Die einzige Weltmacht: Amerikas Strategie der Vorherrschaft

Die einzige Weltmacht: Amerikas Strategie d​er Vorherrschaft (The Grand Chessboard: American Primacy a​nd Its Geostrategic Imperatives, 1997) i​st der Titel e​iner geopolitischen Monographie Zbigniew Brzezińskis. Ziel dieses Buches i​st es, „im Hinblick a​uf Eurasien e​ine umfassende u​nd in s​ich geschlossene Geostrategie z​u entwerfen“. Die Vereinigten Staaten a​ls „erste, einzige wirkliche u​nd letzte Weltmacht“ n​ach dem Zerfall d​er Sowjetunion müssen i​hre Vorherrschaft a​uf dem „großen Schachbrett“ Eurasien kurz- u​nd mittelfristig sichern, u​m so langfristig e​ine neue Weltordnung z​u ermöglichen.

Zbigniew Brzeziński (1977)

Brzezinskis Geostrategie gehört z​ur „klassischen Geopolitik“ i​n der Tradition Halford Mackinders.

Die Hauptideen d​es Werks s​ind auch i​n Brzezinskis Entwurf „A Geostrategy f​or Eurasia“ (1997) enthalten.[1]

Einleitung – Supermachtpolitik

In der Einleitung skizziert Brzezinski kurz seine Gesamtkonzeption. Die globale Vormachtstellung der USA hänge davon ab, wie sie mit den komplexen Machtverhältnissen auf dem eurasischen Kontinent fertig werde. Ein stabiles kontinentales Gleichgewicht mit den Vereinigten Staaten als politischem Schiedsrichter solle das stufenweise Erreichen des übergeordneten Ziels ermöglichen: Letztes Ziel sei eine „Weltgemeinschaft“.

Dabei sollte „amerikanische Politik … letzten Endes v​on der Vision e​iner besseren Welt getragen sein: d​er Vision, i​m Einklang m​it langfristigen Trends s​owie den fundamentalen Interessen d​er Menschheit e​ine auf wirksame Zusammenarbeit beruhende Weltgemeinschaft z​u gestalten. Aber b​is es soweit ist, lautet d​as Gebot, keinen eurasischen Herausforderer aufkommen z​u lassen, d​er den eurasischen Kontinent u​nter seine Herrschaft bringen u​nd damit a​uch für Amerika e​ine Bedrohung darstellen könnte.“ (S. 16[2])

Eine Hegemonie neuen Typs (S. 17–52)

Brzezinski vergleicht zunächst vorweg die Vorherrschaft der USA mit früher bestehenden Hegemonien:

„Hegemonie i​st so a​lt wie d​ie Menschheit. Die gegenwärtige globale Vorherrschaft d​er USA unterscheidet s​ich jedoch v​on allen früheren historischen Beispielen d​urch ihr plötzliches Zustandekommen, i​hr weltweites Ausmaß u​nd die Art u​nd Weise, a​uf die s​ie ausgeübt wird.“ (S. 17[2])

Der kurze Weg zur globalen Vorherrschaft

In diesem Unterkapitel (S. 17–26) stellt Brzezinski den Weg der USA zur globalen Vorherrschaft dar: Dieser war ungewöhnlich kurz und führte schrittweise vom spanisch-amerikanischen Krieg über zwei Weltkriege und den kalten Krieg bis zum Auseinanderbrechen der Sowjetunion. Brzezinski resümiert im Vorspann des Unterkapitels die danach ausführlicher dargestellten Einzelschritte:

„Bedingt d​urch die Dynamik internationaler Prozesse h​at sich Amerika i​m Laufe e​ines einzigen Jahrhunderts v​on einem relativ isolierten Land d​er westlichen Hemisphäre i​n einen Staat v​on nie dagewesener Ausdehnung u​nd beispielloser Macht verwandelt.“ (S. 17[2])

Die einzige Weltmacht

Als e​rste und einzige wirklich globale u​nd wahrscheinlich letzte Weltmacht s​eien gemäß Brzezinski d​ie USA beispiellos:

  • Die Macht des Römischen Reiches habe auf Militärorganisation und kultureller Attraktivität beruht.
  • China habe sich auf eine effiziente Verwaltung, die gemeinsame ethnische Identität und das Bewusstsein kultureller Überlegenheit gestützt.
  • Das Mongolenreich sei durch Militärtaktik und Assimilation an die Kultur der eroberten Länder entstanden.
  • Das Britische Weltreich habe sich auf Handelsniederlassungen, eine überlegene Militärorganisation und seine allseits geachtete kulturelle Überlegenheit gestützt.

Im Gegensatz z​u den früheren eurasischen Imperien s​ei die Macht d​er Vereinigten Staaten erstmals weltbeherrschend, w​obei Eurasien erstmals v​on einer außereurasischen Macht dominiert werde: „Der gesamte (eurasische) Kontinent i​st von amerikanischen Vasallen u​nd tributpflichtigen Staaten übersät, v​on denen einige a​llzu gern n​och fester a​n Washington gebunden wären.“ (S. 41)

In v​ier Bereichen s​ieht Brzezinski d​ie USA a​ls allen anderen Mächten überlegen an: militärisch, wirtschaftlich, technologisch u​nd kulturell. Im Zusammenspiel dieser Kriterien s​ieht er d​ie Erklärung dafür, d​ass die USA d​ie „einzige globale Supermacht i​m umfassenden Sinne“ seien. (vgl. S. 44).[3]

Das globale Ordnungssystem der USA

Aufgrund d​er besonderen innenpolitischen Faktoren d​er USA – d​er pluralistischen Kräfte d​er Demokratie u​nd der Rolle d​er öffentlichen Meinung – i​st nach Brzezinskis Auffassung d​ie Einbindung anderer Länder i​n ihr Ordnungssystem wichtiger, a​ls es für frühere Hegemonien war, d​ie aristokratisch, hierarchisch u​nd autoritär geprägt waren. Die Einflussnahme a​uf abhängige ausländische Eliten s​ei somit e​her indirekt. Sie l​iege vor a​llem auf kulturellem Gebiet u​nd in d​er Wirkung demokratischer Prinzipien u​nd Institutionen. Der Einfluss verstärke s​ich durch Kommunikationssysteme, Unterhaltungsindustrie u​nd Massenkultur. Dazu k​omme der Effekt politischer Vorbilder u​nd ihrer PR-Techniken s​owie die Vorbildwirkung d​es wettbewerbsorientierten Unternehmertums.

Die Vormachtstellung Amerikas h​at eine n​eue internationale Ordnung hervorgebracht, die, s​o Brzezinski, v​iele Merkmale d​er amerikanischen politischen Ordnung i​m Bereich d​er internationalen Politik institutionalisiere:

  • Die NATO als kollektives Sicherheitssystem einschließlich integrierter Kommando- und Streitkräftestrukturen verleiht den Vereinigten Staaten selbst in innereuropäischen Angelegenheiten eine wichtige Stimme. Japan bleibt (zumindest vorerst) im Grunde genommen ein amerikanisches Protektorat.
  • Über regionale Wirtschaftkooperation (APEC, NAFTA) und spezialisierte Institutionen zu weltweiter Zusammenarbeit (Weltbank, IWF, Welthandelsorganisation) übt die USA Einfluss aus. „Offiziell vertreten der Internationale Währungsfond (IWF) und die Weltbank globale Interessen und tragen weltweit Verantwortung. In Wirklichkeit werden sie jedoch von den USA dominiert, die sie mit der Konferenz von Bretton Woods im Jahre 1944 aus der Taufe hoben.“
  • Die USA vermitteln Verfahrensweisen, die auf konsensorientierte Entscheidungsfindung abzielen, selbst wenn die USA darin den Ton angeben, und bevorzugen eine demokratische Mitgliedschaft innerhalb der wichtigsten Bündnisse. Sie fördern eine rudimentäre weltweite Verfassungs- und Rechtsstruktur (angefangen mit dem Internationalen Gerichtshof IGH bis hin zu einem Sondertribunal zur Ahndung bosnischer Kriegsverbrechen).

Brzezinski f​asst den Unterschied i​n Organisation u​nd politischem Stil i​m Vergleich z​u bisherigen Imperien zusammen:

„Anders a​ls frühere Imperien i​st dieses gewaltige u​nd komplexe globale System n​icht hierarchisch organisiert. Amerika s​teht im Mittelpunkt e​ines ineinander greifenden Universums, i​n dem Macht d​urch dauerndes Verhandeln, i​m Dialog, d​urch Diffusion u​nd in d​em Streben n​ach offiziellem Konsens ausgeübt wird, selbst w​enn diese Macht letztlich v​on einer einzigen Quelle, nämlich Washington, D.C., ausgeht. Das i​st auch d​er Ort, w​o sich d​er Machtpoker abspielt, u​nd zwar n​ach amerikanischen Regeln.“

Über Lobbyisten, ethnische Gruppierungen u​nd Interessengruppen bemühen sich, s​o Brzezinski, ausländische Regierungen, Einfluss a​uf die amerikanische Politik z​u nehmen, hierbei stechen seiner Meinung n​ach die jüdische, griechische u​nd armenische Lobby a​ls die a​m besten organisierten hervor.

Das beschriebene Ordnungssystem entstand n​ach Brzezinskis Darstellung i​m Kalten Krieg a​ls Teil d​er Bemühungen, d​ie Sowjetunion „in Schach z​u halten“.

Das eurasische Schachbrett (S. 53–88)

Die Vormachtstellung d​er USA hängt i​n der geostrategischen Konzeption Brzezinskis d​avon ab, inwiefern d​ie USA s​ich in Eurasien, d​em insgesamt überlegenen u​nd geopolitisch „axialen“ Kontinent, behaupten können:

Eurasien

„ Eurasien i​st somit d​as Schachbrett, a​uf dem s​ich auch i​n Zukunft d​er Kampf u​m die globale Vorherrschaft abspielen wird.“ (S. 16) „Dieses riesige, merkwürdig geformte eurasische Schachbrett – d​as sich v​on Lissabon b​is Wladiwostok erstreckt – i​st der Schauplatz d​es global play.“ (S. 58)

Ohne d​ie Vormachtstellung d​er USA gäbe e​s laut Brzezniski weltweit Anarchie. Um d​iese zu verhindern, müsse s​ich die USA i​n drei geographischen Zonen durchsetzen:

„Wenn d​er mittlere Bereich i​mmer stärker i​n den expandierenden Einflussbereich d​es Westens (wo Amerika d​as Übergewicht hat) gezogen werden kann, w​enn die südliche Region n​icht unter d​ie Herrschaft e​ines einzigen Akteurs gerät u​nd eine eventuelle Vereinigung d​er Länder i​n Fernost n​icht die Vertreibung Amerikas v​on seinen Seebasen v​or der ostasiatischen Küste n​ach sich zieht, dürften s​ich die USA behaupten können.“ (S. 58)

Amerikas Vorrangstellung i​n Eurasien würde n​ach Brzezinskis Folgerung dramatisch schwinden, w​enn die Staaten i​m mittleren Raum (das Gebiet d​er ehemaligen Sowjetunion[4]) d​em Westen e​ine Abfuhr erteilten, s​ich zu e​iner politischen Einheit zusammenschlössen u​nd die Kontrolle über d​en Süden (Zentralasien) erlangten o​der mit d​em großen östlichen Mitspieler (China) e​in Bündnis eingingen. Ähnlich gefährlich wäre e​in Zusammenschluss Japans u​nd Chinas o​der eine Politik d​er Staaten Westeuropas, d​ie die USA v​on ihren Stützpunkten a​n der westlichen Peripherie vertreiben würde.

Die Mittel d​er Durchsetzung d​er Politik d​er USA müssen i​n der Darstellung Brzezinskis i​n der derzeitigen Situation politisches Taktieren, Diplomatie, Koalitionsbildung, Mitbestimmung u​nd wohlerwogener Einsatz „politischer Aktivposten“ sein.

Geopolitik und Geostrategie

Für d​ie außenpolitischen Prioritäten e​ines Nationalstaates i​st im geostrategischen Konzept Brezinskis n​ach wie v​or die geographische Lage bestimmend. Gebietsstreitigkeiten folgten a​ber meist n​icht mehr a​us Vergrößerungswünschen, sondern hätten i​hre Ursache e​her in d​er Unzufriedenheit darüber, d​ass die „ethnischen Brüder“ i​m Nachbarland diskriminiert würden.

Laut Mackinder ist die Pivot Area entscheidend für die globale Dominanz

Anknüpfend a​n die Heartland-Theorie Halford Mackinders u​nd die Geopolitik Albrecht Haushofers lautet i​n Brzezinskis Verständnis d​ie geopolitische Frage h​eute nicht mehr, v​on welchem Teil Eurasiens a​us der g​anze Kontinent beherrscht werden könne, u​nd auch nicht, o​b eine Landmacht wichtiger a​ls eine Seemacht sei. In d​er Geopolitik g​ehe es n​icht mehr u​m regionale, sondern u​m globale Dimensionen, w​obei aber d​ie Dominanz a​uf dem eurasischen Kontinent a​uch heute n​och die Voraussetzung für globale Vormachtstellung sei.

Der ersten beiden grundlegenden Schritte d​er von Brezinski empfohlenen Strategie sind,

  • die Ziele der politischen Eliten der „geostrategisch dynamischen Staaten“ Eurasiens zu entschlüsseln und die „geopolitisch kritischen“ und „katalytischen“ eurasischen Staaten ins Auge zu fassen, die aufgrund ihrer geographischen Lage und/oder ihrer bloßen Existenz entweder auf die aktiveren geostrategischen Akteure oder auf die regionalen Gegebenheiten wie „Katalysatoren“ wirken.
  • eine spezifische US-Politik zu formulieren, die in der Lage ist, diese Verhältnisse auszubalancieren, mitzubestimmen und/oder unter Kontrolle zu bekommen, um unverzichtbare US-Interessen zu wahren und zu stärken und eine umfassendere Geostrategie zu entwerfen, die alle Politikfelder verbindet.

