International Holocaust Remembrance Alliance
Die International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA, deutsch Internationale Allianz zum Holocaustgedenken) wurde 1998 in Stockholm mit dem Ziel gegründet, die Aufklärung, Erforschung und Erinnerung des Holocaust weltweit zu fördern. Bis Januar 2013 hieß sie Task Force for international Cooperation on Holocaust Education, Remembrance und Research (englisch abgekürzt ITF).
Sie ist die einzige zwischenstaatliche Organisation, die sich ausschließlich diesem Zweck widmet. Sie hat derzeit (2021) 34 Mitgliedstaaten, einen Partnerstaat und acht Beobachterstaaten. Basis und Arbeitsauftrag der IHRA und ihrer Mitglieder ist die „Stockholmer Erklärung“ aus dem Jahr 2000.
Entstehung
Schwedens früherer Ministerpräsident Göran Persson hatte das KZ Neuengamme bei Hamburg besucht und über dort ermordete jüdische Kinder gelesen. Doch nach einer Meinungsumfrage um 1998 verbreiteten sich unter schwedischen Oberschülern Zweifel an der Tatsache des Holocaust und an demokratischen Werten. Daraufhin ließ Persson den Schulunterricht zum Thema Holocaust in Schweden untersuchen. Der führende Holocausthistoriker Yehuda Bauer und Gedenkstätten in Israel berieten die schwedische Regierung. Diese gründete die Organisation Levande Historia („Lebendige Geschichte“) für Holocaustunterricht im schwedischen Schulsystem. Stéphane Bruchfeld und Paul A. Levine verfassten ein 80 Seiten starkes Handbuch zur Holocaustgeschichte. Dieses wurde auch von Dänemark, fünf deutschen Bundesländern, Estland, Frankreich, Lettland und Norwegen übernommen. Daraus entstand die Idee, eine internationale Organisation für den Holocaustunterricht zu schaffen. Auf Anfragen Perssons unterstützten US-Präsident Bill Clinton und Großbritanniens Premierminister Tony Blair das Vorhaben. Der schwedische Minister Ulf Hjertonsson übernahm die Organisation. Yehuda Bauer als akademischer Berater schlug sofort vor, Deutschland, Israel und Polen einzuladen, da das Vorhaben ohne diese Staaten undenkbar wäre. Im Mai 1998 fand das Gründungstreffen in Stockholm statt, an dem Deutschland und Israel teilnahmen. Polen, Frankreich und Italien traten der ITF bis 1999 bei. Um die Erziehungsziele zum Holocaustthema international verbindlich zu formulieren, lud Persson interessierte Regierungen für Januar 2000 nach Stockholm ein. Yehuda Bauer leitete das Vorbereitungskomitee des Treffens, der Holocaustüberlebende Elie Wiesel übernahm den Ehrenvorsitz. Eine gemeinsame Erklärung wurde entworfen und den Teilnehmern vorab zugesandt. An der Konferenz vom 27. bis 29. Januar 2000 in Stockholm nahmen 46 Staatsregierungen teil. Sie berieten den Text und nahmen ihn nach minimalen Änderungen einstimmig an.[1]
Stockholmer Erklärung
Die „Erklärung des Stockholmer Internationalen Forums zum Holocaust“, kurz „Stockholmer Erklärung“, formuliert den Arbeitsauftrag der IHRA und die Selbstverpflichtung der beteiligten Staaten in acht Punkten. Der Holocaust (die Shoa) habe die Zivilisation in ihren Grundfesten erschüttert. Er werde in seiner Beispiellosigkeit für alle Zeit von universaler Bedeutung sein. Noch könnten Überlebende Zeugnis ablegen über die Schrecken, die die jüdischen Mitmenschen durchleiden mussten. Das schreckliche Leid der Millionen weiterer Opfer der Nazis habe ganz Europa mit einer unauslöschlichen Narbe gezeichnet. Daraus wurden folgende staatliche Pflichten abgeleitet:
- das Ausmaß des von den Nazis geplanten und ausgeführten Holocaust dauerhaft im kollektiven Gedächtnis zu verankern, ebenso die selbstlosen Opfer derer, die den Nazis widerstanden,
- die schreckliche Wahrheit des Holocaust gegen jene zu vertreten, die sie leugnen,
- die Übel Völkermord, ethnische Säuberung, Rassismus, Antisemitismus und Ausländerfeindlichkeit weltweit zu bekämpfen,
- zu gewährleisten, dass kommende Generationen die Ursachen des Holocaust verstehen und über seine Folgen nachdenken,
