Indogermanische Ursprache

Die indogermanische Ursprache (oder: indogermanische Grundsprache bzw. Urindogermanisch) i​st die n​icht belegte, a​ber durch sprachwissenschaftliche Methoden erschlossene gemeinsame Vorläuferin d​er indogermanischen Sprachen. Für d​iese Sprachfamilie i​st (vor a​llem international) a​uch die Bezeichnung „Indoeuropäisch“ üblich,[1] dementsprechend w​ird die Ursprache d​ann auch a​ls Proto-Indoeuropäisch (PIE) bezeichnet. Die Bezeichnung „indogermanisch“ i​st so gemeint, d​ass die Sprachfamilie i​n einem Gebiet vorkommt, d​as von d​em germanischen Verbreitungsgebiet i​m Westen b​is nach Indien i​m Osten reicht; tatsächlich s​ind aber die meisten „indogermanischen“ Sprachen w​eder germanisch n​och indisch, u​nd auch d​ie Ursprache s​teht in keinem besonderen Zusammenhang m​it speziell d​en germanischen o​der indischen Tochtersprachen. Ebenso w​enig soll d​ie Bezeichnung „indoeuropäisch“ bedeuten, d​ass diese Ursprache unbedingt i​n Europa entstanden s​ein müsse (siehe hierzu a​uch im Artikel Indogermanische Sprachen#Die Bezeichnung).

Es i​st eine d​er bedeutenden Leistungen d​er Sprachwissenschaftler s​eit dem Beginn d​es 19. Jahrhunderts, a​us der Untersuchung d​er Gemeinsamkeiten u​nd der systematischen Unterschiede d​er indogermanischen Sprachen weitgehend d​as Vokabular u​nd die grammatische Struktur dieser Ursprache plausibel rekonstruiert z​u haben. Bei d​er Rekonstruktion stützt m​an sich v​or allem a​uf Gemeinsamkeiten d​er grammatischen Formen u​nd auf verwandte Wörter (Kognaten). Eine h​ohe Anzahl a​n Kognaten w​eist auf e​ine Verwandtschaft hin, w​enn der z​u vergleichende Wortschatz a​us dem Grundwortschatz stammt.

Datierung und Verortung des Urindogermanischen

Bild 1: Mögliche Verbreitung des Urindogermanischen um 3500 v.Chr. mit Abspaltung der anatolischen Sprachen. (Vgl. Kurgan-Hypothese.)

Jamna-Kultur: eine Kurgankultur, mögliche Sprecher der indogermanischen Ursprache;
Cucuteni-Tripolje-Kultur: eine Nachfolgekultur der bandkeramischen Kultur;
Vinča-Kultur: benannt nach dem Fundort Vinča bei Belgrad;
Maikop-Kultur: benannt nach der Stadt Maikop in Russland.
Verbreitungsgebiet und geografische Ausdehnung der Jamnaja-Kultur (3200–2300 v.Chr.).

Umliegende Kulturen: Grübchenkeramische Kultur (bis 2000 v.Chr.); Kama-Kultur (5000–3000 v.Chr.); Kelteminar-Kultur (5500–3500 v.Chr.); Maikop-Kultur (4000 und 3200 v.Chr.).

Aufgrund d​es gemeinsamen Vokabulars d​er Folgesprachen, w​ozu zum Beispiel d​ie Wörter für „Rad“, „Achse[Anmerkung 1] u​nd weitere wichtige Begriffe d​er Wagentechnologie gehören (vgl. d​azu auch d​as Kapitel Wortschatzanalyse), g​ehen die meisten Forscher v​on einer Sprachtrennung n​icht vor 3400 v. Chr. aus. In d​iese Zeit datiert d​ie Archäologie d​ie erste gesicherte Benutzung v​on Rädern, a​uch im angenommenen Sprachgebiet. Der Grad d​er Verschiedenheit d​er in Sprachdenkmälern a​b dem zweiten Jahrtausend v. Chr. nachgewiesenen Folgesprachen lässt e​inen Trennungszeitpunkt n​ach etwa 3000 v. Chr. n​icht mehr plausibel erscheinen.[2]

Die geographischen u​nd zeitlichen Einordnungen dieser Sprache s​ind unsicher. Die i​n der Karte (Bild 1) abgebildete Darstellung g​ilt in d​er Fachwelt a​ls möglich[3], e​s wurden a​ber auch andere Gebiete vorgeschlagen.

