Ständerat
Der Ständerat (französisch Conseil des États, italienisch Consiglio degli Stati, rätoromanisch Cussegl dals Stadis oder Cussegl dals Chantuns) ist die kleine Kammer des Parlaments der Schweizerischen Eidgenossenschaft. Der Name kommt von Stand, der alten Bezeichnung für die Schweizer Kantone; mit dem Ständestaat hat er nichts zu tun.
Da es im Ständerat mehr altgediente Politiker gibt als in der anderen Parlamentskammer, dem Nationalrat, wird er in der Umgangssprache auch mit dem ursprünglich berndeutschen Wort Stöckli (Auszugshaus) benannt.
Die Wortprotokolle des Ständerates werden im Amtlichen Bulletin der Bundesversammlung und auf einer Website noch am selben Tag veröffentlicht (siehe Weblinks).
Mitgliederzahl
Der Ständerat besteht aus 46 Mitgliedern, je eines für jeden der früher Halbkanton genannten Kantone (Basel-Landschaft, Basel-Stadt, Nidwalden, Obwalden, Appenzell Ausserrhoden und Appenzell Innerrhoden) und je zwei für alle anderen Kantone. Der Kanton Zürich hat mit 1,4 Millionen Einwohnern also im Ständerat das gleiche Gewicht wie Uri mit 35'000 Einwohnern. Die Mitglieder des Ständerats werden als Ständerätinnen und Ständeräte bezeichnet (siehe auch Frauenanteile im Ständerat ab 1971).
Arbeitssprachen
In den Debatten sind Hochdeutsch und Französisch gebräuchlich, Italienisch wird selten benutzt. Es gibt keine Simultanübersetzung, das heisst, dass alle Abgeordneten in ihrer Muttersprache sprechen und dass jedes Ständeratsmitglied Deutsch und Französisch zumindest verstehen sollte.
Wahlverfahren
Die Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft legt in Art. 150 fest, dass die Regelung der Wahl und Amtsdauer der Ständeräte in die Zuständigkeit der Kantone fällt. Somit existiert de jure im Gegensatz zum Nationalrat keine Gesamterneuerungswahl, demzufolge auch keine konstituierende Sitzung und kein Alterspräsident. Jeder Kanton ist also frei darin, den Zeitpunkt der Wahl und das Wahlverfahren für seine Ständeratsmitglieder selbst festzulegen.
Mit der Zeit hat sich allerdings eine Vereinheitlichung des Wahlverfahrens ergeben. Alle Kantone haben als Wahlmodus die unmittelbare Wahl durch das Kantonsvolk bestimmt und die Amtsdauer auf vier Jahre festgelegt. Mit Ausnahme der Kantone Jura und Neuenburg,[1] die ihre Ständeräte nach Proporz wählen, werden die Ständeräte heute in allen Kantonen mit Majorzwahl durch das Volk gewählt. Der Ständerat des Kantons Appenzell Innerrhoden wird an der Landsgemeinde gewählt; im Kanton Neuenburg können sich auch Ausländer an den Ständeratswahlen beteiligen. Neuerdings können im Kanton Glarus seit einem Landsgemeindebeschluss auch 16- und 17-Jährige das aktive Wahlrecht auf Gemeinde- wie Kantonsebene (und somit bei Ständeratswahlen) wahrnehmen. Im Kanton Glarus ist zudem das passive Wahlrecht insofern eingeschränkt, als bisherige Ständeratsmitglieder nicht wiedergewählt werden können, wenn sie das 65. Lebensjahr vollendet haben.[2]
In allen Kantonen mit Ausnahme des Kantons Appenzell Innerrhoden findet die Wahl der Ständeräte am selben Tag statt wie die Nationalratswahl. In Appenzell Innerrhoden findet die Wahl an der traditionellen Landsgemeinde im April vor den Nationalratswahlen statt. In allen Kantonen, die den Ständerat im Majorzverfahren wählen, ist allerdings ein zweiter Wahlgang nötig, wenn im ersten Wahlgang nicht mindestens so viele Kandidaten das absolute Mehr erreicht haben, wie Sitze zu vergeben sind.
Auch in den Kantonen Graubünden und Zug fand die Wahl der Ständeräte zunächst schon ein Jahr vor der Nationalratswahl statt. Per Verfassungsänderung im Jahre 2007 haben nun auch die Bündner und Zuger die Praxis der Mehrheit aller Kantone übernommen und wählen ihre Ständeräte parallel zur Nationalratswahl. Während jedoch Graubünden die Änderung schon auf die Wahl 2007 vorgenommen hat, trat sie in Zug erst auf die nächsten Gesamterneuerungswahlen im Jahr 2011 in Kraft.
