Bioökonomie
Bioökonomie (im europäischen Raum teilweise auch als knowledge-based bio-economy) wird von manchen gesehen als die Transformation von einer marktwirtschaftlichen Erdöl-basierten Wirtschaft hin zu einer Marktwirtschaft, in der fossile Ressourcen durch verschiedene nachwachsende Rohstoffe ersetzt werden.[1] Sie ist somit ein Baustein einer postfossilen Wirtschaft. Gleichzeitig beschreibt Bioökonomie alle Formen der Verarbeitung nachwachsender Rohstoffe für die Papierherstellung, in der Arzneimittelproduktion oder Lebensmittelverarbeitung.
Durch die Bioökonomie sollen Produkte und Prozesse innerhalb einer Volkswirtschaft nachhaltiger erzeugt werden können.[1] In der Politik wird die Entwicklung der Bioökonomie meist mit gesellschaftlichen Zielen verbunden. Die Bioökonomie soll zu nachhaltiger Entwicklung und grünem Wachstum beitragen. Insbesondere wird sie mit der Erreichung der UN-Nachhaltigkeitsziele zur Ernährungssicherung, zum Klimaschutz, zu nachhaltigen Konsum- und Produktionsbedingungen sowie zum Erhalt der wichtigsten Naturgüter, wie Trinkwasser, fruchtbare Böden, saubere Luft und Biodiversität in Verbindung gebracht.[2]
Das Thema war in Deutschland Motto des "Wissenschaftsjahres 2020".[3]
Hintergrund
Das Konzept der Bioökonomie wurde ursprünglich vor dem Hintergrund einer stark wachsenden Weltbevölkerung und der damit verbundenen Erwartung entwickelt, dass fossile Rohstoffe wie Erdöl, Erdgas und Kohle zukünftig knapper werden.[4] Der Bioökonomierat konstatiert, dass die Bioökonomie heute nicht mehr vorwiegend von steigenden Preiserwartungen für fossile Rohstoffe getrieben wird. Vielmehr hat die Erschließung weiterer Rohstoffvorkommen u. a. dazu beigetragen, dass dieses Argument an Dringlichkeit verloren hat.[5] Jedoch wurde im Zuge der Klimaverhandlungen dem strategischen Ziel der Dekarbonisierung große Bedeutung zugeschrieben, insbesondere auch von den G7-Industriestaaten.[6]
Die Europäische Kommission stellt in diesem Zusammenhang fest, dass die Bioökonomie die Produktion erneuerbarer biologischer Ressourcen und deren Umwandlung in Nahrungs- und Futtermittel, biobasierte Produkte und Bioenergie betrifft. Die Bioökonomie umfasst damit zahlreiche Sektoren, wie beispielsweise die Land-, Forst- und Fischereiwirtschaft, die Nahrungsmittelindustrie, die Holz- und Papierindustrie, die Biotechnologie und andere Verfahrenstechnologien, aber auch Teile der Chemie-, Textil und Energieindustrien sowie Dienstleistungen in den Bereichen Handel, Logistik und Umwelttechnologien.[7] Der Prozess der Biologisierung trägt zur weiteren Ausbreitung der Bioökonomie bei.[8]
Die Bioökonomie orientiert sich am Kreislaufprinzip der Natur und sieht den Wandel zu einer Kreislaufwirtschaft als wesentliches Leitbild an. Im Sinne von Ressourceneffizienz und Nachhaltigkeit zielt sie auf die stufenweise Verwertung und Mehrfachnutzung von Ressourcen ab.[4]
Bis 2005 wurde die Bezeichnung Bioökonomie vor allem in Bezug auf wirtschaftliche Aktivitäten angewandt, die sich aus neuen Produkten und Verfahren der Biotechnologie ergeben. Dazu zählen beispielsweise biologische Pharmazeutika, wie Antibiotika und Immuntherapien, aber auch technische Biopolymere für Werkstoffe. Mit den rasanten Entwicklungen in den Lebenswissenschaften wurde diese engere Definition der Bioökonomie vielfach auf die Verwendung biologischer Ressourcen und Erkenntnisse ausgeweitet.[9]
2009 richteten die deutschen Bundesministerien für Bildung und Forschung (BMBF) sowie Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz (BMELV) einen Bioökonomierat (BÖR) (davor Forschungs- und Technologierat Bioökonomie) als unabhängiges Beratungsgremium für die Deutsche Bundesregierung ein. Der Bioökonomierat versteht die Bioökonomie als „die Erzeugung und Nutzung biologischer Ressourcen (inkl. biologischen Wissens), um Produkte, Verfahren und Dienstleistungen in allen wirtschaftlichen Sektoren im Rahmen eines zukunftsfähigen Wirtschaftssystems bereitzustellen.“[10] Der Bioökonomierat betont damit das Potenzial zur Entwicklung nachhaltigerer Produkte und Prozesse.
