Kernenergie in Belgien
Die Kernenergie in Belgien wird derzeit (Stand Dezember 2017) an zwei Standorten mit insgesamt sieben Reaktorblöcken und einer installierten Bruttogesamtleistung von 6.183 MW betrieben. Der erste Reaktor BR1 (Belgian Reactor 1) wurde 1956 in Betrieb genommen. Der erste rein kommerziell genutzte Reaktorblock ging 1974 in Betrieb. Die Kernenergie trug im Jahr 2011 etwa 54 % zur Gesamtstromerzeugung in Belgien bei.[1] In den Jahren 2018, 2019 und 2020 waren es 31,2, 48,7 und 39,1 %.[2]
Kommerzielle Kernkraftwerke in Belgien: In Betrieb Stillgelegt |
Geschichte
Bis 1974
Bereits 1913 wurde Uranerz in Haut-Katanga im damaligen Belgisch-Kongo entdeckt. Die Erzvorkommen, die in der Shinkolobwe Mine gefunden wurden, waren außergewöhnlich reichhaltig. Abgebaut wurde das Uran von der Union Minière du Haut Katanga (UMHK). Schon vor dem Zweiten Weltkrieg äußerten die Vereinigten Staaten Interesse an diesem Uranerz. Jedoch dauerte es bis 1942 bis die USA für das Manhattan-Projekt nach Uran verlangten. Durch seine Kolonien war Belgien einer der wenigen Länder mit einem beträchtlichen Vorrat an Uranerz und wurde so zum Hauptlieferanten für die USA. Diese Handelsbeziehung führte dazu, dass Belgien Zugang zu Nukleartechnologie für zivile Zwecke erhielt. Die zivile Nutzung der Kernenergie in Belgien geht auf die Initiative von Pierre Ryckmans und den Atomic Energy Act der USA von 1946 zurück.[3][4]
Im Jahr 1952 führte dies zur Gründung des Studienzentrums für Kernenergie. Der erste Reaktor BR1 (Belgian Reactor 1) wurde 1956 in Mol in Betrieb genommen. Der Bau von BR2 begann im folgenden Jahr.[5]
1958 wurde das Atomium in Brüssel als Symbol für das Atomzeitalter und die friedliche Nutzung der Kernenergie fertiggestellt.
1962 erfolgte die Inbetriebnahme des allerersten Druckwasserreaktors auf europäischem Boden. Der BR-3 in Mol war ein amerikanischer Lizenzbau von Westinghouse Electric Company und wies nur eine geringe thermische Reaktorleistung auf; er diente von Beginn an zu Forschungszwecken, wurde aber auch kommerziell zur Stromerzeugung genutzt.[6]
Von 1967 bis 1974 wurde in Mol auch die Eurochemic eine Wiederaufarbeitungsanlage betrieben.
1969 begann der Bau des ersten rein kommerziellen Reaktorblocks des Kernkraftwerks Doel.[7]
1972 beteiligte sich Belgien zusammen mit den Niederlanden und Deutschland an dem gescheiterten schnellen Brüter SNR-300 in Kalkar. 1973 gründeten Belgien und vier weitere europäische Länder Eurodif.
Als Beginn der kommerziellen Kernenergie-Produktion gilt die Inbetriebnahme der Blöcke 1 und 2 des Kernkraftwerk Doel und des Blocks 1 des Kernkraftwerk Tihange in den Jahren 1974 und 1975. Ihnen folgten in den 1980er Jahren noch vier weitere Kraftwerks-Blöcke an denselben Standorten.
Bis 2011
1986 wurde in Dessel eine Fabrik zur Produktion von MOX-Brennelementen für kommerzielle Kernkraftwerke in Betrieb genommen, welche auch das Ausland bedient.
Am 30. Juni 1987 wurde der älteste Druckwasserreaktor auf europäischen Boden, der BR-3, abgeschaltet.
1999 hat die Regierung Verhofstadt I, bestehend aus den Liberalen (Vlaamse Liberalen en Democraten und Mouvement Réformateur), den Sozialisten (Sociaal Progressief Alternatief und Parti Socialiste) sowie den beiden grünen Parteien (Groen! und Ecolo), eine Laufzeitbegrenzung der belgischen Reaktoren auf 40 Jahre festgeschrieben und dem Neubau von Atomkraftwerken eine Absage erteilt. Eine Gesetzesvorlage, die den Ausstieg des Landes aus der Kernenergie bis zum Jahr 2025 vorsah, wurde am 6. Dezember 2002 vom Abgeordnetenhaus gebilligt und am 16. Januar 2003 auch vom Senat angenommen.[8]
Für Schlagzeilen sorgten in den 2000er Jahren zwei Unfälle bzw. Störfälle (INES 3 und 4) in einer nukleartechnischen Radiochemischen Industrieanlage in Fleurus.