Eine vorzeitige Auflösung des Ständerates ist nur im Falle einer vom Volk beschlossenen Totalrevision der Bundesverfassung möglich. Die vorzeitige Abwahl seiner Mitglieder ist lediglich im Kanton Uri vorgesehen. Ansonsten findet nur beim vorzeitigen Rücktritt oder bei einem Todesfall eines Ständerates eine Ersatzwahl für den Rest der Amtsperiode statt.
Als Vertreter der Kantone wurden die Ständeräte zunächst von den jeweiligen Kantonsparlamenten bestimmt. Ab 1867 begannen verschiedene Kantone, ihre Ständeräte durch das Volk zu wählen. Die Einführung der Volkswahl war ein über hundert Jahre dauernder Prozess: Der Kanton Bern führte dieses Verfahren 1977 als letzter ein, während der 1979 gegründete Kanton Jura direkt dazu überging. Die nachfolgende Tabelle zeigt das Jahr der Einführung.[3][4]
Kanton | Einführung | Kanton | Einführung |
---|---|---|---|
Obwalden | 1867 | Tessin | 1892 |
Zürich | 1869 | Genf | 1893 |
Solothurn | 1869 | Appenzell Innerrhoden | 1895 |
Thurgau | 1869 | Schwyz | 1898 |
Schaffhausen | 1876 | Luzern | 1904 |
Nidwalden | 1877 | Aargau | 1904 |
Appenzell Ausserrhoden | 1877 | Waadt | 1917 |
Graubünden | 1880 | Wallis | 1921 |
Zug | 1881 | St. Gallen | 1967 |
Glarus | 1887 | Neuenburg | 1971 |
Uri | 1888 | Freiburg | 1972 |
Basel-Stadt | 1889 | Bern | 1977 |
Basel-Landschaft | 1892 | Jura | 1979 |
Parteien
Aufgrund des Wahlverfahrens unterscheidet sich die Zusammensetzung des Ständerates nach Parteien von jener im Nationalrat – seit Jahrzehnten sind der Freisinn sowie die Christdemokraten die zwei stärksten Parteien, während die SVP (ebenso wie früher die SP) deutlich schwächer ist als in der grossen Kammer.
Die 46 Sitze verteilen sich wie folgt (jeweils zu Beginn der Legislaturperiode):
Partei | 2019 | 2015 | 2011 | 2007 | 2003 | 1999 | 1995 | 1991 | 1987 | 1983 | 1979[Anm. 1] | 1975 | 1971 | 1967 |
---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|
CVP | 13 | 13 | 13 | 15 | 15 | 15 | 16 | 16 | 21 | 18 | 19 | 18 | 17 | 18 |
FDP | 12 | 13 | 11 | 12 | 14 | 18 | 17 | 18 | 14 | 14 | 11 | 14 | 15 | 15 |
SP | 9 | 12 | 11 | 9 | 9 | 6 | 5 | 3 | 4 | 6 | 9 | 6 | 4 | 2 |
SVP | 6 | 5 | 5 | 7 | 8 | 7 | 5 | 4 | 4 | 5 | 5 | 5 | 5 | 6[Anm. 2] |
GPS | 5 | 1 | 2 | 2 | – | – | – | – | – | – | – | – | – | – |
GLP | – | – | 2 | 1 | – | – | – | – | – | – | – | – | – | – |
BDP | – | 1 | 1 | – | – | – | – | – | – | – | – | – | – | – |
LPS | – | – | – | –[Anm. 3] | – | – | 2 | 3 | 2 | 3 | 2 | 1 | 2 | 2 |
LdU | – | – | – | – | – | – | – | 1 | 1 | 1 | – | – | – | – |
übrige | 1[Anm. 4] | 1[Anm. 4] | 1[Anm. 4] | – | – | – | – | 1[Anm. 5] | – | – | – | – | – | – |
Anmerkungen
- Der Kanton Jura wurde 1979 gegründet, daher stieg die Anzahl Ständeräte von 44 auf 46.
- 3 Sitze für Bauern-, Gewerbe- und Bürgerpartei, 3 für Demokratische Parteien aus den Kanton Glarus und Graubünden. Diese Parteien schlossen sich 1971 zur Schweizerischen Volkspartei zusammen.
- Im Jahre 2009 fand die Fusion mit der FDP statt.
