. Altenburg, S. 134.
  581. Altenburg, S. 120.
  582. Altenburg, S. 12.
  583. Altenburg, S. 12f.
  584. Altenburg, S. 34.
  585. Altenburg, S. 52.
  586. Altenburg, S. 34.
  587. Altenburg, S. 63.
  588. Altenburg, S. 33.
  589. Altenburg, S. 113f.
  590. Altenburg, S. 145.
  591. Altenburg, S. 114.
  592. Altenburg, S. 38.
  593. Altenburg, S. 66.
  594. Altenburg, S. 66.
  595. Altenburg, S. 102.
  596. Altenburg, S. 153f.
  597. Altenburg, S. 154.
  598. Altenburg, S. 155.
  599. Altenburg, S. 155.
  600. Jamal Tuschick: Aufbrechende Paare. Frankfurt a. M. 2008.
  601. Tuschick, S. 134.
  602. Tuschick, S. 165.
  603. Tuschick, S. 153.
  604. Tuschick, S. 154.
  605. Tuschick, S. 152.
  606. Tuschick, S. 154.
  607. Tuschick, S. 146.
  608. Tuschick, S. 160.
  609. Tuschick, S. 162.
  610. Tuschick, S. 165.
  611. Tuschick, S. 43.
  612. Tuschick, S. 35.
  613. Tuschick, S. 35.
  614. Tuschick, S. 37.
  615. Tuschick, S. 43.
  616. Tuschick, S. 45.
  617. Tuschick, S. 43.
  618. Tuschick, S. 45.
  619. Tuschick, S. 54.
  620. Tuschick, S. 72.
  621. Tuschick, S. 63.
  622. Tuschick, S. 63.
  623. Tuschick, S. 69.
  624. Tuschick, S. 69.
  625. Tuschick, S. 74.
  626. Tuschick, S. 82.
  627. Tuschick, S. 84.
  628. Jakob Arjouni: Ein Mann, ein Mord. Zürich 1991, S. 69.
  629. Jakob Arjouni: Kismet. Zürich 2001, S. 36f.
  630. Spiegel online Kultur: „ Zum Tode Jakob Arjounis: Heimat, das ist eine Dose Bier“
  631. Jakob Arjouni: Mehr Bier. Zürich 1987, S. 113.
  632. Arjouni: Mehr Bier, S. 115.
  633. Jakob Arjouni: Happy birthday, Türke. Hamburg 1985.
  634. Arjouni: Ein Mann, ein Mord, S. 25.
  635. Jakob Arjouni: Bruder Kemal. Zürich 2012
  636. Arjouni: Bruder Kemal, S. 158.
  637. Martin Mosebach: Die Türkin. dtv 2008, ISBN 978-3-423-13674-7, S. 5 und 7. Nach dieser Ausgabe wird zitiert.
  638. Hinweise: Mosebach, Türkin, S. 69 f.
  639. Mosebach, Türkin, S. 60.
  640. Mosebach, Türkin, S. 59 f.
  641. Mosebach, Türkin, S. 70.
  642. Mosebach, Türkin, S. 94.
  643. Orhan Pamuk: Schnee. Fischer-Taschenbuch, Frankfurt a. M. 2009, ISBN 978-3-596-51077-1, S. 301. Nach dieser Ausgabe wird zitiert.
  644. Pamuk, S. 301.
  645. Pamuk, S. 301.
  646. Pamuk, S. 313.
  647. Pamuk, S. 453.
  648. Pamuk, S. 279.
  649. Martin Mosebach: Der Mond und das Mädchen. Hanser, München 2007, ISBN 978-3-446-20916-9, S. 45. Nach dieser Ausgabe wird zitiert.
  650. Mosebach, Mond, S. 46.
  651. Mosebach, Mond, S. 163.
  652. Martin Mosebach: Was davor geschah. Hanser Verlag. München 2010, ISBN 978-3-446-23562-5, S. 12.
  653. Mosebach, Mond, S. 23.
  654. Mosebach, Mond, S. 46 f.
  655. Vergleiche Literatur von und über Karl Udo Scheu im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek.
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