Akute lymphatische Leukämie
Die akute lymphatische Leukämie (syn. akute lymphoblastische Leukämie, kurz ALL) ist eine akute Leukämie, die von bösartig entarteten Vorläuferzellen der Lymphozyten ausgeht. Dabei kommt es zu einer in der Regel rasch fortschreitenden Knochenmarkinsuffizienz (Verminderung der Knochenmarkfunktion), d. h. einer schwächer werdenden gesunden Blutbildung mit Mangel an Erythrozyten (roten Blutzellen) und Thrombozyten (Blutplättchen). Damit einher geht eine zunehmende allgemeine Schwäche und Blutungsneigung. Die Zahl der Leukozyten (weißen Blutzellen) im Blut kann initial erhöht, normal oder sogar reduziert sein. Aufgrund des relativen Mangels an gesunden funktionsfähigen Leukozyten liegt auch ein Immundefekt mit oft schwer und u. U. lebensbedrohlich verlaufenden Infektionen vor. Die Behandlung erfolgt mittels Chemotherapie und z. T. auch Strahlentherapie. Führte die ALL noch vor 30–40 Jahren bei der ganz überwiegenden Zahl der Patienten innerhalb von wenigen Wochen zum Tode, so ist sie heute bei über 50 % der Erwachsenen und bei ca. 80 % aller Kinder mit intensiver Chemotherapie heilbar. Die individuellen Heilungsaussichten hängen stark vom Vorliegen bestimmter Risikofaktoren ab.
Klassifikation nach ICD-10 | |
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C91.0 | Akute lymphoblastische Leukämie ICD-O 9835/3 (B-Linie) ICD-O 9837/3 (T-Linie) |
ICD-10 online (WHO-Version 2019) |
Häufigkeit
Die ALL ist eine seltene Erkrankung mit einer Inzidenz von etwa 1,5 Neuerkrankungen/100.000 im Jahr bezogen auf alle Altersgruppen. Es besteht ein Übergewicht von männlichen Erkrankten (1,4 zu 1). Für Deutschland schätzt man etwa 500 Neuerkrankungen bei Erwachsenen und ca. 500 Neuerkrankungen bei Kindern pro Jahr. Genaue Zahlen existieren für Erwachsene wegen des Fehlens eines zentralen Krebsregisters nicht, die Zahlen für Kinder unter 15 Jahren beruhen auf den Daten des Deutschen Kinderkrebsregisters, in dem schätzungsweise 90 % aller Fälle erfasst sind.[2] In der Schweiz und in Österreich werden jeweils etwa 40–50 Neuerkrankungen bei Erwachsenen und Kindern pro Jahr angenommen.[3] Für die Vereinigten Staaten werden die Neuerkrankungen im Jahr 2007 auf ungefähr 5200 Fälle geschätzt.[1] Das lebenslange Risiko (lifetime risk), an akuter lymphatischer Leukämie zu erkranken, liegt damit bei ungefähr 1 zu 838, d. h. etwa eine Person unter 838 wird im Laufe ihres Lebens an ALL erkranken. Die Verteilung über die Altersgruppen zeigt einen Gipfel im Kindesalter (6,5/100.000 bei Kindern unter 4 Jahren) und einen zweiten, geringeren im höheren Alter (1,5/100.000 bei über 80-Jährigen). Bei Erwachsenen macht die ALL weniger als 15 % aller akuten Leukämien aus (d. h. mehr als 85 % aller Erkrankung sind akute myeloische Leukämien). Bei Kindern ist dies umgekehrt. Die ALL ist die häufigste maligne Erkrankung im Kindesalter.
Ursachen und Entstehung
Ursache der Erkrankung sind genetische Veränderungen in einer lymphatischen Zelle, die zur malignen (bösartigen) Transformation dieser Zelle führen. Diese genetischen Veränderungen sind (von seltenen Spezialfällen abgesehen) im Laufe des Lebens erworben und weder vererbt noch vererbbar, da die Keimbahnzellen (Eizellen, Spermien) nicht betroffen sind. Die genaue Kausalkette, die zum Auftreten der Erkrankung führt, ist bisher nicht bekannt. Es gibt Risikofaktoren für das Entstehen von Leukämien (ionisierende Strahlung, chemische Mutagene etc.), aber bei den allermeisten Patienten kann man trotz sorgfältiger Suche keine spezifische Ursache finden. Auch gibt es bisher keinen Beweis für eine mögliche infektiöse Ursache, z. B. durch Viren. Die einzige Ausnahme bildet die adulte T-Zell-Leukämie in Japan, die durch das Retrovirus HTLV-1 verursacht wird, das aber in Europa so gut wie gar nicht vorkommt. Die maligne transformierte Zelle und ihre durch Zellteilung entstandenen Tochterzellen vermehren sich unkontrolliert und ungebremst und verdrängen die normale Blutbildung (Hämatopoese) im Knochenmark. Die ALL ist also eine klonale Erkrankung, d. h. alle ALL-Zellen sind nahezu identische genetische Kopien voneinander. Die malignen Zellen sammeln sich vorwiegend in den lymphatischen Organen (v. a. Lymphknoten, Milz, Thymus), jedoch auch anderen Organen wie z. B. dem Zentralnervensystem (ZNS), an. Es kommt zu einer zunehmenden Störung der Blutbildung (Knochenmarkinsuffizienz) mit Blutarmut (Anämie) und Thrombozytopenie (Fehlen von Thrombozyten) und einer damit verbundenen Blutungsneigung sowie zu einer Immunschwäche. Unbehandelt verläuft die Erkrankung schnell tödlich.
Symptome
Die Symptome bei der ALL ähneln denen der akuten myeloischen Leukämie.