- Erziehung, Gedenken und Forschung zum Thema Holocaust zu stärken,
- das Studium des Holocaust umfassend und in allen Bildungseinrichtungen zu fördern,
- der Holocaustopfer und der Widerstandskämpfer in angemessenen Formen zu gedenken und dazu einen jährlichen Holocaustgedenktag einzurichten,
- die noch verdunkelten Schatten des Holocaust aufzuklären, etwa mit der Öffnung von Archiven und Bereitstellung von Dokumenten für Forscher,
- an die Ermordeten zu erinnern und die Überlebenden zu respektieren,
- das Streben der Menschheit nach gegenseitigem Verstehen und Gerechtigkeit zu bekräftigen.[2]
In den Folgejahren wurde die Erklärung in einigen Punkten präzisiert. So verpflichteten sich die Teilnehmerstaaten, ihr eigenes früheres Handeln oder Nichthandeln während des Holocaust zu erforschen und darüber Jahresberichte vorzulegen. Ohne Bereitschaft zu dieser Selbstkritik kann kein Staat Mitglied der IHRA werden.[1]
Mitglieder, Partner, Beobachter
Aktuell (2021) hat die IHRA 34 Mitgliedsstaaten:
- Argentinien
- Australien
- Belgien
- Bulgarien
- Dänemark
- Deutschland
- Estland
- Finnland
- Frankreich
- Griechenland
- Irland
- Israel
- Italien
- Kanada
- Kroatien
- Lettland
- Litauen
- Luxemburg
- Niederlande
- Norwegen
- Österreich
- Polen
- Portugal
- Rumänien
- Schweden
- Schweiz
- Serbien
- Slowenien
- Slowakei
- Spanien
- Tschechien
- Ungarn
- Vereinigte Staaten
- Vereinigtes Königreich.
Partnerstaat ist die Republik Nordmakedonien. Beobachterstatus haben acht Staaten:
Das Europäische Parlament forderte die Europäische Kommission am 1. Juni 2017 in einem weitreichenden Beschluss gegen Antisemitismus auf, bei der IHRA einen Beobachterstatus zu beantragen.[4] Dem folgte die EU-Kommission. Aktuell (2021) haben folgende internationale Organisationen Beobachterstatus bei der IHRA:
Organisation
Die IHRA arbeitet seit ihrer Gründung nach dem Konsensprinzip und versucht, Differenzen nicht durch Abstimmungen, sondern offene Plenardiskussionen und Kompromisse zu überwinden. Vier Arbeitsgruppen von international anerkannten Experten leisten die Detailarbeit. Jeder Teilnehmerstaat muss 30.000 Euro pro Jahr für diese Arbeit in einen IHRA-Fonds einzahlen. Die schwedische Regierung führt ein IHRA-Büro in Stockholm mit einem hochqualifizierten Exekutivsekretär. Die deutsche Bundesregierung betreut ein weiteres Sekretariat in Berlin und deckt einen Teil der IHRA-Ausgaben ab. Körperschaften und Institutionen inner- und außerhalb der IHRA können Projekte vorschlagen, die die Arbeitsgruppen dann prüfen und gegebenenfalls genehmigen. Bis zu 50 % jedes nominierten Projekts finanziert die IHRA. Der Vorsitz rotiert jährlich von Regierung zu Regierung. Jedes Jahr finden zwei Plenartreffen von Regierungsvertretern, Diplomaten und Experten statt, die jeweils einen Monat lang von einem Spezialkomitee vorbereitet werden. Zum Akademischen Beraterkomitee (AAC) gehören die Vorsitzenden der Arbeitsgruppen, die ebenfalls jährlich rotieren, sowie der IHRA-Vorsitzende und IHRA-Sekretär. Sie diskutieren die inhaltliche Arbeit der Organisation und beteiligen sich am Vorbereitungskomitee der Plenarsitzungen. So wurde eine Balance von Experten und Diplomaten angestrebt und Konsens in vielen Bereichen gewährleistet. 2005 gab Yehuda Bauer sein Amt an Dina Porat (Stephen Roth Institute for the Study of Contemporary Antisemitism and Racism an der Tel Aviv University) ab und übernahm den Ehrenvorsitz.[1]
Vorsitz
2009 hatte Norwegen turnusgemäß den ITF-Vorsitz inne. Zugleich feierte Norwegen damals ein Gedenkjahr für den Schriftsteller Knut Hamsun, der in der NS-Zeit mit den Nazis sympathisiert hatte. Dies rief Konflikte hervor. Der norwegische ITF-Vorsitzende betonte, das Gedenkjahr beeinflusse seine Arbeit in keiner Weise.[6]
