Vertrag über die Energiecharta
Der Energiecharta-Vertrag (englisch Energy Charter Treaty, ECT) ist ein internationaler Vertrag, der nach dem Ende des Kalten Kriegs ursprünglich die Integration der Energiesektoren der Nachfolgestaaten der Sowjetunion und Osteuropas in die europäischen und globalen Märkte zur Aufgabe hatte.
Die zu Grunde liegende Energiecharta wurde am 17. Dezember 1991 in Den Haag unterzeichnet. Dabei handelte es sich um eine politische Erklärung der Prinzipien der internationalen Energiebeziehungen, darunter Handel, Transit und Investitionen. Die Absicht, einen rechtsverbindlichen Vertrag zu verhandeln, wurde darin ebenfalls zum Ausdruck gebracht.
Der rechtsverbindliche Vertrag selbst wurde im Dezember 1994 in Lissabon unterzeichnet, gemeinsam mit einem Protokoll zur Energieeffizienz und zu verwandten Umweltaspekten (PEEREA). Der Vertrag und das Protokoll traten im April 1998 in Kraft.
Die Klage des Energiekonzerns Vattenfall gegen die Bundesrepublik Deutschland wegen des Atomausstiegs 2011 berief sich auf den Energiecharta-Vertrag.[1]
Der EuGH (Europäischer Gerichtshof) erklärte am 2. September 2021 die Energiecharta für unwirksam. Damit entzieht er vielen der 55 ECT-Verfahren, die anhängig sind, die Grundlage.[2][3]
Inhalt
Der Vertrag deckt vier Hauptbereiche ab:
- den Schutz von Auslandsinvestitionen, nach dem Prinzip der Anwendung nationaler Behandlung oder der Meistbegünstigung (je nachdem, welches vorteilhafter ist), und den Schutz gegen die wichtigsten nicht-kommerziellen Risiken;
- nicht diskriminierende Bedingungen für den Handel mit Energiematerialien, -produkten und energiebezogener Ausrüstung auf der Grundlage von Regeln der Welthandelsorganisation (WTO) sowie von Regelungen zur Gewährleistung von verlässlichem grenzüberschreitenden Energietransit durch Pipelines, Netze und andere Arten des Transports; der Vertrag sieht jedoch keinen Zwang der Vertragsparteien vor, Dritten Zugang zur Infrastruktur zu gewähren;
- die Lösung von Streitfällen zwischen Teilnehmerstaaten und, im Fall von Investitionen, zwischen den Investoren und den Gastländern (Investor-state dispute settlement);
- die Förderung der Energieeffizienz sowie Ansätze zur Minimierung der Umweltauswirkungen von Energieproduktion und -verbrauch.
Während die Energiecharta auf der Idee aufbaut, dass internationale Investitions- und Technologietransfers im Energiesektor gegenseitigen Nutzen bringen, bleibt die nationale Souveränität über die Energieressourcen ein Kernprinzip des Vertrags (Art. 18 ECT). Jedes Mitgliedsland kann frei entscheiden, wann und wie seine nationalen Energieressourcen entwickelt werden sollen und in welchem Maß sein Energiesektor offen für ausländische Investoren sein soll.
Ein Ziel des Vertrags ist die Förderung der Transparenz und Effizienz von Energiemärkten, doch bleibt es Sache der Regierungen, die Struktur des nationalen Energiesektors festzulegen. Es gibt keine Verpflichtung zur Privatisierung von Energieunternehmen im Staatsbesitz oder zur Zerschlagung vertikal integrierter Energieunternehmen.
Im Dezember 2007 bekräftigte die Energiechartakonferenz ihre Unterstützung für einen Abschluss der Verhandlungen und die Beschließung des Transitprotokolls zum Energiechartavertrag, um die bestehenden Regelungen des Vertrags zu erweitern. Die Arbeitsgruppe Handel und Transit der Energiecharta wurde beauftragt, 2008 zu den multilateralen Konsultationen zum Entwurf des Transitprotokolls zurückzukehren.
Mitgliedschaft
Der Energiechartavertrag und das Protokoll zur Energieeffizienz und Verwandten Umweltaspekten wurden im Dezember 1994 unterzeichnet und traten im April 1998 in Kraft. Derzeit haben 51 Länder, die Europäische Gemeinschaft und EURATOM den Vertrag unterzeichnet oder sind ihm beigetreten. Damit liegt die Gesamtzahl seiner Mitglieder nunmehr bei 53.
Alle Mitglieder haben den Vertrag ratifiziert, mit Ausnahme Australiens, Belarus’, Islands, Norwegens und Russlands. Belarus und Russland haben erklärt, die Regelungen des Vertrags bis zur Ratifizierung provisorisch anzuwenden, soweit er im Einklang mit ihren nationalen Verfassungen, Gesetzen und Verordnungen steht.