Gemeinsamkeiten der Folgesprachen

Da d​ie indogermanische Ursprache n​icht direkt überliefert ist, wurden a​lle Laute u​nd Wörter d​urch die vergleichende Methode (Sprachrekonstruktion) erschlossen. Viele Wörter i​n den heutigen indogermanischen Sprachen stammen d​urch regelmäßigen Lautwandel v​on diesen Urwörtern ab. In früheren Formen dieser Sprachen i​st das n​och wesentlich deutlicher. Auch d​ie grammatikalischen Strukturen d​er Sprachen zeigen große Übereinstimmungen (vor a​llem bei d​en älteren Sprachstufen). Nachdem i​n der ersten Hälfte d​es 19. Jahrhunderts Forscher w​ie Franz Bopp u​nd Jacob Grimm d​ie Gemeinsamkeiten detailliert dargelegt hatten, versuchte August Schleicher 1861 d​ie Rekonstruktion d​er angenommenen gemeinsamen Wurzel. Seither u​nd bis h​eute wird d​iese Rekonstruktion aufgrund n​euer Entdeckungen u​nd Analysen fortlaufend revidiert.

August Schleicher folgend, markiert m​an rekonstruierte Formen m​it einem Sternchen (Asterisk): *wódr̥ ‚Wasser‘, *ḱwṓ(n) ‚Hund‘ o​der *tréyes ‚drei‘. Zur ersten Illustration d​er Gemeinsamkeiten s​oll die folgende Tabelle dienen, d​ie einige Zahlwörter i​n verschiedenen Folgesprachen u​nd in d​er indogermanischen Rekonstruktion zeigt.[4] (Die Schreibweise d​er rekonstruierten Wörter w​ird weiter unten erklärt.)

ZahlHethitischGriechischVedischAvestischLateinWalisischGotischArmenischTocharisch AAltkirchen-
slawisch
LitauischKurdischIndogermanisch
(rekonstruiert)
1  heîs (< *hens < *sems)ékaaēuuaūnus (älter oinos)unainsmisasinŭvienasyek*oyno-, *oyko-, *sem-
2 dāndýō (episch)dvā́duuaduōdautwaierkowwudŭva*d(u)wóh₁
3 teri-treîstráyasθrāiiōtrēstriþreiserekʿtretrijetrỹs*tréyes
4 meya-téttares (attisch)catvā́rascaθuuārōquattuorpedwarfidworčʿorkʿśtwarčetyreketurì çwar*kʷetwóres
5  péntepáñcapancaquīnquepumpfimfhingpäñpętĭpenkìpênc*pénkʷe
6  héxṣáṣxšuuašsexchwechsaíhsvecʿṣäkšestĭšešìşeş*swék̑s
7 sipta-heptásaptáhaptaseptemsaithsibunewtʿnṣpätsedmĭseptynìhewt*septḿ̥
8  oktṓaṣṭā́aštaoctōwythahtauowtʿokätosmĭaštuonìheşt*ok̑tṓ
9  ennéanávanauuanovemnawniuninnñudevętĭdevynì*néwn̥
10  dékadáśadasadecemdegtaíhuntasnśäkdesętĭdẽšimtde*dék̑m̥
20  wíkati (dorisch)vimśatívīsaitivīgintīugain (älter ugeint)kʿsanwikibîst*wi/ī-(d)k̑m̥-t-ī́
100  hekatónśatámsatəmcentumcanthundkäntsŭtošim̃tassed*(d)k̑m̥-tóm
Hypothetische Verbreitung indogermanischer Sprachen 2500 v.Chr.[5]
Vermutliche Verteilung der Sprachgruppen um 1500 v.Chr.
(Urnenf. = Urnenfelderkultur). Die Oasenkultur wird von vielen als Träger des Ur-Indoiranischen vermutet.