- parteilos
- Lega dei Ticinesi, Landesring der Unabhängigen
Arbeiten des Ständerats
Die Arbeiten und Kompetenzen des Ständerats regelt das Bundesgesetz über die Bundesversammlung (Parlamentsgesetz) sowie der fünfte Titel der Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft. Der Ständerat bildet mit dem Nationalrat die Bundesversammlung, welche unter Vorbehalt der Rechte von Volk und Ständen die oberste Gewalt in der Schweiz ausübt (Art. 148 BV). Beide Kammern werden als Räte bezeichnet. Der Ständerat und der Nationalrat tagen nicht ständig, sondern treffen sich regelmässig zu Sessionen (Art. 151 BV). In der Regel gibt es in einem Jahr vier Sessionen zu je drei Wochen, mit vier bis fünf Sitzungstagen pro Woche: die Frühjahrssession im März, die Sommersession im Juni, die Herbstsession im September und die Wintersession im November.[5] Sofern die Sessionen nicht ausreichen, kann ein Rat für sich eine Sondersession einberufen (Art. 2 Abs. 2 ParlG). Bei besonderen Ereignissen kann ein Viertel der Mitglieder eines Rates oder der Bundesrat die Einberufung einer ausserordentlichen Session verlangen (Art. 2 Abs. 3 ParlG); es versammeln sich dann beide Räte gleichzeitig (siehe Liste der ausserordentlichen Sessionen).
Verfahren
Die Sitzungen des Ständerates leitet der auf ein Jahr gewählte Ständeratspräsident. Die Ständeräte stimmen ohne Instruktionen ihrer Kantone oder Kantonsregierungen – dies beispielsweise im Gegensatz zum deutschen Bundesrat – und sind in der Ausübung ihres Mandates somit völlig frei. Entsprechend ist die althergebrachte Formulierung «Vertretung der Kantone» irreführend.
Die beiden Kammern Ständerat und Nationalrat sind politisch völlig gleichwertig – ein Beschluss ist nur gültig, wenn er von beiden Kammern in derselben Fassung verabschiedet wurde. Alle Geschäfte werden nacheinander von beiden Räten behandelt. Die Ratsvorsitzenden legen gemeinsam fest, welcher Rat ein Geschäft zuerst behandelt («Erstrat»).
Können sich National- und Ständerat nach der ersten Behandlung nicht auf einen gemeinsamen Text einigen, so findet ein Differenzbereinigungsverfahren statt, wobei das Geschäft zwischen beiden Räten hin und her pendelt. Nach drei erfolglosen Durchgängen wird die Einigungskonferenz einberufen. Wird der Vorschlag der Einigungskonferenz von einer der Parlamentskammern abgelehnt, ist das Geschäft gescheitert. Weitere Erläuterungen zum Prozedere: siehe Gesetzgebungsverfahren (Schweiz).
Ständerat und Nationalrat zusammen bilden die Vereinigte Bundesversammlung, die für Wahlen und bei einigen anderen besonderen Anlässen zusammentritt.
Einkommen und Entschädigungen
Mitglieder
Für die aktuellen Ständeratswahlen siehe Schweizer Parlamentswahlen 2019 (Kontext) sowie Resultate der Ständeratswahlen (2019–2023) (genaue Resultate).
Geschichte
Die Rolle des Ständerates als Kantonsvertretung schälte sich in den Vorarbeiten zur ersten Bundesverfassung von 1848 heraus. Der konservativen Konfliktpartei im Sonderbundskrieg lag viel daran, den Kantonen eine gewisse staatliche Souveränität zu bewahren. Als Kompromiss billigten die siegreichen Liberalen der Gegenpartei als Ersatz für die Tagsatzung den Ständerat zu, der mit seiner Stimmenparität aller Kantone den vorab kleinen Sonderbundskantonen ein überproportionales Stimmengewicht verlieh und damit im neu geschaffenen Bundesstaat einen Ausgleich zum Nationalrat schuf. Das System war allerdings nicht selber erfunden, sondern imitierte unübersehbar das Zweikammersystem der US-amerikanischen Verfassung. Im Gegensatz zu der seit dem Mittelalter tradierten Tagsatzung stimmen die Mitglieder des Ständerates jedoch nicht nach Weisungen (Instruktionen) der Kantone, sondern nach eigenem politischem Ermessen und politisch-ökonomischer Interessenlage respektive Parteizugehörigkeit.