Im Frühjahr 2003 gab es Neuwahlen. An der Regierung Verhofstadt II waren die Grünen nicht mehr beteiligt. Im September 2005 entschied diese, die vorher gefällte Entscheidung teilweise rückgängig zu machen. So wurde die Ausstiegsfrist um 20 Jahre verlängert, ebenso wurde eine Option für weitere Verlängerungen der Gesamtlaufzeit offen gehalten. Dabei blieb unklar, ob neue Kernkraftwerke gebaut werden. Begründet wurde die Entscheidung damit, dass es unrealistisch sei, den Strom, der durch Kernkraftwerke erzeugt wird, zu ersetzen. Die beiden einzigen realistischen Alternativen bestanden nach dieser Auffassung darin, mehrere Öl- und/oder Kohlekraftwerke zu bauen oder Strom aus dem Ausland zu importieren. Während die erste Möglichkeit den Anweisungen des Kyoto-Protokolls widerspricht, erschien die zweite als teurer als das Betreiben der Kernkraftwerke.
Dies war einer der Hauptgründe, den Ausstieg rückgängig zu machen, weil es als unmöglich erschien, mehr als die Hälfte des Stromes aus erneuerbaren Energien zu beziehen. Der Anteil erneuerbarer Energien in Belgien lag damals nur bei etwa 3–4 %. Das Land strebte bis 2020 an, 13 % des Energieverbrauchs auf erneuerbare Energien umzustellen. Mittlerweile konnte Belgien den Anteil der erneuerbaren Energien jedoch auf etwa 9 % steigern (2017).[9]
Weitere Entwicklung
Als Reaktion auf die Nuklearkatastrophe von Fukushima hatten sich 2011 die Regierungsparteien darauf geeinigt, dass alle sieben belgischen Kernkraftwerks-Blöcke ab 2015 sukzessive abgeschaltet werden sollen, wie bereits in einem Gesetz von 2003 zum Atomausstieg festgeschrieben worden war. Wegen des massiven Ausfalls von Strom wurde dieser Ausstiegstermin später aber wieder in Frage gestellt.[10][11]
Im Oktober 2011 einigte sich die neue Regierung darauf, den Atomausstieg ab 2015 wie ursprünglich geplant umzusetzen.[10] Der Regierungsplan sah vor, dass alle Atomkraftwerke spätestens bis 2025 geschlossen werden sollen.
In den Reaktoren Doel-3 und Tihange-2 wurden im November 2012 Risse in den Druckbehältern gefunden, worauf die Reaktoren heruntergefahren wurden. Nach einer Reparatur wurden sie im Juni 2013 wieder ans Netz genommen, im März 2014 aufgrund des gleichen Problems jedoch auf Anordnung der Agentur für Nuklearkontrolle vorübergehend wieder heruntergefahren. Im August 2014 kam es im Reaktor Doel-4 durch Ölverlust zu einem schweren Turbinenschaden. Der Reaktor konnte bis Dezember 2014 keinen Strom erzeugen.[12][11][13]
Als Folge dieses Ausfalls standen über 50 % der Leistung der Kernkraftwerke bzw. rund 25 % der Gesamtleistung aller belgischen Kraftwerke nicht zur Verfügung und es wuchs die Sorge vor einem Stromengpass in Belgien oder gar einem Blackout. Die Regierung Michel II beschloss daher am 18. Dezember 2014, analog zu einer bereits früher für den Reaktor Tihange-1 getroffenen Entscheidung, die Laufzeit der beiden älteren Reaktoren in Doel (Doel-1 und Doel-2), um zehn Jahre bis 2025 zu verlängern. Gleichzeitig spekulierte die zuständige Energieministerin Marie-Christine Marghem über eine grundsätzliche Rolle der Kernenergie in Belgien auch nach 2025.[14] Allerdings wurde der Reaktor Doel-1 wegen einer fehlenden Weiterbetriebsgenehmigung durch die belgischen Atomaufsichtsbehörden im Februar 2015 vom Netz genommen. Der Leistungsbetrieb wurde, ebenso wie in den Anlagen Doel-3 und Tihange-2, im Dezember 2015 wieder aufgenommen,[15] trotz Rissbefunden und Sicherheitsbedenken u. a. wegen Materialfehlern im verwendeten Stahl für den Reaktordruckbehälter. Die deutsche Bundesregierung trug „nachdrücklich“ Bedenken gegen die Wiederaufnahme vor.[16][17] Andererseits werden die belgischen Kernkraftwerke mit Brennelementen aus deutschen Uranfabriken in Gronau und Lingen beliefert.[18] Damit sind die sieben belgischen Reaktoren wieder am Netz, mit der Absicht, sie mindestens bis 2025 weiterzubetreiben.