Das Verständnis von Bioökonomie wird stark von der Politik und der Forschung beeinflusst und unterscheidet sich somit in den verschiedenen Ländern hinsichtlich Umfang und Ausrichtung. Während die Definition in einigen Ländern (z. B. USA, Indien, Südafrika oder Südkorea) stark auf die Lebenswissenschaften und die Gesundheitswirtschaft ausgerichtet ist, beziehen sich andere (z. B. Brasilien, Kanada, Finnland oder Neuseeland) mehr auf die traditionelle Bioökonomie, also die Verwendung nachwachsender Rohstoffe in der Industrie. Eine dritte Gruppe von Ländern (darunter z. B. die Niederlande, China, Malaysia, Thailand, Japan oder Russland) versteht die Bioökonomie eher als neue biobasierte Industrie in Verbindung mit High-Tech Entwicklungen.[11]
Entwicklung
Als Wegbereiter der Bioökonomik gilt Nicholas Georgescu-Roegen (1906–1994) mit seinem Hauptwerk The Entropy Law and the Economic Process (1971). Er erkannte, dass Wirtschaftsprozesse insbesondere von der Thermodynamik beherrscht werden. Der gelegentlich sogenannte „Vierte Hauptsatz von Georgescu-Roegen“ betrifft die Entropie der Materie: Die Ungleichgewichts-Thermodynamik lebender Systeme kann mit energetischen Konzepten ohne die Entität Information nicht hinlänglich beschrieben werden. Formalwissenschaftliche Grundlagen kommen von der Kybernetik (Biophysik: Heinz von Foerster), der Chaosforschung (Physikochemie: Ilya Prigogine) und der Synergetik (Nichtlinearität: Hermann Haken).
Das bioökonomische Interesse gilt den „Bedingungen der Möglichkeit“ (ökologischen Constraints) zur Viabilität, dem Rückfluss der Information in die (symbiontischen) Produkte der Evolution als „Kausalität von oben“ (Rupert Riedl, 1925–2005) sowie der „Abwärtskausalität“ als Selektionsbasis (Donald T. Campbell, 1916–1996). Information ist physikalisch der Gegenbegriff zur Entropie. Wegen der existenziellen biophysischen Bedeutung des Entropie-Gesetzes (Zweiter Hauptsatz der Thermodynamik und „Vierter Hauptsatz“ nach Georgescu-Roegen) ist die Bioökonomie für die Theorie der Warenlehre grundlegend (Eberhard K. Seifert und Richard Kiridus-Göller, 2012).
Bioökonomische Erkenntnisse zur Dynamik lebender Systeme finden in der nachhaltigen Ressourcen-Nutzung vielfältige Anwendungen. Die mathematische Bioökonomie diskutiert effektivere Methoden des Ressourcen-Managements (Colin W. Clark, 1976). Deren Anfänge stehen mit den Theorien und mathematische Modellierungen der Fischereiwissenschaft in der Mitte der 1950er Jahre im Zusammenhang (S. Gordon, A. Scott, M. B. Schäfer).
Für die Nutzung der Biomasse (Rohstoffe pflanzlicher, tierischer und mikrobieller Herkunft) werden im englischen Sprachgebrauch die Bezeichnungen Food, Feed, Fibre and Fuel benutzt. Darüber hinaus betrifft die Bioökonomie sämtliche ökonomischen Strategien, die sich von der Grundlagenforschung biomolekularer Abläufe bis hin zur Systembiologie und Komplexitätsforschung ableiten. Den systemischen Hintergrund der Bioökonomie erhellt die Bionik. Strikt materielle Definitionen von Bioökonomie sind nicht wissenschaftlich, weil ihre Erkenntnisse primär auf biophysikalischen und informationstheoretischen Grundlagen beruhen und ihre Anwendungen sich nicht auf Biochemie und Biotechnologie beschränken. Ziel ist die Maximierung der Lebensfähigkeit sozialer Systeme.
