Gottesmord
Die Ausdrücke Gottesmord (griechisch theoktonia, lateinisch deizid) und Gottesmörder (auch Christusmörder, Heilandsmörder) bezeichnen in der Kirchengeschichte eine angebliche unaufhebbare Kollektivschuld der Juden an der Kreuzigung des Jesus von Nazaret, der dabei als Sohn Gottes angesehen wird. Der Begriff entstand im Jahr 160 aufgrund der Aussage des Bischofs Melito von Sardes: „Gott ist ermordet worden.“[1]
Dieser Schuldvorwurf ist ein zentrales Stereotyp des christlichen Antijudaismus. Damit begründete die Kirche seit dem 2. Jahrhundert die religiöse „Verwerfung“ und „Enterbung“ des Judentums (Substitutionstheologie) und rechtfertigte die soziale Diskriminierung, Unterdrückung und Verfolgung jüdischer Minderheiten im Mittelalter und in der frühen Neuzeit. Das in der Volksfrömmigkeit verankerte Bild der Juden als „Volk der Gottesmörder“ trug wesentlich dazu bei, dass Judenfeindlichkeit ein „kultureller Code“ der Geschichte Europas wurde.[2] Der Gottesmordvorwurf begünstigte den seit etwa 1860 entstandenen modernen Antisemitismus, trug zu „akuten Formen der Komplizenschaft“ der Großkirchen mit dem Nationalsozialismus bei[3] und ermöglichte es mit, dass der Holocaust überwiegend von christlich getauften Tätern ausgeführt wurde.[4]
Die Kirchen haben die Gottesmordthese und weitere damit verknüpfte antijudaistische Stereotype seit 1945 allmählich als Irrtum und Schuld erkannt und sind öffentlich davon abgerückt (siehe Kirchen und Judentum nach 1945).
Neues Testament
Evangelien
Das Neue Testament (NT) spricht nirgends von einem „Gottesmord“. Die Evangelien nennen drei interagierende Gruppen, die in verschiedenem Maß an der Verhaftung, Verurteilung, Auslieferung und Kreuzigung Jesu mitwirkten: die Römer als militärische Besatzungsmacht, der Sanhedrin als oberste Religionsbehörde des damaligen Judentums, und die Anhänger der Sadduzäer in Jerusalem. Die Passionserzählungen lassen keinen Zweifel, dass der römische Statthalter Pontius Pilatus und seine Soldaten Jesus hinrichteten, weisen dem damaligen Hohenpriester aber eine starke Mitverantwortung zu: Der von ihm geführte Sanhedrin habe Jesu Tod angestrebt, ihn festgenommen, verurteilt und den Römern ausgeliefert. Außerbiblische Quellen bestätigen, dass nur die Römer die Kapitalgerichtsbarkeit besaßen und vollstrecken konnten, und stellen einen regulären Religionsprozess in Frage.[5]
Die Urchristen stellten jedoch nicht primär historische Verantwortung fest, sondern verkündeten Jesu Passion als Gottes endgültiges Eintreten für das erwählte und verfolgte Volk Israel. Der den Evangelien zugrundeliegende Passionsbericht der Jerusalemer Urgemeinde ist durchweg projüdisch. Darin tritt Jesus als der Menschensohn auf, den das akut verfolgte Judentum seit Dan 7,13–25 erhoffte: Ihm, dem Vertreter des unter den Gewaltherrschern leidenden Israel, werde JHWH beim Gericht über alle Gewaltsysteme seine universale Herrschaft übertragen. Daran anknüpfend, sagt Jesus in Mk 14,41 , nun werde der Menschensohn selbst – wie in Dan 7,25 die Israeliten – in die Hände der „Sünder“ (Gewaltherrscher) ausgeliefert. Er leidet und stirbt also mit jenem Volk, das er vertritt. Zuvor beim Pessachmahl, das an Israels Auszug aus Ägypten erinnert, gibt er dem Zwölferkreis, der die zwölf Stämme Israels vertritt, vorweg Anteil an seiner Selbsthingabe und bezieht dabei gemäß Jes 53,11–12 die Völker ein: „Dies ist mein Leib (Leben) für euch – dies ist mein Sterben für die Vielen“, das den Bund Gottes mit Israel erneuert (Mk 14,24 ). Mit dem feierlichen Schwur Mk 14,25 stellt er sein letztes Mahl in die Perspektive der universalen Gottesherrschaft, die laut Jes 25,6–8 Tod und Leid weltweit überwinden werde. Im Verhör des Sanhedrin geht es laut Mk 14,58 um Jesu Ansage von Zerstörung und Neubau des Tempels (Mk 13,2 ; vgl. Jer 26 ). Da der Tempelneubau biblisch nur dem Messias zusteht, fragt der Hohepriester konsequent nach Jesu Messiaswürde. Nach Mk 14,62 bejaht Jesus die Frage und sagt den Vertretern des Judentums das Kommen des Menschensohns zu: Israel habe als Gottes Volk auch nach der Tempelzerstörung eine Zukunft. Um den Tempelkult zu schützen, liefert der Sanhedrin ihn den Römern aus. In sprechenden Details stellt der Passionsbericht Jesus den unterdrückten und entrechteten Juden an die Seite: Simon von Kyrene, ein Diasporajude, wird zum Frondienst des Kreuztragens gezwungen (Mk 15,21 ). Gemäß seinem Pessachschwur lehnt Jesus den Betäubungstrank der römischen Henker ab (Mk 15,23 ). Er wird mit aufständischen Zeloten unter dem Kreuzestitel INRI, also wegen seines Eintretens für die jüdische Befreiungshoffnung gekreuzigt (Mk 15,26–27 ). Er erleidet stellvertretend das biblisch angekündigte, befristete und unwiederholbare Endgericht, ausgedrückt im Stundenschema der Zeitangaben und im Bild der Gerichtsfinsternis über die ganze Erde (Mk 15,33 ). Er schreit den Gerichtsschrei der Gottverlassenheit, zugleich die offene Klage aller Unrecht leidenden Juden (Mk 15,34 ; zitiert Ps 22,2 ). Der ganze Bericht sagt also: Jesus, der Menschensohn, starb als Vertreter Israels für und mit Israel, nahm das Gericht an seiner Statt auf sich und ging in seine Leidensgeschichte ein. So geschah Gottes Versöhnung mit der Welt, so erhielten die Völker Anteil an Israels Befreiungshoffnung. Die Gottesmordtheorie folgte laut Bertold Klappert aus dem Verlust dieser „israelitischen Kontur“ des Passionsberichts. Sie war eine grundlegende Verkehrung, die das abgeschlossene Gericht den Juden auferlegte, die Solidarität mit den leidenden Juden verweigerte, sie verfolgte und die eigene Schuld an ihren Leiden auf das Judentum zurück projizierte.[6]
Dies begann schon mit der Evangelienredaktion selbst. Das Markusevangelium behauptet, die Tempelpriester hätten nach Jesu Angriff auf den Opferkult im Tempel seinen Tod schon beschlossen und wegen der Sympathie im jüdischen Volk seine heimliche Festnahme „mit List“ verabredet (Mk 10,33 ). Der Sanhedrin habe ihn einstimmig zum Tod verurteilt (Mk 14,64 ) und dann unter einer falschen Anklage an Pilatus überstellt. Dieser habe Jesus für schuldlos gehalten und den anwesenden Juden mehrmals seine Freilassung angeboten. Dies hätten diese abgelehnt und gefordert: Kreuzige ihn! Diesem Druck habe Pilatus schließlich nachgegeben (Mk 15,1–15 ).