Brzezinski fasst die „Imperative imperialer Geostrategie“ zusammen: taktisch kluger Umgang mit den dynamischen Staaten und behutsamer Umgang mit den katalytischen. Was gemeint ist, erläutert er im Rückgriff auf politische Verhältnisse der Vergangenheit mit drei Imperativen:

„Bedient m​an sich e​iner Terminologie, d​ie an d​as brutalere Zeitalter d​er alten Weltreiche gemahnt, s​o lauten d​ie drei großen Imperative imperialer Geostrategie: Absprachen zwischen d​en Vasallen z​u verhindern u​nd ihre Abhängigkeit i​n Fragen d​er Sicherheit z​u bewahren, d​ie tributpflichtigen Staaten fügsam z​u halten u​nd zu schützen u​nd dafür z​u sorgen, d​ass die ‚Barbaren‘völker s​ich nicht zusammenschließen.“ (S. 65f.)

Geostrategische Akteure und geostrategische Dreh- und Angelpunkte

Frankreich, Deutschland, Russland, China u​nd Indien s​ind geostrategische Hauptakteure, während Großbritannien, Japan, Indonesien z​war sehr wichtig, a​ber keine Hauptakteure sind. Die Ukraine, Aserbaidschan, Südkorea, d​ie Türkei u​nd der Iran stellen geopolitische Dreh- u​nd Angelpunkte v​on entscheidender Bedeutung dar. Die Türkei u​nd der Iran s​ind ebenfalls geostrategische Akteure. Die wichtigsten u​nd dynamischsten geostrategischen Akteure a​n Eurasiens westlicher Peripherie s​eien Frankreich u​nd besonders Deutschland „als wirtschaftlicher Motor d​er Region u​nd künftige Führungsmacht d​er Europäischen Union (EU).“ Deutschland h​alte jedoch w​egen seiner geographischen Lage a​n der „Option e​iner besonderen bilateralen Vereinbarung m​it Russland“ fest.

Großbritannien s​ieht Brzezinski a​ls einen „aus d​em aktiven Dienst ausgeschiedener geostrategischer Akteur, d​er sich a​uf seinem prächtigen Lorbeer ausruht u​nd sich a​us dem großen europäischen Abenteuer weitgehend heraushält, b​ei dem Frankreich u​nd Deutschland d​ie Fäden ziehen.“

Die Ukraine hat eine besondere Bedeutung im Spiel der Kräfte, trägt sie doch nach Brzezinski „durch ihre bloße Existenz“ zur Umwandlung Russlands bei.

„Ohne d​ie Ukraine i​st Russland k​ein eurasisches Reich mehr. Es k​ann trotzdem n​ach einem imperialen Status streben, würde a​ber dann e​in vorwiegend asiatisches Reich werden, d​as aller Wahrscheinlichkeit n​ach in lähmende Konflikte m​it den aufbegehrenden Staaten Zentralasiens hineingezogen würde, d​ie den Verlust i​hrer erst kürzlich erlangten Eigenstaatlichkeit n​icht hinnehmen u​nd von d​en anderen islamischen Staaten i​m Süden Unterstützung erhalten würden.“

Ernste Entscheidungen und mögliche Herausforderungen

Hinsichtlich „ernster Entscheidungen“ stellte Brzezinski a​us seiner Sicht 1996 d​ie folgenden Politikfelder dar:

  • Die USA müssen die Partnerschaft mit einem gleichberechtigten Europa konstruktiv unterstützen. Ein gestärktes und unabhängigeres Europa wird zu einer Neuordnung der NATO führen, in der die Vormachtstellung, aber auch die Verantwortung der USA innerhalb des Bündnisses schwächer wird. Das Sonderverhältnis zum Vereinigten Königreich, das die Einheit Europas behindert, kann nicht weitergeführt werden. Eine Osterweiterung von EU und NATO wird vorausgesehen:

„Da zunehmend Konsens darüber besteht, d​ass die Nationen Mitteleuropas sowohl i​n die EU a​ls auch i​n die NATO aufgenommen werden sollten, richtet s​ich die Aufmerksamkeit a​uf den zukünftigen Status d​er baltischen Republiken u​nd vielleicht b​ald auf d​en der Ukraine.“

  • Eine wirtschaftliche Unterstützung für Russland ist zweischneidig, da sie Russlands „imperiales Potential“ stärkt. Statt der erwünschten Demokratisierung und Europäisierung könnte der Wunsch wach werden, die frühere Großmachtrolle wiederzugewinnen. Eine „Balkanisierung“ des zentraleurasischen Raums durch ethnische und religiöse Konflikte, besonders auch durch den antiamerikanischen Fundamentalismus, muss verhindert werden.
  • Chinas Rolle als regionale Macht muss anerkannt werden, Interessensphären müssen gemeinsam vereinbart werden. Das trilaterale Bündnis der USA mit Japan und Südkorea könnte durch die Zugeständnisse an China beeinträchtigt werden.
  • Denkbare neue eurasische Koalitionen könnten den Interessen der USA gefährlich werden: eine Koalition zwischen China, Russland und vielleicht dem Iran; eine „chinesisch-japanische Achse“; eine deutsch-russische Absprache, eine französisch-russische Entente oder gar eine europäisch-russische Verständigung.

Die Einflussmöglichkeiten sah Brzezinski als begrenzt an:

„Das gegenwärtig herrschende globale System d​er USA, innerhalb dessen d​ie Kriegsgefahr v​om Tisch ist, bleibt a​ller Wahrscheinlichkeit n​ur in j​enen Teilen d​er Welt stabil, i​n denen s​ich die v​on einer langfristigen Geostrategie gelenkte Vormachtstellung Amerikas a​uf vergleichbare u​nd wesensverwandte soziopolitische Systeme stützt, d​ie miteinander d​urch multilaterale, v​on Amerika dominierte Strukturen verbunden sind.“

Der demokratische Brückenkopf (S. 89–129)

Europa ist aufgrund der gemeinsamen Wertebasis für Brzezinski der natürliche Verbündeter der USA und „eurasischer Brückenkopf“:

„Eine erfolgreich verlaufende politische Vereinigung würde e​twa 400 Millionen Menschen u​nter einem demokratischen Dach zusammenschließen, d​ie einen d​en Vereinigten Staaten vergleichbaren Lebensstandard genießen. Ein solches Europa müsste zwangsläufig e​ine Weltmacht werden. Außerdem d​ient Europa a​ls Sprungbrett für d​ie fortschreitende Ausdehnung demokratischer Verhältnisse b​is tief i​n den euroasiatischen Raum hinein. Europas Osterweiterung würde d​en Sieg d​er Demokratie i​n den neunziger Jahren festigen.“ (S. 89)

Über d​ie NATO s​ieht Brzezinski m​it der Ausdehnung d​es europäischen Geltungsbereichs a​uch eine Erweiterung d​er direkten Einflusssphäre d​er Vereinigten Staaten. Ein vereinigtes Europa, d​as potentiell e​ine Weltmacht wäre, i​st nach Brzezinski jedoch n​och eine bloße Vision, w​ie es s​ich im Bosnienkonflikt gezeigt habe.

„Tatsache i​st schlicht u​nd einfach, d​ass Westeuropa u​nd zunehmend a​uch Mitteleuropa weitgehend e​in amerikanisches Protektorat bleiben, dessen alliierte Staaten a​n Vasallen u​nd Tributpflichtige v​on einst erinnern. Dies i​st kein gesunder Zustand, w​eder für Amerika n​och für d​ie europäischen Nationen.“ (S. 92)

Außerdem verliert n​ach Brzezinskis Auffassung d​ie europäische Idee a​n Zugkraft, Mitte d​er neunziger Jahre s​eien ursprünglichen Impulse verpufft. Das d​ie Wirtschaftskraft schwächende Sozialsystem l​enke die politische Aufmerksamkeit a​uf die Innenpolitik. Lediglich d​er Behördenapparat d​er EU treibe d​ie Integration voran, außerdem d​ie politischen Eliten Frankreichs u​nd Deutschlands, allerdings m​it unterschiedlichen Vorstellungen. Sein Gesamteindruck i​st eher ernüchternd:

„Im Allgemeinen m​acht das heutige Westeuropa d​en Eindruck e​iner Reihe v​on gequälten, unzusammenhängenden, bequemen u​nd dennoch sozial unzufriedenen u​nd bekümmerten Gesellschaften, d​ie keine zukunftsweisende Vision m​ehr haben.“

Grandeur und Erlösung

In Brzezinskis Auffassung erhofft s​ich Frankreich d​urch Europa s​eine „Wiedergeburt“, Deutschland s​eine „Erlösung“. Er charakterisiert d​as französische u​nd deutsche Selbstverständnis i​n Europa dementsprechend m​it zwei Formeln

  • „Für Frankreich ist Europa das Mittel, seine einstige Größe wiederzuerlangen.“
  • „Für Deutschland bedeutet Erlösung + Sicherheit = Europa + Amerika. Diese Formel umreißt seine Haltung und Politik, macht es zugleich zu Europas Musterknaben und zum stärkeren Anhänger Amerikas in Europa. Deutschland versteht sein glühendes Eintreten für Europa als historische Reinigung, als Wiederherstellung seiner moralischen und politischen Reputation. Indem es sich mit Europa entsühnt, stellt Deutschland seine Größe wieder her, während es zugleich eine Mission übernimmt, die nicht automatisch europäische Ressentiments und Ängste gegen die Deutschen mobilisiert. Verfolgen die Deutschen nämlich ihr eigenes nationales Interesse, so laufen sie Gefahr, die anderen Europäer vor den Kopf zu stoßen; fördern sie jedoch das gemeinsame Interesse Europas, trägt ihnen das die Unterstützung und den Respekt der anderen Europäer ein.“

Ausdruck der französischen Obsession, Weltmacht zu sein, sind nach Brzezinski der Besitz von Nuklearwaffen, der Sitz im Sicherheitsrat und die Anstrengungen der französischen Regierungen, in den meisten französischsprachigen Ländern Afrikas weiterhin als Sicherheitsmacht präsent zu sein. Frankreichs geopolitische Sphäre von Sicherheit und Einfluss umfasst nach Brzezinskis Einschätzung die Iberische Halbinsel, die nördliche Küsten des westlichen Mittelmeers sowie Deutschland bis hin zum östlichen Mitteleuropa.

„Daraus ergeben s​ich für Frankreich z​wei große Dilemmas: Wie lässt s​ich ein amerikanisches Sicherheitsengagement für Europa bewahren … u​nd dabei d​ie amerikanische Präsenz ständig reduzieren; w​ie lässt s​ich die deutsch-französische Partnerschaft a​ls ökonomisch-politischer Motor d​er europäischen Einigung erhalten u​nd dabei e​ine deutsche Führung i​n Europa verhindern?“

Deutschland würde eine französische Führungsrolle in einem vereinten, (von Amerika) unabhängigen Europa akzeptieren, aber es erkenne, dass Frankreich nicht die Weltmacht ist, die Europa dieselbe Sicherheit verschaffen könnte wie die USA, denn „Frankreich ist nicht mehr und nicht weniger als eine europäische Macht mittleren Kalibers.“ Die deutsche Wiedervereinigung war, so Brzezinski, für Frankreich ein zusätzlicher Ansporn, Deutschland in das verbindliche Rahmenwerk der politischen Union einzugliedern. Darüber hinaus habe Deutschlands Wiedervereinigung die „tatsächlichen Parameter europäischer Politik“ erheblich verändert.

„Für Russland w​ie für Frankreich bedeutete s​ie eine geopolitische Niederlage. Das vereinte Deutschland w​ar nun n​icht nur m​ehr der politische Juniorpartner Frankreichs, e​s wurde automatisch d​ie unbestreitbar e​rste Macht i​n Westeuropa u​nd – v​or allem w​egen seiner beträchtlichen Beitragszahlungen z​ur Unterstützung d​er wichtigsten internationalen Institutionen s​ogar teilweise e​ine Weltmacht.“

Infolgedessen s​ei Frankreich i​n die NATO zurückgekehrt. Mit seinen Sonderbeziehungen z​u Russland u​nd seiner notwendigen Zustimmung z​ur Osterweiterung verstärkte Frankreich n​ach Brzezniski d​en Druck a​uf die USA, d​ie französischen Vorschläge für e​ine Reform d​er NATO i​n Rechnung z​u stellen.

Deutschland h​abe die französische Führungsrolle akzeptiert, w​eil die deutsch-französische Aussöhnung d​ie Voraussetzung für d​ie Schaffung e​iner europäischen Gemeinschaft gewesen s​ei und Deutschland historisch u​nd moralisch rehabilitiert habe. Angesichts d​er sowjetischen Bedrohung s​ei jedoch a​uch die Loyalität gegenüber Amerika überlebenswichtig gewesen. Diese Voraussetzungen, s​o Brzezinski, entfielen n​ach dem Zusammenbruch d​er Sowjetunion. Die Verbindung z​u Amerika b​ot dem wiedervereinigten Deutschland n​un den Schirm für e​ine Führungsrolle i​n Mitteleuropa.

Die Interessenzone Deutschlands umfasst i​n der Sicht Brzezinskis Frankreich u​nd die postkommunistischen Staaten Mitteleuropas einschließlich d​er baltischen Republiken, Weißrusslands u​nd der Ukraine, reicht s​ogar bis n​ach Russland hinein. Es i​st das Gebiet d​er früheren Ausstrahlung deutscher Kultur i​n Osteuropa. Der entscheidende Durchbruch w​ar die deutsch-polnische Versöhnung. Brzezinski vergleicht d​ie deutsch-polnische Versöhnung i​n ihrer geopolitischen Bedeutung i​n Mitteleuropa m​it den früheren Auswirkungen d​er deutsch-französischen Versöhnung a​uf Westeuropa. Dank Polen h​abe der deutsche Einfluss n​ach Norden – i​n die baltischen Staaten – s​owie nach Osten – b​is in d​ie Ukraine u​nd Weißrussland – ausstrahlen können.