Russland hat die Ratifizierung des ECT von Verhandlungen eines Transitprotokolls abhängig gemacht. Dieses Protokoll würde die Regelungen des ECT im Bereich Energietransit verstärken, um so einige spezifische operative Risiken zu mindern, die den Energietransit noch immer beeinträchtigen. Verhandlungen über den Text eines Transitprotokolls begannen Anfang 2000, und ein Kompromissvorschlag, der die andauernde Diskussion zwischen der Europäischen Union und Russlands widerspiegelte, wurde der Energiechartakonferenz (dem leitenden und beschlussfassenden Organ der Organisation) am 10. Dezember 2003 vorgelegt.
Eine einvernehmliche Entscheidung konnte jedoch auf der Grundlage des Kompromissvorschlags nicht erzielt werden. Ein erschwerender Faktor war dabei, dass Energiefragen, einschließlich Transit, auch Gegenstand bilateraler Verhandlungen zwischen der Europäischen Union und Russland im Kontext des Beitrittsprozesses Russlands zur WTO waren. Die Verhandlungen zum Transitprotokoll wurden vorübergehend ausgesetzt. Die Suspendierung wurde 2004 aufgehoben, nachdem Russland und die EU sich auf die Bedingungen des russischen WTO-Beitritts geeinigt hatten. Weitere bilaterale Verhandlungen zwischen der EU und Russland fanden seit Herbst 2004 statt.
Im Dezember 2006 deutete Russland an, dass eine Ratifizierung des ECT angesichts seiner Regelungen zum Zugang Dritter zu Pipelines unwahrscheinlich sei. Mitglieder des auswärtigen Ausschusses des Europäischen Parlaments forderten Anfang September 2007, die EU solle die Mitgliedschaft Russlands in der WTO nur unterstützen, wenn Russland am ECT festhalte.
Italien erklärte im Frühjahr 2015, als Mitglied auszuscheiden, offiziell um die jährlichen Mitgliedschaftsgebühren in Höhe von 370.000 Euro einzusparen.[4] Die Kündigung wird nach einem Jahr wirksam, allerdings können Investoren noch bis 2036 die Verletzung ihrer Rechte durch Italien vor Schiedsgerichten geltend machen, wenn ihre Investition vor Wirksamwerden der Kündigung getätigt wurde.[4]
Energiechartakonferenz
Die Energiechartakonferenz ist das leitende und beschlussfassende Organ der Organisation. Der Vorsitzende der Energiechartakonferenz ist Selim Kuneralp, Türkei, und die stellvertretenden Vorsitzenden Anatolij Janowskij, Russische Föderation, und Odd Sverre Haraldsen, Norwegen. Die Energiechartakonferenz hat die folgenden untergeordneten Organe:
- Ad-hoc-Strategiegruppe,
- Investitionsgruppe,
- Handel- und Transitgruppe,
- Arbeitsgruppe Energieeffizienz und verwandte Umweltaspekte,
- Haushaltskomitee,
- Rechtsberatendes Komitee.
Zusätzlich bringt die Runde mit der Industrie als beratendes Gremium die Sichtweisen der Privatindustrie auf Fragen der Investitionen in den Energiesektor, grenzüberschreitenden Handel und Energieeffizienz in die Konferenz und ihre Gruppen ein.
Die Rechtsberatende Task Force wurde durch das Sekretariat der Energiecharta 2001 eingerichtet um die Ausarbeitung von Modellverträgen für grenzüberschreitende Öl- und Gaspipelines zu unterstützen.
Sekretariat
Die Energiechartakonferenz wird durch ein Sekretariat mit Sitz in Brüssel unterstützt. Die Aufgaben des Sekretariats sind:
- Überwachung der Implementierung des ECT und des PEEREA
- Organisation und Unterstützung der Sitzungen der Konferenz und ihrer untergeordneten Gremien
- Analysetätigkeit und Beratung für die Konferenz und ihrer untergeordneten Gremien
- Vertretung der Konferenz in den Beziehungen mit Nicht-Mitgliedsstaaten, Organisationen und Institutionen
- Unterstützung von Verhandlungen zu neuen Instrumenten im Auftrag der Konferenz.
Seit dem 1. Januar 2012 ist Urban Rusnák Generalsekretär. Wladimir Rachmanin wurde im Juli 2008 stellvertretender Generalsekretär. Alle Mitglieder sind in der Energiechartakonferenz (dem leitenden und beschlussfassenden Organ der Organisation) und den untergeordneten Gremien vertreten. Die Konferenz tritt regelmäßig zusammen, um über Angelegenheiten zu diskutieren, die einen Einfluss auf die Zusammenarbeit der Vertragsmitglieder im Energiebereich haben, und um die Implementierung des ECT und des PEEREA zu überprüfen und um neue Instrumente und gemeinsame Aktivitäten im Rahmen der Energiecharta zu erwägen.