Es treten auf:
- Störungen der Blutbildung:
- Blutarmut (Anämie) mit allgemeiner Schwäche, Leistungsknick, Abgeschlagenheit
- Mangel an Thrombozyten (Blutplättchen), u. U. verbunden mit Blutungsneigung, z. B. Spontanblutungen jeder Art
- starke Abwehrschwäche durch relativen Mangel an funktionsfähigen weißen Blutzellen (Leukozyten) mit schwer verlaufenden Infektionen
- häufig Hepatosplenomegalie (Vergrößerung von Leber und Milz)
- häufig Schwellungen der Lymphknoten (allerdings nicht so ausgeprägt wie bei der chronischen lymphatischen Leukämie)
- manchmal Knochenschmerzen, die auch Erstsymptom der Erkrankung sein können (insbesondere bei Kindern)
- in ca. 10 % der Fälle Meningeosis leucaemica (Befall des Zentralnervensystems durch Leukämiezellen) u. U. mit neurologischen Ausfällen
- Thymusschwellung (sogenannter Mediastinaltumor) häufig bei der T-ALL mit u. U. oberer Einflussstauung
Zum Diagnosezeitpunkt zeigen Kinder mit einer ALL folgende relative Häufigkeiten klinischer Zeichen, Symptome und typischer Laborbefunde. Letztere spiegeln dabei das Ausmaß der Störung der Blutbildung durch die ALL wider, da die normale Blutbildung im Knochenmark durch die ALL verdrängt wird (sogenannte „Verdrängungsmyelopathie“).
Klinische Zeichen und Symptome bei Kindern mit akuter lymphatischer Leukämie[4] | ||
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Symptome | Anteil der Patienten | |
Fieber (Temperatur >38,5 °C) | 61 % | |
Blutungszeichen (z. B. Petechien oder Purpura) | 48 % | |
Knochenschmerzen | 23 % | |
Lymphknotenschwellungen (Lymphadenopathie) | 50 % | |
Alleinige Milzvergrößerung (Splenomegalie) | 63 % | |
Milz- und Lebervergrößerung (Hepatosplenomegalie) | 68 % |
Laboruntersuchungsbefunde bei Kindern mit akuter lymphatischer Leukämie[4] | ||
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Laboruntersuchungsbefunde | Wertebereich | Anteil der Patienten |
Leukozyten; WBC (white blood cells), „Leukos“ | Normal: 4.000–12.000/µL * | |
<10.000/µL | 53 % | |
10.000 bis 49.000/µL | 30 % | |
>50.000/µL | 17 % | |
Hämoglobin; HGB, Hb | Normal: 11,0–16,0 g/dL * | |
<7,0 g/dL | 43 % | |
7,0 bis 11,0 g/dL | 45 % | |
>11,0 g/dL | 12 % | |
Thrombozyten; PLT (platelets), „Thrombos“ | Normal: 150.000–450.000/µL * | |
<20.000/µL | 28 % | |
20.000 bis 99.000/µL | 47 % | |
>100.000/µL | 25 % | |
* Die Normwerte für das Kindesalter stellen einen ungefähren Wertebereich dar. Bei exakter Anwendung von Normbereichen müssen diese nach Altersstufen (Neugeborene, Säuglinge, Kleinkinder, Schulkinder, Jugendliche) differenziert werden. Dies gilt vor allem für die Konzentration des Hämoglobins und die Anzahl der Leukozyten. Zur Veranschaulichung der Zusammenhänge wird hier auf diese Differenzierung verzichtet. |
Laboruntersuchungsbefunde bei Erwachsenen mit akuter lymphatischer Leukämie[5] | ||
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Laboruntersuchungsbefunde | Wertebereich | Anteil der Patienten |
Leukozyten; WBC (white blood cells), „Leukos“ | Normal: 4.000–11.000/µL * | |
<5.000/µL | 27 % | |
5.000 bis 10.000/µL | 14 % | |
>10.000/µL | 59 % | |
Hämoglobin; HGB, Hb | Normal: 11,0–16,0 g/dL (Frauen), 13,0–18,0 (Männer) * | |
<8,0 g/dL | 28 % | |
8,0 bis 12,0 g/dL | 51 % | |
>12,0 g/dL | 21 % | |
Thrombozyten; PLT (platelets), „Thrombos“ | Normal: 150.000–450.000/µL * | |
<25.000/µL | 30 % | |
25.000 bis 150.000/µL | 55 % | |
>150.000/µL | 15 % | |
* Die Normwerte für Erwachsene variieren je nach Labor etwas. Bei Diagnosestellung hatten 92 % der Patienten Blasten im peripheren Blut. |
Diagnostik und Klassifikation
Für die Diagnosestellung ist eine Untersuchung des Knochenmarks essentiell, da es vorkommen kann, dass bei Diagnosestellung noch keine feststellbare Ausschwemmung von Leukämiezellen aus dem Knochenmark in das Blut vorliegt. Man spricht dann von einer aleukämischen Verlaufsform (vgl. die beiden Tabellen zu Laboruntersuchungsbefunden). Wenn Leukämiezellen im Blut nachweisbar sind, aber die Zahl der Leukozyten insgesamt nicht erhöht ist, spricht man von einem subleukämischen Verlauf. Wenn die Gesamtzahl der Leukozyten durch Leukämiezellen erhöht ist, nennt man dies einen leukämischen Verlauf. Eine normale oder sogar erniedrigte Leukozytenzahl im Blut schließt also eine Leukämie nicht aus, entscheidend ist die Knochenmarkdiagnostik.
Die Diagnose einer ALL kann gestellt werden durch:
- Nachweis eines Anteils lymphatischer Blasten von mindestens 20 bis 25 % im Knochenmark
- Zuordnung der Blasten zur lymphatischen Reihe durch Immunphänotypisierung (s. u.)
- Nachweis charakteristischer genetischer Veränderungen (s. u.)
Zytomorphologie
Durch mikroskopische Untersuchung des Knochenmarks oder des Blutausstrichs bei leukämischem Verlauf kann die Diagnose einer akuten Leukämie gestellt werden. Für die weitere Subklassifikation der ALL spielt die Beurteilung der Zellmorphologie im Gegensatz zur AML nur eine untergeordnete Rolle. In der sogenannten FAB-Klassifikation („French-American-British“) wird zwischen drei verschiedenen Morphologien unterschieden (L1, L2, L3). Von Bedeutung ist das nur für den seltenen L3-Subtyp, der mit der „reifzelligen B-ALL“ assoziiert ist. Die reifzellige B-ALL ist eine Sonderform der ALL und kann als die leukämische Manifestation des Burkitt-Lymphoms betrachtet werden (d. h. ein Burkitt-Lymphom mit >20 % oder >25 % Knochenmarkbefall) und wird wie dieses behandelt. Die Unterscheidung zwischen L1 und L2-Morphologie ist dagegen schwierig und selbst sehr erfahrene Hämatologen oder Hämatopathologen kommen hier zu unterschiedlichen Einschätzungen. Klinisch hat die Unterscheidung von L1 und L2 keine Bedeutung.
