Gliom
Gliom (griechisch glia Leim) ist ein Sammelbegriff für Hirntumoren des Zentralnervensystems, die von Gliazellen, dem Stütz- und Nährgewebe der Nervenzellen, abstammen.[1] Im Tiermodell konnte auch die Abstammung von neuronalen Stammzellen oder Vorläuferzellen beobachtet werden.[2] Sie treten meist im Gehirn auf, aber auch im Bereich des Rückenmarks und des Sehnervens (Teil des Gehirns), nicht aber in peripheren Nerven, weil diese keine Gliazellen enthalten.
Klassifikation nach ICD-10 | |
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D33 | Gutartige Neubildung des Gehirns und Zentralnervensystems |
C71 | Bösartige Neubildung des Gehirns |
D43.2 | Neubildung unsicheren oder unbekannten Verhaltens des Gehirns |
ICD-10 online (WHO-Version 2019) |
Geschichte
Der Begriff Gliom wurde erstmals von Rudolf Virchow in seiner achtzehnten Vorlesung vom 7. Februar 1863 verwendet – die Erstbeschreibung der Gliazellen geht ebenfalls auf ihn zurück (1858).[3] Virchows Einteilung war lange die Grundlage für alle nachfolgenden Einteilungen. Camillo Golgi schlug 1875 vor, den Gliom-Begriff auf astrozytäre Zellen einzugrenzen.
Wesentliche Grundlagen zum heutigen Verständnis von Gliomen lieferten Harvey Cushing und Percival Bailey, welche diese Tumoren aufgrund ihrer histologischen Ähnlichkeiten zu Gliazellen in den 1920er Jahren definierten. James Watson Kernohan führte das Konzept einer biologischen Graduierung 1949 ein und unterteilte Gliome in vier mögliche Grade. Klaus-Joachim Zülch fusionierte die Terminologie von Cushing/Bailey mit dem Graduierungskonzept von Kernohan und schuf damit die Grundlagen der heutigen WHO-Klassifikation von Gliomen.
Epidemiologie
Gliome sind die häufigsten primären Hirntumoren. Die Inzidenz beträgt etwa 6 Fälle pro 100 000 Einwohner und Jahr. Von diesen 6 Gliomen sind etwa 3–4 Glioblastome, die damit die häufigste Untergruppe der Gliome sind.[4] Nach den Zahlen des 'Central brain tumor registry of the United States, (CBTRUS)' ist die Häufigkeit der Untergruppen wie folgt:[5]
Gruppe | WHO-Grad[6] | % aller Hirntumoren |
Glioblastom | IV | 17,1 |
anaplastisches Astrozytom | III | 2,1 |
pilozytisches Astrozytom | I | 1,7 |
Oligodendrogliom | II | 1,4 |
Ependymom | II/III | 1,0 |
Mischgliom | II/III | 1,0 |
anaplastisches Oligodendrogliom | III | 0,70 |
diffuses Astrozytom | II | 0,5 |
Die Prozentsätze beziehen sich auf die Gesamtheit aller Hirntumoren.
Männer erkranken etwas häufiger an Gliomen als Frauen (männlich zu weiblich, 6 : 4). Das Erkrankungsalter ist typischerweise zwischen 40 und 65 Jahren. Gliome können aber in jedem Lebensalter auftreten.[7] Die meisten Gliome entwickeln sich in der Großhirnrinde. Bei Kindern treten sie dagegen gehäuft im Hirnstamm oder im Kleinhirn auf.[5]
Einteilung
Zytogenetischer Ursprung
Gliome werden nach dem glialen Zelltyp, dem sie histologisch am meisten ähneln – jedoch nicht unbedingt davon abstammen – benannt. Dazu gehören:
Malignitätsgrad
Man kann sie auch nach ihrer pathologischen Wertigkeit (WHO-Grad I – IV) entsprechend der WHO-Klassifikation der Tumoren des zentralen Nervensystems gliedern (zum Beispiel pilozytisches Astrozytom WHO Grad I, fibrilläres Astrozytom WHO Grad II, anaplastisches Astrozytom WHO Grad III, Glioblastom WHO Grad IV).
