Ethnozid
Ethnozid (auch kultureller Völkermord, englisch cultural genocide) bezeichnet den gewollten Versuch, die kulturelle Identität einer bestimmten ethnischen Gruppe zu zerstören, ohne jedoch ihre Angehörigen zu töten, wie es beim Völkermord (Demozid oder Genozid) der Fall wäre.
Dies wird erreicht, indem die jeweilige Sprache, Kultur, Religion, Wirtschaftsweise und Herrschaftsform der entsprechenden Ethnie verboten und/oder zerstört wird.[1] Anstelle der alten wird den Betroffenen eine neue kulturelle Identität unter Drohungen und Repressionen auferlegt (oktroyiert).
Grund solcher Bestrebungen ist zumeist ein durch Rassismus gespeistes Überlegenheitsgefühl dominanter Gesellschaften gegenüber andersstämmigen Minderheiten. Ziel ist die beschleunigte Eingliederung der Minderheitsgesellschaft in die Mehrheitsgesellschaft durch Abschaffung der kulturellen Eigenarten.[1][2]
Abgrenzungen
Im Unterschied dazu beschreibt Transkulturation das Phänomen der, auch ungesteuerten, Einflussnahme einer Kultur auf eine andere. Der Begriff Akkulturation bezeichnet das individuelle Hineinwachsen einer Person in ihre kulturelle Umwelt durch Erziehung (siehe auch Sozialisation). Marginalisierung ist ein sozialer Vorgang, bei dem Bevölkerungsgruppen vorsätzlich kulturell, rechtlich und wirtschaftlich an den Rand der Gesellschaft gedrängt werden.
Zwangsassimilation
Häufige Mittel der Assimilationspolitik sind:
- Linguizid: Das Verbot oder die massive Behinderung des Gebrauchs von Sprachen der Einheimischen bzw. von Minderheitensprachen (z. B. in Schulen) und die zwangsweise Einführung einer Amtssprache des Staates oder der Besatzungsmacht
- Ortsumbenennungen nach dem gleichen Muster
- Der Raub von Kindern und ihre zeitweise Zwangsinternierung in Schulen, Klöstern und Internaten für die Dauer des Schulalters
- Dauerhafte Zwangsadoptionen von Babys oder Kindern, durch Raub von ihren Eltern oder nach Ermordung der Eltern
- Zwangsassimilation von Minderheiten
Verbot von Zwangsadoptionen
Die gewaltsame Überführung von Kindern einer (ethnischen) Gruppe in eine andere ist seit 1948 eine durch die Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes als Kriterium für das Vorliegen von Ethnozid geächtete Praxis.
Beispiele für Zwangsadoption
- Lebensborn in Deutschland, z. B. Raub von polnischen Kindern, die von den Nationalsozialisten als „eindeutschungswürdig“ zur Germanisierung vorgesehen waren und interniert wurden; ähnlich auch in besetzten westeuropäischen Ländern und in Norwegen 1940–1945
Beispiele für Zwangsassimilation
- Assimilation (Kolonialismus): koloniale Assimilationspolitik Frankreichs und Portugals
- französische Assimilationspolitik im Elsass ab 1918[3]
- Politiken der Germanisierung, Magyarisierung und Russifizierung um 1900
- Italianisierung: Im Besonderen bezeichnet der Begriff den Versuch der ab 1922 regierenden faschistischen Partei Italiens, die im Rahmen des Irredentismus einverleibten Gebiete mit nicht-italienischer Bevölkerung sprachlich und kulturell italienisch zu dominieren und ihrer gewachsenen Identität zu berauben
- Roma in Tschechien und der Slowakei: Kaiserin Maria Theresia plante eine rigorose Assimilationspolitik, die neben der Wegnahme der Kinder zur Umerziehung auch eine Christianisierung nicht-christlicher Roma umfasste
- Deportation und Unterdrückung der westukrainischen grenzennahen Völkern im Laufe der Aktion Weichsel
- Samische Sprachen: Ungefähr zwischen 1850 und 1960 war der Gebrauch der eigenen Sprachen der Samen aufgrund der vorherrschenden Assimilationspolitik in den staatlichen Schulen aller drei skandinavischen Länder sowie dem Russischen Zarenreich bzw. der Sowjetunion verboten[4]