Während die Grundbedeutung von Bioökonomie im Deutschen allmählich – in ihr Gegenteil – verdrängt zu werden droht, ist sie in vergleichsweise romanischen Sprachen noch erhalten (Maurio Bonaiuti 2011): Bioeconomia im italienischen Sprachraum thematisiert die vom ökonomischen Paradigma der Wachstumsgesellschaft ignorierten Randbedingungen der Biosphäre und die notwendige Interdisziplinarität zwischen Ökonomie, Politik und Kultur. Möglichkeiten der Begegnungen zu Wirtschaftsweisen, die sozial, ökologisch, ökonomisch oder politisch schädlich sind, stehen seit Georgescu-Roegen (La Décroissance 1979) in Diskussion.
Im Sinne des Gutachtens des Wissenschaftlichen Beirats der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen (WBGU) aus dem Jahr 2011, „Gesellschaftsvertrags für eine Große Transformation“ mit seinem Postulat einer Abkehr von fossilen Brennstoffen als Grundlage der Ökonomie beherrschte der Begriff der Bioökonomie als neues Leitbild der weltweiten Landwirtschaft und Nahrungsmittelerzeugung das jährliche internationale Treffen der Landwirtschaftsminister auf der Internationalen Grünen Woche 2015 in Berlin.[12][13]
Interdisziplinäre Einordnung
Die biologische und soziokulturelle Evolution aus einheitlichen Evolutionsprinzipien heraus zu beschreiben ist das interdisziplinäre Anliegen der Systemischen Evolutionstheorie (Systemic Theory of Evolution). Die Ökologische Ökonomie bemüht sich um eine Integration von Bioökonomie und Sozioökonomie. „Biostrategien“ orientieren sich an der ökonomischen Effizienz biologischer Vorbilder, bioökonomische Organisationstheorien an den Selbstorganisationsprozessen der Evolution. Für das Evolutionäre Management ist das kybernetische Modell lebensfähiger Systeme (Viable System Model) von Stafford Beer (1926–2002) von Bedeutung. Das Biological Computer Laboratory (BCL) hatte in den Jahren 1958–1974 unter der Leitung des Biophysikers Heinz von Foerster das Studium selbstorganisierender Systeme zum Forschungsschwerpunkt. Die Biokybernetik als Weg zur nachhaltigen Entwicklung ist das Vermächtnis von Frederic Vester (1925–2003). Als Pionier in der Anwendung evolutionärer Strategien zur Optimierung betrieblicher Prozesse in der Beschaffung, Produktion und Distribution gilt Paul Ablay (1987), in der Materialwirtschaft entwickelte er Methoden zur Effizienzsteigerung nach evolutionärem Muster. ‚The Blue Economy®’ steht für die physische Optimierung der nachhaltigen Geschäftsgestaltung (Gunter Pauli 2010).
Zur Förderung der Studien und Anwendungen der Bioökonomik wurde im Mai 1990 die 'European Association for Bioeconomic Studies' (E.A.B.S.) mit Subvention der Dragan Foundation in Venedig gegründet. Seit 1999 erscheint ‚Journal of Bioeconomics’ (Organ der International Society for Bioeconomics), gegründet von Janet T. Landa und Michael T. Ghiselin. Herausgeber ist seit Jahresbeginn 2012 Ulrich Witt, Direktor der Abteilung Evolutionsökonomik am Max-Planck-Institut für Ökonomik, Jena.
Für die generalistische Ausrichtung von Wirtschaft und Technik auf den bio-kulturellen Zusammenhang hin hat sich in der Warenlehre Richard Kiridus-Göller (2002; 2012) eingesetzt, das sind organisierende Leitbilder (K.E. Boulding 1956, Herman E. Daly 1996). Das dementsprechend sozialökologische Leitbild – die zur Nachhaltigkeit notwendige Organisations-Logik („orgware“) zur Durchsetzung bioökonomischer Strategien – hat er programmatisch als bioware benannt: Das qualitative Entscheidungskriterium ist die Vereinbarkeit von ökonomischer Effizienz (Leistung) und ökologischer Effektivität (Wirkung): Öko-Effektivität. Die hingegen ideologische Verschränkung von Leben als Ware mit Geld, Markt und Biotechnologien bezeichnet Kaushik S. Rajan (2006) als „Biokapitalismus“. Ohne Fügung in biophysische Grenzen führt ein solches Verständnis von Bioökonomie zu sinnentstellendem „Begriffsgrabbing“ (Christiane Grefe 2016).
