Wiederaufarbeitungsanlage La Hague
Die Wiederaufarbeitungsanlage La Hague (französisch Usine de Retraitement de La Hague) ist ein Industriekomplex der Orano-Gruppe im Gebiet La Hague. Der etwa 2,5 Kilometer lange und etwa einen Kilometer breite Komplex erstreckt sich über das Gebiet der fünf Communes déléguées Beaumont-Hague, Herqueville, Jobourg, Omonville-la-Petite und Digulleville in der Commune nouvelle La Hague.
Gegenwärtiger Hauptzweck dieser Wiederaufarbeitungsanlage ist die Trennung von Bestandteilen aus abgebranntem Kernbrennstoff. Dieser enthält etwa 96 % Uran, 1 % Plutonium und 3 % Spaltprodukte. Es sind zwei Anlagen (UP2-800 und UP3) am Standort La Hague in Betrieb. Sie sind speziell für die Wiederaufarbeitung von oxidischem Brennstoff aus Leichtwasserreaktoren ausgelegt. Die Anlage UP2-800 ist für den französischen Bedarf, UP3 für die Wiederaufarbeitung ausländischer Brennelemente vorgesehen.
Geschichte
Mit der Entscheidung Frankreichs zur Zeit von Präsident de Gaulle, Atommacht zu werden, musste man Methoden zur Herstellung von Plutonium entwickeln. Dafür baute das Commissariat à l'énergie atomique (CEA) 1958 die Anlage Marcoule, sowie etwas später eine zweite, um Ausfälle ausgleichen zu können.
Am 10. August 1961 erschien ein Beschluss, der die Notwendigkeit zur Errichtung einer Wiederaufbereitungsanlage für abgebrannte Kernbrennstoffe zur Gewinnung von Plutonium aufzeigte. Die Arbeiten begannen 1962 auf der Ebene von Haut-Marais. Um die Brennelemente der für die französische Elektrizitätsgesellschaft Électricité de France (EdF) gebauten Druckwasserreaktoren zu verarbeiten, wurde eine Anlage für hochaktives Uranoxid (UP2-400) gebaut. 1966 nahm die Wiederaufbereitungsanlage mit dem Eintreffen der ersten Ladung von abgebrannten Brennelementen aus dem Kernkraftwerk Chinon ihren Betrieb auf.
1969 kursierte nach dem Kurswechsel in der Atompolitik unter Georges Pompidou das Gerücht, man würde die Anlage schließen, da sie aufgrund des zukünftig ausreichenden Bestandes an Plutonium nutzlos für das Militär geworden sei. Mit der Entlassung von 350 Angestellten wurde die Zahl der Arbeiter um ein Drittel reduziert, gleichzeitig war der Einfluss des Militärs damit beendet.
Seither dient die Anlage zur Verarbeitung von zivilen abgebrannten Kernbrennelementen, insbesondere seit der Wahl von Valéry Giscard d’Estaing, der nach der ersten Ölkrise (ab Herbst 1973) der Kernenergie besondere Bedeutung beimaß.
1976 überließ das CEA die Anlage einer neuen staatlichen Firma, der Cogema, die zukünftig eine Anlage zur Behandlung von radioaktiven Abfällen betrieb mit dem Ziel der Wiederaufarbeitung von französischem und ausländischem Brennmaterial.
Eine staatliche Verordnung von 1980 erlaubte die Erweiterung der Anlage um einen neuen Sektor, welcher 1990 seinen Betrieb aufnahm. Diese Baustelle war für die massive Umformung der Küste um La Hague herum verantwortlich.
Funktion und Betrieb
Zur Abtrennung der teilweise wiederverwertbaren radioaktiven Spalt- und Aktivierungsprodukte aus den abgebrannten Brennelementen werden in einer Wiederaufarbeitungsanlage chemische und physikalische Prozesse eingesetzt. Plutonium und Teile des Urans können zu neuen Brennelementen weiterverarbeitet werden, die ebenfalls anfallenden radioaktiven Abfälle müssen weiterbehandelt und letztlich endgelagert werden.