Nach Italien (2018) und Luxemburg (2019) übernahm Deutschland ab März 2020 den IHRA-Vorsitz.[7] Michaela Küchler wurde Sonderbeauftragte im Auswärtigen Amt für Beziehungen zu jüdischen Organisationen, Holocausterinnerung, Antisemitismusfragen und internationale Angelegenheiten der Sinti und Roma. Sie erklärte, Deutschland wolle vor allem Fortschritte bei der Bekämpfung der Leugnung und Relativierung des Holocaust erzielen. Dazu plane man eine Global Task Force.[8] Die deutsche Bundesregierung erließ am 3. Februar 2021 eine Rechtsverordnung zur Anerkennung der IHRA als internationale Institution im Sinne des Gaststaatgesetzes. Die Verordnung sollte nach Zustimmung des Bundesrats im März 2021 in Kraft treten.[9]
Aufgaben
Im Jahr 2005 beschloss die Generalversammlung der Vereinten Nationen den Internationalen Holocaustgedenktag am 27. Januar jeden Jahres und verstärkte Aufklärung über den Holocaust. Darum wurde die UNO ständiger Beobachter der IHRA, und viele UN-Gremien arbeiten seitdem mit ihr zusammen. Die IHRA gründete ein Komitee, um die UN-Resolution zum Holocaustgedenktag in ihren Mitgliedsstaaten umzusetzen. Auch ihre Zusammenarbeit mit Nichtmitgliedsstaaten wurde gestärkt, vor allem im Bereich der Massenmordprävention. Damit wuchs der Aufgabenbereich der IHRA weit über das Gedenken der Shoa hinaus. Folglich entwickelte sie Kriterien, um nur demokratische Regierungen aufzunehmen, die bestimmte Voraussetzungen erfüllen. Die Arbeit der IHRA bewirkte, dass große Holocaustgedenkstätten ihrerseits eng zusammenarbeiten, so Yad Vashem in Israel, das Holocaust Memorial Museum in Washington, D.C., die Gedenkstätte im KZ Auschwitz, das Anne-Frank-Haus in Amsterdam, die Gedenkstätte im KZ Theresienstadt (Pamatnik Terezin), das Mémorial de la Shoah in Paris und weitere. Bis 2010 wurden 369 Projekte vorgeschlagen und 221 davon gefördert. Hauptfokus lag auf Fortbildung von Lehrern, Bildung für Jugendliche, Gedenken und Forschung.[1]
Gemäß der Stockholmer Erklärung umfasst die Arbeit der IHRA die Kernbereiche Bildung, Gedenken und Forschung. Sie fördert externe Projekte, führt aber auch eigene Projekte durch. Ziel ist es, die politische Gestaltung Holocaust-relevanter Themen zu beeinflussen und die Erforschung bisher wenig beleuchteter Aspekte des Holocausts voranzutreiben. Im Jahr 2007 wurde das Tätigkeitsfeld um die Erinnerung an den Völkermord an den Sinti und Roma (Porajmos), Völkermordprävention und den Kampf gegen Antisemitismus erweitert.[10]
In der Diskussion rund um das Stollensystem der Deutschen Erd- und Steinwerke im österreichischen KZ Gusen positionierte sich die IHRA für die Erhaltung.[11]
Antisemitismus-Bekämpfung
Arbeitsdefinition
Die Stockholmer Erklärung verpflichtet die IHRA-Mitglieder auch dazu, gegenwärtigen Antisemitismus zu bekämpfen. Am 26. Mai 2016 in Bukarest nahm das jährliche IHRA-Plenum deshalb folgende „Arbeitsdefinition Antisemitismus“ an:
„Antisemitismus ist eine bestimmte Wahrnehmung von Jüdinnen und Juden, die sich als Hass gegenüber Jüdinnen und Juden ausdrücken kann. Der Antisemitismus richtet sich in Wort oder Tat gegen jüdische oder nichtjüdische Einzelpersonen und/oder deren Eigentum sowie gegen jüdische Gemeindeinstitutionen oder religiöse Einrichtungen.“[12]
Es folgen Beispiele zur Veranschaulichung:
„Erscheinungsformen von Antisemitismus können sich auch gegen den Staat Israel, der dabei als jüdisches Kollektiv verstanden wird, richten. Allerdings kann Kritik an Israel, die mit der an anderen Ländern vergleichbar ist, nicht als antisemitisch betrachtet werden. Antisemitismus umfasst oft die Anschuldigung, die Juden betrieben eine gegen die Menschheit gerichtete Verschwörung und seien dafür verantwortlich, dass „die Dinge nicht richtig laufen“.“[12]
Dafür nennt der Text dann elf konkrete Beispiele. Sieben davon beziehen sich auf den Staat Israel. Betont wird, dass die Definition nicht rechtsverbindlich sei, sondern antisemitische Straftaten nach den jeweils gültigen Staatsgesetzen verfolgt werden sollen.