Die Wiederaufnahme des ökonomischen Ansatzes der Physiokratie auf zeitgemäß naturwissenschaftlich-systemischer Basis bezeichnet der amerikanische Politologe Lynton K. Caldwell (1913–2006) als Biokratie („biocracy“). Insofern bedeutet die Bioökonomik auch einen Paradigmenwechsel in den Wirtschaftswissenschaften. Der Mensch geht – in kybernetischer Koevolution – wie mit der Gesellschaft auch mit der Biosphäre eine symbiontische Beziehung ein (Joël de Rosnay 1997). Der Umweltökonom Georg Winter stiftete einen Biokratie-Preis, der im Juli 2013 zum zweiten Mal verliehen wurde.
Die sozialwissenschaftliche Kritik an der „Kommodifizierung des Lebens“ (S. Lettow 2012, Gottwald & Krätzer 2014) hat den mangelnden ökonomischen Paradigmenwechsel zum Hintergrund: die mechanistische Fehlinterpretation von Bioökonomie / Bioökonomik (bioeconomics), in vorrangiger Orientierung an Biotechnologien (biobased economy, bioeconomy or biotechonomy) anstatt an der Bionik (bionics).
Gesellschaftspolitische Einordnung
Gesellschaftspolitische Definition
Die Bioökonomie, wie sie als Begriff in der gesellschaftspolitischen Diskussion in Verwendung ist, erstreckt sich über alle industriellen und wirtschaftlichen Sektoren, die erneuerbare biologische Ressourcen zur Herstellung von Produkten und zur Bereitstellung von Dienstleistungen unter Anwendung innovativer biologischer und technologischer Kenntnisse und Verfahren nutzen.[14][15] Mit der Einführung einer biobasierten Wirtschaft ist die Hoffnung auf neue, nachhaltig erzeugte Produkte oder nachhaltige Prozesse verbunden.
Politische Konzepte
Auf europäischer Ebene wird das Konzept einer biobasierten Wirtschaft (biobased economy) bereits seit Ende der neunziger Jahre diskutiert.[14] EU-Forschungskommissar Janez Potočnik stellte erstmals 2005 das Konzept einer wissensbasierten Bioökonomie unter Verwendung der oben genannten Definition vor.[16] Unter deutscher Ratspräsidentschaft wurde am 30. Mai 2007 auf der Konferenz „En Route to the Knowledge-Based Bio-Economy“ die sogenannte Kölner Erklärung (Cologne Paper) formuliert,[17] die neben Nahrungsmitteln, Biomaterialien, Bioprozessen, Bioenergie auch die Biomedizin als Handlungsfeld identifizierte. Welche Bereiche die Bioökonomie umfasst, wird in zahlreichen Veröffentlichungen uneinheitlich definiert. Die EU klammert diesen Bereich aus. Einem Communication Paper der EU-Kommission vom 29. Februar 2012 liegt sogar ein engerer, vor allem auf Land- und Forstwirtschaft bezogener Fokus zugrunde.[18] Eine andere Veröffentlichung der EU-Kommission vom 13. Februar 2012 hingegen betont vor allem Innovation, Ressourceneffizienz und Nachhaltigkeit im Sinne industrieller Prozesse und des Umweltschutzes.[19] Im Gegensatz zur Sichtweise der europäischen Politik zählte die US-Regierung im Jahr 2012 den Bereich der Biomedizin ausdrücklich zur Bioökonomie hinzu,[20] genauso wie die OECD.[21] Deutschland hingegen bezieht die Biomedizin in der „Nationalen Forschungsstrategie BioÖkonomie 2030“ des Bundesministerium für Bildung und Forschung nur indirekt mit ein.[22] Dabei handelt es sich vor allem um den Bereich der industriellen Herstellung von Biomolekülen, zu denen neben biologischen pharmazeutisch aktiven Substanzen auch Nahrungsergänzungsmittel oder Prozess-Enzyme hinzugerechnet werden. Im Juli 2013 stellten die Bundesministerien für Bildung und Forschung sowie Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz zudem die „Politikstrategie Bioökonomie“ vor,[23] die ausführlich das Potential der Bioökonomie, gleichzeitig aber auch Zielkonflikte thematisiert.