Da wegen Wartungsarbeiten ab Oktober 2018 nur noch ein Kernreaktor am Netz war und Engpässe in der Stromversorgung[19] befürchtet wurden, bat die zuständige Energieministerin Marie-Christine Marghem um Stromlieferungen aus Deutschland. Hierfür wurde eine direkte Hochspannungsleitung in HGÜ-Technik unter dem Namen ALEGrO Ende 2020 fertiggestellt.[20] Bereits seit Jahren importiert das Land Strom aus den Nachbarländern.
Anfang Januar 2022 wurde bekannt, dass nach dem Willen der EU-Kommission die Investitionen in Gas und Kernenergie als grüne Geldanlagen gelten soll. Die Mehrheit der EU-Länder, angeführt durch Frankreich wollen an der Kernernergie festhalten. Auch Belgien ist tendenziell ein Befürworter der Atomkraft und möchte sich die Option zum Bau und Betrieb von Gas- und Kernkraftwerken offen halten.[21]
Beschluss zur Stilllegung
Am 23. Dezember 2021 gab die belgische Regierung De Croo bekannt, dass die beiden Kernkraftwerke in Doel und Tihange beginnend ab 2022 bis zum Jahr 2025 dauerhaft abgeschaltet werden sollen. Die anschließende Demontage der Nuklearanlagen soll bis zum Jahr 2045 abgeschlossen sein. Die sieben Koalitionspartner in der belgischen Regierung waren in der Behandlung der Kernenergie uneins gewesen und hatten sich das Jahr 2021 als letzte Frist für einen Beschluss zu dieser Frage gesetzt. Während die Grünen (Ecolo, Groen) einen raschen Atomausstieg und die Deckung der Energielücke durch neu gebaute Gaskraftwerke forderten, kritisierten Politiker des wallonischen Mouvement Réformateur und andere die daraus resultierende Abhängigkeit von russischen Gaslieferungen und den erhöhten Treibhausgasausstoß.[22] In dem regierungsinternen Kompromiss sind auch 100 Millionen Euro Fördermittel für die Forschung zur Entwicklung kleinerer modularer Kernreaktoren vorgesehen.[23]
Die an der Sieben-Parteien-Regierung beteiligte Partei Open VLD dringt darauf, die Laufzeit von zwei Reaktoren zu verlängern – wegen der derzeit hohen Energiepreise und wegen der globalen Erwärmung. Die Regierung De Croo vertagte die Entscheidung auf das Frühjahr 2022.[24]
Liste der Kernreaktoren in Belgien
Name | Block |
Reaktortyp | Modell | Status | Netto- leistung in MW |
Brutto- leistung in MW |
Baubeginn | Erste Netzsyn- chronisation |
Kommer- zieller Betrieb (geplant) |
Abschal- tung (geplant) |
Einspeisung in TWh |
---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|
Kernkraftwerk BR-3 | 1 | PWR | Prototype | Stillgelegt | 10 | 12 | 01.11.1957 | 10.10.1962 | 10.10.1962 | 30.06.1987 | 0,76 |
Doel | 1 | PWR | WH 2LP | In Betrieb | 433 | 454 | 01.07.1969 | 28.08.1974 | 15.02.1975 | 2025 | 128,88 |
2 | PWR | WH 2LP | In Betrieb | 433 | 454 | 01.09.1971 | 21.08.1975 | 01.12.1975 | 2025 | 127,08 | |
3 | PWR | WH 3LP | In Betrieb | 1006 | 1056 | 01.01.1975 | 23.06.1982 | 01.10.1982 | 2022 | 241,55 | |
4 | PWR | WH 3LP | In Betrieb | 1038 | 1090 | 01.12.1978 | 08.04.1985 | 01.07.1985 | 2025 | 245,97 | |
Tihange | 1 | PWR | Framatome[BE 1] | In Betrieb | 962 | 1009 | 01.06.1970 | 07.03.1975 | 01.10.1975 | 2025 | 284,63 |
2 | PWR | WH 3LP | In Betrieb | 1038 | 1055 | 01.04.1976 | 13.10.1982 | 01.06.1983 | 2023 | 244,38 | |
3 | PWR | WH 3LP | In Betrieb | 1038 | 1089 | 01.11.1978 | 15.06.1985 | 01.09.1985 | 2025 | 258,41 |
- Framatome 3 loops reactor
Siehe auch
Einzelnachweise
- Deutsches Atomforum: Weltreport 2011. In: atw. international journal for nuclear power. Jg. 57, Heft 4. Inforum Verlag und Verwaltungsgesellschaft, 2012, ISSN 1431-5254, S. 271–276 (kernd.de [PDF; 440 kB; abgerufen am 24. Dezember 2021]).