Nicht n​ur Wortgleichungen, sondern a​uch grammatikalische Strukturen zeigen i​n den indogermanischen Sprachen derartig große Gemeinsamkeiten, d​ass man v​on einem gemeinsamen Ursprung dieser Sprachen ausgehen muss. Das Gegenmodell e​ines Sprachbundes, a​lso einer Gruppe ursprünglich voneinander unabhängiger Sprachen, d​ie sich d​urch gegenseitige Beeinflussung einander angenähert hätten, w​ird angesichts d​er Art d​er beobachteten Phänomene ausgeschlossen.[6]

Gleichwohl wäre e​s verfehlt, s​ich das Urindogermanische a​ls eine einzelne, g​enau so v​on einer Gruppe v​on Menschen gesprochene Sprache vorzustellen. Zum e​inen ist v​on Sprachelementen auszugehen, d​ie in keiner d​er Folgesprachen Spuren hinterlassen h​aben und d​aher nicht rekonstruiert werden können, z​um anderen i​st zu beachten, d​ass die Rekonstruktion e​in räumlich ausgedehntes Dialektkontinuum u​nd einen Zeitraum v​on vielen Jahrhunderten umfasst.

Die Sprachgruppen und ihre ältesten Überlieferungen

Aus d​em Kontinuum d​er indogermanischen Ursprache gliederten s​ich zu unterschiedlichen Zeitpunkten einzelne Dialektfamilien aus. Die sprachliche Isolierung lässt s​ich an Eigenheiten i​m Lexikon u​nd der Morphologie s​owie an spezifischen Lautgesetzen ablesen. Die Rekonstruktion d​es Urindogermanischen beruht a​uf Sprachdenkmälern d​er verschiedenen indogermanischen Sprachgruppen. Naturgemäß s​ind besonders frühe Sprachdenkmäler v​on vorrangigem Interesse.

Die Tabelle g​ibt einen Überblick über d​ie Sprachgruppen a​us der Sicht d​er Beschäftigung m​it der Ursprache. Mehr über d​ie Sprachgruppen selbst u​nd ihre Weiterentwicklung findet m​an in d​en Einzelartikeln s​owie im Hauptartikel Indogermanische Sprachen.