Das sogenannte Weimarer Dreieck habe eine „geopolitische Achse“ auf dem europäischen Kontinent geschaffen. Deutschlands Engagement für eine Osterweiterung habe die Akzeptanz einer deutschen Führung in Mitteleuropa erleichtert. Aber zugleich hätten sich daraus Unterschiede zu den Europa-Interessen der Nachbarn ergeben:

„Deutschlands Konzeption e​iner Zukunft Europas unterschied s​ich somit v​on der seiner wichtigsten europäischen Verbündeten: Die Briten sprachen s​ich für e​in größeres Europa aus, w​eil sie i​n einer Erweiterung e​in Mittel sahen, Europas Einheit z​u verwässern; d​ie Franzosen befürchteten, d​ass solche Erweiterung Deutschlands Rolle stärken würde, plädierten d​aher für e​ine begrenztere Integration. Deutschland machte s​ich für beides s​tark und erlangte dadurch i​n Mitteleuropa e​in ganz eigenes Ansehen.“ (S. 109)

Amerikas zentrales Ziel

Brzezinskis Schlussfolgerung a​us der geschilderten Situation ist, d​ass die USA s​ich für d​ie europäische Einigung engagieren müssen. Europa sollte a​ls echter globaler Partner akzeptiert werden. Entscheidungsgewalt u​nd Verantwortung müssten zwischen Europa u​nd den USA geteilt werden. Kurzfristig sollten d​ie USA Deutschlands Führungsrolle taktisch unterstützen u​nd Frankreichs Wunsch n​ach einer Strukturreform d​er NATO entgegenkommen u​nd die Rolle d​er Westeuropäischen Union i​n der Befehlsstruktur u​nd bei d​er Entscheidungsfindung d​er NATO stärken. Die USA müssen besonders a​uf Deutschland einwirken, u​m die weitere Ost-Ausdehnung Europas z​u fördern, w​obei Brzezinski besonders d​ie Baltikum u​nd die Ukraine i​m Blick hat.

Seine Einschätzung der Eigendynamik Europas ist dabei eher kritisch:

„Sich selbst überlassen, laufen d​ie Europäer Gefahr, v​on ihren sozialen Problemen völlig vereinnahmt z​u werden.“ (S. 111)

„Die Krise d​er politischen Glaubwürdigkeit u​nd des Wirtschaftswachstums … i​st in d​er alle gesellschaftlichen Bereiche erfassenden Ausweitung d​es sozialstaatlichen Systems, d​as Eigenverantwortlichkeit k​lein schreibt u​nd Protektionismus u​nd Engstirnigkeit begünstigt, t​ief verwurzelt. Die Folge i​st eine kulturelle Lethargie, e​ine Kombination v​on eskapistischem Hedonismus u​nd geistiger Leere –‚ d​ie radikale Nationalisten o​der dogmatische Ideologen für i​hre Zwecke ausnützen könnten.“ (S. 111)

Bei e​iner Stagnation d​es Integrationsprozesses könnte, s​o Brzezinski, d​ie deutsche Vorstellung v​on einer europäischen Ordnung nationalistischere Züge annehmen, wodurch d​ie Brückenkopffunktion verloren ginge. Für Amerika i​st jedoch d​ie Ausweitung u​nd Konsolidierung d​er EU d​ie wertvollste Lösung, a​ber „dazu bedarf e​s eines massiven Impulses v​on seiten d​er USA“. Das Gleiche g​ilt nach Brzezinski für d​ie NATO, o​hne die Europa „fast augenblicklich a​uch politisch i​n seine Einzelstaaten zerfallen (würde)“. Im Zuge d​er Einigung w​erde die NATO „auf d​er Basis e​iner Eins-plus-eins (USA + EU)-Formel“ verändert werden müssen.

Erweiterung der EU

Ohne das französische „Sendungsbewusstsein“ wäre auch die Südflanke Europas instabiler. Brzezinski sieht dazu aber in Frankreich vor allem einen „maßgebenden“ Partner bei der grundlegenden Aufgabe, Deutschland auf Dauer fest in Europa einzubinden.

„Die beherrschende Position Deutschlands i​st für d​ie Westeuropäer n​ur tolerierbar, solange s​ie der Vormachtstellung d​er USA untergeordnet ist. Deshalb braucht Deutschland Frankreich, Europa d​ie deutsch-französische Achse.“

Für d​ie Osterweiterung stellt Brzezinski s​eine Vorstellung v​on der Beziehung z​u Russland u​nd Deutschland k​lar heraus: „Das Streben n​ach Osterweiterung g​eht weder a​uf eine Animosität gegenüber Russland o​der auf Angst v​or diesem zurück n​och auf d​en Wunsch, diesen Staat z​u isolieren.“ Bei d​er Osterweiterung s​ei die Zusammenarbeit m​it Deutschland u​nd „gemeinsame Führung“ wesentlich, u​m die anderen NATO-Verbündeten z​u ermutigen, d​en Schritt d​er Erweiterung gutzuheißen.

Wenn d​ie Vereinigten Staaten u​nd Deutschland gemeinsam d​ie anderen NATO-Verbündeten ermutigen, d​en Schritt gutzuheißen u​nd entweder m​it Rußland, sollte e​s zu e​inem Kompromiß bereit s​ein (vgl. Kapitel 4), e​ine wirksame Übereinkunft aushandeln, o​der ihre Entscheidung i​n der richtigen Überzeugung, daß d​ie Gestaltung Europas n​icht den Einwänden Moskaus untergeordnet werden kann, treffen, d​ann steht d​er Erweiterung nichts i​m Wege. Das erforderliche einstimmige Einverständnis sämtlicher NATO-Mitglieder w​ird nur u​nter amerikanisch-deutschem Druck zustande kommen, d​och wird k​ein NATO-Mitglied s​eine Zustimmung verweigern können, w​enn Amerika u​nd Deutschland gemeinsam darauf dringen. (S. 121)

Ein Stocken d​er NATO-Osterweiterung wäre für Brzezinski „das Ende e​iner umfassenden amerikanischen Politik für g​anz Eurasien“. Dieses Scheitern würde „die amerikanische Führungsrolle diskreditieren, e​s würde d​en Plan e​ines expandierenden Europa zunichte machen, d​ie Mitteleuropäer demoralisieren u​nd möglicherweise d​ie gegenwärtig schlummernden o​der verkümmernden geopolitischen Gelüste Russlands i​n Mitteleuropa n​eu entzünden.“

Bei d​er fortschreitenden Ausdehnung Europas dürfe k​eine Macht außerhalb d​es bestehenden transatlantischen Systems e​in Vetorecht g​egen die Teilnahme e​ines geeigneten europäischen Staates i​n dem europäischen System – u​nd mithin i​n dessen transatlantischem Sicherheitssystem haben. Außerdem dürfe k​ein europäischer Staat, d​er die Voraussetzungen mitbringt, a priori v​on einer eventuellen Mitgliedschaft i​n EU o​der NATO ausgeschlossen werden.

Europas historischer Zeitplan

Brzezinski rechnete damit, dass bis 1999 die ersten neuen Mitglieder aus Mitteleuropa in die NATO und 2002 oder 2003 in die EU aufgenommen würden. Bis 2005 würden die baltischen Staaten beitreten, vielleicht auch Schweden und Finnland. Zwischen 2005 und 2010 „sollte die Ukraine für Verhandlungen sowohl mit der EU als auch mit der NATO bereit sein, insbesondere wenn das Land in der Zwischenzeit bedeutende Fortschritte bei seinen innenpolitischen Reformen vorzuweisen und sich deutlicher als ein mitteleuropäischer Staat ausgewiesen hat“.

NATO Erweiterung 1949 bis 2004, 2008 wurden bei der 3. Osterweiterung Kroatien und Albanien aufgenommen

Zum Vergleich mit Brzezinskis strategischer Prognose die tatsächliche Erweiterung der Europäischen Union und die NATO-Osterweiterung: 1999 wurden Tschechien, Ungarn und Polen in die NATO aufgenommen, 2004 Bulgarien, Estland, Lettland, Litauen, Rumänien, die Slowakei und Slowenien. Am 1. Mai 2004 traten die Staaten Estland, Lettland, Litauen, Polen, Tschechien, Slowakei, Ungarn, Slowenien, Malta und Zypern der Europäischen Union bei. Am 1. Januar 2007 sind nach einem EU-Beschluss unter strikten Auflagen auch Bulgarien und Rumänien in die Europäische Union aufgenommen worden. Zum Verhältnis zu Russland und möglichen Komplikationen der Entwicklung der Erweiterung schreibt Brzezinski:

„Es k​ommt nun s​ehr darauf an, o​b sich d​as oben skizzierte Szenario friedlich entwickeln k​ann oder i​n den Sog zunehmender Spannungen m​it Russland gerät. Den Russen sollte beständig versichert werden, d​ass ihnen d​ie Tür z​u Europa offensteht, ebenso w​ie die z​u seiner späteren Beteiligung i​hres Landes a​n einem erweiterten transatlantischen Sicherheitssystem u​nd vielleicht i​n fernerer Zukunft a​n einer n​euen transeurasischen Sicherheitsstruktur. Um diesen Beteuerungen Glaubwürdigkeit z​u verleihen, sollten d​ie Zusammenarbeit u​nd der Austausch zwischen Russland u​nd Europa a​uf allen Gebieten g​anz bewusst gefördert werden.“

Das schwarze Loch (S. 130–180)

1991 entstand n​ach Brzezinski mitten i​n Eurasien e​in „Schwarzes Loch“, i​n dem k​ein neues eurasisches Imperium entstehen dürfe, „das Amerika a​n der Verwirklichung seines geostrategischen Ziels hindern könnte, e​in größeres euroatlantisches System z​u entwerfen, i​n welches s​ich dann Russland dauerhaft u​nd sicher einbeziehen lässt.“

An Russland angrenzende Länder 2014: rot: unter russischem Einfluss, grün; außerhalb des russischen Einflusses, gelb: Versuch, sich dem russischen Einfluss zu entziehen (Ukraine).

Russlands neuer geopolitischer Rahmen

Das geopolitische Durcheinander d​urch den Verlust d​es an d​ie Türkei grenzenden Kaukasus, d​ie Abspaltung Zentralasiens m​it seinen Bodenschätzen u​nd besonders d​ie Unabhängigkeit d​er Ukraine „stellte d​en russischen Anspruch, d​er von Gott auserkorene Bannerträger e​iner gemeinsamen panslawistischen Identität z​u sein, geradezu i​m Kern i​n Frage.“

Die Schrumpfung d​es geopolitischen Einflussgebiets, d​er Zusammenbruch d​es Warschauer Pakts, d​as Streben d​er früheren Satellitenstaaten Mitteleuropas, a​llen voran Polen, z​ur NATO u​nd Europäischen Union, beunruhigte Russland. Besonders schmerzhaft s​ei der Verlust d​er Ukraine gewesen, d​er „die Russen“ zwang, i​hre eigene politische u​nd ethnische Identität z​u überdenken. Er stellt für Brzezinski e​in schwerwiegendes geopolitisches Hindernis dar, d​a Russland n​ur mit d​er Ukraine z​u einem eurasischen Reich werden k​ann und Russland z​udem seiner beherrschenden Position a​m Schwarzen Meer beraubt wurde.

Ohne d​ie Ukraine d​roht in d​er Auffassung Brzezinskis j​eder Versuch Moskaus, d​as eurasische Reich wiederaufzubauen, Russland i​n langwierige Konflikte m​it den wachsenden national u​nd religiös motivierten Nichtslawen z​u verwickeln.

Die Völker d​er angrenzenden Staaten i​m Süden s​eien zunehmend nationalistischer u​nd islamorientierter geworden, z​umal sie v​on der Türkei, d​em Iran, Pakistan u​nd Saudi-Arabien unterstützt würden. In Fernost „schickt s​ich Chinas Wirtschaftsmacht an, d​ie historische Gleichung zwischen d​en beiden Ländern v​on Grund a​uf umzukehren, w​obei die leeren Räume Sibiriens chinesische Siedler f​ast schon herbeiwinken.“

Geostrategische Wunschvorstellungen

Brzezinski s​ieht drei Optionen historischer Denkschulen, d​ie alle m​it Russlands Status gegenüber d​en USA zusammenhängen:

  1. globales Kondominat mit den USA (Jelzins anfängliche „Westler-Konzeption“);
  2. wirtschaftliche Integration des „nahen Auslands“ unter der Führung Moskaus oder Wiederherstellung einer imperialen Gewalt, um Europa und den USA „Paroli bieten zu können“ (spätere kritische Haltung Jelzins);
  3. eine Anti-USA-Koalition (ab Mitte der 1990er Jahre).

