Fluchtbewegung
Als Fluchtbewegung, auch Flüchtlingsstrom, wird eine größere Anzahl von Personen bezeichnet, die aufgrund ähnlicher Umstände, insbesondere Krieg, religiöser, rassischer oder politischer Verfolgung, Naturkatastrophen, wirtschaftlicher Not oder anderer Gründe, freiwillig oder unfreiwillig, ihren Wohnort verlassen. Große Fluchtbewegungen zumeist als Folge von Kriegshandlungen sind seit der Antike (Völkerwanderung, Kimbernkriege usw.) belegt. Dieser Artikel betrachtet lediglich Fluchtbewegungen seit dem Zweiten Weltkrieg.
Weltweite Fluchtbewegungen
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Stand jeweils am Ende des Jahres nach UNHCR-Angaben zitiert. |
Laut dem Flüchtlingskommissariat der Vereinten Nationen (UNHCR) waren 2012 etwa 45,2 Millionen Menschen weltweit auf der Flucht. Der größte Anteil betraf mit 28,8 Mio. Personen Binnenvertriebene (innerhalb des eigenen Landes vertriebene Menschen).[1] 2013 waren 51,2 Mio. Menschen auf der Flucht, davon 33,3 Mio. im eigenen Land.[2] Ende 2014 war ihre Zahl auf 59,9 Mio. gestiegen. 38,2 Mio. Personen davon wurden innerhalb ihres Heimatstaates vertrieben.[3][4] Ende 2015 gab es weltweit 65,3 Mio.,[5] ein Jahr später 65,6 Mio. Flüchtende.[6] Davon waren 2015 40,8 Mio.,[5] 2016 40,3 Mio.[6] innerhalb des eigenen Landes auf der Flucht.
Ende 2018 waren insgesamt mehr als 70 Millionen Menschen auf der Flucht – die höchste erfasste Zahl seit dem Zweiten Weltkrieg.[7][8]
Binnenvertriebene
Die Länder mit der größten Zahl Vertriebener im eigenen Land waren laut dem UNHCR Jahresbericht von 2014 (Stand: Ende 2014) Syrien (7,6 Millionen), Kolumbien (6 Millionen) und der Irak (3,6 Millionen).[9]
Die Länder mit den größten Anteilen Vertriebener im eigenen Land von 2009 waren Kolumbien (3.304.000), Dem. Rep. Kongo (2.052.700), Pakistan (1.894.600), Irak (1.552.000), Somalia (1.550.000) und Sudan (1.034.100).[10]
Ursachen
Krieg, Hunger, Gewalt
Kriege, Bürgerkriege, Vertreibung, Verfolgung von Minderheiten (religiöse und ideologische Intoleranz) sowie Hungersnöte waren seit jeher die wesentlichen Gründe für die Flucht von Menschen.
In ihrem Jahresbericht 2014/2015 wies Amnesty International für das Jahr 2014 auf „Millionen von Menschen, die unter der Bedrohung durch Entführungen, Folter, sexualisierte Gewalt, Anschläge, Artilleriefeuer und Bomben auf Wohngebiete leben mussten“ und wies eindringlich darauf hin, dass sich die Natur vieler bewaffneter Konflikte verändert habe: Zunehmend gingen bewaffnete Gruppen, Milizen und Terrororganisationen gegen Zivilisten vor.[11]
Naturkatastrophen, Umweltflucht
Auch nach Naturkatastrophen kommt es zu größeren Fluchtbewegungen. Ferner verschärfen Klimaveränderungen, sich wiederholende und verschärfende Extremwetterlagen auch im Zuge des weltweiten Klimawandels bestehende Konflikte und verursachen neue bzw. verstärken bestehende Fluchtbewegungen. Als Ursachen sind z. B. zu nennen: Wüstenbildung und zunehmende Dürre in der Landwirtschaft, Trinkwasserknappheit, starke tropische Wirbelstürme und extreme Regenmengen, steigender Meeresspiegel mit der Überflutung niedrig gelegener Landgebiete.[12]
Die Anzahl der durch Naturkatastrophen in-die-Flucht-Getriebenen wird von der Internationalen Organisation für Migration (IOM)[13] für 2010 weltweit auf 42 Mio. Menschen geschätzt, eine Zahl, welche gegenüber den Vorjahren deutlich angestiegen ist.