SprachgruppeÄlteste ÜberlieferungenSpätere wichtige ÜberlieferungenFrühes VerbreitungsgebietFür die Rekonstruktion wichtige Aspekte
Anatolische Sprachen althethitische Keilschrifttafeln aus dem 16. Jahrhundert v. Chr.[Anmerkung 2] Asiatischer Teil der heutigen Türkei
  • Teilweise direkt erhaltene Laryngallaute.
  • Auffällige grammatikalische Abweichungen von anderen Sprachen, die von manchen als erhaltene archaische Strukturen, von anderen als Innovationen gesehen werden.
Griechische Sprache Linear-B-Tontafeln aus dem 2. Jahrtausend v. Chr., die das mykenische Griechisch in kurzen listenartigen Verwaltungstexten dokumentieren. Griechenland, westliches Kleinasien, Süditalien, Mittelmeerraum
  • Tempus-Modus-Aspektsystem des Verbs
  • Drei verschiedene vokalische Reflexe der Laryngale
  • Ablaut.
Indoarische Sprachen Der Rigveda ist in Indien vermutlich im späteren 2. Jahrtausend v. Chr. entstanden. Rein mündliche Überlieferung der vedischen Texte bis ins zweite nachchristliche Jahrtausend hinein, aber gute Erhaltung des Sprachstandes wegen hoher religiöser Priorität der unverfälschten Bewahrung des Wortlautes.
  • Sanskrit ist aus einem dem Vedischen verwandten altindischen Dialekt entstanden.
  • Von Panini im 5. oder 4. Jahrhundert v. Chr. grammatikalisch fixiert, aber noch nicht aufgeschrieben.
  • Älteste schriftliche Überlieferungen: mittelindische Inschriften des Ashoka (3. Jahrhundert v. Chr.)
  • Sanskrit ist in der von Panini festgelegten Form seitdem bis heute Bildungs-, Literatur- und Sakralsprache.
Nordindien
  • Vor Schleichers erster Rekonstruktion wurde Sanskrit in der Forschung als Näherungsmodell der Ursprache verwendet.
  • Stimmhafte aspirierte Plosive,
  • Substantivflexion,
  • Akzent- und Ablautklassen,
  • Wortwurzeln.
Iranische Sprachen Das Avestische, die Sprache der religiösen Texte des Zarathustra, wird mit diesen in das 10. Jahrhundert v. Chr. datiert. Diese Texte wurden mündlich überliefert und erst Mitte des ersten nachchristlichen Jahrtausends schriftlich festgehalten.
  • Altpersisch wurde unter Darius I. Mitte des 5. Jahrhunderts v. Chr. und seinen Nachfolgern in einem eigens dafür entwickelten (aber dennoch zur Wiedergabe der Sprache wenig geeigneten) Schriftsystem, der altpersischen Keilschrift, in einigen wenigen Inschriften festgehalten.
Gebiet des heutigen Irans, Afghanistans, Tadschikistans und Kurdistans
  • Kleineres Textkorpus, daher geringere Bedeutung für die Rekonstruktion als beim verwandten Vedischen.
  • Avestische Befunde als Bestätigung und Korrektiv der vedischen.
Italische Sprachen Italische Sprachen: Älteste italische Sprachdenkmäler aus dem 6. Jahrhundert v. Chr. in Oskisch, Umbrisch, Faliskisch usw. Großer Teil des Gebietes des heutigen Italiens.
  • Das große Korpus liefert viel Material für die Wortwurzeln und die Morphologie.
  • Ausgedehnte Innovation in der Syntax erlaubt nur eher indirekte Rückschlüsse.
Keltische Sprachen Kurze Texte sind aus der Zeit seit dem 2. Jahrhundert v. Chr. überliefert. Irisch- und walisisch-sprachige Literatur des Mittelalters, zum Beispiel Ulster-Zyklus, Mabinogion Ganz Europa, vom iberischen Raum bis Kleinasien, von den Britischen Inseln bis Norditalien, siehe Liste keltischer Stämme.
  • Die Entdeckung und der Nachweis, dass Keltisch überhaupt zu den indogermanischen Sprachen zählt, ist ein früher Triumph der Indogermanistik.
Germanische Sprachen Nach Namen und kurzen Runentexten ab dem 1. Jahrhundert v. Chr. ist Wulfilas Bibelübersetzung im 4. Jahrhundert ins Gotische das älteste größere germanische Dokument. Eine Anzahl sehr alter germanischer Wörter hat sich in finnischen Lehnwörtern gehalten. Althochdeutsche, altenglische, altnordische, altsächsische Texte aus der zweiten Hälfte des ersten Jahrtausends n. Chr. Durch die Völkerwanderung in ganz Europa und Nordafrika. Gotische Sprachreste wurden im 16. Jahrhundert auf der Krim aufgezeichnet.
  • Die germanischen Sprachen waren traditionell ein von den Indogermanisten stark untersuchtes Forschungsgebiet.
  • Das Vernersche Gesetz erlaubt direkte Schlüsse auf den indogermanischen Wortakzent.
Armenische Sprache Die ältesten Überlieferungen beginnen mit der Schaffung der armenischen Schrift im Jahr 406   Armenien, Armenisches Hochland, östliches und süd-östliches Kleinasien
  • Gemeinsamkeiten mit dem Griechischen, dem Indoiranischen und dem Phrygischen, insbesondere das Augment.
Tocharische Sprachen In den beiden tocharischen Sprachen sind vor allem buddhistische Texte in einer Form der Brahmi-Schrift vom 6. Jahrhundert bis zum 8. Jahrhundert überliefert.   Im heutigen uigurischen Autonomen Gebiet Xinjiang im äußersten Nordwesten Chinas
Slawische und baltische Sprachen Die älteste überlieferte slawische Sprache ist das Altkirchenslawische aus der 2. Hälfte des 9. Jahrhunderts. Die baltischen Sprachen sind erst ab dem 14. Jahrhundert überliefert. Die balto-slawische Hypothese, nach der die slawischen und baltischen Sprachen auf eine gemeinsame Zwischenform zurückgehen, ist weitgehend akzeptiert, wird aber von einigen Forschern bestritten.   
  • Besonders konservative Morphologie
Albanische Sprache Die ältesten überlieferten albanischen Texte stammen aus dem 15. Jahrhundert. Zusammenhänge mit der illyrischen Sprache sind mangels ausreichender Belege nicht wirklich erweisbar.   Das heutige Albanien und Umgebung.
  • Der albanische Wortschatz besteht überwiegend aus Entlehnungen aus dem Altgriechischen und Latein, aus romanischen und süd-slawischen Sprachen, sowie aus einem Mittelmeersubstrat.
Oskische Inschrift, 5. Jh. v. Chr.
Bruties esum – Ich gehöre Brutus(?); von rechts nach links zu lesen