Diese Arbeitsdefinition hatte schon die Europäische Stelle zur Beobachtung von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit (englisch abgekürzt EUMC) nach zweijähriger Vorarbeit hochrangiger Fachwissenschaftler am 28. Januar 2005 beschlossen. Die sieben auf Israel bezogenen Beispiele lauten in der Vorlage:
- die Anschuldigung, die Juden oder Israel hätten den Holocaust erfunden oder übertrieben,
- die Anschuldigung, die Juden stünden loyaler zu Israel als zu den Staaten, deren Bürger sie sind,
- das „Abstreiten des Rechts auf jüdische Selbstbestimmung“, etwa durch die Darstellung Israels als rassistisches Projekt,
- die „Anwendung doppelter Standards, indem man von Israel ein Verhalten fordert, das von keinem anderen demokratischen Staat erwartet oder gefordert wird“,
- das „Verwenden von Symbolen und Bildern, die mit traditionellem Antisemitismus in Verbindung stehen“, für Israel (etwa der Vorwurf des Christusmordes oder die Ritualmordlegende),
- „Vergleiche der aktuellen israelischen Politik mit der Politik der Nationalsozialisten“,
- das „Bestreben, alle Juden kollektiv für Handlungen des Staates Israel verantwortlich zu machen“.[13]
Die Arbeitsdefinition will handhabbare Kriterien zur praktischen „Erkennung, Identifizierung, Dokumentation, Bekämpfung und strafrechtlichen Verfolgung von Antisemitismus“ anbieten, etwa für den Berufsalltag von Lehrern, Polizisten und Richtern. Folglich befasst sie sich besonders mit dem israelbezogenen Antisemitismus. Er wuchs seit dem Sechstagekrieg von 1967 und nochmals seit dem Scheitern des Oslo-Prozesses und den Terroranschlägen am 11. September 2001 erheblich an und gilt seit Jahren in der Forschung als aktuell dominante Variante des vielgestaltigen Antisemitismus.[14]
Im Januar 2021 veröffentlichten die IHRA und die Europäische Kommission ein Handbuch zur praktischen Anwendung der Arbeitsdefinition. Es führt Beispiele aus der EU und Großbritannien zur versteckten und zur offensichtlichen Judenfeindlichkeit im Alltag auf.[15]
Verbreitung
Die EUMC-Definition war von vielen staatlichen und nichtstaatlichen Institutionen angenommen, aber 2013 von der Webseite der EUMC entfernt worden, als diese sich zur Agentur der Europäischen Union für Grundrechte (englisch Fundamental Rights Agency, abgekürzt FRA) umbenannte. Die IHRA übernahm den Gesamttext der EUMC mit nur minimalen Änderungen im Konsens und machte ihn damit zur Basis für die Antisemitismusbekämpfung ihrer Mitglieder und Partner. 2016 gehörten 31 Staaten zur IHRA, davon 24 EU-Staaten. Bei der OSZE-Konferenz im Dezember 2016 stimmten 56 von 57 OSZE-Staaten (alle außer Russland) für die Annahme der IHRA-Definition. Das Europäische Parlament forderte alle EU-Staaten im Juni 2017 dazu auf, die IHRA-Definition anzunehmen. Bis November 2019 folgten 14 EU-Staaten der Aufforderung.[16] Bis Juni 2021 nahmen insgesamt 28 Staaten,[17] nach anderen Quellen 36 Staaten die IHRA-Definition offiziell an.[18]
Die USA unter Präsident Barack Obama hatten im Juni 2010 eine Antisemitismusdefinition vorgestellt, die wörtlich an die EUMC-Definition angelehnt war und sie mit dem seit 2004 bekannten 3-D-Test für Antisemitismus verschmolz. Mit ihrem Beitritt zur IHRA 2016 übernahm die US-Regierung deren Arbeitsdefinition offiziell.[19] Im Dezember 2019 erließ US-Präsident Donald Trump eine Executive Order, wonach alle Bundesbehörden der USA bei Diskriminierungsklagen zu Antisemitismus nach dem Civil Rights Act von 1964 die IHRA-Definition heranziehen sollen.[20] Anfang Februar 2021 erklärte der neue US-Präsident Joe Biden, seine Regierung werde die IHRA-Definition zur Grundlage ihrer Arbeit machen und dafür werben, dass sie überall angewandt wird.[21] Im Juni 2021 bekräftigte das U.S. State Department nach Kritik, man werde an der IHRA-Arbeitsdefinition festhalten.[22]