Häufigkeit der zytomorphologischen Befunde nach FAB-Klassifikation bei Kindern mit ALL[4] | ||
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Zytomorphologische FAB-Klasse | Charakteristika | Anteil der Patienten |
FAB L1 | Kleine Zellen vorwiegend mit einheitlicher Größe, gleichförmiges Chromatin, Zellkern nicht sichtbar oder klein, regelmäßig vorfindbare Nucleoli, sehr wenig Zytoplasma, leichte bis mäßige Basophilie, unterschiedliches Ausmaß von Vakuolen im Zytoplasma | 84 % |
FAB L2 | Große Zellen mit unterschiedlicher Größe, ungleichförmiges Chromatin, Zellkern mit unregelmäßigen Spalten und Kerben, einer oder mehrere oftmals große Nucleoli, variable Größe des Zytoplasmas, mäßige bis oft starke Basophilie, unterschiedliches Maß an Vakuolen im Zytoplasma | 15 % |
FAB L3 | Große Zellen mit einheitlicher Größe, gleichförmig fein gesprenkeltes Chromatin, ovaler bis runder Zellkern, hervorstechende Nucleoli (auch mehrere), viel Zytoplasma, sehr starke Basophilie, oft hervorstechende Vakuolen im Zytoplasma | 1 % |
Immunphänotypisierung
Entscheidend ist die Immunphänotypisierung der aus dem Blut oder mittels Knochenmarkpunktion gewonnenen Leukämiezellen, die heute meist mit mittels Durchflusszytometrie (FACS = Fluorescence activated cell sorting) erfolgt. Damit wird untersucht, ob und in welchem Ausmaß sich bestimmte Proteine an der Oberfläche oder im Zytoplasma der Zellen befinden. Das Expressionsmuster verschiedener lymphatischer, myeloischer und Vorläuferzell-Antigene ermöglicht die Zuordnung zu B- oder T-Zellreihe und die Festlegung des Differenzierungsstadiums. Man kann die ALL dementsprechend als B-Linien-ALL (mit B-lymphozytärer Differenzierung, weiter unterteilbar in „B-Vorläufer-ALL“ und „reif(zellig)e B-ALL“) oder T-Linien-ALL (mit T-lymphozytärer Differenzierung, weiter unterteilbar in „T-Vorläufer-ALL“ und „reife T-ALL“) einordnen. Die Tabelle unten zeigt die Einteilung der akuten lymphatischen Leukämie aufgrund des Oberflächen-Antigenmusters nach der sogenannten EGIL-Klassifikation (EGIL = European Group for the Immunological Characterization of Leukemias).[6] Die ALL-Zellen werden dabei nach ihrem „Reifungsgrad“ eingeteilt, d. h. eine pro-B-ALL ist eine ganz unreife Form, dann kommt die common ALL, gefolgt von der prä-B-ALL. Die reife B-ALL zeigt in ihrem Antigenmuster schon viele Merkmale reifer B-Lymphozyten. Analog ist es bei der T-Reihe: pro-T → prä-T → thymische (corticale) T → reife T. Etwa 75 % der ALLs im Erwachsenenalter lassen sich der B-lymphozytären Reihe zuordnen und etwa 25 % der T-lymphozytären Reihe. Bei ALL im Kindes- und Jugendalter beträgt das Verhältnis etwa 85 % : 15 %.
Immunologische Klassifikation akuter lymphatischer Leukämien[6] | ||||||||
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B-Linien-ALL | T-Linien-ALL | |||||||
pro-B | common | prä-B | reife | pro-T | prä-T | kortikale (thymische) | reife | |
B-Zell-Antigene | ||||||||
CD19 | + | + | + | + | − | − | − | − |
cyCD22 | + | + | + | + | − | − | − | − |
CD79alpha | + | + | + | + | − | − | − | − |
cyIgM | − | − | + | − | − | − | − | − |
mIg | − | − | − | + | − | − | − | − |
T-Zell-Antigene | ||||||||
cyCD3 | − | − | − | − | + | + | +/− | − |
CD7 | − | − | − | − | + | + | + | + |
CD2 | − | − | − | − | − | + | + | + |
CD1a | − | − | − | − | − | − | + | − |
mCD3 | − | − | − | − | − | − | +/− | + |
Vorläuferzell-Antigene | ||||||||
TdT | + | + | + | − | + | + | + | +/− |
HLA-DR | + | + | + | + | +/− | − | − | − |
CD10 | − | + | +/− | +/− | +/− | +/− | +/− | − |
Zytogenetik und Molekulargenetik
Die Zytogenetik und Molekulargenetik der akuten Leukämien ist Gegenstand intensiver Forschungen. In den letzten zwei Jahrzehnten sind sehr viele Arbeiten erschienen, die sich mit verschiedenen Aspekten der Genetik dieser Erkrankungen beschäftigen. Die Genetik bildet gewissermaßen die Grundlage für das vertiefte Verständnis der Erkrankung.
Grundsätzlich ist zu sagen, dass sich die ALL des Kindes- oder Säuglingsalters, was die genetischen Grundlagen angeht, zum Teil erheblich von der ALL des Erwachsenenalters unterscheidet. Deswegen sollen die drei Altersklassen hier getrennt betrachtet werden:
ALL im Säuglingsalter (unter einem Jahr)
Kennzeichnend für die ALL des Säuglings (englisch infant leukemia) sind Veränderungen des MLL-Gens auf dem langen Arm von Chromosom 11, Bande 23 („11q23-Aberrationen“).[7] Diese Veränderungen sind mit einer ungünstigen Prognose assoziiert. Das MLL-Gen ist dabei in der Regel durch Chromosomentranslokationen mit anderen Genen fusioniert. Bis heute sind über 50 Fusionspartner bekannt. Die bei weitem häufigste Aberration ist die Fusion mit dem AF4-Gen auf Chromosom 4 (seltener auch ENL-Gen auf Chromosom 19, AF9-Gen auf Chromosom 9). Dabei entsteht ein sogenanntes Fusionsprotein („chimäres“ Protein), so dass die eigentlichen Funktionen der beteiligten Gene entweder verloren gehen oder so stark verändert werden, dass sie krankheitsauslösend oder -fördernd wirken.