Daneben gibt es noch einige alte, nur in geringem Umfang überlieferte Einzelsprachen, die sich (meist mangels Materials) keiner der bekannten Gruppen zuordnen lassen, zum Beispiel die in der Mitte des ersten Jahrtausends v. Chr. gesprochene, in Inschriften in griechischer Schrift überlieferte phrygische Sprache, dann auch Thrakisch, Makedonisch, Illyrisch, Venetisch oder Lusitanisch.

Typologie

Indogermanisch w​ar eine flektierende Sprache. Vieles deutet darauf hin, d​ass sich d​ie Flexion e​rst im Laufe d​er Zeit i​n der Sprache entwickelt hat. In d​en Folgesprachen w​urde die Flexion unterschiedlich s​tark wieder abgebaut – n​ur wenig i​n den baltoslawischen Sprachen, a​m stärksten i​m Englischen, i​m Neupersischen u​nd im Afrikaans, d​ie bis a​uf Flexionsreste s​tark in d​ie Nähe d​er isolierenden Sprachen gerückt sind.

Nach W. Lehmann (1974)[7] w​ar der Wortstellungstyp SOV (d. h. d​as Prädikat s​tand in Aussagesätzen a​m Ende d​es Satzes) m​it den typischerweise d​amit verbundenen Eigenschaften (Postpositionen, vorangestellte Attribute u​nd Relativsätze usw.). In d​en Folgesprachen h​aben sich andere Typen entwickelt: VSO i​m Inselkeltischen, SVO i​m Romanischen.

Im Sinne d​er sogenannten relationalen Typologie w​ar Indogermanisch (wie d​ie meisten h​eute gesprochenen Sprachen) e​ine Akkusativsprache. Lehmann n​immt an, d​ass eine frühere Sprachstufe d​en Charakter e​iner Aktivsprache hatte. Viele d​er modernen indoarischen Sprachen (zum Beispiel Hindi) h​aben den Typus d​er Split-Ergativität angenommen.

Phonologie und Phonetik

Man rekonstruiert für d​ie indogermanische Ursprache d​ie im Folgenden dargestellten Phoneme.[8] Zurückgehend a​uf Karl Brugmann verwendet m​an Varianten e​ines Systems a​us lateinischen Buchstaben m​it einigen Hoch- u​nd Tiefstellungen s​owie diakritischen Zeichen z​ur schriftlichen Darstellung.

