Internationaler Strafgerichtshof für Ruanda
Der Internationale Strafgerichtshof für Ruanda (französisch Tribunal pénal international pour le Rwanda, TPIR; englisch International Criminal Tribunal for Rwanda, ICTR; kinyarwanda Urukiko Nshinjabyaha Mpuzamahanga rwagenewe u Rwanda) war ein durch die Resolution 955 des UN-Sicherheitsrats vom 8. November 1994 geschaffener Ad-hoc-Strafgerichtshof, der den Völkermord in Ruanda 1994 strafrechtlich aufarbeiten sollte.
Internationaler Strafgerichtshof für Ruanda | |
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Flagge der Vereinten Nationen | |
Englische Bezeichnung | International Criminal Tribunal for Rwanda (ICTR) |
Französische Bezeichnung | Tribunal pénal international pour le Rwanda (TPIR) |
Ruandische Bezeichnung | Urukiko Nshinjabyaha Mpuzamahanga rwagenewe u Rwanda |
Organisationsart | Ad-hoc-Strafgerichtshof |
Status | aufgelöst |
Sitz der Organe | Arusha, Tansania |
Vorsitz | Richter Vagn Joensen (Dänemark), Präsident des Internationalen Strafgerichtshofs für Ruanda |
Gründung | 8. November 1994 |
Auflösung | 31. Dezember 2015 |
Oberorganisation | Sicherheitsrat der Vereinten Nationen |
www.unictr.org |
Der Strafgerichtshof arbeitete in Arusha in Tansania und war bis Ende 2015 tätig. Er war das erste internationale Strafgericht, das Personen wegen Völkermord verurteilte. Außerdem erkannte er als erste Institution den Straftatbestand der Vergewaltigung zum Zweck des Völkermordes an. Insgesamt wurden 92 Personen angeklagt, 62 Personen wurden verurteilt.[1] Die geringe Zahl der Verfahren, gemessen am Ausmaß des Völkermordes in Ruanda, löste Kritik aus.
Als gemeinsame Nachfolgeeinrichtung des ICTR und des Internationalen Strafgerichtshofs für das ehemalige Jugoslawien fungiert seit Juli 2012 der Internationale Residualmechanismus für die Ad-hoc-Strafgerichtshöfe (MICT), der für eine Übergangszeit bis 2014 parallel zu den beiden Ad-hoc-Gerichtshöfen aktiv war.
Grundlagen
UN-Resolutionen
Die folgenden UN-Resolutionen des UN-Sicherheitsrats bildeten die Grundlage des Gerichtes:
Zuständigkeit
Der Strafgerichtshof war für die Verfolgung schwerer Verbrechen im Zusammenhang mit dem Völkermord in Ruanda zuständig, die zwischen dem 1. Januar und dem 31. Dezember 1994 in Ruanda verübt wurden. Zu den abschließend im Statut des ICTR aufgezählten Tatbeständen, für die der Gerichtshof zuständig war, gehören Völkermord (Art. 2), Verbrechen gegen die Menschlichkeit (Art. 3) und Kriegsverbrechen, die gegen den gemeinsamen Artikels 3 der Genfer Konventionen verstoßen (Art. 4).[6]
Organisation
Das Tribunal bestand aus 16 Richtern in 4 Kammern – drei Strafkammern und eine für Berufungen. Zur personellen Verstärkung standen 9 Ad-litem-Richter zur Verfügung, insgesamt also 25 Richter. Alle 9 Ad-litem-Richter waren den Kammern II und III zugeordnet. 9 weitere Richter standen bereit, um einzuspringen, wenn ein regulärer Ad-litem-Richter durch Krankheit ausfiel oder verhindert war. Die Richter der Berufungskammer bildeten zugleich die Berufungskammer für den Internationalen Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien.
Die Spalte # zeigt die protokollarische Rangordnung.