„Flüchtlingsstrom“
Umgangssprachlich und als politisches Schlagwort wird häufig die Metapher des „Flüchtlingsstroms“ verwendet. Unbildlich gesprochen bewegen sich Menschen und sind dabei von der Absicht geleitet, von A wegzukommen und nach B zu gelangen; sie „strömen“ oder „fließen“ nicht (anders als Wasser, das keine Absichten verfolgt, sondern ausschließlich auf von außen einwirkende Kräfte reagiert). Wenn ein Einzelner nicht „strömt“, dann „strömen“ viele Einzelne ebenfalls nicht. Die der Natur entnommenen Metaphern „Strom/Flut“, „Drama“ und „Erdbeben“ als Beschreibung des Verhaltens Flüchtender lösen nach Ansicht von Kritikern der Begriffe zwei unangemessene Gedanken aus: „Erstens hat die Katastrophe scheinbar keinen Urheber. Zumindest keinen, der erreichbar ist und auf E-Mails antwortet. Und zweitens: Flüchtlinge sind höheren Mächten ausgeliefert. Da können wir als EU nichts machen. ‚Sorry‘ lautet die Message.“[14]
Nach Lann Hornscheidt von der Humboldt-Universität Berlin wirken solche Katastrophenvergleiche „auf einer unbewussten Ebene“ und lösen in den Menschen Ängste aus.[15]
Auch viele Konservative haben Probleme mit dem Begriff „Flüchtlingsstrom“. Dieser Begriff ist für sie an sich positiv besetzt. Sie denken dabei an die große Zahl von deutschen Flüchtlingen und Vertriebenen, die ihre Heimat im Osten am Ende des Zweiten Weltkriegs bzw. kurz nach Kriegsende verlassen mussten bzw. als Flüchtlinge aus der SBZ oder der DDR verlassen haben, d. h. an zum Teil selbst erlittenes Leid bzw. das Leid von Familienangehörigen. Die betreffenden Personen empfinden zwar Empathie für das kollektive Schicksal vieler Deutscher im 20. Jahrhundert, nicht aber für die Lage der vielen nach Deutschland migrierenden „Fremden“. Deshalb wenden sie auf deren Migration nicht das Wort „Flüchtlingsstrom“ an.[16]
Große Fluchtbewegungen der letzten Jahrzehnte
- 1933 bis ca. 1941: Emigration bzw. Flucht von 280.000 Juden[17] sowie von politisch oder rassisch Verfolgten aus dem Deutschen Reich in der Zeit des Nationalsozialismus.
- 1939 bis 1950: Infolge des Zweiten Weltkrieges waren 30 Mio. Menschen, davon 12,5 Mio. Deutsche, auf der Flucht oder wurden aus ihrer Heimat vertrieben.
- 1947: Nach der Teilung Indiens 1947 waren etwa 20 Millionen Menschen auf der Flucht.
- 1948: Als der Staat Israel seine Unabhängigkeit erlangte, waren 700.000[18] arabische Palästinenser aus dem früheren britischen Mandatsgebiet Palästina vertrieben worden. (siehe Nakba)
- 1959: Die Besetzung Tibets durch China führte dazu, dass bis zu 150,000 Tibeter in andere Länder (v. a. Indien) flüchten mussten.
- 1960: Eine Million europäischstämmige enteignete Flüchtlinge als Folge des Algerienkriegs.[19]
- 1968: Nach dem Prager Frühling und der Besetzung der Tschechoslowakei durch die Truppen der Staaten des Warschauer Paktes flüchteten etwa 100.000 bis 200.000 Flüchtlinge nach Österreich bzw. in andere Länder des Westens oder kehrten nicht von Auslandsaufenthalten in ihre Heimat zurück.[20][21]
- 1971: Während des Bangladesch-Krieges waren etwa 40 Millionen Menschen auf der Flucht.
- 1955 bis 1975: Der Vietnamkrieg löste große Flüchtlingsbewegungen aus, in Südvietnam ca. 6 Mio. Flüchtlinge.
- 1979: Der Einmarsch sowjetischer Truppen in Afghanistan, der Sowjetisch-Afghanische Krieg (1979 bis 1989) führte dazu, dass 3 Mio. Menschen nach Pakistan und in den Iran flüchteten.
- 1984/1985: Durch eine in mehreren Ländern der Sahelzone und Äthiopiens herrschende Hungersnot kam es zu Flucht und Umsiedlung hunderttausender Menschen.
- 1989–1999: Während des Kaschmir-Konfliktes in den 1990er Jahren waren etwa 300,000 bis 700,000 kaschmirische Pandits auf der Flucht.
- 1991–1999: Ethnische Konflikte im ehemaligen Jugoslawien lösten die Jugoslawienkriege aus: Slowenien (1991), Kroatienkrieg (1991–1995), Bosnienkrieg (1992–1995) und den Kosovokrieg (1999) und trieben Millionen Menschen in die Flucht.
- 1991: Kurden aus dem Irak flohen vor irakischen Angriffen in den Iran (1,5 Mio. Menschen), die Türkei schloss die Grenzen.
- 1994: Bürgerkrieg und Völkermord in Ruanda lösten die Flucht von 2 Mio. Ruander in die Nachbarländer aus.