Lokalisation
Man unterscheidet Gliome auch danach, ob sie sich im Hirnstamm (pontin, z. B. Diffuses intrinsisches Ponsgliom), über (supratentoriell) oder unter (infratentoriell) dem Tentorium cerebelli (einer quer verlaufenden Membran zwischen dem Okzipitallappen des Großhirns und dem Kleinhirn) befinden.
WHO-Klassifikation der Tumoren des zentralen Nervensystems (Ausschnitt)
Es werden unter anderem folgende Entitäten unterschieden:
Neuroepitheliale Tumoren
- Astrozytäre Tumoren (etwa 60 %[8])
- pilozytisches Astrozytom, (WHO Grad I)
- subependymales Riesenzellastrozytom, (WHO Grad I)
- pilomyxoides Astrozytom, (WHO Grad II)
- Astrozytom (Varianten: fibrillär, protoplasmatisch, gemistozytisch), (WHO Grad II)
- pleomorphes Xanthoastrozytom, (WHO Grad II)
- anaplastisches Astrozytom (WHO Grad III)
- Glioblastom (Varianten: Gliosarkom, Riesenzell-Glioblastom), (WHO Grad IV)
- Oligodendrogliale Tumoren
- Oligodendrogliom, (WHO Grad II)
- anaplastisches Oligodendrogliom, (WHO Grad III)
- Mischgliome
- Oligoastrozytom, (WHO Grad II)
- Ependymale Tumoren
- Ependymom (Varianten: zellulär, papillär, tanyzytisch, klarzellig)
- Gliome ungeklärter Abstammung
- Astroblastom
- Gliomatosis cerebri
- Chordoides Gliom des dritten Ventrikels
Diagnostik
Die Erstdiagnostik entspricht der aller Hirntumoren und dient der Feststellung der Lage, Ausdehnung und Histologie der Raumforderung. Dies ist wichtig für die neurochirurgische Eingriffsplanung.
Zu Beginn steht die Erhebung der Krankengeschichte (Anamnese). Das wichtigste diagnostische Verfahren ist die Magnetresonanztomografie (MRT) des Schädels. Ein alternatives, wenn auch für die Bildgebung weniger geeignetes Verfahren, ist die Computertomografie (CT). Die Sicherung der Diagnose erfolgt in der Regel durch eine operative Gewebeentnahme (Biopsie). Im Bereich des Sehnerven ist dies jedoch mit einem Risiko der Entstehung oder Zunahme von Sehstörungen verbunden.
Wissenschaftler der University of California haben 2008 eine Methode entwickelt, um mit der Magnetresonanztomografie (MRT) typische Gene der häufigsten Hirnkrebsvariante nachweisen zu können. Die Methode könnte auch bei der Früherkennung von Gliomen helfen, weil die sehr langsam wachsenden Tumoren dieser Art bei jungen Patienten oft über Jahre unauffällig und somit unentdeckt bleiben.[9]
Ursachen und Risiken
Der genaue Grund für die Entstehung von Gliomen ist noch nicht bekannt. Man spricht auch von sporadischen – im Gegensatz zu erblichen – Tumoren.[10] Gliome sind also in der Regel nicht vererbbar (Ausnahmen bilden z. B. Neurofibromatose, Turcot-Syndrom oder Li-Fraumeni-Syndrom).[11]
2009 haben zwei in den USA und Europa durchgeführte genomweite Assoziationsstudien (GWAS) zur Entdeckung von Varianten auf 5 Genen geführt, die zusammen bis zu einem Fünftel aller Gliome erklären könnten (Publikationen in Nature Genetics).[12]
- INTERPHONE-Studie vom IARC (2000)
Im Jahr 2000 veranlasste die Internationale Agentur für Krebsforschung (IARC) eine internationale Fall-Kontrollstudie (INTERPHONE), um ein mögliches Risiko für die Entstehung von Hirntumoren durch den Gebrauch von Mobiltelefonen zu ermitteln.[13] Es wurden unter anderem die mit der Mobiltelefonnutzung verbundenen Gesundheitsgefahren (hochfrequente elektromagnetische Felder) untersucht.[14] Es wurden zwei Formen von Primärtumoren berücksichtigt, darunter Gliome, weil sie der häufigste und aggressivste Typ von Hirntumoren sind.