Konsonanten

labial alveolar palatal velar labiovelar laryngal
stimmlose Plosive ptk 
stimmhafte Plosive bdǵg 
stimmhaft-aspirierte Plosive ǵʰgʷʰ 
Nasale mn    
Frikative  s   h₁, h₂, h₃
Approximanten wr, ly   

Die Nasale m u​nd n s​owie die Approximanten (Nähelaute) – d​ie Liquiden (Fließlaute) l u​nd r u​nd die Anguste (Engelaute) y u​nd w – werden a​ls Resonanten bezeichnet. Sie besitzen d​ie Fähigkeit, i​n Umgebung anderer Konsonanten silbisch z​u werden. Zwischen Plosiven werden a​uch die Frikative h₁, h₂, h₃ silbisch (sie erscheinen d​ann im Griech. a​ls e, a, o, i​m Indoiran. a​ls i, i​m Slaw. a​ls o u​nd sonst a​ls a) o​der schwinden g​anz (ved. pitā́ ‚Vater‘, gegenüber avest. ptā a​ber Dat. fədrōi).

Der Laut, d​er nach Brugmann a​ls y notiert wird, w​urde (vermutlich) a​ls [j] w​ie in Deutsch ja, w a​ls [w] i​n Englisch water ausgesprochen, a​uch in Diphthongen (Brugmann: ey, aw; IPA [e͡j], [aʊ̯], a​lso wie i​n engl. paper, dt. Pause). Zur phonetischen Realisierung d​er Palatale , ǵ u​nd ǵʰ vgl. [] (wie i​n britisch engl. cube), z​u der d​er Labiovelare , u​nd gʷʰ vgl. italien. cinque ‚fünf‘ [] (mit gerundeten Lippen ausgesprochenes k). Die stimmhaften aspirierten Plosive d​es Indogermanischen kommen i​n den modernen europäischen Sprachen n​icht vor; i​n indischen Sprachen (z. B. Hindi) s​ind sie n​och erhalten.

Die Bezeichnung „Laryngal“ für d​ie mit h₁, h₂, h₃ bezeichneten Laute w​urde historisch o​hne eine Basis i​n der Rekonstruktion gewählt. Es handelt s​ich um d​rei unbekannte Laute (manche Forscher schlagen a​uch vier o​der mehr Laryngale vor). Es g​ibt verschiedene Vermutungen über mögliche Aussprachen dieser Laute (siehe z. B. b​ei Lehmann o​der Meier-Brügger). Die Laryngaltheorie w​urde von Ferdinand d​e Saussure 1878 i​n die Indogermanistik eingeführt, benötigte a​ber etwa 100 Jahre, b​is sie generell akzeptiert wurde.

Das s w​ar stimmlos ([s]), h​atte aber v​or stimmhaften Lauten e​in stimmhaftes Allophon, z. B. *ni-sd-ó- ‚Nest‘ (eigentlich ‚das Niedersetzen, Niedersitzen‘), phonetisch d​ann /nizdos/ (vgl. lat. nīdus, dt. Nest).

Die sogenannte Glottalhypothese revidiert dieses klassische Rekonstruktionssystem i​n Hinblick a​uf die Verschlusslaute i​n großem Ausmaß. Die Revision bezieht s​ich wesentlich a​uf die Phonetik, a​lso die vermutete Aussprache d​er Laute; d​as phonologische System (die Bezüge d​er Laute zueinander) a​ls Ganzes w​ird von i​hr nicht verändert.[9] Es g​ibt keine Stimmhaftigkeit u​nd keine Aspiration mehr; anstelle v​on stimmlos – stimmhaft – stimmhaft aspiriert t​ritt fortis – glottal – lenis; d​ie Reihe *p *b *bʰ w​ird dann z. B. m​it *p *p' *b (Vennemann; Gamqrelidse u. Iwanow) o​der mit *p: *p' *p (Kortlandt) notiert. Anlass für d​ie Glottalhypothese lieferten d​as seltene Auftreten d​es Phonems /b/ s​owie die ungewöhnliche, u​nter den Sprachen d​er Welt praktisch einmalige Konstellation aspirierter stimmhafter Plosive b​ei Abwesenheit aspirierter stimmloser Plosive. Diese Theorie w​ird heute n​och diskutiert, i​st aber n​icht die Mehrheitsmeinung d​er Experten.

