Kernenergie in Frankreich
Kernenergie hatte 2016 in Frankreich einen Anteil von 39 % am Energiemix, also an der in Frankreich verbrauchten Primärenergie.[1] 72 % des 2016 produzierten Stroms (403 TWh (brutto) von 556 TWh) wurde von Kernkraftwerken erzeugt.[2][3]
Frankreich hatte damit den höchsten prozentualen Anteil nuklear erzeugten Stroms weltweit.[4]
Frankreich ist größter Netto-Exporteur elektrischer Energie in Europa; Hauptabnehmer sind Italien, die Schweiz, die Niederlande, Belgien, Großbritannien und Deutschland (siehe Tabelle hier). Deutschland übernahm zeitweilig wegen der Energiewende diese Position für 2016[5], liegt aber derzeit immer noch hinter Frankreich (Datenbasis 2018).
2011 wurden in Frankreich 542 Milliarden kWh (netto) erzeugt und 478 Mrd. kWh konsumiert (etwa 6800 kWh pro Person). 2011 war ein relativ mildes Jahr; 2010 wurden 513 Mrd. kWh konsumiert. (1 Mrd. kWh = 1 TWh). 2011 wurden 56 Mrd. kWh exportiert.[6]
Die 56 in Betrieb befindlichen Kernreaktoren werden vom staatlich dominierten Stromkonzern EDF betrieben. 14 alte Reaktoren waren endgültig abgeschaltet.[7] [3] Ein EPR-Reaktor ist seit dem 3. Dezember 2007 in Flamanville in Bau, einem Kraftwerksstandort mit zwei Druckwasserreaktoren aus den 1980er Jahren. Die geplanten Baukosten werden massiv überschritten: statt 3,3 Milliarden Euro sollen es (Stand Juli 2019) etwa 12,4 Milliarden Euro werden (Näheres hier).
Nicolas Sarkozy, Staatspräsident von 2007 bis Mai 2012, plante bis etwa zum Ausbruch der Wirtschaftskrise den Neubau eines weiteren EPR.[8] Nach der Nuklearkatastrophe von Fukushima (März 2011) und der Wahl von François Hollande zum neuen Staatspräsidenten wurde der Plan nicht weiter verfolgt.
Der staatliche Energiekonzern EdF (Électricité de France) plant (Stand Februar 2012), die Laufzeiten über 40 Jahre hinaus zu verlängern; angestrebt werden 60 Jahre (Stand Anfang 2012).[9] François Hollande, Staatspräsident Frankreichs von 2012 bis 2017, galt als weniger atomkraftfreundlich als sein Vorgänger Sarkozy. Unter seiner Präsidentschaft wurde ein allmählicher Ausstieg aus der Nuklearenergie beschlossen: So wurde im 2015 beschlossenen Loi relative à la transition énergetique pour la croissance verte festgehalten, dass der Anteil der Kernenergie an der Energieerzeugung auf 50 % gesenkt werden sollte. Unter seinem Nachfolger Emmanuel Macron wurde dieses Ziel mit der 2019 beschlossenen Programmation pluriannuelle de l'énergie auf 2035 verschoben. Die französische Regierung sprach sich im April 2020 für eine Laufzeitverlängerung auf 50 Jahre aus. Die französische Atomaufsicht Autorité de sûreté nucléaire (ASN) schrieb im Februar 2021 in einer Stellungnahme, dass Reparaturen an den 32 ältesten Reaktoren Bedingung für die Laufzeitverlängerung seien.[10]
Geschichte
Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden in Frankreich viele Talsperren unter anderem zur Stromerzeugung errichtet (Liste hier); die Wasserkraft hatte Anfang der 1960er Jahre etwa 70 % Anteil am erzeugten Strom. Infolge des mit Wirtschaftswachstum und Strukturwandel steigenden Strombedarfs wurden in den 1960ern insbesondere Ölkraftwerke zur Deckung des volatiler werdenden Strombedarfs zugebaut.[11]
Die Kernenergie lieferte in der Anfangszeit der 1960er Jahre nur einen geringen Beitrag zur elektrischen Energieproduktion. Es wurden, auf Erfahrungen aus dem französischen Atomwaffenprogramm aufbauend, zwischen 1959 und 1972 neun gasgekühlte und graphitmoderierte Reaktoren (UNGG-Reaktoren) in Betrieb genommen; diese konnten mit Natururan betrieben werden. 1967 wurden ein Druckwasserreaktor und ein gasgekühlter Schwerwasserreaktor zur Erprobung der Technologien in Betrieb genommen. 1973 trug die Kernenergie 8 % zur Stromproduktion in Frankreich bei.[11][3]
Messmer-Plan
Pierre Messmer (1916–2007) war vom 5. Juli 1972 bis zum 27. Mai 1974 französischer Premierminister (unter Staatspräsident Georges Pompidou). Der „Messmer-Plan“ (Stromproduktion aus Uran zur Verringerung der Abhängigkeit von Energieimporten)[11] wurde schon vor der ersten Ölpreiskrise beschlossen. Der massive Zubau neuer Kernkraftwerke war also nicht (wie vielfach angenommen) eine Reaktion auf die Ölpreiskrise. Es gab nach de Gaulles Rücktritt (1969) ein Atom-Kommissariat mit etwa 3.000 Mitarbeitern. Diese waren unterbeschäftigt, nachdem die Atomstreitmacht bewaffnet war. 1971 ging der Leiter des Atom-Kommissariats in den Ruhestand; André Giraud (1925–1997) wurde sein Nachfolger. Giraud ergriff einige energische Maßnahmen und veröffentlichte im März 1971 einen Plan:
- In den Jahren von 1971 bis 1975 sollten nun vier oder fünf (statt bis dahin geplant zwei) neue Atomkraftwerke mit einer Gesamtleistung von 8000 Megawatt (MW) gebaut werden;
- Als erste Neubauten wurden Fessenheim I (bei Freiburg im Breisgau) und Bugey II im Kernkraftwerk Bugey (bei Lyon) vorgesehen.