- 2001: Der Afghanische Bürgerkrieg (1989 bis 2001), der nach Abzug der sowjetischen Truppen aus Afghanistan ausbrach, löste die Flucht von 7 Mio. Afghanen aus, vor allem in die benachbarten Länder Pakistan und Iran.
- 2003: Aufgrund des Krieges („Dritter Golfkrieg“) flüchteten 2 Mio. Iraker aus ihrem Land.
- 2005: Durch Zwangsräumung des Armenviertels nahe der Hauptstadt von Simbabwe wurden 2 Mio. Menschen vertrieben.
- Bis 2009: 2,9 Mio. Iraker waren auf der Flucht vor Bürgerkrieg und Terror, davon 1,6 Mio. Binnenflüchtlinge im Irak.
- Bis 2009: 200 000 Tamilen flüchteten vor dem Bürgerkrieg in Sri Lanka.
- 2010: Von der Überschwemmungskatastrophe in Pakistan waren 14 Millionen Menschen betroffen, von denen mindestens 6 bis 7 Mio. unmittelbar humanitäre Hilfe benötigten; Tausende wurden zu Umweltflüchtlingen.[22]
- 2009–2015: Tausende Christen und Hindus flüchten jährlich aus Pakistan. Religiöse Minderheiten werden in Pakistan von Islamisten verfolgt und umgebracht, oder unter Vorwürfen der Blasphemie eingesperrt. Über 1000 Mädchen von Christen und Hindus werden jährlich entführt und dann zwangsbekehrt und zwangsverheiratet. Auch gibt es immer wieder Anschläge auf Kirchen und die heiligen Stätten der Ahmadis, Sufis und Shiiten durch radikale Sunni-Islamisten.
- Seit 2011 sind im Rahmen des syrischen Bürgerkrieges mehrere Millionen Flüchtlinge aus Syrien geflüchtet. Andere flüchteten wegen der Irakkrise aus dem Irak. Aufnahmeländer sind vorwiegend die Nachbarstaaten und die Staaten der Europäischen Union.
Siehe auch: Bootsflüchtlinge heute, zu Europa: Flüchtlingskrise in Europa ab 2015 und Herkunftsländer dieser Flüchtlinge, zu Asien: Rohingya-Flüchtlinge
Nach dem russischen Überfall auf die Ukraine 2022 sind mehr als eine Million Menschen aus der Ukraine geflüchtet.[23] Es handelt sich vorwiegend um Frauen und Kinder, da Männer von 18 bis 60 Jahren nicht ausreisen dürfen. Die EU erklärte sich bereit, unbegrenzt Flüchtlinge aus der Ukraine aufzunehmen und Bürgern von Drittstaaten zu helfen, in ihre Heimatländer zurückzukehren.[24]
Aufnahmeländer
Laut einem Bericht von Amnesty International vom Oktober 2016, der sich auf Daten der Vereinten Nationen stützte, gab es insgesamt 21 Millionen Flüchtlingen weltweit, von denen 56 % von zehn direkt an Konfliktgebiete angrenzenden Ländern aufgenommen wurden: von Jordanien (2,7 Millionen), der Türkei (2,5 Millionen), Pakistan (1,6 Millionen), dem Libanon (mehr als 1,5 Millionen), dem Iran, Äthiopien, Kenia, Uganda, der Demokratischen Republik Kongo und dem Tschad.[25][26]
Ende 2017 befand sich laut dem UNHCR-Bericht „Global Trends“ die höchste Zahl der unter dem UNHCR-Mandat aufgenommenen anerkannten Flüchtlinge in der Türkei (3.480.348), gefolgt von Pakistan (1.393.143), Uganda (1.350.504), Libanon (998.890), Iran (979.435), Deutschland (970.365), Bangladesch (932.216), Sudan (906.599), Äthiopien (889.412), Jordanien (691.023). Mit über 12,5 Millionen Flüchtlingen beherbergten diese zehn Staaten insgesamt etwa 63 % der unter dem UNHCR-Mandat aufgenommenen anerkannten Flüchtlinge.[27][28]
Ende 2018 waren laut dem UNHCR-Bericht „Global Trends“ weltweit 20.117.541 Flüchtlinge gemeldet (Binnenflüchtlinge nicht mitgezählt), die fünf größten Aufnahmeländer waren die Türkei (3.681.685), Pakistan (1.404.019), Uganda (1.165.653), Sudan (1.078.287) und Deutschland (1.063.837). Die Türkei war zum fünften Jahr in Folge das Land mit der größten Zahl aufgenommener Flüchtlinge.[29]
Siehe auch
Weblinks
- Flucht und Vertreibung, Flüchtlingsbewegungen, Aufnahme- und Herkunftsstaaten von Flüchtlingen und Asylbewerbern, Binnenvertriebene (Stand: Ende 2017), Bundeszentrale für politische Bildung, 8. August 2018
Einzelnachweise
- UNHCR Global Trends Report 2012 (PDF; 2,46 MB)
- Weltweit fast 60 Millionen Menschen auf der Flucht. UNHCR Deutschland, 20. Juni 2015, abgerufen am 23. September 2017.