- Assimilationspolitik gegenüber den Kurden in der Türkei
- Marginalisierung der Tuareg in Mali und Niger
- Kanada: Hier wurde seit dem 19. Jahrhundert systematisch versucht, Kinder der Ureinwohner (First Nations) in Internaten (Residential Schools) ihrer eigenen Kultur und ihren Eltern zu entfremden
- Entfremdung von Aborigines-Kindern in Australien: Stolen Generations[5]
- Indianerpolitik der Vereinigten Staaten, z. B. bei den Ktunaxa
- Indigene Bewegung in Chile: Ende der 1920er Jahre war das Leitbild der derzeitigen Assimilationspolitik in Chile eine disziplinierte Gesellschaft, in deren Augen die traditionellen Siedlungsgebiete der Indigenen als „Un-Orte“ galten und aufgelöst werden mussten
- Sinifizierung der Uiguren und Tibeter in der VR China - Xinjiang-Umerziehungslager
- Ryūkyū-Inseln: es wurde versucht, die Bewohner der Ryūkyū-Inseln durch eine Assimilationspolitik in den japanischen Staat zu integrieren
- Christliche Missionierung war weltweit häufig von Gewalt begleitet, wandte sich vor allem an Kinder und Jugendliche (Missionsschulen) und gründete sich auf eine angebliche kulturelle Überlegenheit des Christentums über die einheimischen Religionen[6]
Literatur
- Max Hildebert Boehm: Volkstumswechsel und Assimilationspolitik. Festschrift Justus Wilhelm Hedemann zum 60. Hgg. Roland Freisler, George Anton Löning, Hans Carl Nipperdey, Jena 1938
- Helmut Samer: Folgen der Assimilationspolitik. Nur online. Über Roma bis zum Ende des 19. Jahrhunderts in Preußen und im K. u. k. Österreich
- Arnd Bauerkämper: Assimilationspolitik und Integrationsdynamik. Vertriebene in der SBZ/DDR in vergleichender Perspektive. In: Marita Krauss, Hg.: Integrationen. Vertriebene in den deutschen Ländern nach 1945. V&R, Göttingen 2008 ISBN 3525367570 S. 22–47 (In google books einsehbar)
- Jutta Aumüller: Assimilation. Kontroversen um ein migrationspolitisches Konzept. Transcript, Bielefeld 2009 ISBN 3837612368 (In google books einsehbar)
Einzelnachweise
- Peter Bolz: Stichwort: Ethnozid in Walter Hirschberg (Begründer), Wolfgang Müller (Redaktion): Wörterbuch der Völkerkunde. Neuausgabe, 2. Auflage, Reimer, Berlin 2005. S. 112.
- Gunnar Heinsohn: Lexikon der Völkermorde. Rowohlt, Reinbek 1999, S. 128
- Ludwig E. Bernauer: Die Statistik als Spiegel der französischen Assimilationspolitik im Elsaß und in Deutschlothringen. In: Humanitas Ethnica. Menschenwürde, Recht und Gemeinschaft. Festschrift Theodor Veiter. Wilhelm Braumüller, Wien 1967, S. 183–197
- Rainer Alsheimer, Alois Moosmüller, Klaus Roth (Hrsg.): Lokale Kulturen in einer globalisierenden Welt − Perspektiven auf interkulturelle Spannungsfelder. Waxmann, Münster 2000, S. 188.
- Gerhard Stilz, Rudolf Bader: Landrechte der Aborigenes und Torres Strait-Islanders. In: Dieselben (Hrsg.) Australien zwischen Europa und Asien (= German-Australian Studies – Deutsch-Australische Studien. Band 8). Lang, Bern 1993, ISBN 3906752208, S. ??.
- Lk 14,23
Beispiel Nordamerika: Christian F. Feest: Beseelte Welten – Die Religionen der Indianer Nordamerikas. In: Kleine Bibliothek der Religionen, Bd. 9, Herder, Freiburg / Basel / Wien 1998, ISBN 3-451-23849-7. S. 185–193, sowie teilw. 193ff.
Beispiel Südamerika: Birgitta Huse, Heidi Feldt, Ludgera Klemp, Sabine Speiser, Volker von Bremen: Indigene Völker in Lateinamerika: Hintergründe – Fakten. Anregungen für den Unterricht. Internationale Weiterbildung und Entwicklung InWEnt gGmbH, Düsseldorf und Deutsche Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit (GTZ) GmbH, Eschborn 2005, ISBN 978-3-937235-85-1. S. 20, 79, 85, 100.