Die Baubeginne zeigen das Tempo des Ausbaus: Bugey II 1. November 1972, Bugey III 1. September 1973, Bugey IV 1. Juni 1974, Bugey V 1. Juli 1974. Giraud näherte Staat und Atomindustrie einander stark an[12] (Näheres im Personenartikel). Der Bau dauerte allerdings deutlich länger als erwartet (Fertigstellung zwischen Mai 1978 und Juli 1979). 1980 gingen sieben französische Atomkraftwerke in Betrieb, 1981 acht, 1982 zwei, 1983 vier, 1984 sechs, 1985 vier und 1986 sechs.
Georges Pompidou (Staatspräsident Juni 1969–1974) trieb wie seine Vorgänger die Modernisierung Frankreichs voran. Frankreich war bis in die 1960er Jahre ein agrarisch geprägtes Land. Mit zunehmender Industrialisierung während des Wirtschaftsbooms der Nachkriegsjahre (Trente glorieuses) entfielen viele Arbeitsplätze in der Landwirtschaft und entstanden viele in der Industrie. Der Energieverbrauch Frankreichs stieg deutlich an.
Die EdF wählte als Technologie den Druckwasserreaktor aus, u. a. auch wegen der vorhandenen Urananreicherungskapazitäten aus dem Atomwaffenprogramm. Die nationale Genehmigungs- und Aufsichtsbehörde Autorité de sûreté nucléaire (in Deutschland: auf föderaler Ebene, siehe Atomaufsichtsbehörde) begünstigte die Verwendung standardisierter Reaktordesigns in ganz Frankreich (CP0, CP1, CP2); dies war eine Grundlage für einen schnellen und relativ preisgünstigen Ausbau der Kernkraftwerks-Kapazitäten in den 1970er und 1980er Jahren. In Deutschland wurden dagegen relativ viele verschiedene Typen gebaut; nur von der Baulinie 69 (1969) gab es vier fast baugleiche Kernreaktoren. 1979 wurden 20 % des Stroms in Kernkraftwerken erzeugt, 1983 waren es 49 % und 1990 etwa 75 %. Parallel zum Ausbau der Kernenergie wurden fossile Kraftwerke stillgelegt.[13][11]
Ära Mitterrand und Abflauen des Booms
Unter François Mitterrand (Präsident 1981–1995) kam es zu einer Verlangsamung des Zubaus von Kernkraftwerken (siehe Liste der Nuklearanlagen in Frankreich). Es zeigte sich, dass der Messmer-Plan (ähnlich wie viele deutsche Prognosen in den 1970er Jahren) den Strombedarf massiv überschätzt hatte. Es entstand eine Überkapazität an Kernkraftwerken. 1988 waren die Reaktoren der EDF im Mittel nur zu 61 % ausgelastet; dies erschwerte die Rückzahlung der für ihren Bau aufgenommenen Kredite. Zur Erschließung zusätzlicher Absatzmöglichkeiten wurden daher Verbindungen zu den Elektrizitätsnetzen der Nachbarstaaten ausgebaut (siehe Europäisches Verbundsystem).[11]
Reaktion auf Fukushima
Im Gegensatz zu Deutschland und weiteren Ländern, insbesondere Japan, änderte nach den Kernschmelzen in Fukushima Frankreich unter Präsident Nicolas Sarkozy seine Atompolitik nicht. Ob die Stresstests für die französischen Reaktoren aus eigenem Antrieb oder nur zur Beruhigung der EU, Deutschlands und der französischen Öffentlichkeit erfolgten[14], ist fraglich. Die nach Fukushima vom französischen Institut für Strahlenschutz und nukleare Sicherheit (IRSN) durchgeführten Stresstests ergaben, dass alle 58 aktiven Kernreaktoren aus Gründen der Betriebssicherheit nachgerüstet werden müss(t)en, da sie nicht ausreichend gegen Naturkatastrophen ausgelegt sind. Erforderlich werden zusätzliche Einbauten von überschwemmungssicheren Dieselgeneratoren, Nachrüstungen von erdbebensicheren Rohren, zudem müssen die Kühlwasservorräte für die Notkühlung vergrößert werden. Daneben wurden bei den Kernkraftwerken Tricastin, Gravellines und Saint Alban bisher übersehene oder ignorierte Sicherheitsmängel entdeckt, beispielsweise die Nähe zu Chemiefabriken und Betrieben für explosive Stoffe.[15][16]