ALL im Kindesalter (1 bis 15 Jahre)
Bei der ALL des Kindesalters sind eine Vielzahl von genetischen Veränderungen gefunden worden.[8] Vereinfacht unterscheidet man genetisch zurzeit die folgenden Gruppen:
- Patienten mit hyperdiploidem Chromosomensatz (d. h. Vermehrung von Chromosomen) – prognostisch günstig
- Patienten mit hypodiploidem Chromosomensatz (d. h. Verminderung von Chromosomen) – prognostisch ungünstig
- Patienten mit der Chromosomentranslokation t(12;21), die zu dem Fusionsgen TEL-AML1 führt – prognostisch günstig[9]
- Patienten mit der Chromosomentranslokation t(9;22), die zu dem Fusionsgen BCR-ABL führt – prognostisch bisher ungünstig, wobei sich durch die zusätzliche Gabe von Imatinib (Glivec) ein neuer Behandlungsansatz eröffnet hat, der die Prognose gemäß ersten Studienergebnissen erheblich verbessert[10]
- Patienten mit der Chromosomentranslokation t(1;19), die zu dem Fusionsgen E2A-PBX1 führt – prognostisch günstig
- Patienten mit MLL-Aberrationen (s. o.) – prognostisch ungünstig
- Patienten mit T-Linien-ALL – prognostisch ungünstig
Die häufigste Veränderung ist dabei die t(12;21), die in etwa 15–20 % der Fälle zu finden ist.
ALL im Erwachsenenalter (ab 16 Jahre)
Bei Erwachsenen findet man im Prinzip dieselben genetischen Veränderungen wie bei Kindern, nur mit zum Teil erheblich unterschiedlicher Häufigkeit. Die häufigste Veränderung ist dabei die t(9;22), die in ca. 25 % der Fälle zu finden ist. Die t(12;21) ist dagegen selten (ca. 1 %). Die prognostische Wertigkeit der o. g. Veränderungen ist bei Erwachsenen z. T. noch nicht eindeutig geklärt (t(12;21), t(1;19)). Die T-ALL gilt im Gegensatz zur Situation bei Kindern nicht generell als prognostisch ungünstig.
Behandlung
Prognostische Faktoren
Die ALL ist kein einheitliches Krankheitsbild, sondern kann bei verschiedenen Patienten einen sehr unterschiedlichen Verlauf nehmen. Manche Patienten zeigen z. B. ein gutes Therapieansprechen, während andere nur verzögert auf die Therapie ansprechen oder schnell rezidivieren. In den letzten Jahrzehnten konnten verschiedene Risikofaktoren identifiziert werden. Als Risikofaktoren bezeichnet man in diesem Kontext Faktoren, die dazu führen, dass der betroffene Patient ein erhöhtes Risiko aufweist, schlecht auf die Behandlung anzusprechen oder ein Rezidiv zu erleiden.
Die ALL wird weltweit nicht einheitlich behandelt. Es gibt in verschiedenen Ländern verschiedene große sogenannte Studiengruppen, die ihre Patienten nach bestimmten Therapieschemata behandeln. Mittlerweile gibt es aber Bestrebungen, die Therapien aneinander anzugleichen oder länderübergreifende Therapiestudien auf den Weg zu bringen (z. B. im Rahmen des European LeukemiaNet).
Beispiele für solche Studiengruppen sind:
Studiengruppen für erwachsene Patienten
- GMALL (German Multicenter ALL Study Group) – in Deutschland und einigen weiteren Ländern
- GIMEMA (Gruppo Italiano Malattie Ematologiche dell’ Adulto) – in Italien
- MRC (Medical Research Counsil) – im Vereinigten Königreich
- PETHEMA (Programa para el Estudio de la Terapéutica en Hemopatía Maligna) – in Spanien
- GRAALL (Group for Research on Adult Acute Lymphoblastic Leukemia) – in Frankreich, Belgien und der Schweiz
- NILG (Northern Italy Leukaemia Group) – in Norditalien
- PALG (Polish Adult Leukaemia Group) – in Polen
- SWOG (Southwest Oncology Group) – in den USA
Studiengruppen für Kinder und Jugendliche
- AIEOP-BFM-ALL, Nachfolger von ALL-BFM, Berlin-Frankfurt-Münster kooperative multizentrische ALL Studie – für primäre Erkrankung – Deutschland, Österreich, Schweiz, z. T. auch andere europäische Länder
- COALL Cooperative ALL-Studie – für primäre Erkrankung – Deutschland
- ALL-REZ BFM Berlin-Frankfurt-Münster kooperative multizentrische Studie ALL-Rezidiv – für Rückfall – Deutschland, Österreich, Schweiz
- ALL-SZT BFM Berlin-Frankfurt-Münster kooperative multizentrische Studie ALL-Stammzelltransplantation – Deutschland, Österreich, Schweiz
- I-BFM (International BFM-Group) – Behandlungsprotokoll nach Grundlage von ALL-BFM – Europa
- COG (Children’s Oncology Group) – diverse Protokolle – USA
- UKALL (United Kingdom ALL Study Group) – Behandlungsprotokoll der UK Children’s Cancer Study Group – Großbritannien
- SFOP (Societé française d’oncologie pédiatrique) – Frankreich
- NOPHO (Nordic Society of Paediatric Haematology and Oncology) – Skandinavien
Etablierte Risikofaktoren
Fast alle Studiengruppen haben die folgenden Risikofaktoren herausarbeiten können – obwohl die jeweilige Therapie unterschiedlich ist:
- 1. genetisch Nachweis des BCR-ABL-Fusionsgens,[11] oft (aber nicht immer) zytogenetisch sichtbar als „Philadelphia-Chromosom“
- 2. hohe periphere Leukozytenzahl bei Diagnosestellung als Ausdruck einer hohen Tumorlast (tumor burden)
- 3. verzögertes Ansprechen auf die Therapie (insbesondere nach der Induktionsphase der Therapie)
- 4. genetisch Nachweis eines MLL-Fusionsgens
- 5. das Patientenalter: junge Patienten haben in der Regel deutlich bessere Heilungschancen als ältere (Ausnahme: Kleinkinder unter 1 Jahr)[12]
- 6. Befall des Zentralnervensystems (Gehirn und Rückenmark) durch die ALL[13][14]
- 7. bestimmte Immunphänotypen (z. B. T-Linien ALL im Kindes- und Jugendalter (1–18 Jahre))[15]
Andere Risikofaktoren sind umstritten und nicht allgemein akzeptiert. Es muss auch betont werden, dass die oben genannten Faktoren statistische Risikofaktoren sind, d. h. im Einzelfall kann der klinische Verlauf auch anders aussehen als erwartet. Die Identifizierung von Risikofaktoren ist deswegen bedeutsam, weil es sich bei den betroffenen Patienten um Hochrisiko-Patienten handelt, die sehr gefährdet sind, ein Rezidiv zu erleiden. Deswegen sehen die bisherigen Therapiekonzepte für diese Patienten primär eine intensivere Behandlung vor. In der Regel wird bei Erwachsenen in erster Remission die allogene Knochenmark- oder Stammzelltransplantation angestrebt. Bei Kindern mit ALL erfolgt eine Stammzelltransplantation hingegen nur dann, wenn besondere und seltene Risikofaktoren eine solche anzeigen, oder nach einer Remission die ALL erneut auftritt (rezidiviert).