Im Oktober 2020 nahm Albanien als erstes mehrheitlich muslimisches Land die IHRA-Arbeitsdefinition an,[23] so auch das Global Imams Council (GIC). Ihm gehören nach Eigenangaben mehr aus 1000 muslimische Geistliche aus aller Welt an. Sein Präsident Imam al-Budair versicherte, anders als islamistische Extremisten sei das GIC „entschlossen, die Brücken des Friedens zwischen dem Islam und allen Religionen zu stärken.“[24] Im Januar 2021 beschloss die britische Premier League, die IHRA-Definition umzusetzen. Fast alle zugehörigen Fußballvereine schlossen sich der Initiative an.[25]
Kontroversen
Gemäß der IHRA-Arbeitsdefinition stufen Antisemitismusforscher und Politikwissenschaftler die internationale Kampagne Boycott, Divestment and Sanctions (BDS) meist als antisemitisch ein, zum einen wegen der gegen Israels Existenzrecht gerichteten BDS-Ziele, zum anderen, weil BDS-Anhänger Israels Palästinenserpolitik oft mit Nazismus und Rassismus gleichsetzen, Israel selektiv und maßlos Menschenrechtsverstöße vorwerfen, jüdisches Selbstbestimmungsrecht bestreiten und jüdische Individuen angreifen.[26]
BDS-Unterstützergruppen lehnen die Arbeitsdefinition und ihre Anwendung auf BDS als Angriff auf ihre Meinungsfreiheit ab. Die britische University and College Union (UCU) beschloss 2011, BDS zu unterstützen, und wies die Definition zurück. Verbände britischer Juden kritisierten den Vorgang als „finale Beleidigung“ jüdischer UCU-Mitglieder und als zynischen Versuch, Antisemitismus einfach so umzudefinieren, dass die eigenen tief verwurzelten Ressentiments damit nichts mehr zu tun hätten.[27]
Der Antisemitismusforscher Peter Ullrich kritisiert die IHRA-Definition als „inkonsistent, widersprüchlich und ausgesprochen vage formuliert“. Zudem fehlten in ihr ideologische und organisationssoziologische Aspekte des Antisemitismus. Viele ihrer Beispiele seien mehrdeutig und nur mit Hilfe von Kontextinformationen anwendbar. Sie sorge daher nicht für Handlungssicherheit, sondern nur für prozedurale Legitimität verschiedener, letztlich willkürlicher Anwendungen.[28]
Am 2. Dezember 2019 warnten 127 jüdische und israelische Akademiker das französische Parlament in einem offenen Brief, die „unklare und ungenaue“ IHRA-Definition anzunehmen. Diese bringe „bewusst Kritik und Opposition gegen die politischen Maßnahmen des Staates Israel mit Antisemitismus in Verbindung“ und führe selber eine „ungerechtfertigte Doppelmoral zugunsten Israels und gegen die Palästinenser“ ein.[29] David Feldman beschrieb die IHRA-Definition als mangelhaft, schwammig, verwirrend und ungeeignet, jüdische Studenten und Lehrende an britischen Universitäten zu schützen. Sie lasse offen, ob etwa Boykottaufrufe gegen Israel inhärent antisemitisch seien.[30]
Trumps Dekret vom Dezember 2019 verstärkte Befürchtungen, die IHRA-Definition werde zum Unterdrücken freier Meinungen über Israel an Hochschulen der USA führen. Doch bekräftigte das Dekret nur die seit 2010 bestehende Rechtslage. Die IHRA-Beispiele, etwa Israel als „rassistisches Unterfangen“ darzustellen, sollten mögliche antisemitische Motive erkennen helfen, nicht Strafurteile herbeiführen, zumal die IHRA-Definition legitime Israelkritik selber schützt.[20] Kenneth S. Stern, Antisemitismusexperte des American Jewish Committee (AJC), erklärte ab Dezember 2019, er habe die Arbeitsdefinition maßgeblich entworfen. Sie sei nie für justiziablen Gebrauch gedacht gewesen. Politisch rechtsgerichtete jüdische Gruppen verwendeten sie als Waffe gegen die Meinungsfreiheit.[31]
Im Februar 2020 unterzeichneten mehr als 600 kanadische Akademiker eine Petition gegen die IHRA-Definition.[32] Am 11. Januar 2021 forderten rund 180 britische und israelische Akademiker die britischen Universitäten und Studenten auf, die „inhärent falsche“, „vage“ und „inhaltsarme“ Definition abzulehnen oder zurückzunehmen.[33] Ähnliche Appelle folgten von linken jüdischen Organisationen in den USA (12. Januar 2021)[34] und rund 150 jüdischen Hochschullehrern in Kanada (April 2021).[35] Im März 2021 meinten Neve Gordon (Queen Mary University of London) und Mark LeVine (University of California, Irvine), nach der IHRA-Definition hätten auch Albert Einstein, Hannah Arendt, Tony Judt und Yeshayahu Leibowitz wegen ihrer Israelkritik als „Antisemiten“ bezeichnet werden können. Die „verwirrende und irreführende“ Arbeitsdefinition sei „das Werkzeug der Wahl für so genannte pro-israelische Organisationen“.[36]