Kammer I
# | Richter | Herkunftsland | Status |
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1. | Erik Møse | Norwegen | ICTR-Präsident, Vorsitzender Richter der Kammer I (2003–2007) |
10. | Jai Ram Reddy | Fidschi | Mitglied |
11. | Sergei Alexejewitsch Jegorow | Russland | Mitglied |
Kammer II
# | Richter | Herkunftsland | Status |
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4. | William Sekule | Tansania | Vorsitzender Richter der Kammer II |
9. | Arlette Ramaroson | Madagaskar | Mitglied |
16. | Joseph Asoka Nihal De Silva | Sri Lanka | Mitglied |
17. | Solomy Balungi Bossa | Uganda | ad litem |
19. | Lee Gacugia Muthoga | Kenia | ad litem |
21. | Emile Francis Short | Ghana | ad litem |
23. | Taghrid Hikmet | Jordanien | ad litem |
24. | Seon Ki Park | Südkorea | ad litem |
Kammer III
# | Richter | Herkunftsland | Status |
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2. | Inés Mónica Weinberg de Roca | Argentinien | Vorsitzender Richter der Kammer III |
14. | Khalida Rachid Khan | Pakistan | Mitglied |
15. | Charles Michael Dennis Byron | St. Kitts und Nevis | Mitglied |
18. | Flavia Lattanzi | Italien | ad litem |
22. | Florence Rita Arrey | Kamerun | ad litem |
24. | Karin Hökborg | Schweden | ad litem |
25. | Gberdao Gustave Kam | Burkina Faso | ad litem |
Berufungskammer
# | Richter | Herkunftsland | Status |
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3. | Theodor Meron | Vereinigte Staaten | Vorsitzender Richter der Berufungskammer |
5. | Mohamed Shahabuddeen | Guyana | Mitglied |
6. | Florence Mumba | Sambia | Mitglied |
7. | Mehmet Güney | Türkei | Mitglied |
8. | Fausto Pocar | Italien | Mitglied |
12. | Wolfgang Schomburg | Deutschland | Mitglied |
13. | Andrésia Vaz | Senegal | Mitglied |
Anklagebüro
Das Anklagebüro war in zwei Sektionen unterteilt:
- Die Untersuchungsabteilung war dafür verantwortlich, Beweise für die Beteiligung Einzelner an Verbrechen in Ruanda 1994 zu sammeln.
- Die Anklageabteilung war dafür verantwortlich, alle Vergehen vor dem Genozid zu bestrafen.
Der Chefankläger Hassan Bubacar Jallow aus Gambia war zuvor als Attorney General und als Justizminister tätig gewesen; von 1998 bis 2002 war er außerdem am Obersten Gericht von Gambia tätig. Am 15. September 2003 wurde er als Nachfolger von Carla Del Ponte nominiert.
Sekretariat
Das Sekretariat war für die Verwaltung des Tribunals zuständig, ferner für die Kommunikation des ICTR.
Das Sekretariat wurde vom Chefsekretär geführt, der im Auftrag des Generalsekretärs der Vereinten Nationen handelte. Im März 2001 bezog Adama Dieng aus Senegal diesen Posten.
Verfahren
Überblick
Der Strafgerichtshof nahm im November 1994 seine Tätigkeit auf und war bis Ende 2015 tätig.[7] Das erste Urteil wurde am 2. September 1998 gesprochen, es war das wegweisende Akayesu-Urteil. Insgesamt wurden 92 Personen angeklagt. 62 dieser Verfahren endeten mit Verurteilung, 14 mit Freispruch, 10 Fälle wurden an nationale Gerichte überweisen, drei Fälle von Flüchtigen wurden an den Internationalen Residualmechanismus für die Ad-hoc-Strafgerichtshöfe überwiesen, zwei Angeklagte verstarben vor Prozessende, zwei Anklagen wurden fallengelassen.[1]
Beispiele für Verurteilungen:[8]
- Augustin Bizimungu – ehemaliger Stabschef der ruandischen Armee, Urteil: 30 Jahre
- Augustin Ndindiliyimana – ehemaliger Generalstabschef der Gendarmerie, Urteil: 11 Jahre
- Bernard Munyagishari – Anführer und Mitbegründer der Interahamwe, Urteil in erster Instanz: lebenslang
- Augustin Ngirabatware – Planungsminister, Urteil im Berufungsverfahren: 30 Jahre
- Jean-Baptiste Gatete – Bürgermeister von Murambi, Urteil im Berufungsverfahren: 40 Jahre
- Pauline Nyiramasuhuko – ehemalige Frauen- und Familienministerin, Urteil: lebenslang. Sie wurde als erste Frau wegen Völkermord verurteilt, ebenso wurde sie als erste Frau wegen Vergewaltigung als Mittel des Völkermordes verurteilt.