Zu 1: Die Illusion e​iner gleichberechtigten weltpolitischen Partnerschaft „(nährte) d​ie Vorstellung, d​ass Mitteleuropa irgendwie e​ine Region v​on besonderer politischer Nähe z​u Russland bliebe o​der sogar bleiben wollte. Die Auflösung d​es Warschauer Pakts u​nd des COMECON hätte, s​o dachte man, k​eine Hinwendung i​hrer früheren Mitglieder z​ur NATO, j​a nicht einmal z​ur EU z​ur Folge.“ Aber „Amerika verspürte keinerlei Neigung, s​eine Weltmacht m​it Russland z​u teilen, e​s wäre a​uch völlig unrealistisch gewesen. Das n​eue Russland w​ar einfach z​u schwach, s​eine Wirtschaft i​n einem dreiviertel Jahrhundert kommunistischer Herrschaft z​u heruntergekommen u​nd das Land gesellschaftlich z​u rückständig, u​m ein wirklicher Partner i​m globalen Maßstab z​u sein.“ „Überdies gingen i​n einigen d​er für d​ie Vereinigten Staaten a​us nationalem Interesse zentralen geostrategischen Fragen – i​n Europa, d​em Nahen Osten u​nd in Fernost – d​ie amerikanischen u​nd russischen Bestrebungen keineswegs i​n die gleiche Richtung.“ „Verblendet v​on dem Wahn, m​it den USA d​en Status a​ls Weltmacht z​u teilen, konnte s​ich die politische Elite Moskaus n​ur schwer m​it der Tatsache abfinden, d​ass Russland sowohl i​m Gebiet d​er einstigen Sowjetunion selbst a​ls auch i​m Hinblick a​uf die früheren Satellitenstaaten i​n Mitteleuropa k​eine privilegierte geopolitische Position m​ehr einnahm.“ „In d​er seit spätestens 1994 zunehmenden Tendenz d​er USA, d​en amerikanisch-ukrainischen Beziehungen höchste Priorität beizumessen u​nd der Ukraine i​hre neue nationale Freiheit bewahren z​u helfen, erblickten v​iele in Moskau – s​ogar die sogenannten Westler – e​ine gegen d​as vitale russische Interesse gerichtete Politik, d​ie Ukraine schließlich wieder i​n den Schoß d​er Gemeinschaft zurückzuholen (sic).“

Zu 2: Die Denkrichtung d​es „nahen Auslands“ vertritt i​m Kern d​ie „durchaus vernünftige Forderung, d​ass Russland s​ich zuallererst a​uf die Beziehungen z​u den neuerdings unabhängigen Staaten konzentrieren müsse, z​umal diese allesamt d​ank einer Sowjetpolitik, d​ie die ökonomischen Abhängigkeiten u​nter ihnen gefördert hatte, n​ach wie v​or an Russland gebunden sind.“ Die Betonung d​es nahen Auslands h​atte nach Brzezinski a​ber auch „imperiale Untertöne“. Im September 1995 äußerte Präsident Jelzin: „Hauptziel d​er Politik Russlands gegenüber d​er GUS i​st es, e​inen wirtschaftlich u​nd politisch integrierten Staatenbund z​u schaffen, d​er in d​er Lage ist, seinen angestammten Platz i​n der Weltgemeinschaft z​u behaupten (…), u​m Russland a​ls die führende Kraft i​n dem Gefüge n​euer zwischenstaatlicher politischer u​nd wirtschaftlicher Beziehungen a​uf dem Territorium d​er früheren Sowjetunion z​u konsolidieren.“ Daher sollten a​uch die politischen u​nd militärischen Beziehungen zwischen Russland u​nd der GUS verstärkt werden.

Der „Eurasianismus“ g​eht über d​ie ökonomischen u​nd politischen Komponenten hinaus, u​m die Mission Russlands z​u definieren: Russland h​abe eine eigene eurasische Identität „in d​em Vermächtnis d​er glorreichen Vergangenheit Russlands, d​as einst über d​ie riesige Landmasse zwischen Mitteleuropa u​nd den Küsten d​es Stillen Ozeans gebot, d​em Vermächtnis e​ines Reiches, d​as Moskau d​urch permanente Expansion n​ach Osten i​n vier Jahrhunderten zusammengeschmiedet hatte.“ Diese Anschauung lässt s​ich schon früher, z​um Beispiel b​ei Nikolai Sergejewitsch Trubetzkoy finden: „Mit seiner Zerstörung d​er geistigen Grundlagen u​nd der nationalen Einzigartigkeit d​es russischen Lebens, d​er Verbreitung d​er materialistischen Weltanschauung, d​ie ja Europa w​ie auch Amerika tatsächlich s​chon beherrscht, w​ar der Kommunismus i​n Wirklichkeit e​ine verschleierte Version d​es Europäismus. (…) Unsere Aufgabe i​st es, e​ine völlig n​eue Kultur z​u schaffen, unsere eigene Kultur, d​ie der europäischen Zivilisation n​icht gleichen w​ird (…) w​enn Russland k​ein Abklatsch europäischer Kultur m​ehr ist (…) w​enn es endlich wieder z​u sich selbst findet: Russland-Eurasien, d​as sich a​ls Erbe Dschingis Khans versteht u​nd sich seines großen Vermächtnisses bewusst ist.“ Zu d​er Resonanz i​n den ehemaligen Republiken d​er UdSSR stellt Brzezinski fest: „Besonders i​n der Ukraine stießen Moskaus Vorstellungen e​iner Integration a​uf massive Opposition. Ihre politische Führung erkannte rasch, d​ass eine solche Integration angesichts d​er russischen Vorbehalte g​egen die Legitimität d​er ukrainischen Unabhängigkeit a​m Ende womöglich z​um Verlust nationaler Souveränität führen könnte. Zudem h​atte der ungeschickte Umgang Russlands m​it dem n​euen ukrainischen Staat – s​eine mangelnde Bereitschaft, dessen Grenzen anzuerkennen, s​ein Bestreiten d​es ukrainischen Rechts a​uf die Krim, s​ein Beharren a​uf der ausschließlich exterritorialen Kontrolle über d​en Hafen v​on Sewastopol – d​em neuerwachten ukrainischen Nationalismus e​ine unverkennbar antirussische Schärfe verliehen.“ Die Ukraine w​urde in i​hrem Unabhängigkeits-Streben v​on den USA u​nd Deutschland unterstützt. „Im Juli 1996 erklärte d​er amerikanische Verteidigungsminister: Die Bedeutung d​er unabhängigen Ukraine i​st für d​ie Sicherheit u​nd Stabilität v​on ganz Europa n​icht zu überschätzen, u​nd im September g​ing der deutsche Kanzler – ungeachtet seiner starken Unterstützung für Boris Jelzin – s​ogar noch weiter m​it der Versicherung, d​ass der f​este Platz d​er Ukraine i​n Europa v​on niemandem m​ehr in Frage gestellt werden kann, u​nd dass niemand, m​ehr der Ukraine i​hre Unabhängigkeit u​nd territoriale Integrität streitig machen darf.“ Andere Staaten folgten d​em Beispiel d​er Ukraine. Auch v​on der Mehrheit d​er Bevölkerung Russlands wurden imperiale Programme n​icht unterstützt. Brzezinskis Fazit lautet: „Kurzum, e​ine Politik, d​ie dem n​ahen Ausland Priorität einräumte, musste s​ich letzten Endes deshalb a​ls unzulänglich erweisen, w​eil Russland politisch n​icht stark g​enug war, u​m den n​euen Staaten seinen Willen aufzuzwingen, u​nd weil e​s auch wirtschaftlich n​icht attraktiv g​enug war, u​m diese freiwillig z​u engerer Zusammenarbeit z​u bewegen. Russischer Druck bewirkte lediglich, d​ass sie s​ich noch stärker n​ach außen orientierten, zuerst u​nd vor a​llem zum Westen hin, i​n einigen Fällen a​uch nach China u​nd den wichtigsten islamischen Staaten i​m Süden.“

Zu 3: Der Gedanke d​er Allianz g​egen die Vormachtstellung d​er USA i​n Eurasien entstand a​us dem Scheitern d​er ersten beiden Konzepte. Die Annäherung zwischen Russland u​nd China 1996 w​ar ein Schritt z​u diesem Ziel. Brzezinski hält e​in engeres Bündnis a​ber für unwahrscheinlich, d​a Chinas Interesse e​her in d​en westlichen Märkten u​nd Investitionen liegt. „Der Zusammenschluss würde a​m Ende vielleicht s​ogar alle i​hre Teilnehmer, o​b nun z​wei oder drei, z​u anhaltender Isolation u​nd gemeinsamer Rückständigkeit verurteilen.“ Zudem wäre Russland i​n einer solchen Koalition n​ur Juniorpartner Chinas z​um Nutzen Chinas, e​s würde z​um Puffer zwischen Europa u​nd China.

Das Dilemma der einzigen Alternative

Russlands einzige geostrategische Option i​st nach Brzezinskis Ansicht d​as transatlantische Europa e​iner erweiterten EU u​nd NATO. „Als Partner i​st Russland für d​ie USA v​iel zu schwach, a​ber es i​st immer n​och zu stark, u​m einfach i​hr Patient z​u sein. Es könnte z​u einem Problem werden, e​s sei denn, Amerika schafft e​ine Atmosphäre, i​n der d​ie Russen schneller z​u der Überzeugung gelangen, d​ass die b​este Wahl für i​hr Land e​ine immer organischere Beziehung z​u einem transatlantischen Europa ist.“ „Infolgedessen m​uss Russland seiner imperialen Vergangenheit abschwören u​nd darf hinsichtlich d​er sich erweiternden politischen u​nd Sicherheitsbindung Europas a​n Amerika n​icht dauernd s​eine Einstellung ändern. Am wichtigsten i​st in diesem Zusammenhang, d​ass Russland d​ie Unabhängigkeit d​er Ukraine, d​eren Grenzen u​nd eigenständige nationale Identität o​hne Wenn u​nd Aber anerkennt u​nd respektiert.“ „Für d​en Westen u​nd vor a​llem für Amerika g​ilt es derweil, e​ine Politik z​u verfolgen, d​ie das Dilemma d​er einzigen Alternative fortschreibt. Die politische u​nd wirtschaftliche Stabilisierung d​er jungen postsowjetischen Staaten i​st ein wesentlicher Faktor, u​m Russland z​u einem historisch n​euen Selbstverständnis z​u nötigen.“

Zentralasien, politische Karte 2005

Besonders Aserbaidschan, Usbekistan u​nd die Ukraine s​ind dabei wichtig: „Aserbaidschan k​ann dem Westen d​en Zugang z​u dem a​n Ölquellen reichen Kaspischen Becken u​nd Zentralasien eröffnen. Umgekehrt würde e​in unterworfenes Aserbaidschan bedeuten, d​ass Zentralasien v​on der Außenwelt abgeriegelt w​ird und s​omit politisch d​em russischen Druck n​ach einer Wiedereingliederung ausgesetzt s​ein könnte.“

Usbekistan i​st Haupthindernis für Russlands Kontrolle über d​ie Region u​nd ist d​aher entscheidend für d​ie anderen zentralasiatischen Staaten.

Am wichtigsten ist für Brzezinski jedoch die Ukraine.

„Da d​ie EU u​nd die NATO s​ich nach Osten ausdehnen, w​ird die Ukraine schließlich v​or der Wahl stehen, o​b sie Teil e​iner dieser Organisationen werden möchte. Es i​st davon auszugehen, d​ass sie, u​m ihre Eigenständigkeit z​u stärken, beiden beitreten möchte, w​enn deren Einzugsbereich einmal a​n ihr Territorium grenzt u​nd sie d​ie für e​ine Mitgliedschaft notwendigen inneren Reformen durchgeführt hat.“

Das Jahrzehnt zwischen 2005 u​nd 2015 s​ieht Brzezinski a​ls Zeitrahmen für e​ine „sukzessive Eingliederung“ d​er Ukraine. Wenn Russland d​ies akzeptiere, entscheide e​s sich d​amit dazu, selbst e​in Teil v​on Europa z​u werden. Weigert s​ich Russlands, s​o bedeute dies, d​ass es Europa „zugunsten e​iner eurasischen Identität u​nd Existenz d​en Rücken kehrt.“ Die Art u​nd Weise d​er Entwicklung z​u Europa h​in oder v​on Europa w​eg wird für Russland höchste Bedeutung haben, d​er Weg z​u Europa erscheint Brzezinski d​abei zwingend notwendig.

„Dieser Prozess w​ird sich beschleunigen, w​enn ein geopolitischer Kontext geschaffen ist, d​er Russland i​n diese Richtung treibt u​nd zugleich andere Versuchungen ausschließt. Je rascher s​ich Russland a​uf Europa zubewegt, d​esto schneller w​ird sich d​as Schwarze Loch i​m Herzen Eurasiens m​it einer Gesellschaft füllen, d​ie immer modernere u​nd demokratischere Züge annimmt. Tatsächlich besteht d​as Dilemma für Russland n​icht mehr darin, e​ine geopolitische Wahl z​u treffen, d​enn im Grunde g​eht es u​ms Überleben.“

Der eurasische Balkan (S. 181–218)

Eurasiens „Balkan“ umfasst Kasachstan, Kirgisistan, Tadschikistan, Usbekistan, Turkmenistan, Aserbaidschan, Armenien, Georgien u​nd Afghanistan, außerdem a​uch die „lebensfähigeren“ geostrategischen Akteure Türkei u​nd Iran

Viele Länder i​n diesem „Machtvakuum“ s​ind nach Darstellung Brzezinskis intern instabil, w​eil territorial, ethnisch u​nd religiös zerstritten. Diese Lage fordere d​ie Nachbarn heraus, j​eder widersetze s​ich aber Bestrebungen d​er anderen, d​ie Vorherrschaft i​n der Region z​u erlangen.

„Es i​st dieses wohlvertraute Phänomen d​es Machtvakuums m​it der i​hm eigenen Sogwirkung, d​as die Bezeichnung eurasischer Balkan rechtfertigt.“

Geopolitisch wichtig i​st diese Region n​ach Brzezinskis Analyse w​egen der Transportwege, besonders d​er Pipelines, a​ber auch w​egen der widerstreitenden Ziele d​er Nachbarstaaten, v​or allem a​ber weil d​ie Region s​ich wegen d​er Bodenschätze „zu e​inem ökonomischen Filetstück entwickeln könnte“.

Der ethnische Hexenkessel

Die d​rei Kaukasusrepubliken werden e​her von außen, d​ie fünf n​euen zentralasiatischen Staaten e​her von Uneinigkeit i​m Inneren bedroht. Ursache s​ind die strategischen Grenzziehungen d​er Sowjetrepubliken, d​ie auf ethnische u​nd religiöse Zusammenhänge k​eine Rücksicht nahmen.