Im Januar 2021 antworteten die Hauptautoren Andrew Baker (AJC New York), Deidre Berger (AJC Berlin) und Michael Whine (Community Security Trust) in einem offenen Brief: Die Arbeitsdefinition sei in einem jahrelangen kollaborativen Prozess von vielen Experten erstellt worden. Kenneth Stern habe Vorentwürfe weitergeleitet und die Kommunikation der Autoren bis zu ihrem Konsensentwurf koordiniert. Die Endfassung hätten sie selbst mit den OSZE- und EUMC-Spezialisten bis Januar 2005 erstellt und dabei die wichtigen Sätze zur legitimen Israelkritik und Kontextabhängigkeit ergänzt. Antizionisten benutzten Sterns Angaben zum Diskreditieren der IHRA-Definition. Alle Mitautoren hielten diese jedoch für wesentlich zur wirksamen Bekämpfung des Antisemitismus. Darum sei Konsens gewesen, den Antisemitismus möglichst allgemein zu definieren und klare Beispiele für altbekannte und aktuelle Formen davon zu liefern. Die Beispiele sollten Regierungen, Polizei, Strafverfolgern, Richtern, jüdischen Gemeinden und anderen zivilgesellschaftlichen Gruppen das Erkennen antisemitischer Vorfälle erleichtern, nicht Sprache in Stein gemeißelt kodifizieren. In den folgenden 15 Jahren habe sich ihre praktische Eignung als Unterrichts- und Aufklärungsmittel in vielen Staaten und internationalen Organisationen erwiesen.[37]
Dem widersprachen rund 200 Akademiker mit der Jerusalemer Erklärung zum Antisemitismus (englisch abgekürzt JDA) vom März 2021. Sie beansprucht, die IHRA-Definition zu präzisieren und ihr eine kohärente und politisch neutrale Definition an die Seite zu stellen. Dazu unterscheidet sie Antizionismus kategorisch von Antisemitismus. Folglich beurteilt die 14. ihrer 15 Richtlinien Staatsboykotte als „gängige, gewaltfreie Formen des Protestes“ und die BDS-Kampgne gegen Israel als „nicht per se antisemitisch“. Antisemitismus wird als Sonderform von Rassismus aufgefasst, so dass er nur mit letzterem zusammen bekämpft werden könne.[38] Einige deutsche Antisemitismusforscher kritisieren die JDA als Rückfall hinter den Forschungsstand und Versuch, antisemitische Formen von Israelkritik zu normalisieren.[39]
Deutschland
Am 20. September 2017 nahm das Bundeskabinett die Arbeitsdefinition der IHRA „in einer erweiterten Form zur Kenntnis“.[40] Die Bundesregierung zählte dabei den ersten Satz des Beispielteils, der sich auf Israel bezieht, noch mit zur Definition, erweiterte diese also von zwei auf drei Sätze:
„Antisemitismus ist eine bestimmte Wahrnehmung von Juden, die sich als Hass gegenüber Juden ausdrücken kann. Der Antisemitismus richtet sich in Wort oder Tat gegen jüdische oder nichtjüdische Einzelpersonen und/oder deren Eigentum sowie gegen jüdische Gemeindeinstitutionen oder religiöse Einrichtungen. Darüber hinaus kann auch der Staat Israel, der dabei als jüdisches Kollektiv verstanden wird, Ziel solcher Angriffe sein.“
Die Bundesregierung empfahl, diese Arbeitsdefinition besonders in der Schul- und Erwachsenenbildung sowie bei der Ausbildung in den Bereichen Justiz und Exekutive zu berücksichtigen. Der Kabinettbeschluss erfülle das Anliegen des „Unabhängigen Expertenkreises Antisemitismus“, der Antisemitismusbekämpfung auf Bundesebene mehr Bedeutung und Sichtbarkeit zu geben.[41]
Der Rechtswissenschaftler Lothar Zechlin sieht die deutsche Variante der IHRA-Definition als verfälschende „Begriffspolitik“, die den Zusammenhang der beiden israelbezogenen Beispielsätze aufhebe.[42]
Am 17. Mai 2019 beschloss eine parteiübergreifende Mehrheit des Bundestages die Resolution Der BDS-Bewegung entschlossen entgegentreten – Antisemitismus bekämpfen. Mit Berufung auf die erweiterte IHRA-Definition stellte die Resolution fest: „Die Argumentationsmuster und Methoden der BDS-Bewegung sind antisemitisch.“[43]
Im November 2019 machte sich die Hochschulrektorenkonferenz die IHRA-Definition in der Fassung der Bundesregierung zu eigen.[44] Auch einige Vereine der Fußball-Bundesliga haben die Arbeitsdefinition der IHRA angenommen. Im Februar 2021 wollte die DFL Deutsche Fußball Liga nachziehen.