Das Konzept der Bioökonomie hat in den vergangenen zehn Jahren weltweit an politischer Dynamik und Bedeutung gewonnen. Auf dem ersten Global Bioeconomy Summit (November 2015) wurde berichtet, dass bereits 45 Länder (einschließlich der Europäischen Union) die Bioökonomie in ihren politischen Strategien verankert haben.[2] Die Ansätze und Motivationen für die Förderung der Bioökonomie sind dabei vielseitig. Während die Europäische Union, Deutschland, Finnland, Japan, Malaysia, Südafrika, die USA und die Westnordischen Länder (Färöer-Inseln, Grönland und Island) umfassende Bioökonomie Politikstrategien veröffentlicht haben, fördern andere Länder die Bioökonomie unter dem Blickwinkel eines bestimmten Politikbereiches. So konzentrieren sich beispielsweise China, Kenia, Russland und Südkorea auf Politikstrategien zur Förderung der Biotechnologie und konvergierenden Technologien, während z. B. Brasilien, Großbritannien und Indien Bioenergie Strategien veröffentlicht haben. Länder mit einem starken Agrar- oder Forstsektor, wie beispielsweise Australien, Kanada, Neuseeland, Uruguay oder Indonesien, integrieren die Bioökonomie in ihre Sektorstrategien. Schließlich gibt es eine Gruppe von Ländern, wie beispielsweise Argentinien, Österreich, Schweden oder Namibia, die sich auf bioökonomische Themen in ihren Forschungsstrategien konzentrieren.[2]
Wirtschaftliche Bedeutung
Global sind rund 13 Mrd. Tonnen an Biomasse verfügbar (2012). Sie werden zu rund 60 % für Futtermittel verwendet. 15 % der Rohstoffe werden für Nahrungsmittel und 25 % für die energetische und stoffliche Nutzung verwendet.[24] Neben Bioenergie und Lebensmitteln, sind die wichtigen biobasierten Industrieprodukte (bisher) Spezialchemikalien, biobasierte Kunst- und Verbundstoffe, Tenside, Lacke und Farben, Schmierstoffe sowie Papier und Zellstoff, Baumaterialien, Möbel und Pharmazeutika. Wichtigste Energieträger sind Holzprodukte, Biogas und Biokraftstoffe. Es wird erwartet, dass durch den technologischen Fortschritt vor allem im Bereich der Life Sciences inklusive der klassischen Chemieindustrie neue Produkte entwickelt werden, die Nachhaltigkeit mit erhöhtem Verbrauchernutzen verbinden.[25][26]
Die Bioökonomie ist bereits heute ein Wirtschaftsfaktor.[27] Im Jahr 2013 trug die Bioökonomie in der EU schätzungsweise zu einem jährlichen Gesamtumsatz von rund €2,1 Bill. bei und beschäftigte rund 18,3 Mio. Arbeitnehmer (ca. 9 % der Erwerbstätigen in der EU).[28] In den USA trugen biobasierte Produkte rund $370 Mrd. zur Bruttowertschöpfung in den USA bei (2013). Die Biobasierte Industrie beschäftigte dort schätzungsweise 4 Mio. Arbeitnehmer und konzentrierte sich besonders auf die Staaten Mississippi, Oregon, Maine, Wisconsin, Idaho, Alabama, North Carolina, Arkan-sas und South Dakota.[29] Darüber hinaus ist Brasilien beispielsweise ein Vorreiter im Bereich Bioenergie. 2012 trug allein die Zuckerrohr Industrie 2 % zum BIP bei und beschäftige 2011 rund 1 Million Menschen.[30]
In Deutschland hängen rund 12,5 % der Beschäftigten von Unternehmen ab, die der Bioökonomie zugerechnet werden können. Sie erwirtschaften rund 7,6 % der deutschen Bruttowertschöpfung. Die Wertschöpfung in der Bioökonomie erfolgt zu 12 % im Primärsektor (Land- und Forstwirtschaft), zu 52 % im Sekundärsektor (verarbeitende Industrie) und zu 36 % im Tertiärsektor (Handel und Dienstleistungen).[31] Schwerpunktbereiche sind unter anderem die Energiewirtschaft – 7,6 % des Energieverbrauchs werden mit nachwachsenden Rohstoffen gedeckt – sowie die chemische Industrie: 13 % der verarbeiteten Rohstoffe sind hier biobasiert.[32]