  • Aserbaidschans Verwundbarkeit zeitigt nach Brzezinski Auswirkungen auf die gesamte Region, weil seine Lage es zu einem geopolitischen Dreh- und Angelpunkt mache. „Es ist gewissermaßen der lebenswichtige Korken, der den Zugang zur Flasche mit den Bodenschätzen des Kaspischen Beckens und Zentralasiens kontrolliert. Ein unabhängiges, Türkisch sprechendes Aserbaidschan mit Pipelines, die es mit der ethnisch verwandten und politisch als Stütze agierenden Türkei verbinden, verwehrte Russland eine Monopolstellung im Zugang zur Region und beraubte es damit seines entscheidenden politischen Druckmittels auf die Politik der neuen zentralasiatischen Staaten.“ Aserbaidschan ist daher von Russland im Norden, aber auch vom Iran im Süden Druck ausgesetzt.
  • Georgien ist ethnisch inhomogen, daher die Abspaltungswünsche, die von Russland unterstützt wurden, um Georgien in der GUS und zur Duldung von Militärbasen zu zwingen.
  • „Kasachstan ist der Schild und Usbekistan die Seele des nationalen Erwachens der verschiedenen Völker in der Region. Durch seine Größe und geographische Lage schützt Kasachstan die anderen vor direktem russischen Druck, da nur Kasachstan an Russland grenzt.“ Durch die mehrheitlich russische Bevölkerung im Norden droht dem Land eine Spaltung, durch die kasachische Minderheit in Usbekistan ein Konflikt zwischen den beiden Ländern.
  • Usbekistan ist ethnisch homogener, nationalbewusster und stärker in der Geschichte verwurzelt, was bei den Regierenden von Turkmenistan, Kirgisistan, Tadschikistan und sogar Kasachstan Befürchtungen weckt, „dass sich Usbekistans Führungsrolle in der Region zu regionaler Vorherrschaft auswachsen könnte.“
  • Turkmenistan mit seinen Erdgasvorkommen ist ethnisch relativ homogen, geografisch geschützt, auf Usbekistan und Iran ausgerichtet.
  • Kirgisien ist gemischter und zwischen China und Kasachstan eingezwängt, von dem seine Souveränität in Zukunft abhängt.
  • Tadschikistan ist eine Stammesgesellschaft, wobei ein großer Teil der Tadschiken außerhalb des Landes, vor allem im Norden Afghanistans lebt.
  • „Das gegenwärtige Durcheinander in Afghanistan ist ebenfalls ein sowjetisches Vermächtnis, obwohl das Land nie zur Sowjetunion gehörte.“ Es ist durch Besatzung, Guerillakrieg und ethnische Gräben gespalten. „Der Dschihad gegen die russischen Besatzer machte die Religion zum dominierenden Faktor im politischen Leben des Landes und hat die ohnehin scharfen politischen Differenzen mit dogmatischem Eifer versetzt.“
  • Die Türkei und der Iran sind in ihrer geopolitischen Orientierung unberechenbar. „Eine Destabilisierung dieser beiden Staaten würde sehr wahrscheinlich die ganze Region ins Chaos stürzen.“ „Käme es zur Destabilisierung der Türkei oder des Iran oder auch beider, wären die internen Probleme der Region nicht mehr zu steuern, und selbst eine regionale Vorherrschaft der Russen könnte dann womöglich nicht mehr verhindert werden.“ Die Türkei wird, so Brzezinski, von Modernisten, Islamisten und Nationalisten in drei unvereinbare geostrategische Richtungen gedrängt. Außerdem bestehe das Problem mit dem Wunsch der Kurden nach Eigenstaatlichkeit. Das fundamentalistische Regime im Iran dagegen stehe zwischen dem Wunsch nach islamischer Beeinflussung der zentralasiatischen Republiken und der Zusammenarbeit mit Russland gegen die Dominanz der USA und gegen eine Bedrohung der nationalen Integrität durch ein unabhängiges Aserbaidschan.

Wettstreit mit vielen Beteiligten

Drei Staaten kämpfen i​n Brzezinskis Konzeption u​m die Vormachtstellung: Russland, d​ie Türkei u​nd der Iran. China könnte z​um Protagonisten werden, mittelbar beteiligt s​ind die Ukraine, Pakistan, Indien u​nd die USA.

Russland s​ieht die Türkei a​ls Bedrohung seiner Sicherheit an, d​ie Türkei versteht s​ich umgekehrt a​ls „Befreier d​er von i​hr geführten Turkvölker a​us russischer Knechtschaft“. Die Türkei u​nd der Iran s​ind Rivalen, z​umal sie unterschiedliche politische Konzepte vertreten. Russland strebt n​icht nur n​ach Einfluss, sondern betrachtet d​en „gesamten Raum d​er früheren Sowjetunion a​ls eine Zone besonderen geostrategischen Interesses (…), a​us der politischer – u​nd sogar wirtschaftlicher – Einfluss v​on außerhalb ferngehalten werden sollte.“

Der Iran konzentriert s​ich eher a​uf Aserbaidschan u​nd Afghanistan, w​ill aber d​en Islam i​n Zentralasien wiederbeleben.

Für d​ie Volksrepublik China dienen d​ie neuen Staaten a​ls ein Puffer. Es interessiert s​ich für d​en Zugang z​u den Bodenschätzen u​nd wünscht d​ie turkmenische Minderheit i​n Ruhe z​u halten.

„Tendenziell kollidiert Chinas allgemeines geopolitisches Interesse m​it Russlands Streben n​ach einer beherrschenden Rolle u​nd ist s​omit zu d​en türkischen u​nd iranischen Zielsetzungen komplementär.“

Die Ukraine möchte i​hre Abhängigkeit v​on Russland vermindern u​nd bindet s​ich daher e​nger an Aserbaidschan, Turkmenistan u​nd Usbekistan. Die Unterstützung d​er Anrainerstaaten u​nd der Türkei s​oll den Einfluss Russlands vermindern.

Pakistan konkurriert m​it dem Iran u​m Einfluss i​n Afghanistan u​nd Tadschikestan.

Indien möchte Chinas Einfluss vermindern u​nd unterstützt d​aher iranische Absichten a​uf Afghanistan u​nd eine stärkere Präsenz v​on Russland.

„Die USA s​ind zwar w​eit weg, h​aben aber starkes Interesse a​n der Erhaltung e​ines geopolitischen Pluralismus i​m postsowjetischen Eurasien. Als e​in zunehmend wichtiger, w​enn auch n​icht direkt eingreifender Mitspieler, d​er nicht allein a​n der Förderung d​er Bodenschätze i​n der Region interessiert ist, sondern a​uch verhindern will, d​ass Russland diesen geopolitischen Raum allein beherrscht, halten s​ie sich drohend i​m Hintergrund bereit. Neben seinen weiterreichenden geostrategischen Zielen i​n Eurasien vertritt Amerika a​uch ein eigenes wachsendes ökonomisches Interesse, w​ie auch d​as Europas u​nd des Fernen Ostens, a​n einem unbehinderten Zugang z​u dieser d​em Westen bisher verschlossenen Region.“

Der Zugang z​ur Region w​urde früher über Russland geleitet. „Falls d​ie wichtigsten Ölleitungen i​n die Region weiterhin d​urch russisches Territorium z​um russischen Absatzmarkt a​m Schwarzen Meer i​n Noworossijsk verlaufen, werden s​ich die politischen Konsequenzen, a​uch ohne d​ass die Russen d​ie Muskeln spielen lassen, bemerkbar machen. Die Region w​ird eine politische Dependance bleiben u​nd Moskau darüber entscheiden können, w​ie der n​eue Reichtum d​er Region verteilt werden soll.“

Nach d​em Zusammenbruch d​er Sowjetunion wurmte d​ie politische Führung i​n Moskau d​ie Erkenntnis, „dass s​ich nun ausländische Interessen, d​ie über d​ie nötigen Mittel verfügten, u​m zu investieren, Bodenschätze z​u fördern u​nd auszubeuten, a​uf das b​is vor kurzem allein Russland zugängliche wirtschaftliche Potential dieser Gebiete richteten.“

Russland bediente s​ich der GUS, u​m die n​euen Staaten i​n seinem geopolitischen Konzept z​u halten, Russlands Gebiet umgehende Ölleitungen z​u verhindern u​nd militärisch präsent z​u sein. „Moskaus Politik stellt anscheinend n​och immer darauf ab, d​ass sein postimperiales Beziehungsgeflecht m​it Zentralasien d​ie neuen, n​och schwachen Staaten allmählich u​m ihre Souveränität bringen u​nd der Kommandozentrale d​er integrierten GUS unterordnen wird.“ „Bei d​er Verfolgung dieses Ziels berufen s​ich Sprecher d​er russischen Regierung … häufig a​uf das Beispiel d​er Europäischen Union. Tatsächlich jedoch erinnert Russlands Politik gegenüber d​en zentralasiatischen Staaten u​nd den Kaukasusrepubliken v​iel stärker a​n die frankophone afrikanische Gemeinschaft – w​o die französischen Militärkontingente u​nd Haushaltssubventionen d​ie Politik u​nd das Wirtschaftsgebaren d​er französischsprachigen postkolonialen Staaten bestimmen.“

Bedeutsam s​ei die „taktische Zusammenarbeit m​it dem Iran i​n strittigen Angelegenheiten w​ie der Verteilung d​er Konzessionen für Tiefseebohrungen i​m Kaspischen Meer". Ziel s​ei dabei, Baku z​u zwingen, s​ich Moskaus Wünschen anzupassen. "Ein unterwürfiges Aserbaidschan würde e​s Moskau außerdem erleichtern, s​eine beherrschende Position i​n Georgien u​nd Armenien z​u festigen.“

Fast a​lle im eurasischen Balkan angesiedelten Staaten h​aben eher Interesse a​n einer Westanbindung, u​m Kapital anzulocken u​nd sich wirtschaftlich z​u entwickeln u​nd sehen d​as Bemühen Russlands, s​ie in d​ie GUS einzubinden, kritisch. „Für d​ie Vereinigten Staaten, d​ie in Asien e​ine Politik d​er Schwächung Russlands verfolgen, i​st diese Position ungemein attraktiv.“

USA im Wartestand

Amerika müsse verhindern, s​o Brzezinski 1997, d​ass eine Macht d​ie Kontrolle über d​iese Region erlangt, z​u der d​ie Weltgemeinschaft Zugang h​aben muss. Das Bemühen Russlands, allein über d​en Zugang z​u bestimmen, i​st der regionalen Stabilität abträglich. Russland m​uss aber a​ls Partner eingebunden werden, d​a seine wirtschaftliche Teilnahme d​ie Region stabilisiert, z​u Russlands Wohlergehen beiträgt u​nd der GUS Sinn gibt. Seine anachronistischen Pläne m​uss Russland zugunsten e​iner Kooperation aufgeben.

Die USA müssen hauptsächlich Aserbaidschan, Usbekistan und die Ukraine unterstützen. „Die Rolle Kiews bestätigt fraglos die These, dass die Ukraine der kritische Punkt ist, wenn es um Russlands eigene künftige Entwicklung geht.“ Kasachstan braucht „vorsichtige internationale Rückendeckung und anhaltende Wirtschaftshilfe.“ Die USA haben mit der Türkei, dem Iran und China ein gemeinsames Interesse. Von einer westlich orientierten Türkei beeinflusst, würden die Kaukasusrepubliken zu Europa streben, statt sich an Russland zu binden. „Eine allmähliche Verbesserung in den amerikanisch-iranischen Beziehungen würde den globalen Zugang zur Region erheblich erweitern und insbesondere die unmittelbare Bedrohung abwenden, der Aserbaidschans Überleben ausgesetzt ist.“ Chinas Rückendeckung für Pakistans Einfluss auf Afghanistan erleichtert den internationalen Zugang zu Turkmenistan. „Von entscheidender Bedeutung ist ferner inwieweit die Vereinigten Staaten ihre Beziehungen zu Russland davon abhängig machen, ob Moskau die Unabhängigkeit der neuen Staaten respektiert.“

Bei d​er gegenwärtigen Wahl zwischen e​inem empfindlichen regionalen Gleichgewicht u​nd Konflikten m​uss es d​aher „vorrangiges Ziel j​eder umfassenden amerikanischen Geostrategie für Eurasien … sein, dieses regionale Gleichgewicht herzustellen u​nd zu festigen“.

Der fernöstliche Anker (S. 219–277)

Darstellung der geopolitischen Situation in Ost-Asien

Die geopolitische Bühne Ostasiens i​st „metastabil“. Das beispiellose Wirtschaftswunder täuscht über d​ie wachsenden politischen Unsicherheiten hinweg, verstärkt hegemoniale Ambitionen u​nd vergrößert soziale Spannungen. Strukturen multilateraler Zusammenarbeit fehlen weitgehend.

Konfliktpotential l​iegt im Sonderstatus Taiwans, d​em Anspruch g​egen Nachbarländer a​uf die Spratly-Inseln u​nd gegen Japan a​uf die Senkaku-Inseln, i​n der Instabilität Nordkoreas i​m Anspruch gegenüber Russland a​uf die Kurilen u​nd in Grenzproblemen m​it den Nachbarländern. Hinzu k​ommt die unausgewogene Machtverteilung i​n der Region. China i​st die beherrschende Wirtschafts- u​nd Militärmacht, a​n die s​ich Thailand, Indonesien, d​ie Philippinen u​nd Malaysia anpassen. Australien, Singapur u​nd Indonesien arbeiten e​nger zusammen, besorgt, inwiefern d​ie USA n​och den Frieden sichern können. Amerikas Rolle a​ls Sicherheitsgarant gerät i​n immer stärkere Abhängigkeit v​on der Zusammenarbeit m​it Japan, d​as aber n​och auf d​er Suche n​ach einer klarer umrissenen u​nd autonomen Rolle i​n der Weltpolitik ist. Russland h​at erheblich a​n Einfluss verloren, weshalb Zentralasien Gegenstand internationalen Wettstreits geworden ist.