Literatur
- Dina Porat: Definitionen des Antisemitismus. In: Marc Grimm, Bodo Kahmann (Hrsg.): Antisemitismus im 21. Jahrhundert. Virulenz einer alten Feindschaft in Zeiten von Islamismus und Terror. De Gruyter/Oldenbourg, München 2018, ISBN 3-11-053471-1, S. 27–49.
- Larissa Allwork: Holocaust Remembrance between the National and the Transnational: The Stockholm International Forum and the First Decade of the International Task Force. Bloomsbury Academic, London 2015, ISBN 978-1-350-02243-0.
- Larissa Allwork: Holocaust Remembrance as ‘Civil Religion’: The Case of the Stockholm Declaration (2000). In: Diana I. Popescu, Tanja Schult (Hrsg.): Revisiting Holocaust Representation in the Post-Witness Era. Springer VS, Wiesbaden 2015, ISBN 978-1-137-53041-7, S. 288–304
- Dina Porat: The Road That Led to an Internationally Accepted Definition of Antisemitism. In: Charles Asher Small (Hrsg.): The Yale Papers: Antisemitism in Comparative Perspective. ISGAP, CreateSpace, New York 2015, ISBN 1515057798, S. 19–32.
- Angelika Schoder: Die IHRA und das Stockholm International Forum. In: Angelika Schoder: Die Vermittlung des Unbegreiflichen: Darstellungen des Holocaust im Museum. Campus, Frankfurt am Main 2014, ISBN 3-593-50096-5, S. 302–307.
- Daniel Levy, Natan Sznaider: Erinnerung im globalen Zeitalter: Der Holocaust. Suhrkamp, Berlin 2007, ISBN 978-3-518-45870-9.
Weblinks
- IHRA-Website
- Europäische Kommission: Archives Combating Antisemitism (2015-2020).
- Dina Porat: The International Working Definition of Antisemitism and Its Detractors. Israel Journal of foreign Affairs, Band 3 / 2011
- Ruth Gould: The IHRA Definition of Antisemitism: Defining Antisemitism by Erasing Palestinians. The Political Quarterly, Band 91, Nr. 4, Oktober–Dezember 2020
- Jamie Stern-Weiner: The Politics of a Definition: How the IHRA Working Definition of Antisemitism Is Being Misrepresented. University of Oxford, April 2021
Einzelnachweise
- History of the ITF (Memento vom 7. Dezember 2010 im Internet Archive)
- IHRA: Stockholmer Erklärung.
- IHRA: Countries & Membership.
- Entschließung des Europäischen Parlaments vom 1. Juni 2017 zur Bekämpfung von Antisemitismus. (Punkt 18)
- IHRA: Our Partners.
- Norway: Celebrating Nazi-sympathizer unrelated to Holocaust education. Haaretz, 21. Juli 2009 (kostenpflichtig)
- IHRA 2020 / 2021 - Deutscher Vorsitz.
- IHRA: Allianz für die Erinnerung. Jüdische Allgemeine (JA), 28. Februar 2020.
- Bundesregierung beschließt Anerkennung von Holocaust Remembrance Alliance. JA, 3. März 2021.
- Chair’s Declaration on Teaching about the Genocide of the Roma and Sinti. ITF, 13. Juni 2007.
- „Bergkristall“ Gusen. KZ-Stollen gratis zu haben. Oe24.at, 1. Juli 2009.
- IHRA: Arbeitsdefinition von Antisemitismus. Bukarest, 26. Mai 2016
- Alex Feuerherdt, Florian Markl: Die Israel-Boykottbewegung. Alter Hass in neuem Gewand. Hentrich & Hentrich, Leipzig 2020, ISBN 978-3-95565-396-5, S. 79f.
- Alex Feuerherdt, Florian Markl: Die Israel-Boykottbewegung, Leipzig 2020, S. 78f.
- EU-Kommission – Neues Handbuch soll Antisemitismus aufzeigen. Tagesschau.de, 8. Januar 2021; EU-Kommission – Handbook for the practical use of the IHRA Working Definition of Antisemitism. Europäische Kommission, 8. Januar 2021 (PDF)
- Alex Feuerherdt, Florian Markl: Die Israel-Boykottbewegung, Leipzig 2020, S. 80f.
- American Jewish Committee: Adoption of the Working Definition. Juni 2021
- Cnaan Liphshiz: Switzerland adopts IHRA definition of antisemitism. Jerusalem Post, 5. Juni 2021
- Alex Feuerherdt, Florian Markl: Die Israel-Boykottbewegung, Leipzig 2020, S. 83.