Graft-versus-Host Reaktionen
In den Fällen, in denen eine Stammzelltransplantation erforderlich ist, kann es zu einer Graft-versus-Host Reaktion kommen. Um diese zu therapieren oder zu vermeiden, können mesenchymale Stromazellen sinnvoll sein. Im Jahr 2019 haben Fisher et al. eine Cochrane-Übersichtsarbeit mit randomisierten kontrollierten Studien erstellt, um die Sicherheit und Wirksamkeit von mesenchymalen Stromazellen (MSC) bei Patienten mit einer Graft-versus-Host-Reaktion (GvHD) zu messen. Die Patienten litten unter dieser Erkrankung, da sie eine Blutstammzelltransplantation als Behandlung einer hämatologischen Erkrankung bekommen haben. Fisher et al. haben Studien eingeschlossen, die MSCs entweder zu therapeutischen oder prophylaktischen Zwecken genutzt haben. Die exakten Ein- und Ausschlusskriterien und Informationen bezüglich der Dosis können in der originalen Cochrane-Übersichtsarbeit eingesehen werden. In den therapeutischen Studien mussten die Patienten bereits unter einer GvHD leiden. Fisher et al. haben eine Analyse durchgeführt: MSCs im Vergleich mit einer Kontrollbehandlung (z. B. Placebo) für immunvermittelte Entzündungen nach Transplantation und bei Autoimmunität: Die Evidenz ist sehr ungewiss bezüglich der Wirkung von MSCs auf die Vollremission von akuten und chronischen GvHD und die Gesamtmortalität, wenn sie aus therapeutischen Gründen verwendet werden. MSCs erzielen nur eine geringe oder keine Veränderung bezüglich der Gesamtmortalität, eines Rezidivs der malignen Erkrankung und der Inzidenz von akuten GvHD, wenn sie prophylaktisch angewendet werden. MSCs verursachen eventuell eine Verringerung der Inzidenz von chronischen GvHD, wenn sie zu prophylaktischen Zwecken verwendet werden.[16]
Minimale Resterkrankung
Als minimale Resterkrankung (kurz MRD, minimal residual disease) bezeichnet man den Anteil von Leukämiezellen während oder nach einer Therapie. Man spricht z. B. von einer MRD von 0,001 % oder 10−5, wenn noch eine Leukämiezelle unter 100.000 gesunden Knochenmarkzellen gefunden werden kann. Man weiß mittlerweile, dass die MRD den wichtigsten Prognosefaktor bei der Leukämiebehandlung überhaupt darstellt. Im Rahmen moderner Leukämie-Therapiekonzepte wird die MRD deswegen auch regelmäßig bestimmt, um den Grad des Therapieansprechens zu ermitteln. Dieses dient dann zugleich der Stratifikation, d. h. die behandelten Patienten werden je nach MRD-Verlauf unterschiedlichen weiteren Behandlungsformen zugeführt. Ziel hiervon ist, genau so viel Chemotherapie zu geben, wie nötig.
Meist wird die MRD mittels Polymerase-Kettenreaktion (PCR) ermittelt. Dazu sind hochspezialisierte und in dieser speziellen Diagnostik erfahrene Labore erforderlich. Gelingt es durch die Therapie nicht, die MRD unter ein gewisses Niveau zu bringen (mindestens 10−4), ist ein Rezidiv der Erkrankung praktisch vorbestimmt.[17][18][19][20]
Chemotherapie
Zur Behandlung der ALL können verschiedene Chemotherapie-Verfahren eingesetzt werden.
Vor Beginn der Behandlung muss eine ausführliche Diagnostik erfolgen, um die ALL genetisch und immunzytologisch zu charakterisieren (s. o.). Dazu gehört auch eine Untersuchung des Liquor cerebrospinalis durch Lumbalpunktion und eventuell Bildgebung des Zentralnervensystems (beispielsweise durch Magnetresonanztomographie). Unmittelbar anschließend an die Diagnostik wird die Behandlung begonnen. Diese erfolgt mittels Chemotherapie, d. h. durch Gabe von Zytostatika. Es werden Kombinationen von verschiedenen Zytostatika gegeben, da dadurch die antileukämische Wirkung vielfach verstärkt ist. Die Behandlung dauert insgesamt mindestens 12 bis 24 Monate.