Abstimmungsverfahren
Die Stimmabgabe erfolgte im Ständerat früher mit Handerheben; gezählt wurde von Hand durch zwei als Stimmenzähler eingesetzte Ratsmitglieder. Auf Begehren von zehn Ratsmitgliedern erfolgte ein Namensaufruf, was aber in der Praxis kaum je stattfand. Der Ständerat geriet im Dezember 2012 im Rahmen einer dreimaligen Falschauszählung einer Abstimmung zum Verbot von Reptilienhäuten in die Kritik. Durch Videoaufnahmen von Politnetz kamen dabei drei Falschabstimmungen bei einem Geschäft zu einem Reptilienimportverbot zu Tage, die Abstimmung musste bisher zweimal wiederholt werden. Die Gegner der elektronischen Abstimmung sahen jedoch kein Problem in solchen Zählfehlern.[6] Zwei Ständerate, Hannes Germann (SVP, Schaffhausen) und Paul Niederberger (CVP, Nidwalden), hatten damals sogar mit Konsequenzen gedroht, da die Videoaufnahmen im Ständerat nicht rechtmässig gewesen seien.[7] Bereits im Frühling des gleichen Jahres hatte es eine Fehlauszählung gegeben; eine Abstimmung musste wiederholt werden, nachdem mehr Stimmen gezählt wurden als Räte im Saal vorhanden waren.
Schliesslich gab die Mehrheit des Ständerates am 10. Dezember 2012 nach und unterstützte eine parlamentarische Initiative von This Jenny (SVP, GL) zur Einführung eines elektronischen Systems.[8]
Seit der Frühjahrssession 2014 stimmte auch der Ständerat mittels elektronischer Abstimmungsanlage ab. Das Stimmverhalten der einzelnen Ratsmitglieder wurde jedoch vorerst weiterhin im Gegensatz zum Nationalrat nicht für jede Abstimmung in Form einer Namensliste publiziert. Eine Publikation erfolgte nur für Gesamt- und Schlussabstimmungen, für Abstimmungen mit qualifiziertem Mehr, sowie wenn es mindestens zehn Ratsmitglieder verlangten. Am 17. Dezember 2021 beschloss der Ständerat mit 32 zu 10 Stimmen bei 2 Enthaltungen eine Änderung seines Geschäftsreglements, wonach alle Abstimmungsergebnisse in Form einer Namenliste veröffentlicht werden.[9] Im Nationalrat wurde die elektronische Abstimmung im Jahre 1994 und die Publikation des Stimmverhaltens der Ratsmitglieder für alle Abstimmungen im Jahre 2007 eingeführt.
Siehe auch
Literatur
- Philipp Albrecht, Dennis Bühler und Bettina Hamilton-Irvine: Im Goldfischteich. In: Republik, 15. November 2019
- Barbara Brun del Re: Art. 82: Veröffentlichung des Stimmverhaltens. In: Martin Graf, Cornelia Theler, Moritz von Wyss (Hrsg.): Parlamentsrecht und Parlamentspraxis der Schweizerischen Bundesversammlung. Kommentar zum Parlamentsgesetz (ParlG) vom 13. Dezember 2002. Basel 2014, ISBN 978-3-7190-2975-3, S. 627–632 (sgp-ssp.net).
- Boris Burri: Art. 36: Geschäftsreglemente. In: Martin Graf, Cornelia Theler, Moritz von Wyss (Hrsg.): Parlamentsrecht und Parlamentspraxis der Schweizerischen Bundesversammlung. Kommentar zum Parlamentsgesetz (ParlG) vom 13. Dezember 2002. Basel 2014, ISBN 978-3-7190-2975-3, S. 305–311 (sgp-ssp.net).
Weblinks
Einzelnachweise
- Einführung Proporz in Neuenburg am 26. September 2010 vom Volk beschlossen
- Art. 78 der Verfassung des Kantons Glarus.
- Erich Gruner: Die Wahlen in den Schweizerischen Nationalrat 1848–1919. Band 3. Francke Verlag, Bern 1978, ISBN 3-7720-1445-3, S. 492–493.
- Verfassungen der Schweiz (von 1291 bis heute)
- Faktenbericht Sessionen. Parlamentsdienste, abgerufen am 17. Dezember 2021.
- 20 Minuten online: Ständeräte sehen kein Problem in Zählfehlern
- 20 Minuten online: Politnetz-Kamera im Ständerat ist nicht erlaubt
- 11.490 Parlamentarische Initiative Jenny This. Transparentes Abstimmungsverhalten. In: Geschäftsdatenbank Curiavista (mit Links zu Kommissionsbericht, Ratsverhandlungen und weiteren Parlamentsunterlagen). Parlamentsdienste, abgerufen am 17. Dezember 2021.
- 19.498 Parlamentarische Initiative Minder Thomas. Öffentliche und transparente Abstimmungen im Ständerat. In: Geschäftsdatenbank Curiavista (mit Links zu Kommissionsbericht, Ratsverhandlungen und weiteren Parlamentsunterlagen). Parlamentsdienste, abgerufen am 17. Dezember 2021.