David Lloyd George
David Lloyd George, 1. Earl Lloyd-George of Dwyfor OM (* 17. Januar 1863 in Manchester als David George; † 26. März 1945 in Llanystumdwy, Caernarfonshire) war ein britischer Politiker. Er wurde während des Ersten Weltkriegs, im Dezember 1916, zum Premierminister gewählt und war der letzte Liberale, der dieses Amt innehatte. Im Oktober 1922 wurde er von den Konservativen gestürzt. 1919 war er einer der „Großen Vier“ bei der Pariser Friedenskonferenz.
Kindheit und Jugend
Nach dem frühen Tod seines Vaters, eines Volksschuldirektors, wuchs David George bei seinem Onkel, dem Bruder mütterlicherseits, Richard Lloyd, auf. Aus Verehrung für seinen Onkel, der es ihm später auch ermöglichte, Rechtswissenschaften zu studieren, fügte der junge David George seinem Namen das Wort Lloyd bei. Sein Leben lang blieb es umstritten, ob dieses ein Vor- oder Nachname sei. Bis ins Jahr 1917 wurde Lloyd in britischen Enzyklopädien als Vorname geführt, seither als Nachname.
Politischer Aufstieg
1890 wurde Lloyd George im walisischen Wahlkreis Caernarfon für die Liberalen ins britische Unterhaus gewählt, dem er bis 1945 angehörte. Er gehörte dem linksliberalen Flügel seiner Partei an und war Mitglied im renommierten Reform Club. Früh erweckte der junge Abgeordnete mit feurigen, bisweilen aggressiven Reden Aufmerksamkeit. Zunächst setzte er sich für mehr Selbstbestimmung für Wales und – damals seinem Selbstverständnis nach ein Pazifist – gegen den Burenkrieg ein. Im Jahr 1905 trat Lloyd George als Handelsminister in das liberale Kabinett von Henry Campbell-Bannerman ein. Als dieser 1908 starb, wurde Herbert Henry Asquith neuer Premier, und Lloyd George übernahm Asquiths bisheriges Amt als Schatzkanzler, das er bis 1915 innehatte. In der Funktion als Schatzkanzler setzte er sich für grundlegende Sozialreformen, etwa für eine allgemeine Britische Rentenversicherung, ein sowie für die Autonomie Irlands. Zur Finanzierung seines ambitionierten Sozialprogramms führte er 1909 die erste progressive Einkommensbesteuerung in Großbritannien ein und erhöhte die Erbschaftssteuer deutlich. Dies führte zu heftigem Widerstand im Oberhaus, der 1911 mit dem Parliament Act gebrochen wurde, der die Macht des Oberhauses auf Dauer einschränkte.
Während dieser Zeit war er auch in den Marconi-Skandal verwickelt. Am 19. Februar 1913 wurde sein sich im Bau befindendes Landhaus von der Suffragette Emily Davison in die Luft gesprengt.[1][2]
Lloyd George als Premier
Krieg und Frieden
Lloyd Georges pazifistische Einstellung änderte sich 1911 vor dem Hintergrund der zweiten Marokkokrise. In seiner berühmten Mansion-House-Rede ließ er erstmals seine Bereitschaft durchblicken, den Krieg im Sinne einer ultima ratio als Mittel der Politik zu akzeptieren. Obwohl er in der Julikrise 1914 zu jenen Mitgliedern der britischen Regierung gehörte, die eine Verwicklung Großbritanniens in den europäischen Krieg zu verhindern suchten, erklärte er sich nach der britischen Kriegserklärung an das Deutsche Reich am 4. August 1914 als einziger Angehöriger des als „radikalpazifistisch“ bezeichneten Flügels des Kabinetts bereit, in der Regierung zu verbleiben. In deren Auftrag gründete er das War Propaganda Bureau. Bei der Bildung der Koalitionsregierung mit den Konservativen im Mai 1915 wurde er Munitions- und im Sommer 1916 Kriegsminister.
Anfang Dezember 1916 zwang er Asquith durch Rücktrittsdrohungen, sein Amt als Premier aufzugeben. Lloyd George trat selbst an die Spitze der Koalitionsregierung mit den Konservativen, während Asquiths Anhänger in die Opposition gingen. Die Liberale Partei wurde so gespalten, dass sie sich nie mehr völlig erholte. In den Folgejahren erlangte er eine fast diktatorische Stellung im Kabinett und verfolgte eine Kriegspolitik, die auf eine vollständige Niederlage des Deutschen Reiches abzielte. Lloyd George wurde zur treibenden Kraft der wirtschaftlichen Kriegsführung Großbritanniens. Dem von ihm entwickelten Wirtschaftssystem und seinen Zugeständnissen an die Arbeiterschaft war zu verdanken, dass Großbritannien wirtschaftlich nicht zusammenbrach.