Dieser Darstellung folgen die übrigen Evangelien, wobei sie die Hauptverantwortung des Pilatus verringern und die Mitverantwortung des Sanhedrin verstärken. Im Matthäusevangelium antwortet die jüdische Menge auf die Rückfrage des Pilatus nach Jesu Schuld (Mt 27,25 ): „Sein Blut komme über uns und unsere Kinder!“ Mit diesem „Blutfluch“ machte der Evangelist die jüdischen Zeitgenossen Jesu für die Folgen des römischen Unrechtsurteils haftbar. Er folgte damit dem biblischen Tun-Ergehen-Zusammenhang, wonach ein ungesühnter Mord Unheil für die jeweils lebende Generation bewirke. Demgemäß deuteten die Urchristen die Zerstörung Jerusalems und des Tempels im Jüdischen Krieg (70 n. Chr.) als Strafe Gottes für die Ablehnung seines Sohnes (Mk 14,58 ; 15,38 ; Lk 21,24 ).[7]
Im Lukasevangelium wird Jesu Tod nach Analogie des mit und für Israel leidenden Gerechten dargestellt. Die Bitte des Gekreuzigten um Vergebung für seine Mörder (Lk 23,34 ) schließt jeden Schuldvorwurf gegen Tätergruppen aus. Sie wurde in einigen späteren NT-Handschriften weggelassen, wahrscheinlich um die Juden als angebliche Gottesmörder von dieser Vergebung auszunehmen.[8]
Im Johannesevangelium spiegelt sich die bereits vollzogene Trennung von Juden und Christen: Anders als die älteren synoptischen Evangelien spricht es unterschiedslos von „den Juden“ als Gegnern Jesu. Nach Joh 19,12 erpressten sie Pilatus kollektiv dazu, Jesus hinrichten zu lassen. Der Evangelist stellt sie damit typologisch als Vertreter des gottfeindlichen Äons dar, den Jesu Kreuzigung und Auferstehung beendet und überwunden habe. Diese theologische Deutung seines Heilswerks setzt aber Israels unaufhebbare Erwählung zum Volk Gottes gerade voraus und bestätigt: „Das Heil kommt von den Juden“ (Joh 4,22). Darum redet Jesus in einer der vom Evangelisten komponierten Reden nicht alle Juden, sondern nur seine damaligen Gegner als jene an, die „den Teufel zum Vater“ hätten (Joh 8,44).[9] Joh 19,16 („Da lieferte er ihnen Jesus aus, damit er gekreuzigt würde. Sie übernahmen Jesus“) legt nach der Verhörsszene zuvor nahe, Pilatus habe Jesus den Hohepriestern übergeben, damit diese ihn selbst kreuzigen sollten. Doch Joh 19,23 nennt eindeutig römische Soldaten als Ausführende der Kreuzigung. Historisch konnte damals nur der römische Statthalter, nicht der Sanhedrin Todesstrafen vollstrecken.[10]
Im Anschluss an Jules Isaac und Paul Winter beurteilen Neutestamentler mindestens den Todesbeschluss des Sanhedrin, das einstimmige Todesurteil (Mk 14,64), die Folter Jesu durch Ratsmitglieder (Mk 14,65), die Pessachamnestie des Pilatus (Mk 15,6–15) und die Selbstbezichtigung der jüdischen Ankläger Jesu (Mt 27,25) als antijüdische Redaktion. Diese verlagerte die historische Verantwortung für Jesu Hinrichtung von den Römern auf die Sadduzäer und ihre Anhänger in Jerusalem. Hintergrund war die Situation nach der Tempelzerstörung des Jahres 70, als die Christen sich stärker von den Juden abzusetzen versuchten, um nicht mit ihnen von den Römern verfolgt zu werden. Winter betonte, dass alle die Juden scheinbar pauschal verurteilenden NT-Aussagen von Urchristen jüdischer Herkunft stammen, die sich weiter als Teil des Judentums sahen. Solche Aussagen gelten daher als innerjüdische Polemik im Trennungsprozess beider Religionen, nicht als Ausdruck eines allgemeinen Judenhasses.[11]
Der Neutestamentler John Dominic Crossan hält den Prozess des Sanhedrin gegen Jesus insgesamt für ahistorisch und erklärt zur Wirkungsgeschichte:[12]
„Solange die Christen eine unterprivilegierte Randgruppe waren, schadeten ihre Passionserzählungen, welche die Juden als schuldig am Tode Jesu hinstellten, die Römer aber von jeder Schuld daran entlasteten, im Grunde niemandem. Doch als dann das römische Reich christlich wurde, wurde die Fabel mörderisch. […] Mögen die Ursprünge der Erfindung auch erklärlich sein und die Motive ihrer Erfinder verständlich, so hat doch das Beharren auf dieser Fabel […] sie zu einer langandauernden Lüge gemacht, und um unserer eigenen Integrität willen müssen wir Christen sie endlich als solche bezeichnen.“
Apostelgeschichte
Die Apostelgeschichte des Lukas folgt der Darstellung der Evangelien und nennt die Jerusalemer Stadtbevölkerung und deren jüdische Repräsentanten als Verursacher des Todes Jesu (Apg 13,27 ):
„Denn die zu Jerusalem wohnen und ihre Obersten haben, weil sie Jesus nicht erkannten, mit ihrem Urteilsspruch die Worte der Propheten, die an jedem Sabbat verlesen werden, erfüllt. Und obwohl sie nichts an ihm fanden, das den Tod verdient hätte, baten sie doch Pilatus, ihn zu töten.“
Das stellt die Unschuld des Opfers und das Unrecht der Täter heraus, nimmt sie aber zugleich in Schutz: So seien sie Werkzeug des lange vorher in der Schrift angekündigten Willens Gottes geworden.
Die ersten öffentlichen Predigten getaufter an ungetaufte Juden in Jerusalem behaften ihre Adressaten mit einer Mitschuld am Tod Jesu, um ihnen Rettung anzubieten und Umkehr zu Gott zu ermöglichen (Apg 2,23f. ):[13] „Ihn, der durch Gottes Ratschluss und Vorsehung dahingegeben wurde, habt ihr durch die Hand der Heiden ans Kreuz geschlagen und getötet.“ Apg 3,15 : „Den Fürsten des Lebens habt ihr getötet.“ Apg 5,30 : „Der Gott unserer Väter hat Jesus auferweckt, den ihr an das Holz gehängt und getötet habt.“ Zugleich bekräftigen sie, dass die Täter aus Unwissenheit handelten (Apg 3,17 ): „Nun, liebe Brüder, ich weiß, dass ihr es aus Unwissenheit getan habt wie auch eure Obersten.“ Diese Aussagen sind integraler Bestandteil der Verkündigung des Evangeliums.
Die sogenannten Hellenisten unter den Jerusalemer Urchristen begannen mit der Heidenmission, lehnten den Jerusalemer Tempelkult ab und erklärten ihn mit Jesu Kreuzigung für unwirksam. So predigte Stephanus laut Apg 7,52 den Tempelpriestern:
„Ihr Halsstarrigen und Unbeschnittenen an Herzen und Ohren! Ihr widerstrebt allzeit dem Heiligen Geist, wie Eure Väter so auch ihr. Welchen Propheten haben eure Väter nicht verfolgt? Und sie haben getötet, die da zuvor verkündeten das Kommen des Gerechten, dessen Verräter und Mörder ihr nun geworden seid.“
Diese Polemik entsprach bis in die Wortwahl hinein der scharfen Kritik jüdischer Propheten am Götzendienst Israels. Prophetische Kultkritik gab es im Judentum seit Elija und Amos (um 800 v. Chr.). Sie war Ausdruck eines innerjüdischen Konflikts zwischen verschiedenen Interessengruppen und den ihnen zugehörigen Theologien. Jeremia hatte um 590 v. Chr. im Tempelbezirk die Zerstörung des ersten Jerusalemer Tempels angekündigt und damit sein Leben riskiert (Jer 26).[14]
Paulus
Paulus von Tarsus sah die Völkermission seit seiner Berufung als seine Aufgabe an. In seinem ersten Gemeindebrief schrieb er (1 Thess 2,15 ): „Diese haben Jesus, den Herrn, und die Propheten getötet; auch uns haben sie verfolgt.“ Nur diese Stelle im NT wirft Juden kollektiv die Tötung Jesu vor. Angeredet sind Heidenchristen. Paulus verwies dazu auf die biblische Tradition vom Prophetenmord, die im Judentum als Kritik an der eigenen Religion verankert war. Er verknüpfte sie hier aber mit dem Klischee des „Menschenhasses“ (lat.: odium generis), das bei nichtjüdischen Bildungsschichten der Antike etabliert war und etwa beim römischen Historiker Tacitus (Annales 5,5) häufig auftaucht.