Als Pionierunternehmen der Bioökonomie gelten unter anderem: Arkema (Frankreich, Biopolymere), Bioamber (USA, Chemikalien), Borregaard (Norwegen, holzbasierte Bioraffinerie), Braskem (Brasilien, Bio-PE), DSM (Niederlande, Enzyme), Evonik (Deutschland, Chemikalien), NatureWorks (USA, Biokunststoffe), Lanza-Tech (USA, biobasierte CO2 Aufbereitung), Novamont (Italien, Biokunststoffe/Bioraffinerie), Novozymes (Dänemark, Enzyme), Roquette (Frankreich, Chemikalien), Solazyme (USA, Bioenergie), Virent (Frankreich).[33] Neben diesen und anderen Konzernen gibt es auch eine aktive Szene aus kleinen und mittleren Unternehmen (KMU); Beispiele sind etwa die c-LEcta GmbH in Leipzig[34][35] oder die evoxx technologies GmbH (Fusion der „evocatal GmbH“ und der „aevotis GmbH“) in Monheim am Rhein.[36] Im Januar 2016 verkündete das Biotech-Unternehmen BRAIN AG seinen Börsengang im „Prime Standard“ an der Frankfurter Börse. Die Firma ist damit die erste Biotech-Firma seit fast zehn Jahren, die den Sprung an die Deutschen Börse wagt. Die BRAIN AG entwickelt und vermarktet ein breites Spektrum an Produkten der industriellen Biotechnologie wie Enzyme, Mikroorganismen und Naturstoffe.[37]
Es wird erwartet, dass mit Hilfe der Bioökonomie Antworten auf die globalen Herausforderungen der Menschheit gefunden werden können. Einem von der EU-Kommission geförderten Strategiepapier[38] zufolge sind das: der Klimawandel, die sichere Ernährung einer wachsenden Weltbevölkerung, die faire Verteilung der Lasten der Globalisierung, ein nachhaltiger Umgang mit Ressourcen, die sichere Versorgung mit Energie und die Gesundheit einer alternden Bevölkerung. Vor allem die unsichere Versorgung mit preiswerten fossilen Ressourcen und deren schädlicher Effekt auf die klimatische Entwicklung machen einen Wechsel der industriellen Rohstoffbasis notwendig.[39][40] Nach Ansicht der OECD kann der Rohstoffwandel mit nachhaltiger Produktion und der Verarbeitung von Biomasse durch moderne biologische Verfahren gelingen.[41] Heute werden rund 6 % der fossilen Rohstoffe in der Chemieproduktion zur Herstellung von Kunst- und Schmierstoffen, Lösungsmitteln und Tensiden verwendet.[42]
Kontroversen
Um einige Aspekte der Bioökonomie haben sich Kontroversen und Zielkonflikte entwickelt. Viele davon betreffen die Nutzung der Biomasse selbst oder andere natürliche Ressourcen wie Boden oder Wasser, die zu deren Produktion benötigt werden. Kritiker bemängeln, dass durch die intensive Bewirtschaftung landwirtschaftlicher Flächen und Wälder die Biodiversität gefährdet werde.[43] Im Rahmen der Tank-oder-Teller-Debatte wird diskutiert, ob die Umwandlung von Biomasse in Biotreibstoffe die Verfügbarkeit von Lebensmitteln gefährdet.[43] Mit biogenen Reststoffen, die nicht für den menschlichen Verzehr geeignet sind, lässt sich eine Konkurrenz zwischen Tank und Teller vermeiden. Darauf setzen Bioraffinerien der sogenannten zweiten Generation.[44] Doch ob in Deutschland ausreichend biogene Reststoffe für die biobasierte Wirtschaft vorhanden sind, ist umstritten.[45] Umwelt- und Entwicklungsverbände äußerten im Januar 2019 anlässlich der deutschen Bioökonomie-Strategie die Befürchtung, dass der Import von Biomasse aus dem Globalen Süden negative ökologische und soziale Konsequenzen nach sich ziehen würde.[46]
Da die Verfügbarkeit von Biomasse zumindest in Deutschland und Europa begrenzt ist,[47] besteht ein Zielkonflikt zwischen der energetischen Nutzung von Biomasse (Biokraftstoffe, Biogas) und der stofflichen Nutzung, also der Umwandlung von Biomasse in höherwertige Produkte (Chemikalien, Bioplastik). Die Möglichkeit der stofflichen Nutzung von Biomasse hat das Bundesministerium für Bildung und Forschung in der „Roadmap Bioraffinerien“ analysiert.[48] Das Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz hat sich hingegen sowohl für die energetische als auch die stoffliche Nutzung von Biomasse eingesetzt.[49][50] Das Umweltbundesamt bevorzugt hingegen die stoffliche Nutzung.[24]
Oft wird auch der Einsatz gentechnisch veränderter Pflanzen im Kontext der Bioökonomie kritisiert.[51]
Literatur
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- Nicholas Georgescu-Roegen: The Entropy Law and the Economic Process in Retrospect. In: Eastern Economic Journal. 1986.
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- Nicholas Georgescu-Roegen: Das Wechselspiel von institutionellen und materiellen Faktoren: das Problem und sein Status. übersetzt von Patricia Blaas. In: Egon Matzner u. a. (Hrsg.): Arbeit ist für alle möglich. Ed. Sigma, Berlin 1987, ISBN 3-924859-21-3, S. 313–340.