Vereinfacht kann man sagen, dass die Behandlung nach folgendem Schema abläuft:
Induktionstherapie (u. U. als „Doppel-Induktion“) → Konsolidierungstherapie → Re-Induktionstherapie → Erhaltungstherapie
Induktionsphase (1–3 Monate)
Am Anfang steht die „Induktionstherapie“, die sehr intensiv und nebenwirkungsreich ist. Die wichtigsten Zytostatika sind in dieser Phase
- Kortikosteroide, z. B. Dexamethason und Prednison (gehören streng genommen nicht zur Gruppe der Zytostatika, jedoch hemmen Kortikosteroide die Vermehrung lymphatischer Immunzellen und damit in der Regel auch die Vermehrung der ALL-Zellen)
- Anthracycline, z. B. Daunorubicin oder Doxorubicin
- Antimetaboliten, z. B. Cytarabin
- Vinca-Alkaloide, z. B. Vincristin
- Alkylantien, z. B. Cyclophosphamid
- L-Asparaginase
An genau festgelegten Tagen des Behandlungsablaufes werden dem Patienten definierte Zytostatika in vorbestimmten Dosierungen und Kombinationen verabreicht. Die Induktionsphase dauert bei der Studie AIEOP BFM ALL 2009 bei Kindern bei unkompliziertem Verlauf 9 Wochen. Sie hat das Ziel, die ALL so zurückzudrängen, dass sie einen Monat nach Beginn der Induktionsphase in der Knochenmarkpunktion kaum mehr und am Ende der Induktionsphase gar nicht mehr nachweisbar ist. Die Behandlung ist deswegen so intensiv, weil man den Blasten keine Zeit geben möchte, Resistenzen gegen Zytostatika zu entwickeln, und deswegen eine möglichst rasche Reduktion der Tumorlast erzielen will.
Gelegentlich wird nach der ersten Induktionstherapie noch eine zweite Induktionstherapie angeschlossen („Doppelinduktion“), die etwas andere Medikamentenkombinationen beinhaltet und auch etwa einen Monat dauert.
Konsolidierung (mehrere Monate)
Obwohl die ALL im Idealfall nach Abschluss der Induktionsphase nicht mehr nachweisbar sein kann, wird die Behandlung fortgesetzt. Eine Beendung der Behandlung zu diesem Zeitpunkt würde ansonsten mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit zu einem Rückfall führen: die ALL ist zwar mit den zur Verfügung stehenden diagnostischen Methoden kaum oder nicht mehr nachweisbar, aber noch nicht restlos beseitigt. An die Induktionsphase schließt sich die „Konsolidierungsphase“ an. Auch in dieser Phase werden Zytostatika in festgelegten Dosen und Zeitabständen verabreicht. Die wichtigsten Zytostatika in der Konsolidierungsphase sind:
- Methotrexat
- Cyclophosphamid
- Cytarabin
- Etoposid oder früher auch Teniposid
- L-Asparaginase
- Tioguanin und/oder 6-Mercaptopurin
Insbesondere die Zytostatika Methotrexat und evtl. auch Cytarabin werden dabei impulsweise in mittelhohen bis hohen Dosierungen eingesetzt. Tioguanin und/oder 6-Mercaptopurin und/oder L-Asparaginase werden als Dauertherapie dazugegeben, wobei bei der Asparaginase aufgrund des langsamen Abbaus eine Gabe alle zwei Wochen reicht, um diese dauerhaft im Körper zu halten.
Reinduktion
An die Konsolidierungsphase schließt sich die „Re-Induktionsphase“ an. In dieser wird analog zur Induktionsphase die Behandlung erneut intensiviert. Die dabei eingesetzten Zytostatika entsprechen denen der Induktionsphase.
Induktionsphase, Konsolidierungsphase und Re-Induktionsphase werden auch als Intensivphase der Behandlung bezeichnet. Die Gesamtdauer der Intensivphase ist abhängig von den Risikofaktoren und dem Behandlungsverlauf der betroffenen Patienten. Die Dauer schwankt zwischen 6 und 12 Monaten. Ein stationärer Krankenhausaufenthalt ist in der Intensivphase zumeist bei der Verabreichung der Zytostatika und bei Auftreten von Komplikationen wie beispielsweise Infektionen in Knochenmarkaplasie („Zelltief“) erforderlich. Zwischen den einzelnen Zytostatika-Zyklen verweilt der Patient mit problemlosem Verlauf zu Hause; lediglich ambulante Kontrollen des Blutbildes sind erforderlich und sinnvoll.
Erhaltungstherapie
In der sich erneut unmittelbar an die Intensivphase anschließenden „Erhaltungsphase“ erhalten die Patienten eine Chemotherapie mit Methotrexat und 6-Mercaptopurin.[21] Im Gegensatz zu den vorhergehenden Behandlungsphasen wird die Chemotherapie in dieser Phase meist als orale Chemotherapie (in Form von Tabletten) durchgeführt: 6-Mercaptopurin wird dann einmal täglich, Methotrexat einmal wöchentlich eingenommen. Ein Krankenhausaufenthalt ist, außer bei Komplikationen, im Gegensatz zur Intensivphase nicht erforderlich. Die Dauer der Erhaltungsphase ist in Abhängigkeit vom verwendeten Therapieprotokoll unterschiedlich und beläuft sich auf 6–18 Monate. Im Kindes- und Jugendalter wird die Erhaltungstherapie mit 6-Mercaptopurin und Methotrexat typischerweise bis zum Zeitpunkt zwei Jahre nach Diagnosestellung bzw. Behandlungsbeginn durchgeführt.
ZNS-Prophylaxe, ZNS-Bestrahlung
Ein Problem der meisten Zytostatika ist der Umstand, dass sie gar nicht oder nur schlecht die Blut-Hirn-Schranke überwinden. Dringen Leukämiezellen in das Zentralnervensystem (ZNS) ein, sind sie dort vor Zytostatika geschützt und können von dort aus zu einem Rezidiv der Erkrankung führen. Um solche ZNS-Rezidive zu verhindern wird daher bei allen Patienten eine mehr oder weniger intensive sogenannte ZNS-Prophylaxe durchgeführt. Diese kann in zwei Formen erfolgen. Zum einen als mehrfach wiederholte direkte Gabe von Zytostatika (i. d. R. Methotrexat) in den Liquorraum („Nervenwasser“) mittels Lumbalpunktion (= intrathekale Gabe), zum andern als Bestrahlung des Zentralnervensystems. Die ZNS-Bestrahlung war insbesondere in den ersten Jahrzehnten der ALL-Behandlung Standard. Im Kindes- und Jugendalter ist die ZNS-Bestrahlung aufgrund der beobachteten Spätschäden für die meisten Patienten zusehends durch die intrathekale Gabe von Methotrexat ersetzt worden.[22] Bei einem gesicherten Befall des Zentralnervensystems zu Anfang der Behandlung oder bei Erfüllung bestimmter Risikofaktoren wie beispielsweise einer anfänglichen Leukozytenzahl von mehr als 100.000 pro Mikroliter im peripheren Blut wird eine Bestrahlung des Zentralnervensystems jedoch auch bei Kindern immer noch durchgeführt.[23][24]
Mediastinalbestrahlung
Wenn eine starke Thymusschwellung durch Leukämiezellen als sogenannter Mediastinaltumor vorliegt, wird diese bei Erwachsenen lokal bestrahlt (bei Kindern und Jugendlichen nur im absoluten Ausnahmefall, da der Thymus bei Kindern im Gegensatz zu Erwachsenen noch wesentliche Funktionen im Immunsystem erfüllt).