Den Hintergrund dieses Vorwurfs zeigt 1 Thess 2,16 „Sie hindern uns daran, den Heiden das Evangelium zu verkünden und ihnen so das Heil zu bringen…“ Paulus sah sich damals durch Judenchristen an seiner Völkermission gehindert. Doch sofort wies er eine Verdammung seiner Gegner zurück: „…Aber der ganze Zorn [Gottes] ist schon über sie gekommen.“ Dies verwies auf das schon geschehene Zorngericht Gottes, das Jesus am Kreuz stellvertretend erlitten und so Menschen aus der Hand genommen habe.[15]
Im Brief des Paulus an die Römer (Kapitel 9–11) widersprach er ultimativ der Meinung, Gott habe sein erwähltes Volk Israel verstoßen und den Bund mit ihm aufgekündigt (Röm 11,1f.29 ). Er kennzeichnete diese Meinung als christlichen Hochmut, mit dem sich die christliche Gemeinde von ihrem Ursprung trenne und damit Gottes Gnade und die biblischen Zukunftsverheißungen verliere. Die Nichtanerkennung Jesu Christi durch die meisten Juden sei im Gegenteil Ansporn zur Völkermission und werde nur von Christus selbst bei seiner Wiederkunft aufgehoben werden.[16]
Demgemäß betonte Paulus in Röm 12,19 : „Übt nicht selbst Vergeltung, Geliebte, sondern lasst Raum für das Zorngericht Gottes; denn es steht geschrieben: Mein ist die Vergeltung, ich werde vergelten, spricht der Herr.“ Damit verwies er auf das Toraverbot der Rache (Dtn 32,35 ), das auch im Toragebot der Nächstenliebe (Lev 19,18 ) enthalten ist.[17]
Das Judentum wird im NT mit dem Ehrennamen „Israel“ durchweg als bleibend erwähltes Gottesvolk, Juden werden entsprechend als „Israelit“ bezeichnet.[18]
Doch indem die Teilaussage „Die Juden haben unseren Herrn Jesus getötet“ aus ihrem Eigenkontext und aus der gesamten paulinischen Theologie herausgelöst und von der Schuldbehaftung der beteiligten Tätergruppen abgetrennt wurde, wirkte sie als Vorwurf einer jüdischen Kollektivschuld in der Kirchengeschichte weiter.[19]
Spätantike
Die auf Rettung zielende urchristliche Verkündigung wurde nach der Tempelzerstörung (70) und der Vertreibung der meisten Juden aus Palästina (135) von der Substitutionstheologie abgelöst: Gott habe das Volk Israel endgültig „verworfen“ und stattdessen die Kirche erwählt. Das Judentum wurde als überholte Religion, Gegenpol und Negativfolie des Christentums fixiert. Diese Sicht wurde mit der innerjüdischen Polemik des NT gerechtfertigt, so dass Worte wie Joh 8,44 einen dem ursprünglichen Kontext entgegengesetzten Sinn erhielten: Sie stempelten nun alle Juden zu satanischen Feinden Gottes und verdammten sie als ewig Verworfene. Für diese theologische „Enterbung“ des Judentums wurde der Vorwurf einer angeblichen jüdischen Kollektivschuld am Tod Jesu zentraler Dreh- und Angelpunkt.
Diesen Vorwurf erhoben seit dem 2. Jahrhundert die meisten Kirchenväter und Theologen der Alten Kirche. Justin der Märtyrer schrieb in seinem Hauptwerk Dialog mit dem Juden Tryphon (um 160): „Ihr habt ihn gekreuzigt, den einzig Schuldlosen und Gerechten. […] Ihr habt eurer Widernatürlichkeit die Krone aufgesetzt, indem ihr den Gerechten, den ihr getötet habt, haßtet.“ Er verband also eine historische These mit einem angeblichen, aktuellen allgemeinen Christenhass der Juden. Dabei berief er sich jedoch nicht auf die Evangelien, sondern auf christliche Apokryphen. Zudem deutete er die jüdische Beschneidung als Fluch, mit dem Gott die Juden sichtbar aus den Völkern markiert habe, um sie leichter von diesen bestrafen zu lassen.[20]
Um 160 klagte Bischof Melito von Sardes († um 190) die Juden in seiner 1940 als Handschrift wiederentdeckten Predigt Über das Passah wie folgt an:[21]
„Welch schlimmes Unrecht, Israel, hast du getan? Du hast den, der dich ehrte, geschändet...Du bereitetest ihm spitze Nägel und falsche Zeugen und Fesseln und Geißeln und Essig und Galle und das Schwert und die Trübsal wie für einen Raubmörder...Getötet hast du den Herrn inmitten Jerusalems! Höret es, alle Geschlechter der Völker und sehet: Unerhörter Mord geschah inmitten Jerusalem in der Stadt des Gesetzes, der Hebräer, der Propheten, in der Stadt, die für gerecht galt!...Der die Erde aufhing, ist aufgehängt worden; der die Himmel festmachte, ist festgemacht worden; der das All befestigte, ist am Holz befestigt worden...der Gott ist getötet worden; der König Israels ist beseitigt worden von Israels Hand. Oh, welch unerhörter Mord! Oh, welch unerhörtes Unrecht!“
Die Rede verzerrt die NT-Überlieferung von Jesu Passion, indem sie „spitze Nägel“, „Geißeln“, „Schwert“ von den Römern auf Juden überträgt. So macht sie diese nicht nur für Todesurteil und Auslieferung, sondern auch für Folter und Hinrichtung Jesu verantwortlich. Die Schuldanklage ist hier ein rhetorisches Stilmittel, um Israels angebliche Kollektivschuld gegenüber den christlichen Predigthörern und von dort aus allen Völkern zu demonstrieren. Jerusalem wird als „Stadt des Gesetzes“ identifiziert, so dass das Festhalten an diesem Gesetz als Todesursache Jesu und Unrecht erscheint. Der besondere historische Justizmord an einem Juden wird zum Mord am Schöpfer der Welt überhöht, so dass dieses Unrecht kosmische Dimensionen erhält und der jüdische Glaube an den Schöpfer als Heuchelei erscheint. Dies sollte dem rabbinischen Judentum, das die Tora nach dem Ende des Tempelkults als weitergeltenden Willen Gottes auslegte und bewahrte, theologisch jede Daseinsberechtigung entziehen.
Hintergrund der Predigt war der frühchristliche Streit um das Osterdatum: Es fiel für Melito noch mit dem 14. Nisan, dem Hauptfesttag des jüdischen Passah, zusammen. Dies machte es für ihn umso notwendiger, die Überlegenheit der christlichen gegenüber der jüdischen Heilslehre herauszustellen. Melito überhöhte Jesu Tod zum Mord an Gott, um die religiöse „Enterbung“ des Judentums als biblisch erwähltes Volk Gottes durch die Kirche zu begründen. Zudem bahnte sich im 2. Jahrhundert der innerchristliche Streit um die zwei Naturen Jesu Christi schon an: Für die orthodoxe Linie war der Mensch Jesus unmittelbar mit dem der Welt zugewandten Wesen Gottes identisch, so dass alles, was Menschen ihm antaten, gegen Gott selbst gerichtet war. Auch für Theologen, die diese Identität Jesu mit Gott ablehnten, war sein Sterben menschliche Sünde gegen Gott, die aber Gottes unsterbliches Wesen nicht angreifen könne. Wie den Juden erschien ihnen die Rede vom „Mord an Gott“ daher als Gotteslästerung. Erst beim Ersten Konzil von Nicäa (325) wurde dieser Streit in der Kirche zugunsten der orthodoxen Auffassung entschieden.[22]
Tertullian legte die Selbstverfluchung der Jerusalemer Volksmenge in Mt 27,25 gegen Paulus (Röm 9–11) als weiterwirkenden Fluch aus (De Oratione 14; um 200): „…das Blut der Propheten und des Herrn selbst klebt an ihnen [den Juden] bis in alle Ewigkeit.“[23] Dieser Auslegung folgte Origenes (Matthäuskommentar, um 245): „Nicht an jenen nur, die seine Zeitgenossen waren, fürwahr an allen künftigen jüdischen Geschlechtern haftet das Blut Jesu bis ans Ende aller Zeiten.“[24]
Die Didaskalia Apostolorum (~ 280) lässt Jesus Christus gebieten: „Ihr sollt an ihrer [der Juden] Stelle fasten, denn an diesem Tag, während ihres Osterfestes, haben sie mich gekreuzigt.“ Damit wurde der Vorwurf Bestandteil der christlichen Unterweisung für Kirchenlehrer. Jedoch verlangte der Text auch, die Juden trotz ihres angeblichen Christenhasses „Brüder“ zu nennen. Die dogmatische Abgrenzung vom Judentum begründete damals noch keine allgemeine soziale Distanz.[25]
Ephraem der Syrer (~306–373) rechtfertigte die Ausgrenzung von Judenchristen aus der Kirche und damalige Judenpogrome mit der Gottesmordthese: „Heil dir, hehre Kirche, die du nun frei bist vom Gestank der stinkenden Juden. Vertreib das Judenvolk! Es hat das Blut Gottes vergossen, nun wird sein Blut vergossen.“[26]
Eusebius von Caesarea begründete in seiner Kirchengeschichte (verfasst nach 324) die These, die Zerstörung des jüdischen Tempels durch Römer im Jahr 70, Landverlust und Zerstreuung der Juden unter die Völker (135) seien Gottes Strafe für ihren angeblichen Mord an Jesus Christus gewesen. Er berief sich dazu auf die biblische Geschichtstheologie, besonders auf das Deuteronomistische Geschichtswerk.[27]
Bis zur gesetzlichen Anerkennung der Kirche als römische Staatsreligion (380) wurde der Gottesmordvorwurf zum festen Stereotyp in den Adversos-Iudaeos-Texten („gegen die Juden“) altkirchlicher Theologen und Amtsträger, darunter Prudentius, Hilarius von Poitiers, Gregor von Nyssa, Ambrosius von Mailand, Epiphanes, Kyrill von Jerusalem und weitere.[28]
Hieronymus identifizierte den Messias, den die Juden nach Jesus weiter erwarteten, um 400 mit dem Antichrist und erklärte aus dem Gottesmord das gegenwärtige Elend der seit der Tempelzerstörung in der Welt zerstreuten Juden:[29]
„Welches Verbrechens, welches fluchwürdigen Vergehens wegen hat Gott seine Augen von euch abgewandt? Wisst ihr es nicht? Denkt an das Wort eurer Väter: „Sein Blut komme über uns und unsere Kinder!“ [Mt 27,25] „Kommt, lasst uns ihn töten, und unser wird das Erbe sein!“ [Mk 12,7] „Wir haben keinen König außer dem Kaiser!“ [Joh 19,15] Nun habt ihr, was ihr gewählt habt. Bis zum Ende der Welt werdet ihr dem Kaiser dienen, bis die Fülle der Heiden sich bekehrt. Dann wird auch ganz Israel gerettet werden [Röm 11,25f], aber was einst Kopf wart, wird jetzt zum Schwanz werden.“
Damit rechtfertigte er die aktuelle und dauernde Unterdrückung der Juden im römischen Kaiserreich. Ihre jenseitige Errettung machte er vom Erfolg der christlichen Völkermission abhängig, die zugleich den Antijudaismus globalisieren sollte.