Es wurde unter anderem berichtet, dass die Weltgesundheitsorganisation (WHO) intensive Nutzung von Mobiltelefonen als möglicherweise krebserregend einstufte und unter anderem ein erhöhtes Risiko, an einem Gliom zu erkranken, feststellte.[15][16]
Die Angaben stammten von der INTERPHONE-Studie der IARC aus dem Jahr 2010.[17][18] Der Schlussbericht wurde 2011 auf der Webseite der WHO zur Verfügung gestellt[19][20]
In einer vergleichenden Studie mit den Daten der Interphone-Studie von 2010 konnten US-Forscher des National Cancer Institute kein erhöhtes Gliom-Risiko durch Mobilfunkstrahlung feststellen.[21]
Therapieoptimierung
SIOP-LGG 2004 ist eine kooperative multizentrische Studie für Kinder und Jugendliche mit einem Gliom niedrigen Malignitätsgrades. Sie wird seit dem 1. Juni 2004 durch die Deutsche Kinderkrebsstiftung im Rahmen des Referenzzentrums Biometrie gefördert.[22] SIOP steht für International Society of Paediatric Oncology und LGG für Low Grade Glioma. Die Jahreszahl steht für den Beginn der Studie.
Das Ziel der internationalen, multizentrischen Therapieoptimierungsstudie SIOP-LGG 2004 ist es, allen Kindern und Jugendlichen mit einem niedrig-malignen Gliom im Rahmen eines umfassenden Gesamtkonzeptes eine nach heutigem Stand der Erkenntnisse bestmögliche und angepasste Therapie zu bieten.[23]
Die Studie ist seit April 2012 geschlossen.[24]
Literatur
- Martin Allgöwer: Chirurgie. Springer, 2012, ISBN 978-3-642-11330-7, S. 248–251.
- Karl F. Masuhr, Marianne Neumann: Neurologie. 6., überarb. Auflage. Thieme, Stuttgart 2007, ISBN 978-3-13-135946-9, S. 319–327: Neuroepitheliale Tumoren (Gliome).
- S2k-Leitlinie Gliome der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN). In: AWMF online (Stand März 2014)
- S1-Leitlinie Gliome niedrigen Malignitätsgrades im Kindes- und Jugendalter der Gesellschaft für Pädiatrische Onkologie und Hämatologie (GPOH). In: AWMF online (Stand 2013)
- S1-Leitlinie PET- und SPECT-Untersuchungen von Patienten mit zerebralen Gliomen mittels radioaktiv markierter Aminosäuren der Deutschen Gesellschaft für Nuklearmedizin (DGN). In: AWMF online (Stand 2013)
- Therapiestrategie für niedrig-gradige Gliome (PDF) AWMF
- J. Fuchs: Solide Tumoren im Kindesalter: Grundlagen - Diagnostik - Therapie; mit 72 Tabellen; inkl. DVD mit Tumoroperationen. Schattauer Verlag, 2012, ISBN 978-3-7945-2786-1, S. 157–.
Weblinks
- Gliome – Artikel auf der Seite der Klinik und Poliklinik für Neurochirurgie der Universitätsmedizin Greifswald
- Gliome – Artikel auf der Seite des Universitätsklinikum Halle (Saale)
- Entwicklungswege bei Gliomen – Artikel auf den Seiten des Uniklinikum Saarland
- Intrakranielle Gliome – Medizinische Informationen für Patienten, Seite der Deutschen Gesellschaft für Neurochirurgie
- Hochmaligne Gliome (Kurzinformation) – Artikel bei kinderkrebsinfo.de
Einzelnachweise
- Matthias Simon: Intrakranielle Gliome. Deutsche Gesellschaft für Neurochirurgie (DGNC) e.V., abgerufen am 31. Januar 2021.
- Yiwen Jiang, Lene Uhrbom: On the origin of glioma. In: Upsala Journal of Medical Sciences. Band 117, Nr. 2, Mai 2012, ISSN 0300-9734, S. 113–121, doi:10.3109/03009734.2012.658976, PMID 22348397, PMC 3339543 (freier Volltext) – (ujms.net [abgerufen am 31. Januar 2021]).