Verfahren gegen „Hassmedien“
Das Verfahren gegen „Hassmedien“ begann am 23. Oktober 2000. Es behandelte Medien, die den Völkermord angeheizt hatten.
Am 19. August 2003 wurde gegen drei Männer Anklage erhoben: Ferdinand Nahimana und Jean Bosco Barayagwiza, Verwalter des Radio-Télévision Libre des Mille Collines, sowie Hassan Ngeze, Herausgeber der Zeitung Kangura. Die Anklage lautete auf Völkermord, Anstachelung zum Völkermord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit vor und während des Völkermordes. Am 3. Dezember 2003 befand das Gericht alle drei für schuldig. Es verurteilte Nahimana und Ngeze zu lebenslanger Haft sowie Barayagwiza zu 35 Jahren Haft. Im Berufungsverfahren wurden die Urteile am 28. November 2007 gesprochen. Ngeze wurde zu 35 Jahren, Barayagwiza zu 32 Jahren und Nahimana zu 30 Jahren Haft verurteilt.[9]
Kritik
Die International Crisis Group kritisierte in einem Report vom Juni 2001, dass erst neun Urteile gesprochen worden waren. Es sei noch keiner der mutmaßlich für den Völkermord Hauptverantwortlichen (im Original: alleged masterminds of the genocide) verurteilt worden; die meisten dieser Hauptverantwortlichen lebten in diversen Ländern auf freiem Fuß. Die Ineffektivität des Tribunals sei insbesondere angesichts des durchschnittlichen Jahresbudgets von 100 Millionen US-Dollar und der Ausstattung mit über 800 Angestellten zu beklagen. Es sei dem Gerichtshof bisher auch nicht gelungen, wichtige Aspekte des Völkermordes – Planung, Mechanismen, Chronologie, Organisation und Finanzierung – aufzuklären und die zentrale Frage zu beantworten, wer die Täter waren. Ferner sei ein schockierend geringes Interesse in den internationalen Medien festzustellen. In den Augen der meisten Ruander sei der Strafgerichtshof Geldverschwendung. Insgesamt sei er nicht funktional und trage nicht zu dem übergeordneten Ziel bei, die Volksgruppen der Hutu und Tutsi miteinander zu versöhnen.[10]
Siehe auch
Literatur
- Stefan Kirsch: Internationale Strafgerichtshöfe. Nomos-Verlag, Baden-Baden 2005, ISBN 3-8329-1450-1.
- Maison Rafaëlle: La responsabilité individuelle pour crime d'État en droit international public. Bruylant u. a., Brüssel 2004, ISBN 2-8027-1820-7.
- Géraud de La Pradelle: Imprescriptible. L'implication française dans le génocide tutsi portée devant les tribunaux. Les arènes, Paris 2005, ISBN 2-912485-80-0.
Weblinks
- Offizielle Website des Internationalen Strafgerichtshofs für Ruanda (englisch, französisch und kinyarwanda)
- Genocide in Rwanda – Bericht von Human Rights Watch, 1999 (englisch), siehe The International Criminal Tribunal for Rwanda im letzten Kapitel
Einzelnachweise
- The ICTR in Brief | United Nations International Criminal Tribunal for Rwanda. Abgerufen am 17. August 2017 (englisch).
- Resolution 955 in der United Nations Digital Library (englisch)
- Resolution 977 in der United Nations Digital Library (englisch)
- Resolution 978 in der United Nations Digital Library (englisch)
- Resolution 1165 in der United Nations Digital Library (englisch)
- Statut des Internationalen Strafgerichtshofs für Ruanda in Englisch und Französisch, 31. Januar 2010 (PDF; 458 kB).
- Eine chronologische Übersicht über die Arbeit des Strafgerichtshof bietet die Seite ICTR Milestones (englisch) auf der offiziellen Website.
- Zu den einzelnen Fällen siehe die Seite The Cases (englisch) auf der offiziellen Website.
- ICTR-99-52 | United Nations International Criminal Tribunal for Rwanda. Abgerufen am 17. August 2017 (englisch).
- International Crisis Group: International Criminal Tribunal for Rwanda: Justice Delayed, 7. Juni 2001.