Johannes Chrysostomos schrieb um 390 in der sechsten seiner Predigten adversos Iudaeos, die sich indirekt gegen judaisierende Christen richteten:[30]
„Weil ihr Christus getötet habt, weil ihr gegen den Herrn die Hand erhoben habt, weil ihr sein kostbares Blut vergossen habt, deshalb gibt es für euch keine Besserung mehr, keine Verzeihung und auch keine Entschuldigung. Denn damals ging der Angriff auf Knechte, auf Mose, Jesaja und Jeremia. Wenn auch damals gottlos gehandelt wurde, so war das, was verübt wurde, noch kein todeswürdiges. Nun aber habt ihr alle alten Untaten in den Schatten gestellt durch die Raserei gegen Christus. Deshalb werdet ihr auch jetzt mehr gestraft. Denn, wenn dies nicht die Ursache eurer gegenwärtigen Ehrlosigkeit ist, weshalb hat euch Gott damals ertragen, als ihr Kindesmord begangen habt, wohingegen er sich jetzt, da ihr nichts derartiges verübt, von euch abwendet? Also ist klar, dass ihr mit dem Mord an Christus ein viel schlimmeres und größeres Verbrechen begangen habt als Kindesmord und jegliche Gesetzesübertretung.“
Augustinus von Hippo schrieb in De Civitate Dei (420):[31]
„Die Juden aber, die Christus dem Tod überliefert haben und nicht an ihn glauben wollten, daß er sterben und auferstehen müsse, dienen uns, von den Römern noch unheilvoller heimgesucht und aus ihrem Reiche, wo ohnehin bereits Ausländer über sie herrschten, mit der Wurzel ausgerottet und über alle Länder zerstreut [...], durch ihre Schriften zum Zeugnis, daß die Weissagungen über Christus kein Machwerk der Christen sind.“
Demnach hätten die Juden zur Strafe für Jesu Auslieferung bzw. Kreuzigung und für ihren Unglauben an seine Messianität ihren eigenen Staat und Tempelkult verloren, seien unter alle Völker zerstreut und den Christen unterworfen worden. Diese Knechtschaft sei gottgewollt, damit die Juden durch ihr Dasein und ihre biblischen Schriften die überlegene Wahrheit des Christentums bis zum Ende der Welt immer neu bestätigen müssten.
Diese Ansichten wurden im 5. Jahrhundert Allgemeingut der christlichen Theologie, vertreten auch von Tiro von Aquitanien († um 455) und Cassiodor († um 583). Papst Leo der Große († 461) bildete damals bereits eine sehr seltene Ausnahme: Er zitierte in seinen Passionspredigten nicht nur die Selbstverfluchung Mt 27,25, sondern auch die Vergebung Jesu für seine Mörder (Lk 23,34), bezog diese also auch auf das Judentum. Dass Römer Jesus gefoltert und zusammen mit anderen Juden gekreuzigt hatten, wurde kaum noch erwähnt und in seinen Folgen für das Verhältnis der Kirche zum Staat nicht mehr bedacht.[32]
Kaiser Justinian I. entzog den Juden des Römischen Reiches 537 mit einem Edikt alle bürgerlichen und religiösen Rechte, weil die Kreuzigung Jesu Christi eine „untilgbare Schuld“ sei.[33]
Mittelalter
Im Frühmittelalter hatte sich der Gottesmordvorwurf für die christliche Theologie zur Lehre verfestigt und wurde als nicht mehr hinterfragte Tatsache kolportiert. Erzbischof Agobard von Lyon († 840) z. B. legte den Juden in seinen um 825 verfassten antijüdischen Polemiken zahlreiche Verbrechen zur Last. Er setzte – wie Johannes Chrysostomos 400 Jahre zuvor – einen kriminellen Charakter aller Juden voraus, den er auf ihren Gottesmord zurückführte. Diesen Vorwurf führte er als Faktum an, ohne ihn näher zu begründen.
Auch Hrabanus Maurus († 856), Erzbischof von Mainz, und Petrus Damiani († 1072) sprachen von Juden allgemein nur als „verruchtem Volk“ und „Christusmördern“. Dabei waren sie – anders als Agobard – keineswegs fanatische Judenfeinde. Dies traf jedoch auf den Benediktiner-Abt Rupert von Deutz († 1129) zu, der um 1120 ein fiktives Streitgespräch zwischen einem Christen und einem Juden verfasste.
Im Zeitalter der Kreuzzüge führte der Gottesmordvorwurf zur akuten Bedrohung des gesamten Judentums. Christliche Anführer des ersten Kreuzzugs rechtfertigten ihre Massaker an Judengemeinden auf dem Weg nach und in Palästina als Rache für den angeblichen Gottesmord der Juden. Gottfried von Bouillon etwa schwor nach zeitgenössischen Quellen, „nicht die Heimat zu verlassen, ohne das Blut seines Gottes an dem Blut Israels zu rächen; von allem, was den Namen Jude trägt, nicht Rest noch Flüchtling [am Leben] zu lassen.“[34]
Im Hochmittelalter wurden aus der verfestigten Gottesmordthese weitere antijudaistische Motive abgeleitet, vor allem die Ritualmordlegenden und Gerüchte vom Hostienfrevel. Beide beruhten auf dem Gedanken, die Juden seien als wesensmäßige Feinde des wahren Gottes, Jesus Christus, kollektiv zur Wiederholung des Christusmords an christlichen Kindern oder kirchlichen Sakramenten gezwungen. Auch die Vorwürfe des Wuchers und der Brunnenvergiftung dämonisierten und kriminalisierten die „Christusmörder“ als „Christenmörder“.[35] Damals wurde der Gottesmordvorwurf auch in der christlichen Ikonographie verbreitet, zum Beispiel wurde der römische Soldat, der den gekreuzigten und schon toten Jesus nach Joh 19,34 mit einer Lanze durchbohrte, seit dem 12. Jahrhundert mit einem Judenhut dargestellt.[36]
Diese Stereotype wurden im Hochmittelalter besonders in der Karwoche und bei Epidemien häufig zum Anlass für lokale und regionale Vertreibungen, Einzelmorde und Pogrome an Judengemeinden genommen. Das Gottesmord-Stereotyp diente danach wiederum oft dazu, diese Judenverfolgungen als selbstverursachten „Fluch“ zu rechtfertigen.
Frühe Neuzeit
Johannes Pfefferkorn verfasste nach seiner Konversion zum Christentum (1504) eine Serie antijüdischer Schmähschriften, in denen er die Juden als angebliche Gottesmörder für alle Übel der mittelalterlichen Gesellschaft, ja der ganzen Welt, verantwortlich machte.[37] Er ließ 1509 im Auftrag des Kaisers alle jüdischen religiösen Schriften im Rheinland beschlagnahmen, um sie verbrennen zu lassen. Der Hebraist und Humanist Johannes Reuchlin trat dem als Gutachter einer kaiserlichen Untersuchungskommission ab 1510 entgegen. Er teilte die Legenden von Hostienfrevel, Ritualmord und Brunnenvergiftung nicht, vertrat aber die Ansicht, die gegenwärtige bedrohte Randlage der Juden in der mittelalterlichen Gesellschaft sei eine Strafe für ihren angeblichen Mord an Jesus.[38] Diese Lage sei nicht veränderbar, solange sie Jesus nicht als Messias anerkennen würden.[35]
Martin Luther, der Initiator der Reformation, beschrieb das Judentum bereits in frühen exegetischen Kommentaren als Beispiel und Anstifter der menschlichen Sünde der Werkgerechtigkeit und Selbsterlösung. Doch er glaubte, Juden und Heiden hätten Jesus Christus gemeinsam ans Kreuz geschlagen und darin verwirkliche Gott seine Gnade. Deshalb trat die Gottesmordthese und davon abgeleitete antijudaistische Legenden von Hostienfrevel und Ritualmorden bei Luther zurück. So ersetzte er die katholische Vorlage des Passionshymnus in den Improperien der Karfreitagsliturgie, die Judas Iskariot und die Juden als Christusmörder verfluchte, um 1520 durch folgenden Text:[39]
„Unser grosse Sünde und schwere Missetat
Jesum den wahren Gottes Sohn ans Kreuz geschlagen hat.