- Nicholas Georgescu-Roegen: Die Thermodynamik und wir, die Menschen. übersetzt von Richard Kiridus-Göller. In: Forum Ware. 28 (2000) Nr. 1–4, ISSN 0340-7705, S. 129–143.
- Eberhard K. Seifert: Das Bioökonomische Minimalprogramm. In: Forum Ware. 28 (2000) Nr. 1–4, S. 126–128. (Auszug aus der deutschen Erstübersetzung durch das IÖW Berlin, mit Geleitworten von Eberhard K. Seifert und Anhängen)
- Eberhard K. Seifert: In memoriam „NGR“ Nicholas Georgescu-Roegen (1906–1994). In: Bioware. Zeitschrift für Biologie und Warenlehre. 6. Jg. (1995) Heft 1, S. 16–19.
- Herman E. Daly: Wirtschaft jenseits von Wachstum. Die Volkswirtschaftslehre nachhaltiger Entwicklung. (Amerikanische Originalausgabe: Beyond Growth. The Economy of Sustainable Development. Beacon Press, Boston, Massachusetts 1996). Verlag Anton Pustet, Salzburg 1999, ISBN 3-7025-0375-7.
- Fachartikel
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- Hartmut Weigelt, Udo Glittenberg: Gelebte Interdisziplinarität – Bioökonomie. In: Biologie heute. (1989) Nr. 364, S. 5–8.
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- Franz-Theo Gottwald: Bioökonomie und Hightech-Strategie: Risiken für die Biokratie. Buchreihe Rechte der Natur / Biokratie, Band 11: Metropolis, Marburg 2016, ISBN 978-3-7316-1190-5.
- Christiane Grefe: Global Gardening. Bioökonomie – Neuer Raubbau oder Wirtschaftsform der Zukunft? Verlag Antje Kunstmann, München 2016, ISBN 978-3-95614-060-0.
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- Carsten Herrmann-Pillath: Grundriss der Evolutionsökonomik. Neue Ökonomische Bibliothek, hrsg. von Birger Priddat. Wilhelm Fink Verlag, München 2002, ISBN 3-8252-2340-X. (UTB 2340)
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- Fredmund Malik: Unternehmenspolitik und Corporate Governance. Wie sich Organisationen von selbst organisieren. Campus, Frankfurt/ New York 2008, ISBN 978-3-593-38286-9.
- Fredmund Malik: Die Natur denkt kybernetisch. Biologische Systeme stehen für ein neues Management-System. In: Kurt G. Blüchel, Fredmund Malik (Hrsg.): Faszination Bionik: Die Intelligenz der Schöpfung. Bionik Media, München 2006, ISBN 3-939314-00-5, S. 80–91.
- Robert Frenay: The Coming Age of Systems and Machines Inspired by Living Things.
- deutsch: Impuls. Das kommende Zeitalter naturinspirierter Systeme und Technologien. Übersetzung von Sebastian Vogel. Berlin-Verlag, Berlin 2006, ISBN 3-8270-0602-3.
- Gunter Pauli: The Blue Economy. übersetzt von Karen Schmiady. Konvergenta Publishing, Berlin 2010, ISBN 978-3-942276-95-5.
- Klaus-Stephan Otto, Thomas Speck: Darwin meets Business – Evolutionäre und bionische Lösungen für die Wirtschaft. Gabler-Verlag, Wiesbaden 2011, ISBN 978-3-8349-2443-8 .
- Richard Kiridus-Göller, Eberhard K. Seifert (Hrsg.): Evolution – Ware – Ökonomie. Bioökonomische Grundlagen zur Warenlehre. oekom, München 2012, ISBN 978-3-86581-317-6.
- Peter Mersch: Systemische Evolutionstheorie. Eine systemtheoretische Verallgemeinerung der Darwinschen Evolutionstheorie. Books on Demand, Norderstedt 2012, ISBN 978-3-8482-2738-9.
- Holger Wacker, Jürgen Blank: Ressourcenökonomik 1: Regenerative natürliche Ressourcen. R. Oldenbourg Verlag, München/Wien 1998. ISBN 978-3-486-23957-7.
- Georg Winter (Hrsg./Haus der Zukunft in Hamburg): Rechte der Natur / Biokratie. Buchreihe mit 20 Bänden: Metropolis, Marburg 2015/2016.
- Band 1: Eberhard Seidel: Biokratie und Brundtland-Triade. Die Rechte der Natur in Ökonomie und Organisation. ISBN 978-3-7316-1116-5 (Februar 2015) .