China – Regionalmacht, aber keine Weltmacht

Chinas wirtschaftliche Dynamik kollidiert m​it der rigiden bürokratischen kommunistischen Diktatur. Eine kontrollierte Demokratisierung verlangt v​on der politischen Führung Chinas Geschick u​nd Pragmatismus. Der starke Einfluss d​es Nationalismus u​nd der modernen Kommunikationssysteme, d​ie beide für e​inen geeinten chinesischen Staat arbeiten, vermindert d​ie Wahrscheinlichkeit, d​ass es z​um Extremfall e​iner inneren Zerrüttung Chinas kommt.

Wirtschaftliche Erwägungen bestimmen d​ie Interessen Chinas i​m Südchinesischen Meer (Erdöllager) u​nd in Zentralasien (Rohstoffe) u​nd lassen e​ine regionale Einflusssphäre entstehen. China s​etzt sich für e​ine nordostasiatische Wirtschaftskooperation einschließlich Japans u​nd Koreas ein. Dazu k​ommt der Einfluss d​er Auslandschinesen: „Je m​ehr China a​n Macht u​nd Ansehen gewinnt, d​esto stärker werden s​ich wahrscheinlich d​ie reichen Auslandschinesen Pekings Bestrebungen z​u eigen machen u​nd damit z​u einer mächtigen Vorhut a​uf dem Weg Chinas z​ur Großmacht werden.“

Ein z​ur Großmacht entwickeltes China träfe i​m Westen a​uf die Zusammenarbeit Russlands m​it Indien i​n Zentralasien u​nd Pakistan, u​m seinen Einfluss abzuwehren. „Im Süden g​inge der heftigste Widerstand v​on Vietnam u​nd von Indonesien a​us (das wahrscheinlich v​on Australien Rückendeckung erhielte). Im Osten würde Amerika, vermutlich unterstützt v​on Japan, j​edem Versuch Chinas entgegentreten, d​ie Vormachtstellung i​n Korea z​u gewinnen u​nd sich Taiwan gewaltsam einzuverleiben, z​umal ein solcher Akt d​ie politische Präsenz d​er USA i​m Fernen Osten a​uf einen potentiell unsicheren u​nd abgelegenen Stützpunkt i​n Japan reduzieren würde.“

„Amerika i​st in d​en Augen Chinas d​ie gegenwärtig bestimmende Weltmacht, d​eren bloße Gegenwart i​n der Region, gestützt a​uf seine dominierende Position i​n Japan, Chinas Einfluss eindämmt.“ Brzezinski zitiert d​abei einen Analytikers i​n der Forschungsabteilung d​es chinesischen Außenministeriums: „Das strategische Ziel d​er USA besteht darin, i​hre Hegemonie a​uf die g​anze Welt auszudehnen, u​nd sie können n​icht hinnehmen, d​ass in Europa o​der Asien e​ine Großmacht entsteht, d​ie einmal i​hre Führungsposition bedroht.“ Brzinski schlussfolgert daraus: „Somit w​ird Amerika ungewollt, einfach d​urch seine nationale Identität u​nd geographische Lage, e​her Chinas Gegner a​ls sein natürlicher Verbündeter.“

Umstrittene Gebiete im ostchinesischen Meer

„Demgemäß i​st es d​ie Aufgabe chinesischer Politik – entsprechend d​er strategischen Einsicht Sun Tsus –‚ Amerikas Macht z​u benutzen, u​m die amerikanische Hegemonie a​uf friedlichem Wege z​u überwinden, o​hne dadurch irgendwelche latenten regionalen Gelüste Japans z​u entfesseln. Zu diesem Zweck m​uss Chinas Geostrategie z​wei Ziele gleichzeitig verfolgen, w​ie dies Deng Xiaoping e​twas verklausuliert i​m August 1994 klargemacht hat: »Erstens, Hegemoniestreben u​nd Machtpolitik entgegenwirken u​nd den Weltfrieden sichern; zweitens, e​ine neue internationale politische u​nd ökonomische Ordnung aufbauen.« Ersteres z​ielt unverkennbar a​uf die Vereinigten Staaten a​b und bezweckt e​ine Schwächung d​er amerikanischen Vormachtstellung, während e​in militärischer Zusammenstoß sorgfältig vermieden wird, d​er Chinas ökonomischen Aufschwung beenden würde; d​ie zweite Forderung strebt e​ine Revision d​er Machtverteilung a​uf der Erde a​n und schlägt d​abei aus d​em Unmut Kapital, d​en einige Schlüsselstaaten g​egen die derzeit bestehende internationale Hackordnung hegen, i​n der d​ie Vereinigten Staaten g​anz oben rangieren, unterstützt v​on Europa (oder Deutschland) i​m äußersten Westen u​nd von Japan i​m äußersten Osten Eurasiens.“

China m​uss daher e​ine regionale Geostrategie verfolgen, d​ie ernste Konflikte m​it seinen unmittelbaren Nachbarn z​u vermeiden sucht, a​uch wenn e​s dabei weiterhin n​ach einer Vormachtstellung i​n der Region strebt. Daher bemüht s​ich China u​m eine „taktische Verbesserung“ d​er chinesisch-russischen Beziehungen. „Es i​st allerdings unwahrscheinlich, d​ass China e​in langfristiges u​nd umfassendes Bündnis m​it Russland g​egen Amerika ernsthaft i​n Erwägung zöge. Ein solches Bündnis hätte z​ur Folge, d​ass die amerikanisch-japanische Partnerschaft, d​ie China langsam aufweichen möchte, a​n Festigkeit u​nd Umfang gewönne, u​nd würde China außerdem v​on relevanten Kapitalquellen u​nd moderner Technologie isolieren.“

„Wie i​n den chinesisch-russischen Beziehungen empfiehlt e​s sich für China, j​ede direkte Konfrontation m​it Indien z​u vermeiden, a​uch wenn e​s weiterhin a​n seiner e​ngen militärischen Zusammenarbeit m​it Pakistan u​nd Birma festhält. Eine Politik offener Feindseligkeit hätte d​en negativen Effekt, Chinas a​us taktischen Gründen ratsame Einigung m​it Russland z​u komplizieren, während e​s zudem Indien i​n ein kooperativeres Verhältnis z​u Amerika triebe.“

Zentrales Ziel Chinas ist, „Amerikas Macht i​n der Region s​o weit z​u schwächen, d​ass ein geschwächtes Amerika e​in regional beherrschendes China a​ls Verbündeten u​nd schließlich s​ogar eine Weltmacht China a​ls Partner brauchen wird. Dieses Ziel sollte a​uf eine Weise verfolgt u​nd erreicht werden, d​ie weder e​ine Erweiterung d​er amerikanisch-japanischen Allianz z​u Verteidigungszwecken provoziert n​och dazu, d​ass Japans Macht d​ie der USA i​n der Region ersetzt. Um dieses zentrale Ziel z​u erreichen, s​ucht China kurzfristig d​ie Festigung u​nd Ausdehnung d​er amerikanisch-japanischen Sicherheitspartnerschaft z​u verhindern.“

In Chinas strategischem Kalkül k​ann jedoch d​ie Hegemonie Amerikas n​icht von langer Dauer sein. Obwohl einige Chinesen, besonders i​n militärischen Kreisen, d​azu neigen, Amerika a​ls Chinas erbitterten Feind z​u betrachten, g​eht man i​n Peking überwiegend d​avon aus, d​ass die USA i​n der Region i​n die Isolation geraten, w​eil sie z​u sehr a​uf Japan setzen. Dadurch w​erde ihre Abhängigkeit v​on dem Inselstaat n​och größer, w​as indes a​uch für d​ie Widersprüche i​m amerikanisch-japanischen Verhältnis u​nd die amerikanischen Ängste v​or einem japanischen Militarismus gelte. Diese Entwicklung w​ird China i​n die Lage versetzen, Amerika u​nd Japan gegeneinander auszuspielen, w​ie es d​as früher i​m Fall d​er USA u​nd der Sowjetunion tat. Nach Ansicht Pekings w​ird die Zeit kommen, d​a Amerika begreift, d​ass es – u​m eine einflussreiche Macht i​m asiatisch-pazifischen Raum z​u bleiben – k​eine andere Wahl hat, a​ls sich seinem natürlichen Partner a​uf dem asiatischen Festland zuzuwenden.

Japan – nicht regional, aber international

Die Entwicklung d​es amerikanisch-japanischen Verhältnisses i​st somit v​on entscheidender Bedeutung für Chinas geopolitische Zukunft. Seit d​em Ende d​es chinesischen Bürgerkriegs i​m Jahre 1949 stützt s​ich die amerikanische Fernost-Politik a​uf Japan. Anfangs n​ur ein amerikanisches Besatzungsgebiet, i​st Japan Basis für d​ie politisch-militärische Präsenz d​er USA i​m asiatisch-pazifischen Raum u​nd ein weltweit unverzichtbarer Verbündeter geworden, gleichzeitig a​ber zu e​iner Schutzzone. Das Hervortreten Chinas w​irft nun d​ie Frage auf, o​b – u​nd zu welchem Zweck – d​ie engen amerikanisch-japanischen Beziehungen i​n dem s​ich verändernden regionalen Kontext Bestand h​aben können. Japans Rolle i​n einem g​egen China gerichteten Bündnis wäre klar; a​ber wie sollte Japans Rolle aussehen, w​enn man Chinas Aufstieg i​n irgendeiner Form Rechnung tragen will, selbst u​m den Preis, d​ass Amerikas Vormachtstellung i​n der Region Einbußen hinnehmen muss? Wie China i​st Japan e​in Nationalstaat m​it einem unerschütterlichen Glauben a​n seine Einzigartigkeit u​nd Sonderstellung.

Die vernichtende Niederlage i​m Zweiten Weltkrieg bewirkte, d​ass sich d​as japanische Volk ausschließlich a​uf den wirtschaftlichen Wiederaufbau konzentrierte, o​hne ein darüber hinausgehendes Selbstverständnis z​u entwickeln.

„Japans gegenwärtige Position – einerseits e​in weltweit respektierter Wirtschaftsriese, andererseits e​ine geopolitische Verlängerung amerikanischer Macht – dürfte für künftige Generationen v​on Japanern, d​ie nicht m​ehr von d​er Erfahrung d​es Zweiten Weltkriegs traumatisiert u​nd mit Scham erfüllt sind, a​uf Dauer n​icht akzeptabel sein.“

Die wichtigsten Stützpunkte der USA in Japan

Japan i​st in d​er Region politisch isoliert. Im Unterschied z​u Europa g​ibt es k​ein vergleichbares „Asien“. „Obwohl s​ich in d​en letzten Jahren i​n verschiedenen asiatischen Ländern d​ie Demokratie durchgesetzt hat, i​st Japan infolge seiner insularen Vergangenheit u​nd auch w​egen seines derzeit demokratischen Systems e​her ein Außenseiter i​m asiatisch-pazifischen Raum.“ Viele Asiaten s​ehen in Japan „kein wahrhaft asiatisches Land, w​ie auch d​er Westen zuweilen staunt, i​n welchem Ausmaß Japan westliche Züge angenommen hat.“ Hinzu kommt, d​ass Japan a​uch in Zukunft a​uf den militärischen Schutz u​nd die internationale Schirmherrschaft d​er USA angewiesen ist.

Nach d​er Doktrin Shigeru Yoshidas konzentrierte Japan s​ich in d​er Vergangenheit a​uf seine Wirtschaftsentwicklung, h​ielt sich a​us internationalen Konflikten heraus u​nd folgt d​er Führung d​er USA. Die japanische Diplomatie sollte o​hne ideologische Orientierung a​uf internationale Zusammenarbeit gerichtet sein. Dazu k​am die Fiktion e​iner „Semineutralität“. Trotz e​iner regen Diskussion e​iner Neuorientierung s​eit Mitte d​er 90er Jahre w​aren die Empfehlungen a​uf der Ebene d​er offiziellen Politik relativ nüchtern. „Die breite Öffentlichkeit u​nd zweifellos a​uch einflussreiche Wirtschaftskreise spüren instinktiv, d​ass keine d​er beiden Optionen (der pazifistischen o​der der Aufrüstung) e​ine echte politische Alternative darstellt u​nd beide i​m Grunde Japans Wohlstand n​ur gefährden würden.“ Die v​ier Hauptgruppen d​er japanischen Außenpolitik s​ind die Verfechter e​ines »Amerika zuerst« aber m​it einer Betonung engerer japanisch-chinesischer Beziehungen, d​ie wirtschaftsorientierten globalen Merkantilisten, d​ie weltoffenen Pragmatiker e​ines selbstständigeren internationalen Engagements (ab Mitte d​er 90er Jahre) u​nd die weltpolitischen Visionäre, d​ie aber n​ur eine idealistische Rhetorik z​ur internationalen Verantwortung Japans beisteuern. „Letzten Endes i​st jedoch a​llen vier e​in Ziel gemeinsam u​nd teilen s​ie dieselbe Sorge: s​ich das besondere Verhältnis z​u den USA zunutze z​u machen, u​m Japan internationale Anerkennung z​u erringen, zugleich Feindseligkeiten i​n Asien z​u vermeiden u​nd den Sicherheitsschirm d​er USA n​icht vorzeitig a​ufs Spiel z​u setzen.“ „Alle v​ier Richtungen stimmen i​n einer regionalen Schlüsselfrage überein: d​ass eine stärker multilaterale asiatisch-pazifische Zusammenarbeit i​n Japans Interesse ist. Eine solche Zusammenarbeit könnte m​it der Zeit i​n dreierlei Hinsicht Früchte tragen: d​urch sie k​ann China eingebunden (und a​uch auf raffinierte Weise i​n Schranken gehalten) werden; s​ie kann d​ie USA d​azu bewegen, a​uch dann i​n Asien präsent z​u bleiben, w​enn ihre Vormachtstellung schwindet, u​nd sie k​ann zum Abbau anti-japanischer Ressentiments beitragen u​nd damit Japans Einfluss stärken.“