Drumb wir dich, armer Juda, darzu der Jüden Schar
Nicht feindlich dürfen schelten. Die Schuld ist unser zwahr!
Kyrie eleison!“
Dem Lutherforscher Heiko Augustinus Oberman zufolge versuchte Luther damit, „jener Hass einpeitschenden Passionsfrömmigkeit an die Wurzeln zu gehen, die im christlichen Europa die Karwoche für Juden jahrhundertelang zur besonderen Schreckenszeit gemacht hat.“[40]
Aber Luther zählte alle Juden zu den „verstockten“, kaum bekehrbaren Feinden der Gnade Gottes in Christus, vor allem weil sie Gottes Heilsangebot auch nach Jesu Kreuzigung und Auferstehung mehrheitlich abgelehnt hätten.[41] 1523 lehnte er Zwangstaufen von Juden entschieden ab und warb dafür, sie durch überzeugende Kirchenreformen zum evangelischen Glauben zu bekehren. Seit 1526, nach enttäuschten Missionshoffnungen und rabbinischer Kritik an seiner Bibelexegese, änderte er diese Haltung diametral. In seiner Schrift Von den Jüden und ihren Lügen (1543) griff er fast alle damaligen antijudaistischen Stereotype auf und verschärfte sie. Als Beleg für eine angebliche angeborene Mordlust der Juden an Christen behauptete er, sie hätten schon Jesus aus Hass und Neid verdammt und getötet.[42] Damit wollte er nicht zu Pogromen aufrufen, sondern die evangelischen Fürsten zum Vertreiben der Juden oder Arbeitszwang für sie bewegen (siehe Martin Luther und die Juden).
Auch als Reaktion auf die Reformation, die sie zum Teil als von den Juden angestiftet ansahen, bekräftigten spätere Päpste die kirchlichen antijudaistischen Dogmen. Papst Paul IV. verpflichtete die Juden mit der Bulle Cum nimis absurdum (14. Juli 1555) dazu, in Ghettos zu leben. Denn sie seien „durch ihre Schuld zu ewiger Sklaverei verdammt“. Wenige Tage nach Bekanntgabe der Bulle wurden in Ancona 24 aus Portugal geflohene Marranos, also zwangsbekehrte Juden, verbrannt. 1566 erneuerte Pius V. die Bulle mit Gottesmordargumenten und verbot jeden Kontakt zwischen Neuchristen (getauften Juden) und Juden.[43]
19. Jahrhundert
Im 19. Jahrhundert entstand mit dem europäischen Nationalismus auch der moderne, sozialdarwinistische und rassistische Antisemitismus. Obwohl er sich vom religiösen Antijudaismus abgrenzte, um seine Judenfeindlichkeit pseudowissenschaftlich zu begründen, blieb er dem Stereotyp des Gottesmordes verhaftet. So knüpfte Karl Eugen Dühring an die christliche Ritualmordlegende an und deutete sie zum Mord an den christianisierten Völkern um:
„Die Juden verstehen das Christenthum gern so, dass sich die modernen Völker von den Juden sollen kreuzigen lassen.“
Christliche Judengegner kolportierten die These vom Gottesmord parallel dazu weiter und lieferten Antisemiten damit ein zentrales Argument. So war es bei christlichen Autoren, die sich gegen Antisemiten abgrenzten, üblich, die Zerstreuung der Juden im Römischen Reich als wohlverdiente Strafe für den Messiasmord darzustellen: so bei Rudolf Kleinpaul (Alt- in Neujerusalem), Franz Kayser (Die Ausbeutung der christlichen Konfessionen und politischen Parteien durch die Juden), Carl Fey (Bausteine zur Geschichte des Antisemitismus), J.G.A. Walch (Die Judenfrage). Der Jesuit Theodor Granderath (1839–1902) etwa führte dazu angelehnt an die im 17. Jahrhundert verbreitete Legende vom Ewigen Juden aus:
„Eine Erklärung der Thatsache der ewigen Heimatlosigkeit der Juden ... ist einzig und allein jene Erklärung, welche sich dem Christen wie von selbst bietet: Der allmächtige Gott und Herr der Völker ... hat dieses Volk, welches seinem Berufe nicht entsprochen und den Messias verworfen und gekreuzigt, zur Strafe zur ewigen Heimatlosigkeit verurtheilt.“
Max Bergedorf schrieb 1884 (Das Gefängnis der Juden. Nicht ein Recht menschlicher Notwehr … sondern eine Pflicht christlichen Gehorsams), Juden seien zur Strafe für den Messiasmord als Sträflinge Gottes unter die christlichen Nationen zerstreut worden, die jüdische Emanzipation sei also eine unerlaubte Gefangenenbefreiung. Daher müsse diese völlig zurückgenommen, die Juden müssten radikal aus dem Staatsleben „ausgeschieden“ und der christliche Staat müsse erneuert werden.[44]
Zeit des Nationalsozialismus
In der Aufstiegsphase des Nationalsozialismus vereinnahmte die NS-Propaganda die Gottesmordthese für ihren eliminatorischen Antisemitismus und für den Hitlerkult. So stilisierte Julius Streicher Adolf Hitler 1923 nach dem gescheiterten Hitler-Ludendorff-Putsch zum von Juden gekreuzigten und wiederauferstehenden Messias des deutschen Volkes: „Der Retter kommt nicht von dort her, wo man mit dem Worte,Christentum‘ den grössten Volksbetrug begeht, auch nicht von dort her, wo deutsche Menschen im Dienst der Golgathamörder stehen. Ich könnte ihnen den Namen des Mannes nennen, der Deutschland retten wird.“ Vor und nach 1933 deutete er das Gottesmordmotiv in zahlreichen Artikeln des Hetzblattes Der Stürmer zum „Rassenmord“ durch „Rassenschande“ um.[45]
Ab 1933 rechtfertigten Christen aller Konfessionen die staatliche Verfolgung der Juden als Folge des angeblichen Gottesmordes, durch den sie einen angeblichen „Fluch“ auf sich gezogen hätten. Diese Theorie vertraten damals führende Vertreter der Hermannsburger Mission, darunter deren Gründer Louis Harms.[46]
Auch Dietrich Bonhoeffer schrieb in seinem Aufsatz Die Kirche vor der Judenfrage vom April 1933 als Reaktion auf den Judenboykott: „Niemals ist in der Kirche Christi der Gedanke verloren gegangen, daß das ‚auserwählte Volk‘, das den Erlöser der Welt ans Kreuz schlug, in langer Leidensgeschichte den Fluch seines Leidens tragen muss.“[47] Dennoch rief er die Kirche zum Schutz der Menschenrechte für verfolgte Minderheiten wie die Juden auf, zu dem sie von Jesus Christus her unbedingt verpflichtet sei. Das von ihm im August 1933 mitverfasste Betheler Bekenntnis begründete dies wie folgt:
„Die Gemeinschaft der zur Kirche Gehörigen wird nicht durch das Blut und also auch nicht durch die Rasse, sondern durch den Heiligen Geist und die Taufe bestimmt. Wenn die deutsche evangelische Kirche die Judenchristen ausschließen oder als Christen zweiter Klasse behandeln würde, würde sie aufgehört haben, christliche Kirche zu sein. Wir verwerfen jeden Versuch, die geschichtliche Sendung irgendeines Volkes mit dem heilsgeschichtlichen Auftrag Israels zu vergleichen oder zu verwechseln. Es kann nie und nimmer Auftrag eines Volkes sein, an den Juden den Mord von Golgatha zu rächen.“
Bonhoeffer begrüßte diese von Wilhelm Vischer verfasste Passage als klare Abgrenzung vom Rassismus und Antisemitismus der Deutschen Christen. Als lutherische Theologen die Passage umformulierten, zog er seine Unterschrift für den Gesamttext zurück.[48] Infolge der Novemberpogrome 1938, zu denen die Bekennende Kirche (BK) schwieg, begann er sich von deren antijudaistischer Tradition abzuwenden. Laut dem späteren Bonhoefferbiografen Eberhard Bethge widersprach Bonhoeffer als ihr Ausbilder Vikaren der BK: Die Synagogenzerstörung sei kein Fluch Gottes über die Juden wegen der Kreuzigung Jesu Christi, sondern ein reines Gewaltverbrechen, in dem der Nationalsozialismus sein wahres gottloses Gesicht gezeigt habe. Anschließend sagte er zu den NT-Stellen Mt 27,25 und Lk 23,28, auf die die Fluchtheorie gestützt wurde: Die Urchristen hätten nicht alle Juden, sondern nur „die damaligen Theologen“, den Hohen Rat, und „die damalige staatliche Obrigkeit“, die Römer, für Jesu Hinrichtung verantwortlich gemacht. Zudem verwies er auf Gottes bleibende Verheißung für sein erwähltes Volk nach Röm 9–11. Schon im Dezember 1937 hatte er Sach 2,12 („Wer euch antastet, der tastet meinen [Gottes] Augapfel an“) auf verfolgte Juden, nicht mehr nur auf Jesu Nachfolger bezogen.[49]