Die hochradioaktiven Abfälle werden in La Hague in zwei Verglasungsanlagen (R7, T7) zu festen Glasblöcken verarbeitet ("HAW-Verglasung"). Mittelradioaktive Flüssigabfälle werden dem hochradioaktiven Abfall zugeschlagen. Die Hülsen und Endstücke der Brennelemente wurden bis 1995 zementiert. Da die Radiolysegasbildung bei zementierten Hülsen- und Strukturteilen zu großen Problemen bei der Endlagerung dieses Abfallstroms geführt hätte, wurde inzwischen die Zementierung durch die Hochdruckverpressung ersetzt. Der Betrieb der Kompaktierungsanlage (Atelier de Compactage des Coques; ACC) wurde im Mai 2002 genehmigt. Die bis vor einigen Jahren noch standardmäßig praktizierte Bituminierung wurde weitgehend eingestellt und beschränkt sich heute auf kleine Mengen von Restbeständen. Schwachradioaktive Festabfälle werden zementiert, während die vorbehandelten schwachradioaktiven Abwässer unter Missachtung der festgelegten Grenzwerte ins Meer eingeleitet werden: Greenpeace stellte unter Aufsicht eines vereidigten technischen Sachverständigen fest, dass bis zu 63 Mikrometer große radioaktive Partikel eingeleitet würden, wobei laut Betriebsgenehmigung nur eine Größe von 25 Mikrometern erlaubt sei.[1] Über ein viereinhalb Kilometer langes Rohr würden täglich 400 Kubikmeter radioaktives Abwasser in die Straße von Alderney über Herqueville gespült. Dieser Vorgang ist legal, da nur das Versenken von Fässern mit Atommüll im Meer verboten ist, die direkte Einleitung hingegen nicht.[2] Des Weiteren würden regelmäßig große Mengen Krypton-85 an die Atmosphäre emittiert.[1] Gleichzeitig birgt die Straße von Alderney ein riesiges Potenzial, was zu Konflikten zwischen der Kernkraft und den erneuerbaren Energien führen könnte.
Die Weiterbehandlung der Abfälle hängt von ihrer Herkunft ab: Alle konditionierten radioaktiven Abfälle aus der Wiederaufarbeitung ausländischer Brennelemente werden nach einer vorübergehenden Zwischenlagerung in das Herkunftsland zurückgeliefert. Nach Recherchen des Fernsehsenders arte und der französischen Zeitung Libération wurden allerdings seit Mitte der neunziger Jahre jährlich 108 Tonnen abgereichertes Uran im Auftrag der Électricité de France in die russische Kernenergieanlage Sewersk transportiert. Nur 20 Prozent des Materials werden demnach von dort zur Wiederverwendung nach Frankreich zurückgeliefert, wie die Dokumentation Albtraum Atommüll enthüllte.[3][4] Schwach- und mittelradioaktive kurzlebige Festabfälle französischer Herkunft werden im Centre de l’Aube endgelagert. Abfälle, die dafür nicht geeignet sind (insbesondere der verglaste HAW), werden am Standort La Hague zwischengelagert, bis ein entsprechendes Endlager zur Verfügung steht.
2014 wurden in La Hague rund 1200 Tonnen abgebrannter Brennelemente wiederaufgearbeitet. Das ist ungefähr die gleiche Menge wie im Jahr 1996.[5] 2016 wurden 1118 Tonnen Brennstäbe verarbeitet. Davon kamen 1000 Tonnen aus Kraftwerken aus Frankreich.[6]
Betriebsstörungen, Unfälle
1968: Austritt von Iod-131 aus dem Kamin über acht Stunden[7]
1970: Explosion während der Wiederaufarbeitung von Gas-Graphite-Brennstoff[7]
1976: Tritium-Kontamination der “Sainte-Hélène”-Strömung und anderer Meeresströmungen nahe La Hague[7]
1980: Leck in einem Abflussrohr[7]
1981 kam es zu einer Brandkatastrophe in einem Abfalllager bei Graphitelementen und Uranmetall (INES-Stufe 3),[7] die viele Menschen beunruhigte. Dieser Vorfall wurde zum Anlass für heftige Diskussionen und Angriffe zwischen der Cogema und militanten Ökoaktivisten.
Seit 1983: Dauerhafte Verunreinigung von Grundwasser und Meeresströmungen durch Strontium-90[7]
1990: Unkontrollierter Austritt von Cäsium-137 aus einem Kamin (INES-Stufe 1)[7]
Während des Sommers 1997 begann die Cogema damit, die Rohrleitungen der Anlage ins Meer zu ersetzen und arbeitete an der Entfernung von Ablagerungen, die sich über die Jahre im Inneren der Rohre angesammelt hatten. Diese Schicht von Ablagerungen enthielt zahlreiche, über die Jahre angesammelte, radioaktive Abfälle und Substanzen, welche durch die Rohrreinigung frei ins Wasser gelangten und das Meer schwer belasteten. Dies bestätigte eine Untersuchung der CRIIRAD, welche die Kontaminierung von Krustentieren (Krabben und Hummern) enthüllte. Die OPRI hingegen wendet ein, diese Kontamination läge völlig im Rahmen europäischer Bestimmungen.
Eine Partei von Kernkraftbefürwortern hob bezüglich dieser Messungen eine natürliche Radioaktivität in den Vordergrund, um die anormalen gemessenen Belastungswerte des Wassers und der Tiere zu erklären. Diese Aussage wird jedoch angezweifelt, da die Grenzwerte extrem überschritten wurden und natürliche Radioaktivität somit als Ursache ausgeschlossen werden kann.