Kontrolle des Therapieerfolges
In regelmäßigen Abständen wird eine erneute Knochenmarkpunktion durchgeführt, um den Erfolg der Therapie zu überprüfen. Auch regelmäßige Überprüfungen des Nervenwassers (Liquor) auf das Vorhandensein von ALL-Zellen sind unabdingbar. In der Regel wird durch die Induktionstherapie, die sich meist über etwa 2–3 Monate hinzieht (die Aplasie-Zeiten mitgerechnet, siehe folgenden Abschnitt), die „Leukämie-Tumorlast“ um mindestens einen Faktor 1.000 bis 10.000 oder mehr reduziert.
Blutbildkontrolle
Die Behandlung kann nicht beliebig intensiv und hochdosiert sein, da die Zytostatika erhebliche Nebenwirkungen haben, die dosislimitierend sind. Die wichtigste Nebenwirkung ist die Knochenmarkdepression, das heißt die Schädigung auch der verbliebenen, beim Leukämiekranken ohnehin schon stark geschwächten gesunden Blutbildung. Als Folge der chemotherapeutischen Behandlung kommt es zu einer länger dauernden Aplasie, d. h. einem fast vollständigen Ausfall der normalen Blutbildung. In dieser Phase, die bis zu einem Monat und länger dauern kann, müssen fehlende Blutbestandteile durch Transfusionen ersetzt werden und der Patient ist aufgrund der fehlenden Immunabwehr extrem infektgefährdet. Nicht wenige Patienten versterben aufgrund schwerer in Aplasie erworbener Infektionen während der Behandlung.
In den Jahren 2012 und 2015 haben Estcourt et al. Cochrane-Übersichtsarbeiten mit randomisierten kontrollierten Studien erstellt, um herauszufinden, welche Nutzung von Thrombozytentransfusionen die wirksamste ist, um Blutungen bei Patienten mit hämatologischen Erkrankungen zu verhindern, wenn sie eine Chemotherapie (oder eine Stammzelltransplantation erhalten).[25][26]
Behandlungsergebnisse
Bevor wirksame Zytostatika zur Verfügung standen, bedeutete die Diagnose „akute lymphatische Leukämie“ praktisch das Todesurteil für die betroffenen Patienten. Je nach Stadium der Erkrankung verstarben die Betroffenen innerhalb von Tagen bis Wochen nach Diagnosestellung. Haupttodesursachen waren schwere Infektionen aufgrund der schweren Immunschwäche, Spontanblutungen aufgrund der Thrombozytopenie oder andere Komplikationen (z. B. bei Befall des Zentralnervensystems). Besonders tragisch und schwerwiegend war der Umstand, dass häufig auch kleine Kinder von der Erkrankung betroffen waren (die ALL ist die häufigste bösartige Erkrankung des Kindesalters). Noch Ende der 70er Jahre, als schon einige wirksame Zytostatika zur Verfügung standen, lag das mittlere 5-Jahres-Überleben bei erwachsenen ALL-Patienten in Deutschland bei unter 15 %. Bei Kindern waren die Ergebnisse besser.
In der Folgezeit sind intensive Anstrengungen gemacht worden, die Therapieergebnisse für ALL-Patienten zu verbessern. Dies geschah durch umfangreiche nacheinander abfolgende klinische Studien, in denen die Patienten behandelt wurden. Die Ergebnisse und Erfahrungen aus einer Studie dienten dann dazu, eine neue darauf folgende verbesserte Therapiestudie zu planen. Insgesamt liegt das Gesamtüberleben bei ALL-Patienten zurzeit bei ca. 80 % bei Kindern und ca. 40–45 % bei Erwachsenen. Diese Zahlen variieren, da sie vom jeweiligen Subtyp und der Therapie abhängen. Weitere Verbesserungen sind in der Zukunft zu erwarten. Es muss aber betont werden, dass diese Zahlen Mittelwerte darstellen. Im Einzelfall kann die Prognose deutlich davon abweichen. So kann z. B. ein 20-jähriger Patient ohne Risikofaktoren (s. o.) deutlich bessere Heilungschancen erwarten, als z. B. ein 65-jähriger Patient mit Risikofaktoren.
Unterstützende Therapiemöglichkeiten
Neben einer aggressiven Behandlung der Grunderkrankung, kann es sinnvoll sein, auch das Wohlbefinden des Patienten zu verbessern. In diesen Kontext wird häufig die körperliche Betätigung genannt. Um die Machbarkeit und Wirksamkeit zu evaluieren, haben Knips et al. im Jahr 2019 eine Cochrane-Übersichtsarbeit erstellt. Dort wurde körperliche Betätigung zusätzlich zur Standardtherapie untersucht bei Patienten, die an einer bösartigen hämatologischen Krankheit litten. Die exakten Ein- und Ausschlusskriterien und weitere Details können in der originalen Cochrane-Übersichtsarbeit nachgelesen werden. Die Studienteilnehmer hatten Krankheitsstadium I bis IV. Da die körperliche Betätigung nur eine zusätzliche Behandlung war, erhielten die Patienten zusätzlich noch eine Chemotherapie und/oder Stammzell- bzw. Knochenmarkstransplantationen. Knips et. al haben die körperliche Betätigung als Zusatz zu der Standardtherapie mit der Standardtherapie alleine verglichen: Die Evidenz ist sehr ungewiss bezüglich des Effekts von körperlicher Betätigung auf Angst und schwere unerwünschte Ereignisse. Körperliche Betätigung verursacht eventuell nur eine geringe oder keine Veränderung bezüglich der Mortalität, der Lebensqualität und der körperlichen Funktion. Körperliche Betätigung verursacht eventuell eine schwache Verringerung von Depressionen.[27]
Zukünftige Entwicklungen
Eine große Hoffnung für die Zukunft bieten targeted drugs, das sind Medikamente, die wesentlich spezifischer auf Leukämiezellen wirken als herkömmliche Zytostatika, und damit ein weniger schwerwiegendes Nebenwirkungsprofil haben. Beispiele für solche Substanzen sind die Wirkstoffe Imatinib (Glivec®), Nilotinib (Tasigna®) und Dasatinib (Sprycel®), die bei Philadelphia-Chromosom-positiver ALL im Rahmen von Studien zusätzlich zur Standard-Chemo-Therapie eingesetzt werden.[10] Auch monoklonale Antikörper wie Rituximab oder Alemtuzumab oder der bispezifische Antikörper Blinatumomab werden Einfluss auf die zukünftigen Therapieschemata der ALL nehmen.