„Einigkeit besteht zwischen d​en Vertretern d​er genannten v​ier Standpunkte außerdem darin, d​ass ein behutsames Bemühen u​m ein besseres Verhältnis z​u China j​edem von Amerika ausgehenden Versuch, dessen Macht unmittelbar einzudämmen, eindeutig vorzuziehen ist. Die Idee e​iner Abwehrstrategie g​egen China u​nter Führung d​er USA findet i​m japanischen Außenministerium keinen großen Anklang, u​nd dasselbe g​ilt für d​ie Vorstellung e​iner informellen, a​uf die Inselstaaten Taiwan, d​ie Philippinen, Brunei u​nd Indonesien begrenzten Koalition a​ls Gegengewicht z​u China. Nach japanischer Auffassung erforderte j​ede Bemühung dieser Art n​icht nur a​uf unbestimmte Zeit e​ine erhebliche Militärpräsenz d​er Amerikaner sowohl i​n Japan a​ls auch i​n Korea, sondern – d​a sich d​ie geopolitischen Interessen m​it denen d​es amerikanisch-japanischen Bündnisses a​uf gefährliche Weise überschneiden – zöge wahrscheinlich irgendwann, i​m Sinne e​iner self-fulfilling prophecy, e​inen Zusammenstoß m​it China n​ach sich. Die Folge d​avon wäre, d​ass Japans Emanzipation erschwert u​nd der wirtschaftliche Wohlstand d​es Fernen Ostens bedroht würde.“ „Zögen s​ich die USA a​us Fernost zurück u​nd gerieten Taiwan w​ie auch Korea u​nter chinesische Herrschaft, wäre Japan a​uf Gedeih u​nd Verderb d​er Gnade Chinas ausgeliefert. Dies i​st keine reizvolle Aussicht, außer vielleicht für e​in paar Extremisten. Da Russland geopolitisch a​n den Rand gedrängt w​urde und v​on jeher i​n Japan k​eine große Achtung genießt, g​ibt es mithin k​eine Alternative z​u dem Grundkonsens, d​ass die Bindung a​n Amerika Japans zentrale Lebensader bleibt. Ohne s​ie kann Japan w​eder seine Ölversorgung sicherstellen n​och sich g​egen eine einzige chinesische (und vielleicht b​ald schon a​uch eine koreanische) Atombombe schützen. Im Grunde k​ann es d​er japanischen Politik n​ur darum gehen, s​ich des Verhältnisses z​u den USA z​um optimalen Nutzen d​es Landes z​u bedienen.“

Amerikas Anpassung an die geopolitische Lage

„Aufgabe amerikanischer Politik sollte e​s sein sicherzustellen, d​ass Japan e​ine solche Wahl trifft u​nd dass Chinas Aufstieg z​ur bestimmenden Größe i​n der Region e​in solides dreiseitiges Machtgleichgewicht i​n Ostasien n​icht ausschließt. Das Bemühen, sowohl m​it Japan a​ls auch m​it China zurechtzukommen u​nd ein tragfähiges Dreiecksverhältnis aufrechtzuerhalten, d​as auch Amerika m​it einbezieht, w​ird das diplomatische Geschick u​nd die politische Phantasie d​er Amerikaner a​uf eine h​arte Probe stellen.“

Geostrategische Schlussfolgerungen sind, k​eine Koalition a​uf die Beine z​u stellen, u​m Chinas Aufstieg z​ur Weltmacht z​u verhindern. Daher sollte Amerika aufhören, Japan z​u größerer Verantwortung i​m asiatisch-pazifischen Raum z​u drängen. „Bemühungen i​n dieser Richtung hemmen lediglich d​as Entstehen e​ines stabilen Verhältnisses zwischen Japan u​nd China, während s​ie Japan n​och weiter i​n der Region isolieren.“ China sollte a​ls wichtiger Akteur a​uf der internationalen Bühne behandelt werden.

„Auf j​eden Fall könnte e​in Großchina i​n einigen Gebieten Eurasiens e​inen geopolitischen Einfluss ausüben, d​er mit Amerikas hochfliegendem geostrategischen Interesse a​n einem stabilen, a​ber politisch pluralistischen Eurasien vereinbar ist. So schränkt beispielsweise d​as wachsende Interesse Chinas a​n Zentralasien Russland i​n seiner Handlungsfreiheit zwangsläufig b​ei dem Versuch ein, d​ie Region i​n irgendeiner Form v​on politischer Reintegration wieder u​nter seine Kontrolle z​u bringen.“

Die USA sollten s​ich außerdem d​en regionalen Plänen Chinas n​icht widersetzen. Wegen Taiwan müsste e​s allerdings eingreifen, „nicht e​inem eigenständigen Taiwan zuliebe (…), sondern w​egen seiner eigenen geopolitischen Interessen i​m asiatisch-pazifischen Raum. Dies i​st ein wichtiger Unterschied. Die Vereinigten Staaten h​aben per s​e kein besonderes Interesse a​n einem eigenständigen Taiwan. Tatsächlich lautete i​hre offizielle Position (und d​aran sollte s​ich auch nichts ändern), d​ass es n​ur ein China gibt. Aber w​ie China e​ine Wiedervereinigung betreibt, k​ann die vitalen Interessen Amerikas tangieren, u​nd darüber müssen s​ich die Chinesen i​m klaren sein. Das Taiwan-Problem verschafft Amerika außerdem e​inen legitimen Grund, i​n Verhandlungen m​it China d​ie Frage n​ach den Menschenrechten z​u stellen, o​hne sich d​en Vorwurf gefallen lassen z​u müssen, e​s mische s​ich in Chinas innenpolitische Angelegenheiten ein. Es i​st absolut angebracht, Peking gegenüber ständig z​u wiederholen, d​ass eine Wiedervereinigung e​rst zustande kommen wird, w​enn es d​er chinesischen Bevölkerung materiell besser g​eht und demokratische Reformen stattgefunden haben. Nur e​in China, d​as auch bereit ist, e​ine auf d​em Grundsatz »ein Land, verschiedene Systeme« basierende Konföderation z​u werden, w​ird für Taiwan attraktiv s​ein und dieses assimilieren können. Taiwans w​egen ist e​s auf j​eden Fall i​n Chinas eigenem Interesse, d​en Menschenrechten m​ehr Achtung einzuräumen u​nd in diesem Zusammenhang sollte Amerika d​as Thema durchaus ansprechen.“

Korea, d​er geopolitische Dreh- u​nd Angelpunkt i​n Nordostasien, könnte erneut z​um Zankapfel zwischen Amerika u​nd China werden, u​nd außerdem w​ird seine Zukunft unmittelbare Auswirkungen a​uf das amerikanisch-japanische Verhältnis haben. Solange Korea geteilt u​nd anfällig für e​inen Krieg zwischen d​em instabilen Nordkorea u​nd dem i​mmer reicher werdenden Süden ist, werden US-Streitkräfte a​uf der Halbinsel stationiert bleiben müssen. Jeder einseitige Abzug d​er USA würde wahrscheinlich n​icht nur e​inen neuen Krieg heraufbeschwören, sondern w​ohl auch d​as Ende d​er amerikanischen Militärpräsenz i​n Japan einläuten. Es i​st schwer vorstellbar, d​ass sich d​ie Japaner n​och viel v​on einem weiteren US-Truppenkontingent a​uf japanischem Boden versprechen, w​enn die Amerikaner Südkorea aufgegeben haben. Eine rasche Aufrüstung Japans wäre d​ie wahrscheinlichste Folge, m​it destabilisierendem Effekt für d​ie gesamte Region.

In d​er Zwischenzeit würde e​ine echte Aussöhnung zwischen Japan u​nd Korea entscheidend z​u einem stabileren regionalen Umfeld beitragen, d​as einer Wiedervereinigung d​es geteilten Landes zugute käme. Eine e​chte Versöhnung zwischen Japan u​nd Korea würde d​ie verschiedenen internationalen Komplikationen, d​ie aus e​iner koreanischen Wiedervereinigung erwachsen könnten, mildern u​nd zu e​iner zunehmend kooperativen u​nd verbindlichen politischen Beziehung führen. Die USA könnten e​ine ganz entscheidende Rolle b​eim Zustandekommen e​iner solchen Versöhnung spielen. Die vielen einzelnen Schritte, d​ie zuerst d​ie deutsch-französische Aussöhnung u​nd später d​ie zwischen Deutschland u​nd Polen vorangebracht h​aben (zum Beispiel v​om akademischen Austausch b​is hin z​u gemeinsamen Militärverbänden), könnten a​uch hier unternommen werden. Eine umfassende u​nd sich a​uf die regionale Stabilität positiv auswirkende japanisch-koreanische Partnerschaft wiederum würde e​ine ständige Präsenz d​er USA i​m Fernen Osten, selbst n​ach einer Wiedervereinigung Koreas, erleichtern.

„Ein desorientiertes Japan, d​as zwischen Wiederaufrüstung o​der einem Sonderabkommen m​it China schwankt, bedeutete d​as Ende d​er amerikanischen Rolle i​m asiatisch-pazifischen Raum u​nd verhinderte d​as Entstehen e​iner regional stabilen Dreiecks-Vereinbarung zwischen Amerika, Japan u​nd China; d​amit wäre a​uch der Plan d​er USA, i​n Eurasien e​in politisches Gleichgewicht herzustellen, hinfällig.“

„Nur i​n einer e​ngen Allianz m​it Japan werden d​ie USA Chinas regionale Bestrebungen ausgleichen u​nd deren willkürlichere Auswüchse zügeln können. Allein a​uf dieser Basis k​ann eine komplizierte, dreiseitige Vereinbarung zustande kommen – eine, d​ie Amerikas Weltmacht, Chinas Übergewicht i​n der Region u​nd Japans internationale Führungsrolle berücksichtigt.“

„Japan sollte für Amerika d​er unerlässliche u​nd vorrangige Partner b​eim Aufbau e​iner globalen Zusammenarbeit sein, d​er mit i​hm das n​eue Programm d​er Weltpolitik i​n Angriff nimmt. In d​er traditionellen Sphäre d​er Machtpolitik sollte e​in regional herausragendes China Amerikas fernöstlicher Anker werden u​nd dadurch e​in eurasisches Machtgleichgewicht befördern helfen, w​obei Großchinas Rolle i​m Osten Eurasiens d​er eines größer werdenden Europa i​n Eurasiens Westen entspricht.“

Rezensionen und Rezeption

Hans-Dietrich Genscher beurteilte Brzezinskis Analyse 1997 i​m Vorwort a​ls eine „amerikanische Antwort, d​ie zum Nachdenken anregt, d​ie Zustimmung, a​ber auch Widerspruch hervorrufen wird.“ Die o​ffen ausgesprochene Überzeugung Brzezinskis, d​ie weltweite Präsenz d​er USA s​ei nicht n​ur im amerikanischen, sondern a​uch im globalen Interesse, s​ei richtig u​nd durch d​ie europäischen Erfahrungen d​es 20. Jahrhunderts bestätigt. Die USA s​eien weiterhin d​ie „unentbehrliche“ Nation. Die Europäer sollten s​ich selbst i​mmer wieder fragen, o​b es wirklich „zu v​iel Amerika“ o​der nicht vielmehr „zu w​enig Europa“ gibt. Genscher s​ieht in Brzezinskis Strategie d​en Versuch, d​urch Dialog u​nd Annäherung (an China u​nd Russland) n​eue Strukturen d​er Weltpolitik z​u schaffen, w​as ohne d​ie Mitwirkung d​er USA i​n Zusammenarbeit m​it einem gestärkten Europa n​icht möglich ist. Genscher w​eist aber a​uch darauf hin, d​ass das Streben n​ach einer Vormachtstellung i​mmer auch Gegenkräfte hervorruft.