- Godehard Koch: Bildmorphologische Parameter präoperativer MR-Tomogramme und Überlebenszeit von Patienten mit malignen Gliomen. Dissertation. Fu Berlin, Online abrufbar: 1.Einleitung (pdf) statische URL
- Michael Weller, Martin van den Bent, Jörg C Tonn, Roger Stupp, Matthias Preusser: European Association for Neuro-Oncology (EANO) guideline on the diagnosis and treatment of adult astrocytic and oligodendroglial gliomas. In: The Lancet Oncology. Band 18, Nr. 6, Juni 2017, S. e315–e329, doi:10.1016/S1470-2045(17)30194-8 (elsevier.com [abgerufen am 31. Januar 2021]).
- Thomas Schneider, Christian Mawrin, Cordula Scherlach, Martin Skalej, Raimund Firsching: Gliomas in Adults. In: Deutsches Aerzteblatt Online. 12. November 2010, ISSN 1866-0452, doi:10.3238/arztebl.2010.0799, PMID 21124703, PMC 2994146 (freier Volltext) – (aerzteblatt.de [abgerufen am 31. Januar 2021]).
- Kleihues, P. (Paul), Cavenee, W. K. (Webster K.), International Agency for Research on Cancer.: Pathology and genetics of tumours of the nervous system. IARC Press, Lyon 2000, ISBN 92-832-2409-4.
- Zülch, Klaus J.: Brain Tumors : Their Biology and Pathology. Third, Completely revised edition Auflage. Springer Berlin Heidelberg, Berlin, Heidelberg 1986, ISBN 978-3-642-68178-3.
- Uwe Schlegel, Michael Weller, Manfred Westphal: Neuroonkologie. 2., überarb. u. erw. Auflage. Thieme, Stuttgart 2003, ISBN 3-13-109062-6, S. 12.
- Tumore im Kopf – Hirnscan weist Krebs nach. In: Spiegel Online. 25. März 2008.
- Primäre Tumoren von Gehirn und Rückenmark. auf: krebsgesellschaft.de
- Intrakranielle Gliome (Memento des Originals vom 15. März 2015 im Internet Archive) Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht geprüft. Bitte prüfe Original- und Archivlink gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis. – Medizinische Informationen für Patienten, Seite der Deutschen Gesellschaft für Neurochirurgie
- Fünf Gene erhöhen Gliom-Risiko. (Memento des Originals vom 14. Juli 2009 im Internet Archive) Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht geprüft. Bitte prüfe Original- und Archivlink gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis. In: Deutsches Ärzteblatt, 6. Juli 2009.
- Interphone study reports on mobile phone use and brain cancer risk. (PDF; 176 kB) IARC, 17. Mai 2010
- Fachliche Stellungnahme des Bundesamtes für Strahlenschutz (Memento vom 7. April 2014 im Internet Archive) (BfS) zu den Ergebnissen und Schlussfolgerungen der INTERPHONE-Studie zum Risiko für Hirntumore aufgrund von Handynutzung
- Christopher Schrader: Weltgesundheitsorganisation – Krebsrisiko bei intensiver Handy-Nutzung, Sueddeutsche.de, 31. Mai 2011.
- Auswertung – WHO sieht möglichen Zusammenhang zwischen Handys und Krebs. In: Spiegel Online. 1. Juni 2011.
- IARC press release 208 vom 31. Mai 2011 (PDF; 257 kB)
- IARC press release 200 zur Interphone Studie vom 17. Mai 2010 (PDF; 180 kB)
- IARC Report to the Union for International Cancer Control (UICC) on the Interphone Study 3. Oktober 2011 (PDF;)
- interphone.iarc.fr Webseite Interphone Study
- Neue Erkenntnisse zum Gliom-Risiko (Memento des Originals vom 3. März 2013 im Internet Archive) Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht geprüft. Bitte prüfe Original- und Archivlink gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis. – Information beim Informationszentrum Mobilfunk, März 2012.
- Institut für Biometrie und Klinische Forschung (Memento des Originals vom 27. März 2014 im Internet Archive) Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht geprüft. Bitte prüfe Original- und Archivlink gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis.
- SIOP-LGG 2004 Multicenter Study for Children and Adolescents with Low Grade Glioma
- SIOP-LGG 2004 in Kinderkrebsinfo (Memento des Originals vom 28. März 2014 im Internet Archive) Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht geprüft. Bitte prüfe Original- und Archivlink gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis.