Kernenergie in den Niederlanden
Die Kernenergie in den Niederlanden ist seit den späten 1960er Jahren Teil der Energieversorgung des Landes. Verglichen zu den Nachbarstaaten Belgien und Deutschland spielte die Kernenergie in den Niederlanden aber immer eine deutlich geringere Rolle bei der Energieversorgung. Der Anteil der Kernenergie an der gesamten niederländischen Energienerzeugung belief sich im Jahr 2017 auf etwa 3,5 Prozent.[1][2]
Kernkraftwerke in Niederlande: In Betrieb stillgelegt |
Geschichte
Theoretische Überlegungen zur Nutzung der Kernenergie gab es an Technischen Universität Delft schon in den 1930er Jahren, weswegen dort auch ein Uranvorrat angelegt wurde. Während der Zeit der deutschen Besatzung wurde dieser Vorrat vor den Besatzern verborgen. Nach dem Krieg bildete dieses Uran die Basis für eine Nuklearzusammenarbeit mit Norwegen, wo in Kjeller ein Forschungsreaktor unter niederländischer Beteiligung betrieben wurde. Im Jahr 1955 wurde in Petten ein eigener Forschungsreaktor in Betrieb genommen. Die durch das niederländische Wirtschaftsministerium in den 1950er Jahren vorangetriebenen Planungen sahen vor, dass die Kernenergie ab 1962 eingeführt werden und letztlich einen immer größeren Anteil an der Energieversorgung übernehmen sollte. Ab dem 1. Mai 1965 wurde mit der Konstruktion eines 55-MWe-Siedewasserreaktors in Dodewaard (heute Teil von Neder-Betuwe in Gelderland) begonnen. Der Reaktor wurde am 24. Mai 1968 kritisch und speiste ab dem 18. Oktober 1968 Strom ins öffentliche Netz ein. Er war bis zum 26. März 1997 in Betrieb, als er aus wirtschaftlichen Gründen stillgelegt wurde.[3]
Als nächstes folgte ein kommerzieller 452-MWe-Druckwasserreaktor, der am Standort Borssele (ab 1970 Teil der Gemeinde Borsele in Zeeland) ab dem 1. Juli 1969 durch die Siemens-Tochter Kraftwerk Union erbaut wurde. Am 20. Juni 1973 wurde der Reaktor kritisch und am 25. Oktober 1973 ging er ans Netz.[3][4][5] Nachdem seine Laufzeitdauer bis auf das Jahr 2033 verlängert worden war, erfolgte im Jahr 2006 eine Modernisierung der Turbinenanlage, so dass die Leistung des Reaktors von 452 auf 485 MWe stieg.[1]
Liste der Reaktoren
Name | Block |
Reaktortyp | Modell | Status | Netto- leistung in MW |
Brutto- leistung in MW |
Baubeginn | Erste Netzsyn- chronisation |
Kommer- zieller Betrieb (geplant) |
Abschal- tung (geplant) |
Einspeisung in TWh |
---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|
Borssele | 1 | PWR | KWU 2LP | In Betrieb | 482 | 515 | 01.07.1969 | 04.07.1973 | 26.10.1973 | (2034) [7] | 152,33 |
Dodewaard | 1 | BWR | GE design | Stillgelegt | 55 | 60 | 01.05.1965 | 18.10.1968 | 26.03.1969 | 26.03.1997 | 10,93 |
Überlegungen und Streitigkeiten über den Atomausstieg
Land | 1978 | 1987 |
---|---|---|
Frankreich | 2 % | −3 % |
Schweiz | −2 % | 10 % |
Deutschland | 11 % | 19 % |
Niederlande | 26 % | 27 % |
Belgien | 12 % | 6 % |
Vereinigtes Königreich | −32 % | 1 % |
Italien | −24 % | 46 % |
Dänemark | −3 % | 49 % |
Je positiver die Zahl, desto größer die Gegnerschaft. Gegner überwiegend Befürworter überwiegend |
Nach der Entdeckung von ausgedehnten Erdöl- und Erdgasfeldern in der Nordsee ab dem Ende der 1950er Jahre erschien die zukünftige Energieversorgung weniger kritisch und der Ausbau der Kernenergie weniger dringlich. Zudem führten die schweren Reaktorunfälle von Three Mile Island 1979 und Tschernobyl 1986 dazu, dass sich die Akzeptanz der Nuklearenergie in der niederländischen Öffentlichkeit weiter verminderte. Umfragen zeigten, dass schon Ende der 1970er Jahre die atomkraftskeptischen Einstellungen in den Niederlanden deutlich überwogen, was durch Tschernobyl noch deutlich verstärkt wurde. Unmittelbar nach der Tschernobyl-Katastrophe erklärte der damalige Ministerpräsident Ruud Lubbers, dass die Entscheidung zum Bau von zwei weiteren Kernkraftwerken auf unbestimmte Zeit verschoben werde.[9]
Nach Tschernobyl wurde das Kernkraftwerk Borssele wie auch andere Kernkraftwerke europaweit durch Experten der Internationalen Atomenergie-Agentur (IAEA) visitiert. Diese stellten einige Mängel fest. Daraufhin arbeitete die Betreibergesellschaft EPZ (Elektriciteits Produktiemaatschappij Zuid-Nederland) einen Plan für ein Sicherheits-Upgrade des Kraftwerks aus. Die Kosten dieses Upgrades wurden auf 467 Millionen niederländische Gulden (damals etwa 310 Millionen US$) veranschlagt. Diese Kraftwerkumbauten und -modernisierungen fanden im Jahr 1997 statt. Als Ausgleich für die Unkosten verlangten die Betreiber eine Laufzeitgarantie für das Kraftwerk bis zum Jahr 2007.[10]
Am 23. November 1994 fasste die Zweite Kammer der Generalstaaten auf Initiative der grünen Abgeordneten Marijke Vos mit knapper Mehrheit den Beschluss, die Laufzeit vor Borssele nicht über den bisher feststehenden 31. Dezember 2003 hinaus zu verlängern. Der Betreibergesellschaft wurden seitens der Regierung Kompensationen zugesichert. Ein Verfahren zur Stilllegung wurde vorbereitet, gegen das die Betreibergesellschaft und auch die organisierten Arbeiter des Kernkraftwerks Klage einreichten. Die Stilllegungsprozedur wurde im Februar 2000 vom Raad van State (Staatsrat) aus formalen Gründen für ungültig erklärt, so dass damit der Termin 2003 hinfällig wurde. Um doch noch eine Stilllegung zum Jahresende 2003 zu erzwingen, zog die Regierung vor das Verwaltungsgericht in ’s-Hertogenbosch. Eine zentrale Streitfrage war hier, ob die Betreibergesellschaft im Jahr 1993/94 die von der Regierung offerierten Kompensationszahlungen im Falle einer Schließung akzeptiert hatte, oder nicht.[10] Am 22. September 2002 urteilte das Gericht gegen die Regierung, da diese nicht hinreichend habe darlegen können, welche rechtsverbindlichen Abmachungen zur Schließung getroffen worden waren.[11] Das Urteil war eine große Enttäuschung für die Kernkraftgegner in den Niederlanden. Insbesondere die Grünen sahen sich um den fast schon sicher geglaubten Atomausstieg gebracht.
Bei den beiden Parlamentswahlen am 15. Mai 2002 und am 22. Januar 2003 waren die konservativ-liberalen Kräfte erfolgreich und der neue Premierminister Jan Peter Balkenende erklärte gleich zu Beginn, dass die Stilllegung von Borssele im Jahr 2003 für ihn kein Thema sei. Später war von einem Stilllegungsdatum im Jahr 2013 die Rede und am 7. September 2005 wurde ein Abkommen zwischen der Regierung und den beiden Kraftwerksbetreibern Delta und Essent geschlossen, in dem sich die beiden Betreiber zur zusätzlichen Investition von 250 Millionen Euro in erneuerbare Energien verpflichteten. Im Gegenzug garantierte die Regierung eine Betriebsdauer von Borssele bis zum Jahr 2033.[12]
Planungen für ein zweites Kernkraftwerk
Im November 2010 unterzeichneten die Elektrizitätsgesellschaft Delta – Anteilseignerin von 70 % des Kernkraftwerks Borssele – und die französische Électricité de France eine Absichtserklärung zum Bau eines weiteren Reaktorblocks in Borssele mit einer Kapazität von 2500 MW.[13] Im Dezember 2011 zog sich EDF jedoch aus dem Projekt zurück. Außerdem gab RWE – mittlerweile Anteilseigner der restlichen 30 % – am 21. Januar 2012 eine Erklärung ab, dass RWE „unter den gegenwärtigen wirtschaftlichen und politischen Umständen“ (am 30. Juni 2011 hatte der Deutsche Bundestag den gestaffelten Atomausstieg beschlossen) nicht in der Lage sei, in ein solches Projekt zu investieren. Daraufhin legte Delta die Pläne zunächst auf Eis.[14]
Literatur
Siehe auch
Einzelnachweise
- Nuclear Power in the Netherlands. World Nuclear Power Association, Dezember 2017, abgerufen am 31. Dezember 2017 (englisch).
- Kernenergie in Nederland. Abgerufen am 31. Dezember 2017 (niederländisch, kernenergiekritische Webseite).
- THE NETHERLANDS. (pdf) Internationale Atomenergie-Agentur, abgerufen am 31. Dezember 2017 (englisch).
- Thirty-five years of operation at Borssele NPP. Euro nuclear News, Band 22, November 2008, abgerufen am 31. Dezember 2017 (englisch).
- Frodo Klaassen: The Netherlands, country report. Treffen der Technischen Arbeitsgruppe für Brennstoff-Effizienz und -Technologie (TWGFPT) der IAA in Wien, 25. April 2006, abgerufen am 31. Dezember 2017 (englisch).
- Netherlands. IAEA, abgerufen am 5. Dezember 2019 (englisch).
- global2000.at
- Ruud Koopmans, Jan Willem Duyvendak: The Political Construction of the Nuclear Energy Issue and Its Impact on the Mobilization of Anti-Nuclear Movements in Western Europe. In: Social Problems. Band 42, Nr. 2. University of California Press, Mai 1995, S. 235–251, JSTOR:3096903 (englisch, online [PDF]).
- M. N.: Niederlande: Triumph für Ruud Lubbers. Die Zeit, 30. Mai 1986, abgerufen am 31. Dezember 2017.
- Netherlands: Court case on closure date Borssele NPP. Nuclear Monitor Issue, Nr. 551, 25. Juni 2001, abgerufen am 31. Dezember 2017 (englisch).
- Afspraken over sluiting Borssele ongeldig. de Volkskrant, 25. September 2002, abgerufen am 31. Dezember 2017 (niederländisch).
- The sole nuclear power station in the Netherlands is to stay operational until 2033. EXPATICA, 7. September 2005, abgerufen am 31. Dezember 2017 (englisch).
- Delta, EDF sign agreement to co-develop Dutch nuclear plant. S&P Global Platts, 4. November 2010, abgerufen am 31. Dezember 2017 (englisch).
- NETHERLANDS: BORSSELE-2, Nummer 741. Nuclear Monitor, 3. Februar 2012, abgerufen am 31. Dezember 2017 (englisch).