- Belgium’s electricity mix in 2020: Renewable generation up 31% in a year marked by the COVID-19 crisis. (PDF; 891 kB) ELIA, 7. Januar 2021, S. 3, abgerufen am 23. Dezember 2021 (englisch).
- 1952–2002 – Broschüre zum 50-jährigen Bestehen des belgischen Nuklearforschungszentrums (Memento vom 27. September 2007 im Internet Archive). (PDF; 1,6 MB) 10. April 2002, S. 6.
- BR1 – 50th Anniversary – The very first beginning (Memento vom 5. April 2012 im Internet Archive). In: sckcen.be (englisch).
- BR1 – 50th Anniversary – The personnel (Memento vom 4. März 2016 im Internet Archive). In: sckcen.be (englisch).
- Co-ordination Network on Decommissioning of Nuclear Installations (CND): BR3 Nuclear Power Plant (Memento vom 30. Januar 2015 im Internet Archive). In: ec-cnd.net.
- DOEL-1 Operational. Reactor Details. (Nicht mehr online verfügbar.) In: iaea.org. IAEA, 8. August 2015, archiviert vom Original am 9. August 2015; abgerufen am 26. Dezember 2021 (englisch).
- An Essential Programme to Underpin Government Policy on Nuclear Power (Memento vom 5. September 2005 im Internet Archive). (PDF; 198 kB) In: scientific-alliance.org, 16. Juli 2003, abgerufen am 24. August 2015 (englisch).
- Anteil erneuerbarer Energien am Bruttoendenergieverbrauch (Memento vom 17. Juni 2019 im Internet Archive). In: Eurostat (Werte bis 2014).
- anr/dpa/AFP: Aus für sieben Reaktoren: Belgien will ab 2015 aus Atomkraft aussteigen. In: Spiegel online Politik, 31. Oktober 2011, abgerufen am 11. März 2015.
- jme/AFP: Stromproduktion: Belgien schaltet dritten Atomreaktor ab. In: Spiegel online Wissenschaft, 15. August 2014, abgerufen am 11. März 2015.
- Belgiens Atomkraftwerke machen schlapp. In: Schweizer Radio und Fernsehen. 14. August 2014, abgerufen am 20. August 2014 (SRF 4 News, 20.00 Uhr; dpa/herm; fref).
- Ralf Streck: Zwei belgische Atommeiler vor der definitiven Abschaltung? In: heise.de. 20. August 2014, abgerufen am 20. August 2014.
- Marghem: Atomkraft auch nach 2025 eine Option. In: Belgischer Rundfunk online, 19. Dezember 2015, abgerufen am 17. Februar 2015.
- FANK gibt grünes Licht für Wiederhochfahren von Doel 3 und Tihange 2. In: Belgischer Rundfunk online, 17. November 2015, abgerufen am 27. Dezember 2021.
- BT-Drs. 18/7220: Antwort der Bundesregierung, Rissbefunde in den belgischen Atomkraftwerken Doel 3 und Tihange 2 sowie die Laufzeitverlängerung von Doel 1 und Doel 2.
- Ilse Tweer: Flawed Reactor Pressure Vessels in the Belgian NPPS Doel 3 and Tihange 2. Comments on the FANC Final Evaluation Report 2015 (Memento vom 12. März 2016 im Internet Archive). (PDF; 2,9 MB) In: greens-efa.eu, 21. Januar 2016.
- Anlagen in Gronau und Lingen. Hendricks will Uranfabriken schließen. In: n-tv.de. 31. März 2017, abgerufen am 24. Dezember 2021.
- Eva Fischer: Belgien droht der Strom-Blackout. Sechs belgische Atomkraftwerke werden im November gleichzeitig vom Netz genommen. Diese Versorgungslücke ist kaum auszugleichen. Dahinter stecken wohl Machtspiele. In: Handelsblatt. 29. September 2018, abgerufen am 26. Dezember 2021.
- Alegro: Erste direkte Stromleitung zwischen Deutschland und Belgien in Betrieb. In: IWR Online. 10. November 2020, abgerufen am 22. Oktober 2021.
- Welche EU-Länder wollen Gas und Atomkraft als nachhaltig einstufen? In: Handelsblatt. 3. Januar 2022, abgerufen am 26. Januar 2022.
- Barbara Moens, Camille Gijs: Belgium’s nuclear feud threatens to split ruling coalition. Plans to shut down reactors and replace capacity with gas-fired plants are pitting greens against liberals. In: Politico. 11. Oktober 2021, abgerufen am 23. Dezember 2021 (englisch).
- Belgium agrees to close controversial ageing nuclear reactors. In: BBC News. 23. Dezember 2021, abgerufen am 23. Dezember 2021 (englisch).
- fazt.net vom 3. Januar 2022: Das deutsche Stromdilemma
- Belgium. IAEA, abgerufen am 27. November 2019 (englisch).