Faktisch ist auch die seit Jahrzehnten zum Standardrepertoire der gegen ALL verwendeten Chemotherapeutika gehörende L-Asparaginase ein targeted drug: Diese spaltet im Blut eine Aminosäure, nämlich das Asparagin, welche normale Körperzellen aus anderen Aminosäuren selber bilden können, die ALL-Zellen in der Regel aber nicht. Somit lässt L-Asparaginase im Blut die Leukämiezellen faktisch verhungern und hat zugleich wenige Nebenwirkungen auf die anderen Zellen. Jedoch rief die ursprünglich verwendete L-Asparaginase häufig Allergien beim Patienten hervor, mit der Folge, dass sie nicht weiter gegeben werden konnte bzw. durch die allergische Abwehr des Körpers des Patienten ohnehin wirkungslos gemacht wurde. Modifikationen (PEG-L-Asparaginase, Erwinase) sollen helfen, den Anteil der Patienten zu erhöhen, denen Asparaginase über einen langen Zeitraum gegeben werden kann.
Seit 2018 ist ein gentherapeutischer Ansatz zugelassen.
Geschichte
Der Begriff „Leukämie“ wurde von Rudolf Virchow geprägt,[28][29] der 1845 fast gleichzeitig mit und unabhängig von dem schottischen Pathologen John Hughes Bennett[30] und dem Franzosen Alfred Donné[31][32] das Krankheitsbild einer Leukämie (wahrscheinlich einer chronischen myeloischen Leukämie) beschrieb. In den folgenden Jahren entwickelte Virchow sein Konzept der „Zellularpathologie“, das für die Pathologie grundlegend wurde. 1868 beschrieb Ernst Neumann erstmals das Knochenmark als Bildungsstätte der Blutzellen und entwickelte später auch die Stammzellentheorie der Hämatopoese.[33] Nach dem Aufkommen synthetischer chemischer Farbstoffe entwickelte Paul Ehrlich 1877 Techniken zur Färbung von Blutausstrichen, die eine genauere Unterscheidung von Leukozyten ermöglichten. Wilhelm Ebstein prägte 1889 den Begriff „akute Leukämie“ in Abgrenzung von den chronischen Leukämien.[34] Mosler beschrieb 1879 erstmals die Techniken der Knochenmark-Untersuchung zur Diagnose einer Leukämie.[35] 1900 führte Otto Naegeli die Einteilung der Leukämien in „myeloische“ und „lymphatische“ ein.[36]
Die ersten wirklichen Therapieerfolge im Sinne einer (zeitweiligen) Remission der Erkrankung konnten jedoch erst nach Entwicklung der ersten Zytostatika erzielt werden. Im Jahr 1948 gelang es Sidney Farber in Boston durch Gabe von Aminopterin, einem Folsäure-Antagonisten, passagere Remissionen bei Kindern mit akuter lymphatischer Leukämie zu induzieren.[37] In den 1950er Jahren wurden dann weitere bei ALL wirksame Zytostatika entwickelt bzw. entdeckt: 6-Mercaptopurin durch George Hitchings und Gertrude Elion, die Vinca-Alkaloide durch Robert Laing Noble und die Glucocorticoide. Die ersten Langzeitüberlebenden gab es jedoch erst, nachdem systematisch Kombinationstherapien mit verschiedenen Zytostatika erprobt wurden. Bahnbrechend war das 1962 in Memphis/Tennessee gegründete St. Jude Children’s Research Hospital. Unter dessen erstem Direktor Donald Pinkel wurden hier die Total Therapy-Studien, die eine Kombinationstherapie aus verschiedenen Zytostatika mit einer ZNS-Prophylaxe (intrathekale Medikamentengabe bzw. ZNS-Bestrahlung) beinhalteten, durchgeführt. In den 1970er Jahren lagen die Anfänge der heute sogenannten BFM-Studiengruppe (Berlin-Frankfurt-Münster), die heute die weltgrößte Therapiestudiengruppe für Kinder darstellt. Ein Pionier auf diesem Gebiet war in Europa Hansjörg Riehm (anfangs in Berlin, später an der Medizinischen Hochschule Hannover). Ende der 1970er Jahre gab es dann auch bei Erwachsenen erste multizentrische größere Therapiestudien zur ALL.
Die im Jahr 2014 veröffentlichte Concord-2-Studie zeigte weltweit große Unterschiede in der Fünfjahresüberlebensrate bei Kindern: während sie in einigen Länder deutlich unter 50 % lag, betrug sie in Kanada, Österreich, Belgien, Deutschland und Norwegen über 90 %.[38]
Literatur
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Weblinks
- kinderkrebsinfo.de
- German Multicenter Study Group on Adult Acute Lymphoblastic Leukemia (GMALL) (Memento vom 4. Februar 2015 im Internet Archive)
- Kompetenznetz Akute und chronische Leukämien: Akute lymphatische Leukämie (ALL)
- European LeukemiaNet mit Links zur Studiengruppen und Behandlungsprotokollen
- Southwest Oncology Group (SWOG) in den USA
Einzelnachweise
- Surveillance, Epidemiology, and End Results (SEER) Program of the National Cancer Institute (NCI)
- Deutsches Kinderkrebsregister
- Die Vereinigung schweizerischer Krebsregister (Memento vom 13. Dezember 2002 im Internet Archive) enthält nur Daten aus ausgewählten Kantonen und hat, genau so wie Statistik Austria in Österreich alle Leukämieerkrankungen zusammen erfasst, wovon die ALL natürlich nur einen Bruchteil ausmacht.
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