Im September 2011 kündigten die Spitzenkandidaten der (damals) oppositionellen sozialistischen Partei (PS) an, langfristig aus der Kernenergienutzung auszusteigen zu wollen.[17][18] Im November 2011 wurde bekannt, dass Sozialisten und Grüne bei einem Wahlsieg 2012 24 der 58 Kernreaktoren bis spätestens 2025 vom Netz nehmen wollten. Das Kernkraftwerk Fessenheim solle sofort abgeschaltet werden.[16][19][20]
Im Juni 2011 hatten sich bei einer repräsentativen Umfrage des Institut français d’opinion publique 62 % der Franzosen für einen Ausstieg aus der Kernenergie binnen 25 bis 30 Jahren ausgesprochen; weitere 15 % wollten schneller aussteigen.[21][22]
François Hollande wurde am 6. Mai 2012 zum Präsident Frankreichs gewählt. Er gewann die Stichwahl am 6. Mai 2012 gegen Amtsinhaber Nicolas Sarkozy.
Bei den Französischen Parlamentswahlen 2012 am 10. und 17. Juni 2012 erhielt die Parti Socialiste eine absolute Mehrheit der Mandate in der Nationalversammlung. Somit waren größere Möglichkeiten gegeben, die Energiepolitik zu ändern; letzten Endes wurde unter Hollande aber kein einziges AKW abgeschaltet.
Besonderheiten der Nuklearenergie in Frankreich
Wegen des hohen Anteils der Kernenergie an der Gesamtstromproduktion ist es für französische Kernkraftwerke wichtig, ihre Leistung der Nachfrage anpassen zu können („Lastfolgebetrieb“[23]), also als Mittellastkraftwerke zu arbeiten. Dies erfordert einige technische Anpassungen der Reaktorkonstruktion; Kernkraftwerke werden international üblicherweise als Grundlastkraftwerke eingesetzt.
Aufgrund der beschriebenen Problematik waren die französischen Kernkraftwerke um das Jahr 2008 nur zu etwa 75 % ausgelastet. Wegen des hohen Fixkostenanteils an den Gesamtbetriebskosten eines Kernkraftwerks ist dies aus ökonomischer Sicht schlecht.[13][24] Manchmal ist behauptet worden, Frankreich habe zu viel in nukleare Erzeugungskapazitäten investiert. Strom wurde zu niedrigen Preisen ins Ausland exportiert; subventionierte Preise und niedrige Steuern befeuerten die Nachfrage im Inland. Dies führt zu einem relativ hohen Elektrizitätsverbrauch in Frankreich, u. a. durch elektrische Warmwasserbereitung sowie Gebäudeheizungen.
Ein Problem ergibt sich aus dem Kühlwasserbedarf der Kernkraftwerke in heißen Sommerperioden, sofern diese nicht an einer Küste errichtet wurden. Da Frankreich kaum über Ersatzkapazitäten verfügt, können länger anhaltende Hitzeperioden zu ernsten Problemen in der Sicherstellung der Elektrizitätsversorgung führen.[25] Das zeigte sich zum Beispiel im August 2003.
Ebenfalls kritisch sind länger anhaltende sehr kalte Frostperioden, da in diesen wegen des überwiegend elektrisch beheizten und schlecht isolierten französischen Gebäudebestandes die Stromnachfrage sehr stark ansteigt. So wurde Frankreich z. B. während der Kältewelle in Europa 2012 vorübergehend zum Nettostromimporteur.[26]
Reaktortypen
Die ersten Generationen
Die ersten Reaktoren waren gasgekühlte und graphitmoderierte Reaktoren (UNGG-Reaktoren). Alle Reaktoren dieser Generation wurden inzwischen abgeschaltet. Ein erster Druckwasserreaktor der 300-MWe-Klasse wurde in Chooz auf Basis eines Westinghouse-Designs errichtet. Anhand der dort gewonnenen Erfahrungen wurden die standardisierten französischen Reaktortypen entwickelt.