Vertreter des katholischen Hilfswerks für Juden beim Ordinariat Berlin beschrieben am 5. September 1941 die Besorgnisse, die das Staatsgesetz zum Tragen des Judensterns auch unter Judenchristen ausgelöst hatte. Dem Bericht zufolge waren jüdische Konvertiten bereit, den Judenstern auch in katholischen Gottesdiensten zu tragen: „...sie erkennen darin eine ihnen von Gott geschenkte Möglichkeit, durch ihr allen Gefahren, aller Verfolgung zum Trotz unbeirrt treues, auch äußerlich erkennbares Sich-Bekennen zur Wahren Kirche Christi sühnen zu dürfen, was das Judenvolk an Christus gesündigt hat.“ Damit übernahmen christliche Judenretter damals die antijudaistische These, die Konversion einzelner Juden sei eine Sühne für den angeblichen Gottesmord aller Juden.[50]
Der damalige Papst Pius XII. vertrat die Gottesmordtheorie in seiner Weihnachtsansprache an die Kardinäle 1942, als der Holocaust im Vatikan bekannt war.[51]
Nach 1945
Römisch-katholische Kirche
Der antisemitische Gottesmordvorwurf blieb während und nach der NS-Zeit in den Kirchen präsent und wurde von kirchlichen Theologen immer wieder mit tendenziöser, psychologisierender Exegese der Passionsberichte gerechtfertigt. So behauptete der römisch-katholische Neutestamentler Pierre Benoit in seinem Buch Der Prozeß Jesu (1940), Jesus sei kein politischer Aufrührer gewesen. Pilatus habe dies gemerkt und „dem Drängen der Juden nach Möglichkeit widerstanden“, schließlich aber nachgegeben, weil er „eingeschüchtert“ gewesen sei. „Die Juden sind insofern verantwortlich, als sie den Tod Jesu gewollt und mit moralischer Nötigung durchgesetzt haben. An dieser objektiv historischen Tatsache ist nicht zu rütteln. […] In diesem Sinne ist die Bezeichnung 'Gottesmörder' …nur berechtigt. Was die Juden taten, war objektiv 'Gottesmord', weil der Mensch, den sie töten ließen, nach unserem Glauben wirklich Gott ist.“[52]
Im Anschluss an Benoit beschrieb der katholische Neutestamentler Josef Blinzler den Sanhedrin als treibende Kraft der Hinrichtung Jesu (Der Prozeß Jesu, 1951). Die Vertreter der Juden hätten von vornherein einen Justizmord geplant, darum Jesus wegen Blasphemie einstimmig zum Tod verurteilt, ihn gegenüber Pilatus absichtlich fälschlich als politischen Aufrührer angezeigt und seine Freilassung durch Drohungen eines Mobs verhindert. Dies führte er auf eine „böswillige Einstellung“ der Ratsmitglieder zurück: Sie hätten „die Vernichtung Jesu um jeden Preis“ gewollt.[53]
Michael Schmaus schrieb in seiner Katholischen Dogmatik (1958): „Die Juden mußten sich an Jesus stoßen […]. Das Unbehagen wuchs zum Haß gegen ihn. Sie beschlossen, sich dieses Beunruhigers zu entledigen, und töteten ihn […]. Es [das ganze jüdische Volk] nahm in der entscheidenden Stunde die Schuld bewußt und mit allen Folgen auf sich (Mt 27,25). In der Hinrichtung Christi besiegelte das ganze Volk die Ablehnung des Gottesboten …. Es stellte sich damit unter das Gericht, unter dem jeder bleibt, der im Unglauben Christus ablehnt.“[54] Romano Guardini schrieb 1964: „So fühlen sie [die Juden], daß er [Jesus] nicht Geist von ihrem Geist ist, und ruhen nicht, bis sie ihn aus dem Weg geräumt haben.“[55]
Das Zweite Vatikanische Konzil rückte mit der Denkschrift Nostra aetate von 1965 erstmals von dieser jahrhundertelangen Gottesmordlehre ab:
„Obgleich die jüdischen Obrigkeiten mit ihren Anhängern auf den Tod Christi gedrungen haben, kann man dennoch die Ereignisse seines Leidens weder allen damals lebenden Juden ohne Unterschied noch den heutigen Juden zur Last legen. [...] Auch hat ja Christus, wie die Kirche immer gelehrt hat und lehrt, in Freiheit, um der Sünden aller Menschen willen, sein Leiden und seinen Tod aus unendlicher Liebe auf sich genommen, damit alle das Heil erlangen. So ist es die Aufgabe der Predigt der Kirche, das Kreuz Christi als Zeichen der universalen Liebe Gottes und als Quelle aller Gnaden zu verkünden.“
Die Denkschrift war gerade auch wegen dieser Passage bis zuletzt umstritten. Bischof Luigi Maria Carli forderte als Wortführer einiger konservativer Bischöfe, den Begriff „Gottesmord“ festzuhalten, da auch die heutigen Juden weiter kollektiv schuldig an Jesu Tod seien. Nachdem auch Papst Paul VI. in einer Predigt davon sprach, dass „die Juden“ Jesus getötet hätten,[57] forderten vor allem die Kardinäle Franz König und Augustin Bea, den Gottesmordvorwurf ausdrücklich im Text zurückzuweisen. Ihr Vorstoß hatte schließlich Erfolg.[58] Der in der Vorlage enthaltene Satz, das jüdische Volk könne „nicht mehr“ als „Volk der Gottesmörder“ bezeichnet werden, wurde aus der Endfassung gestrichen.[59]
Die Denkschrift erwähnte weder den Holocaust, noch kirchliche Mitschuld daran, noch kirchliche Amtsträger und Theologen, die die Gottesmordthese seit Jahrhunderten gelehrt, verbreitet und damit dem Antisemitismus ein wesentliches Argument geliefert hatten. Diese Folgen wurden nur allgemein abgelehnt:
„Im Bewusstsein des Erbes, das sie mit den Juden gemeinsam hat, beklagt die Kirche, die alle Verfolgungen gegen irgendwelche Menschen verwirft, nicht aus politischen Gründen, sondern auf Antrieb der religiösen Liebe des Evangeliums alle Hassausbrüche, Verfolgungen und Manifestationen des Antisemitismus, die sich zu irgendeiner Zeit und von irgend jemandem gegen die Juden gerichtet haben.“
In der katholischen Praxis und Volksfrömmigkeit blieb das Gottesmordmotiv auch nach den Reformen des Konzils präsent. So enthielt die Ausgabe des Neuen Stundenbuchs der Diözesen Salzburg, Zürich und Trier bis 1971 einen Psalmenkommentar Augustins, in dem dieser die Gottesmordtheorie begründete.[60]
Der Katholische Erwachsenen-Katechismus von 1997 weist die Gottesmordlehre mit Bezug auf Nostra Aetate zurück: „Die Juden sind für den Tod Jesu nicht kollektiv verantwortlich. […] Berücksichtigt man, wie geschichtlich verwickelt der Prozeß Jesu nach den Berichten der Evangelien ist und wie auch die persönliche Schuld der am Prozeß Hauptbeteiligten (von Judas, dem Hohen Rat, von Pilatus) – die Gott allein kennt – sein mag, so darf man nicht die Gesamtheit der Juden von Jerusalem dafür verantwortlich machen – trotz des Schreiens einer manipulierten Menge [Mk 15,11.] und ungeachtet der allgemeinen Vorwürfe in den nach Pfingsten erfolgenden Aufrufen zur Bekehrung [Apg 2, 23. 36; 3,13–14; 4,10; 5,30; 7,52; 10,39; 13,27–28; 1 Thess 2,14–15.]. Als Jesus ihnen vom Kreuz herab verzieh [Lk 23,24.], entschuldigte er – wie später auch Petrus – die Juden von Jerusalem und sogar ihre Führer mit ihrer „Unwissenheit“ (Apg 3,17). Noch weniger darf man den Schrei des Volkes: „Sein Blut komme über uns und unsere Kinder!“ (Mt 27,25), der eine Bestätigungsformel darstellt [Apg 5,28; 18,6.], zum Anlaß nehmen, die Schuld auf die Juden anderer Länder und Zeiten auszudehnen.“[61]
Der Historiker Daniel Jonah Goldhagen verwies 2004 auf repräsentative Umfragen von 1985: Danach bejahten 25 % der befragten Deutschen, 33 % der Österreicher und fast 50 % der Italiener den Vorwurf, die Juden seien kollektiv Schuld an Jesu Kreuzigung, oder wiesen dies nicht zurück.[62] Goldhagen forderte deshalb, 450 von ihm als antisemitisch beurteilte Passagen aus dem NT zu streichen. Dies verstärkte die kirchliche und öffentliche Debatte um diese NT-Stellen und den Umgang damit.[63]