- UNHCR: Statistical Yearbook 2012, S. 6
- Daten der UNHCR für 2015 (PDF; 317 kB) UNHCR-Statistik für 2015
- Kirsten Maas-Albert: Zum UNHCR-Weltbericht: Europas mangelnde Gestaltungskraft. Heinrich Böll Stiftung, abgerufen am 23. September 2017.
- Zahlen & Fakten. UNHCR, abgerufen am 23. September 2017.
- UNO-Flüchtlingshilfe zum Weltflüchtlingstag. In: uno-fluechtlingshilfe.de. 20. Juni 2019, abgerufen am 19. August 2019.
- Rekordzahl: Noch nie gab es so viele Flüchtlinge. In: oe24.at. 19. August 2019, abgerufen am 19. August 2019.
- Flüchtlinge weltweit. Zahlen und Fakten: Global Trends – Jahresbericht 2014. UNHCR, abgerufen am 5. März 2016.
- STATISTICAL YEARBOOK 2009, Trends in displacement, protection and solutions
- Jahresbericht 2014/2015 von Amnesty International. Zitiert nach: Amnesty wirft Staaten Versagen beim Schutz der Bevölkerung vor. Süddeutsche Zeitung, 25. Februar 2015, abgerufen am 22. März 2015.
- Norman Myers, Weltkarte Zonen der Klimaveränderungen
- publications.iom.int: World Migration Report 2011 – Communicating Effectively about Migration
- Sprachkritik. blog.br.de (Bayerischer Rundfunk). 15. Oktober 2013
- Fabian Scheuermann: Mach mal nicht so 'ne Welle: Viele Flüchtlinge? Ja. Eine „Lawine“? Nein. Über Katastrophenmetaphern in der aktuellen Debatte fluter. Magazin der Bundeszentrale für politische Bildung. 23. Januar 2016
- Matthias Heine: Warum Flüchtlinge jetzt oft "Refugees" heißen. Die Welt. 24. August 2015
- Jochen Oltmer: Migration und Zwangswanderungen im Nationalsozialismus. Bundeszentrale für politische Bildung, 15. März 2005, abgerufen am 18. November 2017.
- Die Nakba – Flucht und Vertreibung der Palästinenser 1948. Abgerufen am 2. April 2018.
- Martin Evans: Algeria: France’s undeclared War, Oxford, 2012, S. 318–322
- Johanna Lutteroth: Vom Prager Frühling in die Emigration: „Wir landeten auf der Müllhalde der Geschichte“. In: spiegel.de. 21. August 2008, abgerufen am 11. September 2021.
- Landesausstellung 2009. 200.000 Flüchtlinge nach dem August 1968. In: orf.at. 27. Mai 2009, abgerufen am 11. September 2021.
- Frank Girmann, Große Flüchtlingsströme der letzten Jahrzehnte (Memento vom 24. September 2015 im Internet Archive) Rheinische Zeitung, 28. Juli 2011
- Ukraine Refugee Situation. UNHCR, abgerufen am 5. März 2022 (englisch).
- Bernd Riegert: EU will unbegrenzt Ukraine-Flüchtlinge aufnehmen. In: dw.com. 28. Februar 2022, abgerufen am 27. Februar 2022.
- Ärmere Staaten nehmen die meisten Flüchtlinge auf. In: Deutschlandfunk. 4. Oktober 2016, abgerufen am 27. Januar 2019.
- Wer ist wo unterwegs? Amnesty International, Gruppen Basel, abgerufen am 27. Januar 2019.
- Global Trends: Forced displacement in 2017. UNHCR, 2018, abgerufen am 27. Januar 2019 (englisch). S. 15–18. Siehe: Überblick in der Grafik „figure 4: Major host countries of refugees“ auf S. 17; Text im vorletzten Abschnitt der linken Spalte auf S. 18; Zahlenangaben in Tabelle „Annex Table 1“, S. 64–68.
- Ranking der zehn Länder mit den meisten aufgenommenen anerkannten Flüchtlingen (Stand: Ende 2017). In: Statista. Abgerufen am 27. Januar 2019.
- Global Trends: Forced displacement in 2018. UNHCR, 2019, abgerufen am 12. Januar 2020 (englisch).Reihenfolge aus Abschnitt „2018 in Review“, S. 2–3; genaue Zahlenangaben aus: Annex, Tabelle 1, S. 65–69.