900-MWe-Klasse (CP0, CP1 und CP2)
Alle Kraftwerken der CPx-Baureihe (CP steht für contrat-programme, wobei die nachfolgende Nummer die Nummer des Programmes benennt) sind ähnlich aufgebaut; die elektrische Nettoleistung beträgt um 900 MW unter Verwendung eines "3-loop"-Designs. Dabei wird die Wärme des Primärkreises über drei Dampferzeuger an den Sekundärkreis überführt, mit dem dort erzeugten Dampf wird die Turbine betrieben.
Als erste Reaktoren der CP0-Baulinie wurden 1977 die beiden Blöcke des Kernkraftwerks Fessenheim in Betrieb genommen, die vier weiteren CP0-Reaktoren befinden sich in Bugey.[27] Bei Kraftwerken der Linien CP0 und CP1 teilen sich noch zwei Reaktorblöcke ein Maschinenhaus und eine Steuerzentrale.
Die Reaktoren der CP1- und CP2-Baureihe verfügen über einen zusätzlichen Kühlkreislauf, zusätzliche Notfallsysteme, eine flexiblere Steuertechnologie für den Lastfolgebetrieb und sind in ihrer Konstruktion sehr ähnlich. Beide werden öfters auch unter der Bezeichnung 'CPY' zusammengefasst.[27][28][29]
Die vier Reaktoren der CP0-Baureihe in Bugey sowie alle 28 Reaktoren der CPY-Baureihe in Frankreich mit einer Gesamtleistung von 3,7 GW bzw. 26 GW sind nach wie vor in Betrieb. CPY-Reaktoren wurden auch in anderen Ländern errichtet u. a. das Kernkraftwerk Koeberg in Südafrika sowie die benachbarten Kernkraftwerke Daya Wan und Ling'ao in China (dort als M310 bezeichnet).
1300-MWe-Klasse (P4 und P'4)
Der P4 (P4 steht für Paluel 4-loop) ist eine Weiterentwicklung des CP2 s – die elektrische Nettoleistung wurde unter Verwendung eines "4-loop"-Designs auf 1300 MWe gesteigert. Weiterhin wurde die Reaktorsteuerung zum Lastfolgebetrieb verbessert.[29] Vom P4 wurden 20 Reaktoren mit einer Gesamtnettoleistung von 26 GW errichtet. Der konstruktive Unterschied zwischen den P4 und P'4 besteht in der Baugröße der Reaktorgebäude und der Maschinenhallen, die bei dem P'4 kleiner ausgelegt wurden, um die Baukosten zu verringern.[30]
1450-MWe-Klasse (N4)
Der N4-Reaktortyp weist neben einer gesteigerten Leistung insbesondere Verbesserungen bei der Lastfolgefähigkeit auf. Ein N4-Reaktor kann seine Leistung unter vermindertem Einsatz von Borsäure anpassen und ist unter den bisher errichteten großen Druckwasserreaktoren der am flexibelsten regelbare.[29]
Vom N4 wurden nur vier Reaktoren errichtet, zwei im Kernkraftwerk Civaux und zwei im Kernkraftwerk Chooz. Der Bau begann jeweils zwischen 1984 und 1991, die kommerzielle Inbetriebnahme erfolgte – wegen thermischer Materialermüdungsprobleme am Restwärme-Abfuhr-System sowie wegen Turbinen-Problemen – erst zwischen 2000 und 2002.[31] Die vier errichteten Reaktoren haben eine elektrische Gesamtnettoleistung von 6000 MW.
1750-MWe-Klasse (EPR)
Als nächste französische Reaktorgeneration ist der EPR vorgesehen. Er wurde von Areva aus dem N4 sowie von Siemens (Konvoi-Reaktor) entwickelt. Ein erster Prototyp wird in Finnland im Kernkraftwerk Olkiluoto errichtet. Die Baukosten des Kernkraftwerks Olkiluoto sind massiv überschritten; der Baufortschritt liegt (Stand 2018) etwa zehn Jahre hinter Plan.[32]
Ein zweiter EPR wurde in Flamanville (Frankreich) Ende 2007 begonnen; ursprünglich war 2012 als Inbetriebnahmejahr vorgesehen. Mit Stand Mitte 2019 ist mit dem kommerziellen Betrieb nicht vor 2022 zu rechnen.[33] Die Investitionsausgaben dieses Reaktors haben sich während der Bauzeit stark erhöht. Wurden vor Baubeginn im Jahr 2005 Kosten von 3,3 Mrd. Euro veranschlagt, stiegen diese bis 2018 auf 10,5 Mrd. Euro an.[34]
Ein dritter EPR war (Stand 2008/09) im Kernkraftwerk Penly geplant.[8]
Der Käufer hat einen Festpreis vereinbart; Areva bzw. Areva NP machen beim Bau Milliardenverluste. Angesichts der Eurokrise, der weltweiten Wirtschaftskrise 2009/2010 und einer Bankenkrise ist die Finanzierung von Kernkraftwerken schwieriger als früher.
Brutreaktoren
In Frankreich wurden in der Vergangenheit auch zwei Schnelle Brüter betrieben, die Meiler Phénix und Superphénix. Beide wurden aus wirtschaftlichen Gründen vorzeitig stillgelegt.
Fusionsreaktoren
Der Demonstrationsreaktor ITER wird seit 2009 im französischen Cadarache gebaut und soll die Machbarkeit der Stromerzeugung aus der Fusion von Deuterium und Tritium zeigen. Die Inbetriebnahme mit einem Wasserstoffplasma ist (Stand Januar 2020) für Dezember 2025 vorgesehen.[35]
Sicherheit
Europäischer Stresstest für Kernkraftwerke
Nach der Nuklearkatastrophe von Fukushima wurde auf EU-Ebene ein Stresstest aller bestehenden Kernkraftwerke durchgeführt. Bei diesem Stresstest fielen neben nordeuropäischen Kernkraftwerken v. a. französische Anlagen besonders negativ auf. Bei allen 54 Kernkraftwerken wurden größere Mängel nachgewiesen, selbst das beste französische Kernkraftwerk lag mit fünf Rügen unter dem EU-Schnitt. Andere Kernkraftwerke lagen mit bis zu sieben Rügen am Ende der Tabelle. Bei allen Kraftwerken besteht erheblicher Nachrüstbedarf, europaweit wird pro Reaktorblock je nach Schwere der Mängel mit ca. 30 bis 200 Millionen Euro kalkuliert.[36]
Umweltverbände kritisierten den Stresstest scharf und forderten die Abschaltung der beanstandeten Kraftwerke. So habe der Stresstest größtenteils auf dem Papier stattgefunden, während nur wenige Kraftwerke tatsächlich untersucht worden seien. Ursprünglich waren auf Druck u. a. von Frankreich in der gesamten EU nur 38 der 134 Kernkraftwerke inspiziert worden, wobei in besonders umstrittenen Anlagen wie im Kernkraftwerk Fessenheim und im tschechischen Kernkraftwerk Temelín keine Untersuchungen stattfanden. Daraufhin wurden nach heftiger Kritik an dem Verfahren acht weitere Kraftwerke inspiziert, worauf sich die französische Atom-Sicherheitsbehörde ASN über die Methodik des Stresstestes beschwerte. Zudem seien laut Umweltschützern bestimmte Risiken wie die Gefahr von Terroranschlägen oder Flugzeugabstürze völlig unberücksichtigt geblieben, während hingegen nur die Widerstandsfähigkeit gegen extreme Naturereignisse sowie die Beherrschung von daraus entstandenen Unfällen untersucht worden sei. Zuvor waren auf Initiative Frankreichs und Großbritanniens terroristische Anschläge und Cyberangriffe aus dem Prüfkatalog genommen worden.[37][38]
Finanzielle Folgen eines schweren Reaktorunfalls
Im Februar 2013 wurde eine Studie des französischen Instituts für Strahlenschutz und nukleare Sicherheit IRSN veröffentlicht, in der die ökonomischen Folgen eines Supergaus analog der Katastrophe von Fukushima in einem französischen Kernkraftwerk untersucht wurden. Insgesamt gehen die Forscher von einem Gesamtschaden von ca. 430 Mrd. Euro aus, was etwa doppelt so viel sei wie die Folgekosten in Fukushima. Grund hierfür sei u. a., dass in Japan durch das Wetter während der Katastrophe, v. a. durch den Wind, der den Fallout größtenteils aufs Meer hinauswehte, mögliche schlimmere Auswirkungen verhindert wurden. In Frankreich sei dies nicht zu erwarten. Es sei mit etwa 100.000 Flüchtlingen zu rechnen, neben mehreren Departements seien bei grenznahen Standorten wie z. B. Cattenom oder Fessenheim auch Nachbarländer wie Deutschland betroffen. Etwa 110 Mrd. Euro müssten für direkte Umweltkosten wie die Entseuchung radioaktiv kontaminierter Regionen aufgewandt werden, zudem fielen starke wirtschaftliche Folgekosten an. Neben einem starken Rückgang des Tourismus sei auch ein Einbruch im Verkauf von Agrarprodukten, speziell französischen Weins zu erwarten, was zusammen 160 Mrd. Euro Folgekosten nach sich ziehen könnte. Angesichts dieser hohen finanziellen Auswirkungen plädierte ISRN-Generaldirektor Jacques Repussard dafür, französische Kernkraftwerke aus Sicherheitsgründen nachzurüsten. Die Studie zeige klar, dass "die zehn Milliarden Euro, die EDF seit Fukushima investieren soll, um seine Atomkraftwerke sicherer zu machen, nicht besonders hoch gegriffen" seien.[39][40]
Materialmängel
Bei mehreren Kraftwerken, unter anderem beim Neubau Flamanville 3, wurde Mängel an den genutzten Stahllegierungen festgestellt. In Flamanville war der Reaktordruckbehälter betroffen. Ähnliche Mängel könnten laut der Atomaufsichtsbehörde ASN in 18 weiteren Reaktoren aufgetreten sein, daher wurde eine Überprüfung angeordnet. Im Oktober 2016 ordnete die Aufsichtsbehörde ASN zudem die Abschaltung von fünf Kernreaktoren (Fessenheim 1, Civeaux 1, Gravelines 4 sowie Tricastin 2 und 4) an wegen des Verdachts auf fehlerhafte Stahllegierungen in den Dampferzeugern. Die Reaktoren sollten laut Betreiber EDF im November oder Dezember 2016 für jeweils 3–4 Wochen abgeschaltet werden.[41][42] Später teilte ASN mit, insgesamt müssten zwölf Reaktoren geprüft werden.[43]
Unter anderem wegen dieser Abschaltungen musste Frankreich im Winter 2016/17 große Mengen Strom aus den umliegenden Staaten importieren, insbesondere aus Deutschland, Belgien, Großbritannien und Spanien. Mitte Januar 2017 richtete die damalige Energieministerin Ségolène Royal einen Krisenstab ein, der zum Ziel hatte, die Versorgungssicherheit Frankreichs auch während einer erwarteten Kältewelle zu sichern, wenn in Frankreich der Stromverbrauch durch Elektroheizungen sehr hoch ist. Gestaffelte Notmaßnahmen sahen unter anderem vor, bestimmte Haushaltsgeräte nur zu unkritischen Zeiten zu betreiben, verbrauchsstarke Industrieunternehmen nicht mit Strom zu versorgen, vorübergehend vom Netz zu nehmen und ggf. einzelne Regionen stundenweise ganz vom Netz zu nehmen. In Deutschland erhöhten Netzbetreiber kurzfristig die Übertragungskapazität von Stromtrassen nach Frankreich; zudem wurden geplante Wartungsarbeiten an Stromleitungen außerplanmäßig verschoben, um möglichst viel Strom nach Frankreich exportieren zu können.[44] Auch wurden in Deutschland Kraftwerke aus der Kaltreserve hochgefahren und Redispatch-Maßnahmen durchgeführt, um die Versorgungssicherheit in Frankreich zu erhöhen.[45]
Rostprobleme
Im Oktober 2017 warnte die französische Atomsicherheitsbehörde ASN vor verrosteten Kühlleitungen in 29 der 58 Kernreaktoren des Landes. Manche der Kühlleitungen seien derart stark verrostet, dass „es ein reales Risiko gibt, dass die Leitungen im Fall eines Erdbebens den Erschütterungen nicht standhalten“. Dies könne zu einer Kernschmelze wie in Fukushima führen. Aufgrund dieser Gefahren stufte die ASN die Rostprobleme auf INES-Stufe 2 ein. Als Ursache für die Rostprobleme nannte die ASN mangelhafte Wartung der Kraftwerke.[46][47]
Brennstoff-Zyklus
Frankreich ist eines der wenigen Länder auf der Welt, die über einen geschlossenen Brennstoffkreislauf verfügen. Uranerze werden von französischen Unternehmen im Ausland abgebaut, in zwei Anreicherungsanlagen am Standort Tricastin zu Kernbrennstoff veredelt und die abgebrannten Brennelemente in zwei Wiederaufarbeitungsanlagen in Beaumont-Hague aufbereitet. Die Kapazitäten sind ausreichend, um auch ausländische Kunden beliefern zu können.
Für die Endlagerung schwachradioaktiver Abfälle wurde zwischen 1969 und 1994 das Endlager Centre de la Manche in Nordfrankreich genutzt. Dort wurden kurzlebige Abfälle oberflächennah gelagert um ein gefahrloses Abklingen der Radioaktivität über die nächsten 300 Jahre zu gewährleisten. Als Nachfolge wurde 1992 das Centre de l’Aube in Betrieb genommen.
Für hochradioaktive Abfälle wird im nordfranzösischen Bure in einem Forschungsbergwerk die Eignung der dortigen Tonformation als Endlager geprüft.