Lloyd George war innerhalb der britischen Politik von Kriegsbeginn an ein sogenannter Eastener gewesen, der die Entscheidung nicht an der stärksten Stelle der Mittelmächte – der Westfront – suchte, sondern zuerst die Verbündeten des Deutschen Reiches ausschalten wollte. In der für die Entente militärisch kritischen Situation des Jahres 1917 versuchte er nun, statt der Methode des bringing Germany down by the process of knocking the props under her („Deutschland zu Fall bringen, indem man fortschreitend die Stützen unter ihm wegschlägt“), das Deutsche Reich durch einen Sonderfrieden mit Österreich-Ungarn zu schwächen.[3]
Am 20. März 1917 bezeichnete Lloyd George die Beseitigung der reaktionären Militärregierungen und die Etablierung von populären Regierungen als Basis des internationalen Friedens als die wahren Kriegsziele Großbritanniens. Am 4. August desselben Jahres nahm das National War Aims Committee, mit Lloyd George und Asquith als Präsidenten, eine rege Propagandatätigkeit in diesem Sinne auf.[4]
Auf der Friedenskonferenz von Versailles vertrat er eine mittlere Position zwischen seinen Verbündeten, dem US-Präsidenten Woodrow Wilson und dem französischen Ministerpräsidenten Georges Clemenceau. Er trat für eine politische Bestrafung des Deutschen Reiches ein, dem er die Hauptschuld am Kriegsausbruch anlastete, wollte das Reich aber, anders als Clemenceau, nicht territorial zerstückeln und auf Dauer wirtschaftlich schädigen. Dass es im südlichen und östlichen Grenzgebiet Ostpreußens und in Oberschlesien Volksabstimmungen über den Verbleib im Deutschen Reich gab, ging vor allem auf Lloyd Georges Initiative zurück.
Lloyd George scheiterte aber letztlich mit seiner Forderung: The new map of Europe must be so drawn as to leave no cause for disputation which would eventually drag Europe into a new war[5] („Die neue Landkarte von Europa muss so gezeichnet werden, dass sie keinen Grund mehr lässt für Auseinandersetzungen, die Europa schließlich in einen neuen Krieg ziehen würden.“). Gegenüber dem ehemaligen Osmanischen Reich, das mit dem Deutschen Reich im Krieg verbündet war, vertrat Lloyd George eine deutlich härtere Position: Die Bedingungen des Vertrags von Sèvres waren außerordentlich restriktiv gegenüber den Türken, was laut einigen Historikern folgende Gründe habe: der Völkermord an den Armeniern und die verlustreiche Dardanellenschlacht von 1915.[6] Im Abkommen über Konstantinopel und die Meerengen war beschlossen worden, die Türken endlich aus Europa zu verdrängen. Lloyd George äußerte, der Krieg und die Niederlage der Türken habe die Gelegenheit gebracht, dieses „Problem ein für allemal zu erledigen“.[7] Die Alliierten hatten am 18. Dezember 1916 US-Präsident Wilson mitgeteilt, die „Völker zu befreien, die der blutigen Tyrannei der Türken unterworfen waren“.[8] Weitere Zitate Lloyd Georges zu dem Thema waren: „Wenn die Friedensbedingungen verkündet werden, wird man sehen, zu welch harten Strafen die Türken wegen ihrer Verrücktheit, ihrer Blindheit und ihrer Morde verurteilt werden … Die Strafen werden so fürchterlich sein, dass selbst ihre ärgsten Feinde zufriedengestellt sein werden.“[9] „Was mit Mesopotamien geschehen wird, muss in den Sitzungen des Friedenskongresses entschieden werden, aber eines wird nie geschehen. Es wird niemals wieder der verdammten Tyrannei des Türken überlassen.“[10]
1919 und 1920 gelang es Lloyd George, drohende Arbeiteraufstände durch Verhandlungen zu verhindern. Außenpolitisch blieb er nach Kriegsende weitgehend erfolglos. Seine Bemühungen um die Bildung eines großgriechischen Reiches zu Ungunsten der Türkei scheiterten.
Niedergang seiner Regierung
Das drängendste innenpolitische Problem dieser Zeit war die Lösung der Irlandfrage. Als Waliser – er ist bis heute der einzige Waliser, der je das Amt des britischen Premierministers bekleidete – hatte er Verständnis für den Wunsch einer Mehrheit der Iren nach mehr Selbständigkeit. Mit der Schaffung des Irischen Freistaats im Jahr 1921, also mit der Gewährung der vollen Autonomie für den überwiegend katholischen Süden der Insel suchte er eine tragfähige Friedenslösung zu etablieren. Terroristische Kampagnen der IRA in London und der nordirischen Provinz sorgten jedoch für Unmut bei seinem konservativen Koalitionspartner. Der massenhafte Verkauf von Adelstiteln, um sich einen persönlichen Wahlkampffonds aufzubauen, sorgte im Juni 1922 für einen weitreichenden Skandal, als seine Praktiken im Oberhaus (House of Lords) bloßgestellt wurden. Dies, Differenzen über die Wirtschaftspolitik und der Misserfolg seiner Politik im Nahen Osten, wo er in Syrien die arabischen Nationalisten gegen die Franzosen unterstützte, führten im Oktober 1922 zum Sturz Lloyd Georges im Gefolge der Chanakkrise und zur Bildung einer konservativen Regierung unter Andrew Bonar Law.
Aufgrund ihrer Spaltung verloren die Liberalen damals sehr an Gewicht in der britischen Politik und stellten bis heute nie mehr einen Premierminister.
Späte Jahre
Lloyd George blieb Mitglied des Unterhauses. In den Folgejahren kam er immer wieder als Kandidat für Ministerämter ins Gespräch, übte aber nie wieder eine offizielle Funktion in der Exekutive aus. Von 1926 bis 1931 war er Parteivorsitzender der Liberalen.
Bei den britischen Unterhauswahlen am 30. Mai 1929 errangen die Liberals 23,6 Prozent der Stimmen bzw. (Folge des Mehrheitswahlrechts) 9,6 % (59 von 615) Sitze im Unterhaus. Sie waren damit „Zünglein an der Waage“; weder Labour (287) noch die Tories (260) hatten eine Unterhausmehrheit. Lloyd George und die Liberalen unterstützten den Labour-Premierminister Ramsay MacDonald. Dieser stürzte im Herbst 1931 in der Hochphase der Weltwirtschaftskrise.
In den 1930er-Jahren gehörte Lloyd George zu den Vertretern der Appeasement-Politik und versuchte, im Auftrag der britischen Regierung zwischen Großbritannien und NS-Deutschland zu vermitteln. So traf Lloyd George am 4. September 1936 Adolf Hitler im Berghof in Berchtesgaden, um von diesem über die außenpolitische Pläne des Deutschen Reiches Auskunft zu erhalten. Hitler überreichte Lloyd George ein signiertes Porträt und drückte seine Freude darüber aus, „den Mann getroffen zu haben, der den Krieg gewonnen hatte“. Der damals schon greisenhafte (im Alter von 73 Jahren) Lloyd George war von dieser Geste bewegt und antwortete, dass er sehr geehrt sei, solch ein Geschenk aus den Händen des „greatest living German“[11] („größten lebenden Deutschen“) zu erhalten. Nach seiner Rückkehr nach England schrieb er am 17. September einen Artikel für den Daily Express, in dem er Hitler in den höchsten Tönen lobte und vermerkte: „The Germans have definitely made up their minds never to quarrel with us again“[12] („Die Deutschen haben sich definitiv entschlossen, niemals mehr mit uns Streit zu führen.“). Die gesamte Unterredung wurde von dem damaligen „Leibübersetzer“ Paul-Otto Schmidt übersetzt.
1938 erhielt Lloyd George nach eigener Aussage ein Angebot der im Spanischen Bürgerkrieg mit der Militärpartei um General Franco in Bedrängnis geratenen republikanisch-spanischen Regierung, sich ihr als Versorgungsminister anzuschließen, was er schließlich aber ausgeschlagen habe.[13] 1940 tat er sich in der sogenannten „Norwegendebatte“, die zum Sturz der Regierung unter Neville Chamberlain und der Bildung der Kriegsregierung Churchill führte, letztmals als Redner im Unterhaus hervor. Zeitweilig hatte er neben Churchill selbst sowie Anthony Eden und Lord Halifax als möglicher Nachfolger Chamberlains gegolten. Churchill versuchte ihn auch in sein neues Kabinett zu integrieren, scheiterte jedoch mit diesem Anliegen.
1945 wurde Lloyd George auf Vorschlag von Churchill, der seinem greisen Freund die Strapazen eines aufgrund des zu dieser Zeit absehbar werdenden Kriegsendes fällig werdenden, anstrengenden Unterhauswahlkampfes ersparen wollte, als Earl Lloyd-George of Dwyfor in den erblichen Adelsstand erhoben. Lloyd George erhielt einen Sitz im House of Lords. Wenige Monate später verstarb er.