Die traditionalistische Piusbruderschaft lehnt die Reformen des Zweiten Vatikanischen Konzils ab, besonders Nostra Aetate. Im Kontext der Debatte um die Karfreitagsfürbitte und Wiederaufnahme der Piusbischöfe in die römisch-katholische Kirche bekräftigte der damalige deutsche Distriktobere Franz Schmidberger im Dezember 2008 die vorkonzilische Enterbungs- und Gottesmordlehre: „Mit dem Kreuzestod Christi ist der Vorhang zerrissen, der Alte Bund abgeschafft, wird die Kirche […] aus der durchbohrten Seite des Erlösers geboren. Damit sind die Juden unserer Tage nicht nur nicht unsere älteren Brüder im Glauben, wie der Papst bei seinem Synagogenbesuch in Rom 1986 behauptete, sie sind vielmehr des Gottesmordes mitschuldig, so lange sie sich nicht durch das Bekenntnis der Gottheit Christi und durch die Taufe von der Schuld ihrer Vorväter distanzieren.“[64]
Evangelische Kirche in Deutschland
Ein Bewusstsein für die besondere kirchliche Mitschuld an der Judenvernichtung setzte nach 1945 in der EKD nur ganz allmählich ein. In den ersten Schulderklärungen der Nachkriegszeit war weder vom Holocaust noch von Antijudaismus und Antisemitismus die Rede. Vielmehr setzte sich die Gottesmord- und Substitutionstheologie zunächst ungebrochen fort. So hieß es in dem „Wort zur Judenfrage“ der EKD von 1948:
„Indem Israel den Messias kreuzigte, hat es seine Erwählung verworfen. [...] Die Erwählung Israels ist durch und seit Christus auf die Kirche aus allen Völkern, aus Juden und Heiden übergegangen.“
Zwar hieß es außerdem, alle Menschen seien am Tod Christi mitschuldig, so dass Christen Juden nicht als Alleinschuldige brandmarken dürften. Doch es folgten Sätze, die das bestehende Judentum nur als Zeugen des Gerichtes Gottes und den Holocaust als Zeichen seiner „Geduld“ deuteten:
„Dass Gottes Gericht Israel in der Verwerfung bis heute nachfolgt, ist Zeichen seiner Langmut. [...] Dass Gott nicht mit sich spotten lässt, ist die stumme Predigt des jüdischen Schicksals, uns zur Warnung, den Juden zur Mahnung, ob sie sich nicht bekehren möchten zu dem, bei dem allein auch ihr Heil steht.“
Zwei Jahre später (1950) verabschiedete die Synode von Weißensee unter dem Eindruck neuer antisemitischer Ausschreitungen jedoch eine Erklärung, die von diesen problematischen Thesen abrückte: „Wir glauben, dass Gottes Verheißung über dem von ihm erwählten Volk Israel auch nach der Kreuzigung Jesu Christi in Kraft geblieben ist.“[65]
Damit widerrief eine offizielle kirchliche Stellungnahme der EKD erstmals die aus dem Gottesmord abgeleitete Fluchtheorie. Der Folgepassus zeigte die Schwierigkeiten der Beteiligten, eine kirchliche Mitschuld zu benennen: „Wir bekennen uns zu der Schuld der Deutschen, die vor dem Gott der Barmherzigkeit durch den Massenmord an den Juden handelnd oder schweigend schuldig geworden sind.“ Auch dies ging einigen Kirchenführern auf der Synode zu weit.[66]
Dennoch vollzog sich in den Großkirchen, beeinflusst vom jüdisch-christlichen Dialog, eine Abkehr vom Antijudaismus. So überraschte die jüdische Holocaustforscherin Eva Gabriele Reichmann ihre evangelischen Zuhörer beim Kirchentag 1961 mit der Frage: „Warum sind seit eh und je die Juden als Christusmörder bezichtigt, aber nicht als Christusgeber gepriesen worden? Liegt dem nicht die niederdrückende Tatsache zugrunde, daß die Menschen – zumal in Gruppen zusammengeschlossen – lieber hassen als lieben, lieber schmähen als anerkennen?“[67]
Im evangelischen Bereich wurde der Synodalbeschluss der Rheinischen Landeskirche von 1980 wegweisend für eine entschiedene Revision judenfeindlicher Dogmen, die vom Bekenntnis kirchlicher Mitschuld am Holocaust ausging.
Orthodoxe Kirchen
Orthodoxe Kirchen haben sich bisher kaum von der traditionellen Gottesmordthese distanziert. Am 6. Dezember 2011 verurteilte mit Chrysostomos II. von Zypern erstmals ein orthodoxer Erzbischof die Theorie einer jüdischen Kollektivschuld am Tod Jesu.[68]
Ökumene
Bei der Konferenz von Seelisberg, einem internationalen Treffen von Juden und Christen in der Schweiz 1947, formulierten die Teilnehmer einen „Aufruf an die Kirchen“ (Seelisberger Thesen), um deren Beziehungen zum Judentum weltweit neu zu ordnen. Als dafür wesentliche theologische Themen benannten sie den Glauben an „einen Gott“, die jüdische Herkunft Jesu und der Kirche, die Überwindung des „Gottesmord“-Vorwurfs durch eine differenzierte Darstellung der Passion Jesu und die Zurückweisung der These von der „Verwerfung“ des jüdischen Volkes.[69]
Der Ökumenische Rat der Kirchen (ÖRK) verwarf bei seiner Gründung 1948 den Antisemitismus als „Sünde gegen Gott und die Menschen“ und rief alle Mitgliedskirchen auf, dem entgegenzutreten. Die dritte Vollversammlung des ÖRK in Neu-Delhi 1961 wies die Gottesmordthese in einer zusätzlichen Erklärung zurück: „In der christlichen Unterweisung sollen die geschichtlichen Tatsachen, die zur Kreuzigung Jesu Christi führten, nicht so dargestellt werden, dass sie dem jüdischen Volk von heute eine Verantwortung auferlegen, die uns, der Menschheit als Ganzer, zur Last fällt.“[70]
Passionsdarstellungen
Mittelalterliche Passionsspiele waren didaktische Mittel, um christliche Dogmen theatralisch anschaulich zu vermitteln, die bekannten antijudaistischen Stereotype zu überliefern und so den Gegensatz zwischen Christen und Juden polarisierend und hetzerisch einzuschärfen. Im Donaueschinger Passionsspiel (ab 1470) und im Frankfurter Passionsspiel (ab 1493) wurde der Gottesmord besonders grausam inszeniert. Zum Schluss rief die Hauptfigur Christiana das Publikum auf, die schändliche Tat am „falschen jüdischen Rat“ zu rächen. Den Juden ruft sie zu, sie seien zur „großen Schande“ auf Erden geboren und müssten „ewig verloren“ sein.[71]
Passionsfestspiele in Süddeutschland, Tirol und der Schweiz haben antijudaistische Stereotype wie den Gottes- bzw. Christusmord jahrhundertelang verbreitet und wurden auch von den Nationalsozialisten dazu benutzt.[72] Kritik daran wurde nach 1945 nur allmählich laut. Die Gestalter der Oberammergauer Passionsspiele berücksichtigten solche Kritik gegen große lokale Widerstände seit 1977. Erst im Aufführungsjahr 2000 wurden Passagen aus den Textvorlagen gestrichen, die die Juden als Gottes- bzw. Christusmörder dargestellt hatten.[73]
Johann Sebastian Bachs Passionsmusik, etwa die Matthäuspassion und die Johannes-Passion, wurden antijudaistisch rezipiert, betonen aber den selbstbestimmten Weg Jesu ans Kreuz, der Gottes Willen erfülle.[74] Der Text zur Johannespassion, der die Juden als Christusmörder darstellt, lehnt sich an die traditionelle lutherische Judenpolemik an. Darauf verweisen neuere Werkeinführungen und fordern beim Anhören zum Gedenken kirchlicher Mitschuld am Holocaust auf.[75]
Schulbücher
Der Kirchenhistoriker Jules Isaac, dessen Forschung die Erklärung Nostra Aetate wesentlich beeinflusste, bewies 1962, dass die meisten französischen katholischen Schulbücher damals weiterhin die traditionelle antijudaistische „Lehre der Verachtung“ verbreiteten,[76] darunter das Stereotyp, Juden seien „Gottesmörder“.[77]
Einzelne deutsche Schulbücher weisen seit dem Jahr 1988 darauf hin, dass der Gottesmord-Vorwurf jahrhundertelang Judenverfolgungen rechtfertigte.[78]
Siehe auch
Literatur
Neues Testament
- Klaus Berger: Antijudaismus im Neuen Testament. In: Julius H. Schoeps et al. (Hrsg.): Goldhagen, der Vatikan und die Judenfeindschaft. Philo, Berlin 2003, ISBN 3-8257-0330-4, S. 229–242.