- Band 2: Thomas Göllinger: Biokratie – Die evolutionsökonomischen Grundlagen. ISBN 978-3-7316-1117-2 (Februar 2015).
Bio-kulturelle Programmatik
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- Helmut Helsper: Die Vorschriften der Evolution für das Recht. O. Schmidt, Köln 1989, ISBN 3-504-06106-5.
- Erhard Oeser: Evolution und Selbstkonstruktion des Rechts. Böhlau, Wien/ Köln 1990, ISBN 3-205-05314-1.
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- Michael L. Rothschild: Bionomics. The Inevitability of Capitalism: The astonishing connections between business management and the natural world. Futura Publications, London 1992, ISBN 0-7088-5244-0.
- Hans-Günter Wagner: Bio-Ökonomie. Die nachhaltige Nischenstrategie des Menschen. Haag und Herchen, Frankfurt am Main 1997, ISBN 3-86137-585-0.
- Thomas Lemke: Biopolitik zur Einführung. 2. Auflage. Junius-Verlag, Hamburg 2007, ISBN 978-3-88506-635-4.
- Andreas Weber: Biokapital. Die Versöhnung von Ökonomie, Natur und Menschlichkeit. Berlin-Verlag, Berlin 2008, ISBN 978-3-8270-0792-6.
- László Mérő: Die Biologie des Geldes. Darwin und der Ursprung der Ökonomie. Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 2009, ISBN 978-3-499-62430-8.
- Kaushik Sunder Rajan: Biokapitalismus. Werte im postgenomischen Zeitalter. Aus dem Amerikanischen von Ilse Utz. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2009, ISBN 978-3-518-42049-2.
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- Monografien im bioökonomischen Kontext
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- Kenneth E. Boulding: Die neuen Leitbilder. Econ-Verlag, Düsseldorf 1958. (Amerikanische Originalausgabe: The Image: Knowledge of life in society. University of Michigan Press, Ann Arbor Paperbacks 1956, ISBN 978-0-472-06047-4)
- Hans Hass: Energon. Das verborgene Gemeinsame. Verlag Fritz Molden, Wien 1970, DNB 456920994.
- Hans Hass: Die Hyperzeller. Das neue Menschenbild der Evolution. Carlsen Verlag, Hamburg 1994, ISBN 3-551-85017-8.
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- Frederic Vester: Neuland des Denkens. Vom technokratischen zum kybernetischen Zeitalter. Deutsche Verlagsanstalt, Stuttgart 1980, ISBN 3-421-02703-X.
- Werner Nachtigall: Biostrategie. Eine Überlebenschance für unsere Zivilisation. Hoffmann und Campe, Hamburg 1983, ISBN 3-455-08697-7.
- Joël de Rosnay: Das Makroskop. Systemdenken als Werkzeug der Ökogesellschaft. Rowohlt, Reinbek 1979, ISBN 3-499-17264-X.
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Weblinks
- Bundesministerium für Bildung und Forschung in Deutschland: Bioökonomie als gesellschaftlicher Wandel. (Memento vom 5. Juli 2015 im Internet Archive)
- Informationsplattform des Bundesministeriums für Bildung und Forschung in Deutschland
- Journal of Bioeconomics.
- Bioeconomics: Biological Economics
- ICABR – The International Consortium on Applied Bioeconomy Research
- Berkeley Bioeconomy Conference
- BioEconomy Cluster
- Bioeconomy Science Center
- BIOS Science Austria
- Bioeconomy auf ec.europa.eu
- Biokratie / Rechte der Natur
Einzelnachweise
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- BMBF und BMEL Bioökonomie in Deutschland: Chancen für eine biobasierte und nachhaltige Zukunft., 2014.
- Bioökonomierat „Positionen und Strategien des Bioökonomierates“ 2014.
- Bioökonomierat "Bioeconomy Policies (Part 1): Synopsis and Analysis of Strategies in the G7 2015.
- Europäische Kommission Communication on Innovating for Sustainable Growth: A Bioeconomy for Europe. (Memento vom 17. Februar 2016 im Internet Archive), 2012.
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- Eckpunktepapier des Bioökonomierates: „Auf dem Weg zur biobasierten Wirtschaft.“ Auf: biooekonomierat.de vom 30. April 2013
- Bioökonomierat Bioeconomy Policies (Part II): Synopsis of National Strategies around the World. 2015.
- Benjamin Dierks, deutschlandfunk.de: Schwerer Sprung vom Labor in die Industrie. Deutschlandfunk, „Hintergrund“, 15. Januar 2015.
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