In seinem einstigen Wohnort Llanystumdwy erinnert ein Museum an David Lloyd George.[14]
Lloyd George im Urteil der Nachwelt
Peter de Mendelssohn urteilte über Winston Churchill und David Lloyd George: „Die britische Politik hat die beiden fundamentalen Triebkräfte, die einen Mann unaufhaltsam auf die höchste Stelle in Staat und Gemeinschaft, auf Machtbefugnis, Autorität und Verantwortung drängen, nie deutlicher herausgestellt als in diesen beiden Männern. Lloyd George sah eine Aufgabe und erwartete von sich, daß er für die Bewältigung groß genug sein werde. Churchill sah sich selbst und erwartete von der Aufgabe, daß sie für ihn groß genug sein werde.“[15] In einer Umfrage der BBC unter Historikern, Politikern und politischen Kommentatoren, bei der die Abstimmenden den besten Premierminister des 20. Jahrhunderts wählen sollten, belegte Lloyd George den zweiten Rang (hinter Churchill).[16]
Trivia
Nach Lloyd George wurde eine Himbeersorte benannt.
Schriften (Auswahl)
- Lloyd George: Bessere Zeiten. Übersetzung Helene Simon. Vorwort Eduard Bernstein. Jena: Eugen Diederichs, 1911
Literatur
- Lord Beaverbrook: The Decline and Fall of Lloyd George. Collins, London, 1963.
- John Campbell: Lloyd George: The Goat in the Wilderness 1922–1931. Jonathan Cape, London 1977, ISBN 0-224-01296-7.
- Roy Hattersley: David Lloyd George: The Great Outsider. Little Brown, London, 2010, ISBN 978-0-349-12110-9.
- Michael Kinnear: The Fall of Lloyd George: The Political Crisis of 1922. Macmillan, London 1973, ISBN 1-349-00522-3.
- Lloyd George, David. In: Encyclopædia Britannica. 11. Auflage. Band 16: L – Lord Advocate. London 1911, S. 832 (englisch, Volltext [Wikisource]).
Weblinks
- Literatur von und über David Lloyd George im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek
- Zeitungsartikel über David Lloyd George in der Pressemappe 20. Jahrhundert der ZBW – Leibniz-Informationszentrum Wirtschaft
- The Lloyd George Society (englisch)
- Anja Kettern: David Lloyd George. Tabellarischer Lebenslauf im LeMO (DHM und HdG)
Einzelnachweise
- Chronik 19. Februar 1913. Deutsches Historisches Museum
- Als Großbritanniens Feministinnen rabiat wurden. Zeit Online, 21. November 2011
- David French: Allies, Rivals and Enemies: British Strategy and War Aims during the First World War. In: John Turner (Hrsg.): Britain and the First World War. London 1988, ISBN 0-04-445108-3, S. 22–35, hier: S. 33.
- V.H. Rothwell: British War Aims and Peace Diplomacy 1914–1918. Oxford 1971, S. 71 und 145. Insgesamt zu dieser Thematik siehe: Hubert Gebele: Großbritannien und der Große Krieg. Die Auseinandersetzung über Kriegs- und Friedensziele vom Kriegsausbruch 1914 bis zu den Friedenschlüssen von 1919/1920. Roderer, Regensburg 2009, ISBN 978-3-89783-671-6.
- Harold I. Nelson: Land and Power. British and Allied Policy on Germany’s Frontiers 1916–19. London 1963, S. 303.
- Äußerung von Lloyd George in Gotthard Jäschke: Mustafa Kemal und England in neuer Sicht. In: Die Welt des Islams, Band XVI, Leiden 1975, S. 225
- Gotthard Jäschke: Kurtuluş Savaşı ile ilgili İngiliz Belgeleri (Englische Dokumente zum Befreiungskrieg), Ankara 1971, S. 54
- Harold W. V. Temperley; History of the Peace Conference of Paris. Band 6, London / New York / Toronto 1969, S. 23.
- T. Z. Tunaya: Türkiye'de Siyasi Partiler (Politische Parteien in der Türkei). Istanbul 1989, Band 2, S. 27.
- Richard G. Hovannisian: The Allies and Armenia, 1915-18. In: Journal of Contemporary History, Band 3, 1968, S. 148.
- Thomas Jones: Lloyd George. Oxford University Press, London 1951, online edition, S. 247.
- Thomas Jones: Lloyd George. S. 248.
- C. P. Snow: Lloyd George. In: Variety of Men. Penguin Books, Harmondsworth 1967, S. 92–110.
- The Lloyd George Museum auf den Seiten des Gwynned Council, abgerufen am 21. August 2016.
- Peter de Mendelssohn: Churchill. Sein Weg und seine Welt. Lemm, Freiburg 1957.
- Churchill ‘greatest PM of 20th Century’. BBC, 4. Januar 2000, abgerufen am 26. September 2019.
Vorgänger | Amt | Nachfolger |
---|---|---|
Herbert Kitchener, 1. Earl Kitchener | Secretary of State for War 1916 | Edward Stanley, 17. Earl of Derby |
Herbert Henry Asquith | Britische Premierminister 1916–1922 | Andrew Bonar Law |
Titel neu geschaffen | Earl Lloyd-George of Dwyfor 1945 | Richard Lloyd George |