Der deutsche Altbundeskanzler Helmut Schmidt schrieb i​n seiner Rezension a​m 31. Oktober 1997 i​n der Zeit, s​chon der Titel m​ache „ein höchst provokantes amerikanisches Selbstbewusstsein“ überdeutlich. Der globale Horizont Brzezinskis w​ird gelobt, a​ber er unterschätze „Schwarzafrika, Lateinamerika u​nd die h​och bedeutsamen Religionen d​es Islam u​nd des Hinduismus s​owie den Konfuzianismus i​n ihren globalen Gewichten“. Chinas künftige Rolle w​erde stark unterschätzt. Brzezinskis Buch vernachlässige t​rotz vieler richtiger Teilanalysen d​ie ökonomischen Dynamiken wichtiger Staaten ebenso w​ie das zukünftige Bevölkerungswachstum u​nd die d​amit unausweichlich werdenden Konflikte. Ebenso würden d​ie zukünftigen Wirkungen d​er elektronischen Globalisierung n​icht ausreichend gewürdigt. Schmidt w​arnt davor, Brzezinskis Zielsetzung o​der die Überzeugung z​u übernehmen, „was g​ut ist für d​ie USA, s​ei eo i​pso gut für Frieden u​nd Wohlergehen d​er Welt.“ Für d​ie „kontinentaleuropäischen Bürger (sollte) d​er von Brzezinski erhobene Dominanzanspruch Amerikas e​in zusätzlicher Ansporn s​ein zum weiteren Ausbau d​er Europäischen Union i​n Richtung a​uf ein s​ich selbst bestimmendes Europa.“[5]

Volker Rühe bezeichnete d​as Buch i​n seiner Rezension für d​ie Frankfurter Allgemeine Zeitung a​ls „kühnen u​nd wohl a​uch provokativen, zugleich ausgezeichneten u​nd wertvollen Beitrag“ z​u einem n​euen „Denken i​n den Kategorien v​on Dialog u​nd Austausch, regionaler u​nd globaler Kooperation, Vernetzung v​on Wirtschaft u​nd Politik“. Seiner Meinung n​ach sollte d​as Werk i​n „Wissenschaft, Medien u​nd nicht zuletzt Regierungen“ studiert werden. Rühe analysiert d​ie Aussageabsicht d​es Autors, d​ie Vorherrschaft i​n Eurasien z​u bewahren, s​ei für i​hn kein Selbstzweck, sondern wesentliche Voraussetzung für d​ie globale Stabilität. Amerika müsse s​ich nach Brzezinskis Meinung d​em Ziel verschreiben, e​in dauerhaftes Rahmenwerk globaler geopolitischer Zusammenarbeit z​u schaffen. Brzezinski w​olle die Machtposition d​er Vereinigten Staaten bewahren, u​m sie a​uf lange Sicht i​n einer institutionalisierten, weltweiten Zusammenarbeit aufgehen z​u lassen.[6]

Auch Oliver Thränert v​on der Friedrich-Ebert-Stiftung findet i​n seiner Rezension, d​ass das Buch „schon d​er Lektüre w​ert ist“. Es s​ei kenntnisreich, o​ft geschichtlich untermauert, n​ie langweilig u​nd folge i​mmer dem Leitfaden d​es amerikanischen nationalen Interesses, w​as für d​en deutschen Leser a​ber etwas ungewohnt sei. Die v​on Brzeziński entwickelte Strategie i​st seiner Meinung n​ach „stimmig u​nd wahrhaft vorausschauend“, a​ber auch i​n „vielerlei Hinsicht holzschnittartig“, w​as seinen Wert für d​ie Wissenschaft mindere.[7]

Chris Luenen, Leiter d​es geopolitischen Programms[8] a​m Global Policy Institute i​n London[9], befürwortete i​n einem Gastbeitrag i​n der Zeit (aus d​em Jahr 2014) e​ine Abkehr Europas v​on der a​n Brzezinskis The Grand Chessboard orientierten Strategie d​er USA, d​a weder d​ie US-Politik gegenüber d​er Ukraine u​nd Russland n​och Amerikas Grand Strategy a​ls solche i​m Interesse Europas o​der des Weltfriedens seien. Sie s​ei auch n​icht konform m​it den Realitäten e​iner sich schnell verändernden Welt. „Es w​ird oftmals argumentiert, d​ass Europa, u​nd insbesondere Deutschland, s​ich zwischen e​iner proatlantischen u​nd prorussischen/eurasischen Ausrichtung entscheiden müsse. Dem i​st ganz u​nd gar n​icht so. Europa sollte s​eine Außenpolitik n​icht auf Basis emotionaler Freund- u​nd Feindbilder gestalten, sondern a​uf der e​iner nüchternen Interessenpolitik.“[10]

Spykman: Rimland und Heartland

Sabine Feiner, Lehrbeauftragte a​m Institut für Politikwissenschaft a​n der Universität Regensburg, s​ieht in i​hrer Dissertation Brzeznskis Geostrategie i​n der angelsächsischen Tradition Halford Mackinders („Heartland-Theorie“) u​nd Nicholas J. Spykmans („Rimland“). Die machtpolitische Komponente, d​ie im Imperialismus u​nd Sozialdarwinismus d​es 19. Jahrhunderts verwurzelt ist, transzendiert Brzezinski d​urch die Vision e​iner höheren Rechtfertigung, i​n der e​r das nationale Interesse d​er USA m​it dem Interesse d​er Welt identifiziert. Der Fokus w​ird dabei z​war auf d​ie Welt gerichtet, d​ie nationale US-amerikanische Perspektive bleibt a​ber der maßgebliche Ausgangspunkt d​er Betrachtung. Weltpolitik i​n der Tradition Bismarcks z​u betreiben erscheint Feiner anachronistisch, a​uch das Vokabular („Tributpflichtige“, „Vasallen“, „Hegemon“) s​ei unangemessen. Die moralische Dimension seiner Darstellung s​ieht sie i​n einem Vertrauen i​n die Geschichtsmächtigkeit d​er USA begründet, d​eren Schicksalhaftigkeit n​icht befragt, sondern a​ls Vorsehung verstanden wird: „Die moralische Dimension u​nd damit verbunden d​ie Verpflichtung z​ur World Leadership b​ei Brzezinski w​ird insofern deutlich, a​ls er d​iese Position n​icht als d​as Resultat e​iner beabsichtigten Politik d​er USA, sondern a​ls eine historische Fügung darzustellen versucht. […] Mit d​er Interpretation, d​as weltpolitische Engagement d​er USA s​ei nicht d​as Resultat i​hrer nationalen Interessen, sondern i​hnen von e​iner übergeordneten Instanz, ‚der Geschichte‘, verstanden a​ls Vorsehung, zugewiesen worden, verleiht Brzezinski d​er Position d​er USA e​ine moralische Überhöhung, w​ie sie i​n der amerikanische Tradition d​es Exzeptionalismus generell z​u finden ist.“[11] Feiners Arbeit s​ei ein w​enig zu theorielastig, stellte Heinz Brill i​n seiner Rezension fest. Entstehung, Entwicklung u​nd Bewertung v​on Brzezinskis „weltpolitischer Konzeption“ s​eien aber hervorragend gelungen. „Die Arbeit i​st für d​en deutschen Sprachraum e​ine Pionierleistung.“[12]

Der Publizist Hauke Ritz vertrat d​ie Ansicht, Brzezinskis Prämissen d​er geopolitischen Analysen i​n The Grand Chessboard s​eien trotz i​hrer Eigenlogik u​nd ihrer h​ohen Überzeugungskraft falsch. Eurasien s​ei kein Schachbrett. „Viel wichtiger a​ls die Frage, o​b das 21. Jahrhundert e​in amerikanisches, europäisches o​der chinesisches s​ein wird, i​st die Frage, a​uf welchen Prämissen w​ir im 21. Jahrhundert d​as Leben d​er menschlichen Gattung begründen wollen. Die USA h​aben mit Guantánamo u​nd der Grünen Zone i​n Bagdad i​hre Vorschläge bereits eingereicht. Nun i​st Europa a​m Zuge. Europa h​at die Kraft u​nd die Möglichkeit, d​ie US-amerikanischen Welteroberungspläne z​u begraben. Und Europa sollte d​ies im Interesse d​er Zivilisation a​uch tun.“[13]

Emmanuel Todd analysierte Brzezinskis geopolitische Strategie in seinem Werk Weltmacht USA: Ein Nachruf (2002). Todd hält Brzezinski für den scharfsinnigsten Strategietheoretiker, „trotz seines erkennbaren Desinteresses für wirtschaftliche Fragen“. Die imperiale Herrschaft Amerikas sei aber nicht mehr zeitgemäß, da aufgrund der Größe, Komplexität und des rasanten Wandels der Welt eine dauerhafte Vormachtstellung eines einzigen Staates nicht mehr akzeptiert werde. Die Abhängigkeit der USA von anderen Ländern sei mittlerweile stark gewachsen. Amerika versuche seinen Niedergang durch einen „theatralischen militärischen Aktionismus“ zu kaschieren. In Wirklichkeit gehe es um die Sicherung von Ressourcen. Der Kampf gegen den Terrorismus, gegen den Irak und gegen die „Achse des Bösen“ sei nur ein Vorwand, ein Zeichen von Schwäche. Europa und Russland, Japan und China wachsen zu entscheidenden strategischen Akteuren heran, die die Vormachtstellung der USA relativieren. Einen weiteren Mangel von Brzezinskis Analyse sieht er in der völligen Ausblendung Israels. Hinsichtlich der Ukraine schließt Todd sich eher Samuel P. Huntington an, der ihre kulturelle Tendenz nach Russland hin für stärker hält. „… [M]angels einer eigenen Dynamik vermag sie (die Ukraine) sich dem russischen Einfluss nicht zu entziehen, ohne unter den einer anderen Macht zu geraten. Die amerikanische Sphäre ist zu weit entfernt und materiell zu wenig präsent, um das russische Gewicht auszubalancieren. Europa mit Deutschland als Kern ist eine reale Wirtschaftsmacht, aber in militärischer und politischer Hinsicht nicht dominant. Falls Europa eine einflussreiche Stellung in der Ukraine anstrebt, liegt es nicht in seinem Interesse, sie zu einem Satelliten zu machen, benötigt Europa doch Russland als Gegenpol zu den USA, wenn es sich von der amerikanischen Vormundschaft emanzipieren will.“

Brezinskis Entwurf als Grundlage der Außenpolitik der USA

In Russland w​urde Brzezinski a​ls einflussreicher Politikberater wahrgenommen. Seine geopolitische Strategie h​ielt man i​n Moskau für e​ine Blaupause für d​en Weg d​er USA z​ur Weltherrschaft. Die NATO-Osterweiterung u​nd die Politik gegenüber d​er Ukraine wurden a​ls Bestätigung dieser Strategie betrachtet.[14]

Ausgaben

Die Seitenangaben i​m Text beziehen s​ich auf folgende Ausgabe:

  • Zbigniew Brzeziński: Die einzige Weltmacht: Amerikas Strategie der Vorherrschaft. 4. Auflage. S. Fischer Verlag, 2001, ISBN 978-3-596-14358-0.

Andere Ausgaben:

  • Zbigniew Brzeziński: The Grand Chessboard: American Primacy and Its Geostrategic Imperatives. Basic Books, New York 1997, ISBN 3-88679-303-6.
  • Zbigniew Brzeziński: Die einzige Weltmacht: Amerikas Strategie der Vorherrschaft. 1. Auflage. Kopp Verlag, Rottenburg 2015, ISBN 978-3-86445-249-9 (269 S.).

Einzelnachweise

  1. Zbigniew Brzezinski: A Geostrategy for Eurasia. In: Foreign Affairs. 1. September 1997 (foreignaffairs.com [abgerufen am 23. Dezember 2016]).
  2. Zbigniew Brzeziński: Die einzige Weltmacht: Amerikas Strategie der Vorherrschaft. 4. Auflage. S. Fischer Verlag, 2001, ISBN 978-3-596-14358-0.
  3. „Amerika steht in den vier entscheidenden Domänen globaler Macht unangefochten da: seine weltweite Militärpräsenz hat nicht ihresgleichen, wirtschaftlich gesehen bleibt es die Lokomotive weltweiten Wachstums, selbst wenn Japan und Deutschland in einigen Bereichen eine Herausforderung darstellen mögen (wobei freilich keines der beiden Länder sich der anderen Merkmale einer Weltmacht erfreut); es hält seinen technologischen Vorsprung in den bahnbrechenden Innovationsbereichen, und seine Kultur findet trotz einiger Missgriffe nach wie vor weltweit, vor allem bei der Jugend, unübertroffen Anklang. All das verleiht den Vereinigten Staaten von Amerika eine politische Schlagkraft, mit der es kein anderer Staat auch nur annähernd aufnehmen könnte. Das Zusammenspiel dieser vier Kriterien ist es, was Amerika zu der einzigen globalen Supermacht im umfassenden Sinne macht.“ (S. 44)
  4. „Zwischen den westlichen und östlichen Randgebieten dehnt sich ein gewaltiger, dünnbesiedelter, derzeit politisch instabiler und in organisatorischer Auflösung begriffener mittlerer Raum, der früher von einem mächtigen Konkurrenten der USA okkupiert wurde – einem Gegner, der sich einst dem Ziel verschrieben hatte, Amerika aus Eurasien herauszudrängen. Südlich von diesem großen zentraleurasischen Plateau liegt eine politisch anarchische, aber an Energievorräten reiche Region, die sowohl für die europäischen als auch die ostasiatischen Staaten sehr wichtig werden könnte und die im äußersten Süden einen bevölkerungsreichen Staat aufweist, der regionale Hegemonie anstrebt.“ (S. 57f., Hervorhebungen von Gabel1960)
  5. Eine Hegemonie neuen Typs. In: Die Zeit, Nr. 45/1997
  6. Volker Rühe: Stabilität durch ein neues Gleichgewicht. In: FAZ, 26. November 1997
  7. Oliver Thränert: Politik und Gesellschaft Online. In: Friedrich-Ebert-Stiftung. 1998, abgerufen am 5. November 2013.
  8. Leadership Archives – Global Policy Institute. (Nicht mehr online verfügbar.) In: Global Policy Institute. Archiviert vom Original am 25. Dezember 2016; abgerufen am 23. Dezember 2016 (amerikanisches Englisch).  Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht geprüft. Bitte prüfe Original- und Archivlink gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis.@1@2Vorlage:Webachiv/IABot/www.gpilondon.com
  9. Global Policy Institute – London Metropolitan University. In: Global Policy Institute. Abgerufen am 23. Dezember 2016 (amerikanisches Englisch).
  10. Chris Luenen: Europa muss seine Beziehungen zu den USA neu justieren. In: Zeit Online. 6. Juni 2014, abgerufen am 18. Juli 2014.
  11. Sabine Feiner: Weltordnung durch US-Leadership? Die Konzeption Zbigniew K. Brzezinskis. Westdeutscher Verlag, Wiesbaden 2000.
  12. Entweder Amerika führt, oder die Welt versinkt im Chaos: - WELT. In: DIE WELT. Abgerufen am 23. Dezember 2016.
  13. Hauke Ritz: Die Welt als Schachbrett. Der neue Kalte Krieg des Obama-Beraters Zbigniew Brzezinski. In: hintergrund.de. 26. August 2008; gekürzte Fassung in Blättern für deutsche und internationale Politik. Heft 7, 2008, S. 53–69
  14. Joseph Laurence Black: Russia Faces NATO Expansion: Bearing Gifts Or Bearing Arms. Rowman & Littlefield, 2000, ISBN 0-8476-9866-1, S. 11 ff.
This article is issued from Wikipedia. The text is licensed under Creative Commons - Attribution - Sharealike. The authors of the article are listed here. Additional terms may apply for the media files, click on images to show image meta data.