- Mark Joseph Stern: No, the Trump Administration Is Not Redefining Judaism as a Nationality. Slate, 11. Dezember 2019
- Biden-Administration will Antisemitismusdefinition der IHRA annehmen. JA, 3. Februar 2021.
- Ben Samuels: U.S. State Dept. Doubles Down on Embrace of IHRA Antisemitism Definition. Haaretz, 25. Juni 2021 (kostenpflichtig).
- Jeremy Sharon: Albania first Muslim majority state to adopt IHRA antisemitism definition. Jerusalem Post, 23. Oktober 2020
- Largest NGO of imams worldwide adopts universal definition of anti-Semitism. Jewish News Syndikate, 29. Oktober 2020.
- Profiklubs beziehen Stellung gegen Judenhass. JA, 10. Februar 2021.
- Alex Feuerherdt, Florian Markl: Die Israel-Boykottbewegung, Leipzig 2020, S. 83–90.
- Alex Feuerherdt, Florian Markl: Die Israel-Boykottbewegung, Leipzig 2020, S. 110.
- Peter Ullrich: Gutachten zur „Arbeitsdefinition Antisemitismus“ der International Holocaust Remembrance Alliance. Rosa-Luxemburg-Stiftung, Berlin 2019
- Lutte contre l’antisémitisme. Remous sur une résolution portée par LREM après l’appel de 127 universitaires juifs. Ouest-France, 2. Dezember 2019
- David Feldman: The government should not impose a faulty definition of antisemitism on universities The Guardian, 2. Dezember 2020.
- Kenneth Stern: I drafted the definition of antisemitism. Rightwing Jews are weaponizing it. The Guardian, 13. Dezember 2019; Kenneth Stern: We disagree about the Working Definition. That’s OK. Here’s what’s not. The Times of Israel, 10. Februar 2021
- Open Letter from 600+ Canadian Academics Opposing the IHRA Definition of Antisemitism. Independent Jewish Voices Canada, 27. Februar 2020; Abigail B. Bakan, Alejandro I. Paz, Anna Zalik, Deborah Cowen: Jewish scholars defend the right to academic freedom on Israel/Palestine. The Conversation, 8. April 2021.
- Call to reject the IHRA’s ‘working definition of antisemitism’. israeliacademicsuk.org, 11. Januar 2021.
- Progressive Israel Network Groups Oppose Codification of IHRA Working Definition of Antisemitism, Citing Strong Potential for Misuse. Progressive Israel Network, 12. Januar 2021; Gadi Taub: The Normalization of Antisemitism. Haaretz, 30. Januar 2021; Gideon Levy: It’s Alright to Be an anti-Zionist. Haaretz, 30. Januar 2021.
- Jewish Faculty in Canada Against the Adoption of the IHRA Working Definition of Antisemitism. jewishfaculty.ca; Abigail B. Bakan, Alejandro I. Paz, Anna Zalik, Deborah Cowen: Jewish scholars defend the right to academic freedom on Israel/Palestine The Conversation, 8. April 2021.
- Neve Gordon, Mark LeVine: Was Einstein an Anti-Semite? Inside Higher Ed, 26. März 2021.
- David Hirsh: Ken Stern isn’t the only author the IHRA working definition of antisemitism. Engageonline, 20. Januar 2021.
- Katharina Galor: Der Versuch einer neuen Definition, Die Zeit, 29. März 2021
- Lars Rensmann: Die „Jerusalemer Erklärung“: Eine Kritik aus Sicht der Antisemitismusforschung. Belltower News, 25. Mai 2021; Julia Bernstein, Lars Rensmann, Monika Schwarz-Friesel: »Jerusalemer Erklärung«: Faktisch falsche Prämissen. Jüdische Allgemeine, 8. April 2021
- Bundesregierung: Regierungspressekonferenz vom 20. September 2017.
- Bundesinnenministerium: Kampf gegen Antisemitismus gehört zu unserer Staatsräson. 20. September 2017
- Lothar Zechlin: Israelkritik gleich Antisemitismus? Wie der Bundestag durch Verfälschung Begriffspolitik betreibt. In: Blätter für deutsche und internationale Politik, Februar 2020, S. 103–111 (kostenpflichtig)
- Antrag der Fraktionen CDU/CSU, SPD, FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Der BDS-Bewegung entschlossen entgegentreten – Antisemitismus bekämpfen. Drucksache 19/10191, 15. Mai 2019 (PDF; Zitat S. 2)
- Entschließung der 27. Mitgliederversammlung der HRK am 19. November 2019 in Hamburg: Kein Platz für Antisemitismus. (PDF)