Kosten
Laut einem Bericht des Obersten Rechnungshofes in Frankreich (Januar 2012) kosteten die Erforschung, Entwicklung sowie der Bau der französischen Kernkraftwerke insgesamt 188 Mrd. Euro. Diese Kosten konnten bisher durch den Verkauf der Elektrizität zu etwa 75 % amortisiert werden. Da die Kraftwerke noch im Betrieb sind, werden diese Kosten aber vermutlich gedeckt werden können. Für Folgekosten gibt es bisher kaum Rückstellungen. Zudem geht der Rechnungshof davon aus, dass für die Demontage der Anlagen die vorgesehenen 18,4 Mrd. Euro nicht genügen werden, sondern mindestens die doppelte Summe anzusetzen sei. Zudem müssten noch langfristige Kosten für die Entsorgung oder die Endlagerung des Atommülls berücksichtigt werden; diese sind laut Bericht nur schwer zu beziffern.[48]
In seiner deutschen Übersetzung der Zusammenfassung schreibt der Rechnungshof u. a. (Seite 8):
„Die Bau- und Planungskosten (79.751 Mio. €2010), heruntergerechnet auf die Reaktorleistung, stiegen mit der Zeit von 1,07 Mio. €2010/MW im Jahr 1978 (Fessenheim) auf 2,06 Mio. €2010 im Jahr 2000 (Chooz 1 und 2) bzw. auf 1,37 Mio. €2010 im Jahr 2002 (Civaux) bei einem Durchschnitt von 1,25 Mio. €2010/MW für die 58 Reaktoren. Diese Erhöhung steht vor allem mit den immer höheren Sicherheitsanforderungen im Zusammenhang. Auch wenn ein genauer Vergleich nicht möglich ist, da die abschließenden Gesamtkosten eines EPR unbekannt sind, konnte der Cour des Comptes feststellen, dass die Baukosten im Verhältnis zur Leistung in MW mit dieser neuen Generation, die von Anfang an umfangreiche Sicherheitsauflagen erfüllen musste, weiter gestiegen sind. Bei geschätzten Baukosten von 6 Mrd. € für den EPR Flamanville (erster Reaktor der Baureihe) und einer Leistung von 1.630 MW betragen die Kosten pro MW 3,7 Mio. €; wobei bei Kosten der Baureihe von schätzungsweise 5 Mrd. € und ihre Kosten pro MW 3,1 Mio. € betragen.“[49]
Weblinks
Einzelnachweise
- http://de.statista.com
- World Nuclear - Frankreich
- IAEO - Power Reactor Information System - Länderübersicht Frankreich
- statista.com: Anteil der Kernenergie an der Stromerzeugung nach Ländern weltweit in den Jahren 2016 und 2017
- Import 27,023 TWh Strom, Export 80,767 TWh 53,744 TWh (ENTSO-E Statistical Factsheet 2016)
- Die rechnerische Differenz zwischen 542 und 578 beträgt 64; wie die Differenz von 8 Mrd. TWh zustande kommt, geht aus der Quelle (world-nuclear.org) nicht hervor.
- Stand März 2020; die Abschaltung von Fessenheim 1 ist berücksichtigt.
- Radio France International - Präsident Sarkozy baut einen zweiten EPR in Frankreich
- FAZ.net 12. Februar 2012: Frankreich verlängert AKW-Laufzeiten
- Frankreich will Laufzeit für älteste AKW auf 50 Jahre verlängern
- Electricité de France History bei FundingUniverse
- zeit.de 23. April 1971: Das Erbe de Gaulles wird liquidiert
- Nuclear in France - what did they get right? (Memento vom 11. Mai 2010 im Internet Archive)
- Welt-Online: GAU in Fukushima - So geht das Ausland jetzt mit der Atomkraft um
- Frankreichs Atommeiler sind nicht sicher genug. Der Tagesspiegel, 17. November 2011. Abgerufen am 18. November 2011.
- Frankreichs AKWs müssen nachrüsten. Deutsche Welle, 17. November 2011. Abgerufen am 18. November 2011.
- Wahlkampf in Frankreich. FAZ, 17. September 2011. Abgerufen am 3. Oktober 2011.
- Frankreichs Sozialisten. Die Verwandlung der Dinosaurier. FAZ, 3. Oktober 2011. Abgerufen am 3. Oktober 2011.
- Experten fordern Nachrüstung französischer AKWs. Süddeutsche Zeitung, 17. November 2011. Abgerufen am 18. November 2011.
- Anmerkung; dieses Wahlversprechen wurde gebrochen
- Wenn die Ausstiegslust wächst. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 6. Juni 2010. Abgerufen am 3. Oktober 2011.