Kritik, Widerstand
Atomkraftgegner
Die ersten Atomkraftgegner und Demonstranten wurden 1978 aktiv, um gegen das geplante Kernkraftwerk Flamanville zu demonstrieren. Mit der Ankunft des ersten ausländischen Kernbrennstoffs im Januar 1979 aus Japan im Hafen von Cherbourg wurde das Bewusstsein für die Anlage wieder geweckt. Zahlreiche Demonstranten besetzten die Kräne und Anlagen des Hafens, mehr als 8000 Personen nahmen an den Demonstrationen in Cherbourg teil.
Heute konzentrieren sich die Proteste eher auf Greenpeace und dessen Aktionen, auch, um das Thema in den Medien zu verbreiten, wie bei Transporten von Brennstäben und radioaktivem Abfall oder bei der Entnahme von Wasserproben, die an den Abwasserrohren der Anlage genommen werden und die Risiken und Umweltprobleme deutlich machen sollen.
Blutkrebs bei Kindern
In einer französischen Studie von 1997 wurde der Zusammenhang zwischen den radioaktiven Einleitungen und einer erhöhten Blutkrebsrate bei Kindern und Jugendlichen nachgewiesen. Im Vergleich zum Landesdurchschnitt ist die Blutkrebsrate innerhalb eines Umkreises von 10 Kilometern um die Anlagen in La Hague um den Faktor drei erhöht.[1] Dies ist jedoch, ähnlich wie in der deutschen KiKK-Studie zur Leukämiehäufigkeit bei Kindern in der Umgebung von deutschen Kernkraftwerken, schwer zu erklären. Grund ist, dass die zusätzliche Strahlenbelastung, die von diesen Anlagen ausgeht, nur einen Bruchteil der natürlichen Strahlenbelastung ausmacht und unter allen vorgegebenen Grenzwerten bleibt, andererseits in diesen Studien Störfaktoren (Confounder) aufgrund des unzureichenden Datenmaterials nicht ausgeschlossen werden können. Zu bedenken ist, dass von den Betreibern lediglich mittlere Emissionswerte, jedoch nicht die Tagesspitzenwerte, wie sie z. B. beim Brennelementewechsel auftreten, angegeben werden. Unberücksichtigt bleiben die durch Nahrung und Wasser aufgenommenen radioaktiven Partikel aus der landwirtschaftlichen Produktion der Umgebung. Außerdem beziehen sich die Grenzwerte auf einen gesunden, erwachsenen Mann; Kinder haben aufgrund ihres schnellen Wachstums und geringeren Körpergewichts ein höheres Erkrankungsrisiko.
Wartung und Betrieb
Die französische Wochenzeitung Le Canard enchaîné berichtete von einem scharfen Brief der Behörde für die atomare Sicherheit (ASN). Es wird auf ernsthafte Explosionsrisiken bei der Reinigung von Plutonium hingewiesen. Bei der Reinigung entsteht hochexplosiver Wasserstoff. In der Anlage seien die Wasserstoffdetektoren ungenügend gewartet, die Ausbildung erfolge wegen Personalmangels „auf die Schnelle“. Bei einer Unfallsimulation durch die ASN war die Reaktionszeit ungenügend. Von Gewerkschaftskreisen wurde schon zuvor mehrfach beanstandet, dass das Sicherheitsprozedere nicht eingehalten wird.[6]
Siehe auch
Einzelnachweise
- Wiederaufarbeitung in La Hague Schleichende radioaktive Verseuchung und illegale Einleitungen. Greenpeace, abgerufen am 3. Dezember 2015.
- https://www.taz.de/1/leben/medien/artikel/1/und-staendig-waechst-der-abfallberg/
- Pariser Regierung untersucht Atom-Transporte nach Sibirien
- tagesschau.de, 13. Oktober 2009, Siegfried Forster, DLF: Frankreich lädt Atommüll in Russland ab – Strahlendes Sibirien. (Memento vom 13. Oktober 2009 im Internet Archive) Abgerufen am 26. Oktober 2010.
- Neue Angabe: fr.wikipedia-Artikel zu La Hague – Alte Angabe: M. Sailer et al.: Die Wiederaufarbeitung von abgebrannten Brennelementen aus schweizerischen Atomkraftwerken, 1997
- Rudolf Balmer: Mangelnde Sicherheit in Atommüllhalde: Explosionsrisiken in La Hague. In: Die Tageszeitung, 14. September 2017. Auf TAZ.de, abgerufen am 30. Juli 2021.
- POSSIBLE TOXIC EFFECTS FROM THE NUCLEAR REPROCESSING PLANTS AT SELLAFIELD (UK) AND CAP DE LA HAGUE (FRANCE). Europäisches Parlament, November 2001, S. Seite 112ff., abgerufen am 19. Februar 2018.