Mitglieder der Energiechartakonferenz
Anmerkung: * - bezeichnet Staaten in denen die Ratifizierung des Energiechartavertrags noch aussteht
Beobachter
Zwanzig Staaten und zehn internationale Organisationen haben Beobachterstatus in der Energiecharta. Beobachter sind berechtigt, an allen Sitzungen der Charta und den Debatten auf Arbeitsebene teilzunehmen und haben Zugriff auf alle einschlägigen Dokumente, Berichte und Analysen. Dies soll den jeweiligen Ländern die Möglichkeit geben, sich mit der Charta und ihrer Funktionen vertraut zu machen, um ggf. später dem ECT beizutreten.
Staaten
Anmerkung: ** - bezeichnet Beobachterstaaten, die die Energiecharta von 1991 unterzeichnet haben
Internationale Organisationen
Investitionsschiedsverfahren
Unter dem Vertrag über die Energiecharta wurden und werden eine Reihe von Investitionsschiedsverfahren geführt. So klagte der Energiekonzern Vattenfall gegen die Bundesrepublik Deutschland im April 2009 wegen der Umweltauflagen des Kohlekraftwerks Moorburg[6] und wegen des Atomausstiegs. Spanien und die Tschechische Republik werden wegen der Rücknahme von Förderprogrammen für erneuerbare Energien im Rahmen der sogenannten "Solar Claims" in Anspruch genommen. Auch der bisher höchste Schiedsspruch in der Geschichte im Nachgang der Zerschlagung des Ölkonzerns Yukos erging unter dem Energiechartavertrag (siehe Yukos-Schiedsverfahren). Wie 2021 bekannt wurde verklagt RWE die Niederlande auf Basis der Charta für den Beschluss "bis 2030 aus der Stromerzeugung aus Kohle auszusteigen".[7]
Ein von Julia Steinberger und Yamina Saheb (Autoren des Sechsten Sachstandsbericht des IPCC)[8] initiierter offener Brief, fordert den Austritt aus dem Vertrag über die Energiecharta, da Investitionsschiedsverfahren die Umsetzung des Übereinkommens von Paris und den European Green Deal behindern.[9] Der Brief wurde unter anderem unterzeichnet von: Sandrine Dixson-Declève, Connie Hedegaard, James K. Galbraith, Helga Kromp-Kolb, Rachel Kyte, Thomas Piketty, Olivier de Schutter (UN-Sonderberichterstatter zu extremer Armut) und Jean-Pascal van Ypersele.[10] Der offene Brief führt deutschsprachige,[11][12][13] wie internationale Kritik[14] fort.
Siehe auch
Weblinks
Einzelnachweise
- fr.de 23. März 2013: 15 Juristen gegen die Demokratie
- FAZ.net: Luxemburg kippt die Energiecharta
- siehe auch Rekordbetrieb vor Schiedsgericht
- Italy withdraws from Energy Charter Treaty, Globalarbitrationnews.com, 6. Mai 2015.
- Italy - Energy Charter. Abgerufen am 19. Dezember 2020.
- Nathalie Bernasconi: Background paper on Vattenfall v. Germany arbitration. (PDF, 555 kB) International Institute for Sustainable Development (IISD), Juli 2009, abgerufen am 5. Mai 2016 (englisch).
- Neue Konzernklage gegen die Energiewende – RWE verklagt Niederlande wegen Kohleausstieg. Attac, 4. Februar 2020, abgerufen am 7. Februar 2021 (deutsch).
- Why do we need your support ? EndFossilProtection.org, abgerufen am 12. Dezember 2020 (englisch).
- End Fossil Protection. EndFossilProtection.org, abgerufen am 12. Dezember 2020 (englisch).
- Von Kromp-Kolb bis Piketty: Wissenschaftler*innen fordern Ausstieg aus Energiecharta-Vertrag. Attac Österreich, 9. Dezember 2020, abgerufen am 12. Dezember 2020 (deutsch).
- ECT-Vertrag: Geheim-Prozesse gegen den Klimaschutz. ZDF, 8. September 2020, abgerufen am 12. Dezember 2020.
- David Böcking: Coronakrise: Konzerne könnten die Bundesrepublik wegen Shutdown verklagen. Der Spiegel, 1. Juni 2020, abgerufen am 12. Dezember 2020.
- Jakob Pallinger: Handelsexpertin: "Schiedsgerichte schaffen Paralleljustiz für Reiche". Der Standard, 15. Oktober 2020, abgerufen am 12. Dezember 2020 (österreichisches Deutsch).
- How some international treaties threaten the environment. In: The Economist. 5. Oktober 2020, ISSN 0013-0613 (economist.com [abgerufen am 12. Dezember 2020]).