- Le nucléaire s’invite dans la campagne 2012 (Memento vom 9. Juni 2011 im Internet Archive). Abgerufen am 3. Oktober 2011.
- Siehe auch (Januar 2011): Möglichkeiten und Grenzen des Lastfolgebetriebs von Kernkraftwerken (pdf, 32 Seiten; 540 kB)
- Stephanie Cooke (2009). In Mortal Hands: A Cautionary History of the Nuclear Age, Black Inc., S. 359.
- Handelsblatt: Trotz Hitzewelle am Netz - Auflagen für Atomkraftwerke gelockert
- Energiewende im Praxistest. Atomkraft an die Wand geblasen. In: TAZ, 3. Februar 2012.
- Francois HEDIN / EDF - Plant Life Management of EDF PWR Nuclear Fleet (PDF; 443 kB)
- Convention sur la sûreté nucléaire (Memento vom 22. Juli 2011 im Internet Archive)
- Nuclear Development - June 2011 - Technical and Economic Aspects of Load Following with Nuclear Power Plants
- Editions Technip: International nuclear energy guide. In: Editions TECHNIP, 1987, ISBN 2-7108-0532-4.
- Power Technology - Civaux 1-2
- 19. Mai 2011: Jairam gets lesson on Areva reactor behind Finnish line
- Ralf Streck: Atomkraft: Immer Ärger mit dem EPR. In: Telepolis. Heise, 25. Juli 2019, abgerufen am 29. Dezember 2019.
- Atomreaktor wird Milliardengrab. EDF legt Hollande strahlendes Kuckucksei ins Nest. In: Handelsblatt, 5. Dezember 2012. Abgerufen am 8. November 2012.
- Werner Pluta: Das Eine-Million-Teile-Puzzle in der entscheidenden Phase. In: golem.de. 22. Januar 2020, abgerufen am 22. Februar 2020.
- AKW-Stresstest der EU in der Analyse. Die Mär von den sicheren deutschen Reaktoren. In: tagesschau.de, 5. Oktober 2012. Abgerufen am 8. Dezember 2012.
- AKW-Stresstest. Schlechte Noten für Europas Meiler . In: Süddeutsche Zeitung, 1. Oktober 2012. Abgerufen am 8. Dezember 2012.
- Frankreich empört sich über AKW-Stresstests der EU. In: Die Welt, 5. Oktober 2012. Abgerufen am 8. Dezember 2012.
- Atom-GAU in Frankreich würde 430 Milliarden kosten. In: Die Zeit, 7. Februar 2013. Abgerufen am 8. Februar 2013.
- Studie zu Kosten eines Atomunfalls. Frankreichs Rechenspiele für einen GAU (Memento vom 11. Februar 2013 im Internet Archive). In: tagesschau.de, 7. Februar 2013. Abgerufen am 8. Februar 2013.
- FAZ.net 19. Oktober 2016: Zweifel an Reaktor-Bauteilen. Paris legt Atomkraftwerke still .
- Frankreichs Atomaufsicht schaltet fünf Reaktoren ab orf.at, 19. Oktober 2016, abgerufen am gleilchen Tag.
- ASN.fr 5. Dezember 2016: Situation des générateurs de vapeur dont l’acier présente une concentration élevée en carbone : l’ASN considère que le redémarrage des réacteurs concernés peut être envisagé. Des vérifications propres à chaque réacteur restent nécessaires.
- Stromversorgung vor Kollaps. Frankreich droht der Blackout . In: Tagesschau.de, 13. Januar 2017. Abgerufen am 14. Januar 2017.
- Französischer Winter macht dem deutschen Stromnetz zu schaffen. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 23. Januar 2017. Abgerufen am 24. Januar 2017.
- Frankreich. AKW rosten vor sich hin . In: Frankfurter Rundschau, 18. Oktober 2017. Abgerufen am 20. Oktober 2017.
- Frankreichs Atomaufsichtsbehörde schlägt Alarm. In: Stuttgarter Nachrichten, 17. Oktober 2017. Abgerufen am 21. Oktober 2017.
- www.ccomptes.fr Die Kosten der Kernenergie (Januar 2012). Zusammenfassung (PDF, 24 Seiten); Langfassung (PDF, 441 Seiten); Glossar (Seite nicht mehr abrufbar, Suche in Webarchiven) Info: Der Link wurde automatisch als defekt markiert. Bitte prüfe den Link gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis. ; Kosten der Atomkraft in Frankreich. Im Kern falsch gerechnet. In: Taz. 1. Februar 2012. Abgerufen am 4. Februar 2012.
- Seite 8 (Memento vom 23. September 2015 im Internet Archive) Anmerkung: "€2010" meint "Euro mit der Kaufkraft von 2010"