- Willehad Paul Eckert, Nathan Peter Levinson, Martin Stöhr (Hrsg.): Antijudaismus im Neuen Testament? Exegetische und systematische Beiträge. München 1967
Melito von Sardes
- Peter von der Osten-Sacken: Mordanklage und Todesurteil. Realität, Religion und Rhetorik in der Predigt Melitos „Über das Passa“. In: Lutz Doering, Hans-Günther Waubke, Florian Wilk (Hrsg.): Judaistik und neutestamentliche Wissenschaft: Standorte – Grenzen – Beziehungen. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2008, ISBN 3-525-53090-0, S. 334–357.
Kirchen- und Kulturgeschichte
- Hardy Ostry: „Gottesmörder“ – Auserwähltes Volk: Das American Jewish Committee und die Judenerklärung des II. Vatikanischen Konzils. Paulinus, 2003, ISBN 3-7902-1373-X.
- Frederick B. Davis: The Jews and Deicide: The Origin of an Archetype. University Press of America, Lanham 2003, ISBN 0-7618-2542-8.
- Christian Wiese: Gottesmörder – Blutsauger – Fremde. Die politische Dimension des christlichen Antijudaismus von der Frühen Neuzeit bis zur Schoa. epd-Dokumentation 10, 2003, S. 25–40.
- Heinz Schreckenberg: Die christlichen Adversus Iudaeos-Texte und ihr literarisches und historisches Umfeld (1.–11. Jahrhundert). Peter Lang, Frankfurt am Main 1999, ISBN 3-631-33945-3.
- Karl-Erich Grözinger: Erstes Bild: Die Gottesmörder. In: Julius H. Schoeps, Joachim Schlör (Hrsg.): Bilder der Judenfeindschaft. Antisemitismus – Vorurteile und Mythen. Augsburg 1999, ISBN 3-8289-0734-2, S. 57–66.
- Friedrich Gleiss: Von der Gottesmordlüge zum Völkermord, von der Feindschaft zur Versöhnung: kirchlicher Antijudaismus durch zwei Jahrtausende und seine Überwindung, illustriert mit Bildern aus der christlichen Ikonographie. Geiger, 1995, ISBN 3-89570-060-6.
- Stefan Rohrbacher, Michael Schmidt: Judenbilder. Kulturgeschichte antijüdischer Mythen und antisemitischer Vorurteile. Rowohlt, Reinbek 1991, ISBN 3-499-55498-4, S. 218–241: Kreuzestod und Gottesmord.
- Ruth Kastning-Olmesdahl: Die Juden und der Tod Jesu: antijüdische Motive in den evangelischen Religionsbüchern für die Grundschule. Neukirchener Verlag, Neukirchen-Vluyn, 1981, ISBN 3-7887-0658-9.
Einzelbelege
- Matthias Blum: Gottesmord. In: Wolfgang Benz (Hrsg.): Handbuch des Antisemitismus Band 3: Begriffe, Theorien, Ideologien. De Gruyter, Berlin 2010, ISBN 3-11-023379-7, S. 113 f.
- Stefan Rohrbacher, Michael Schmidt: Judenbilder. Reinbek 1991, S. 8.
- Hans-Ulrich Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte Band 4: 1914–1949: Vom Beginn des Ersten Weltkriegs bis zur Gründung der beiden deutschen Staaten. Beck, München 2008, ISBN 3-406-32264-6, S. 817
- Manfred Gailus, Armin Nolzen: Zerstrittene „Volksgemeinschaft“: Glaube, Konfession und Religion im Nationalsozialismus. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2011, ISBN 3-525-30029-8, S. 288; Fritz May: Israel zwischen Blut und Tränen: der Leidensweg des jüdischen Volkes. Schulte + Gerth, 1987, ISBN 3-87739-081-1, S. 134; Leonore Siegele-Wenschkewitz: Mitverantwortung und Schuld der Christen am Holocaust. In: Evangelische Theologie 42/1982, S. 171–190.
- Gerd Theißen, Annette Merz: Der Historische Jesus. 4. Auflage, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2011, S. 387–410.
- Bertold Klappert: Der Verlust und die Wiedergewinnung der israelistischen Kontur der Leidensgeschichte Jesu (das Kreuz, das Leiden, das Passahmahl, der Prozeß Jesu). In: Hans Hermann Henrix, Martin Stöhr (Hrsg.): Exodus und Kreuz im ökumenischen Dialog zwischen Juden und Christen. Einhard, Aachen 1978, S. 115–143.
- Marlis Gielen: Die Passionserzählung in den vier Evangelien: Literarische Gestaltung – theologische Schwerpunkte. Kohlhammer, Stuttgart 2008, ISBN 3-17-020434-3, S. 161
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- Friedrich Gleiss: Von der Gottesmordlüge zum Völkermord, von der Feindschaft zur Versöhnung: kirchlicher Antijudaismus durch zwei Jahrtausende und seine Überwindung, illustriert mit Bildern aus der christlichen Ikonographie. Geiger, 1995, ISBN 3-89570-060-6, S. 16.
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- Julius H. Schoeps (Hrsg.): Neues Lexikon des Judentums. (1992) Bertelsmann, Gütersloh 2000, ISBN 3-577-10604-2, S. 168 (Artikel Christusmord-Vorwurf)
- Jörg Ulrich: Euseb von Caesarea und die Juden. De Gruyter, Berlin 1998, ISBN 3-11-016233-4, S. 135ff.
- Jules Isaac: Genesis des Antisemitismus, Wien 1969, S. 122; Wolfgang Bunte: Juden und Judentum in der mittelniederländischen Literatur (1100–1600). Peter Lang, Frankfurt am Main 1989, ISBN 3-631-40823-4, S. 209.
- Stefan Rohrbacher, Michael Schmidt: Judenbilder, Reinbek 1991, S. 223.
- Christina von Braun, Ludger Heid, Wolfgang Gerlach (Hrsg.): Der ewige Judenhass: Christlicher Antijudaismus, Deutschnationale Judenfeindlichkeit, Rassistischer Antisemitismus. Philo, Hamburg 2000, ISBN 3-8257-0149-2, S. 25.
- Alex Bein: Die Judenfrage. Biografie eines Weltproblems, Band I, Stuttgart 1980, S. 55.
- Stefan Rohrbacher, Michael Schmidt: Judenbilder. Reinbek 1991, S. 223.
- Gerhard Schweizer: Ungläubig sind immer die anderen: Weltreligionen zwischen Toleranz und Fanatismus. 2. Auflage, Klett-Cotta, Stuttgart 2001, ISBN 3-608-94223-8, S. 134.
- Walther Zimmerli: Die Schuld am Kreuz. In: Walther Zimmerli: Israel und die Christen., Neukirchener Verlag, Neukirchen-Vluyn 1964, ISBN 3-7887-0631-7, S. 19 f.
- Kurt Schubert: Christentum und Judentum im Wandel der Zeiten. Böhlau, Wien 2003, ISBN 3-205-77084-6, S. 87
- Stefan Rohrbacher, Michael Schmidt: Judenbilder. Reinbek 1991, S. 300–304.
- Ellen Martin: Die deutschen Schriften des Johannes Pfefferkorn. Kümmerle, 1994, ISBN 3-87452-849-9, S. 303.
- Wolfgang Benz (Hrsg.): Handbuch des Antisemitismus Band 2: Personen. De Gruyter, Berlin 2009, ISBN 3-598-44159-2, S. 683
- Michael Marissen: Lutheranism, Anti-Judaism, and Bach’s St. John Passion: With an Annotated Literal Translation of the Libretto, Oxford University Press, 1998, ISBN 0-19-511471-X, S. 26
- Heiko Oberman: Die Juden in Luthers Sicht. In: Heinz Kremers, Leonore Siegele-Wenschkewitz, Bertold Klappert (Hrsg.): Die Juden und Martin Luther, Martin Luther und die Juden: Geschichte, Wirkungsgeschichte, Herausforderung. 2. Auflage, Neuenkirchener Verlag, Neuenkirchen-Vluyn 1987, ISBN 3-7887-0751-8, S. 136–162, Zitat S. 161.
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