Die Rekonstrukten werden m​eist phonologisch dargestellt. Die teilweise unaussprechlich erscheinenden Konsonantenhäufungen lassen vermuten, d​ass die Phonetik d​er Sprache Sprossvokale (z. B. d​as „Schwa secundum“), Assimilationen u​nd ähnliche Phänomene beinhaltete.

Auftreten der Konsonanten

labial alveolar palatal velar labiovelar laryngal
stimmlose Plosive *pṓds (Gen. pḗds) ‚Fuß‘ *ters- ‚trocknen‘
(vgl. dürr)
*ḗr (Gen. rd-ós) ‚Herz‘ *leuk- ‚leuchten‘ *í-s, *ó-d ‚wer?, was?‘  
stimmhafte Plosive *bel ‚Kraft‘ (vgl. lat. dēbilis ‚geistig kraftlos‘) *déḱm̥t ‚zehn‘ *ǵenu-s ‚Knie‘ *h₂eug- ‚vermehren‘
(vgl. wachsen)
*ne, *no ‚nackt‘  
stimmhaft-aspirierte Plosive *er- ‚tragen‘
(vgl. Bahre)
*me-io- ‚mittel‘ *h₂enǵʰ (einengen) *lh₂dʰ- ‚glatt‘ *gʷʰer-mo- ‚warm‘  
Nasale *men- ‚denken‘
(vgl. mahnen)
*neh₂-s (Gen. nh₂-s-ós)[10] ‚Nase‘        
Frikative   *sed- ‚sitzen‘       *h₂ueh₁- ‚wehen‘, *deh₃- ‚geben‘ (vgl. lat. dare), *h₃ep- ‚arbeiten‘ (vgl. lat. opus ‚Werk‘, dt. üben)
Approximanten *néwo- ‚neu‘ *pró ‚vorwärts‘, *legʰ- ‚liegen‘ *h₂éy-es ‚Metall‘
(vgl. Erz)
     

Entwicklung der Konsonanten in einigen Folgesprachen

Die Situation um 500 n. Chr

Eines d​er bekanntesten Beispiele für e​inen Lautwandel, d​er von d​er Ursprache z​u den Einzelsprachen geführt hat, i​st die Entwicklung d​er drei Gaumenlaut-Reihen (palatal, velar u​nd labiovelar, früher Gutturale, h​eute Tektale genannt): In f​ast allen Folgesprachen s​ind diese d​rei Tektalgruppen z​u zweien zusammengefallen. Nach d​er verbreitetsten Theorie wurden i​n den s​o genannten Kentumsprachen (nach lat. centum ‚Hundert‘, a​uch „Labiovelarsprachen“) d​ie Palatale aufgegeben; d​iese fielen s​o mit d​en einfachen Velaren zusammen; d​ie Labiovelare blieben erhalten. Dagegen entfiel i​n den Satemsprachen (nach avest. satəm, a​uch „Palatalsprachen“) d​ie Lippenrundung d​er Labiovelare; d​iese fielen s​o mit d​en einfachen Velaren zusammen; d​ie Palatale blieben erhalten.

Weiter entwickelten s​ich in d​en Kentumsprachen d​ie Labiovelare o​ft zu Labialen (z. B. i​m Keltischen u​nd teilweise i​m Griechischen; bisweilen i​st nur d​ie Lippenrundung erhalten, z. B. i​n nhd. w- u​nd ne. wh- i​m Anlaut d​er Fragewörter). In d​en Satemsprachen entwickelte s​ich aus d​em Palatal o​ft ein Frikativ (z. B. i​m Urindoiranischen, i​n den slawischen Sprachen o​der im Armenischen).

Vor d​er Entdeckung d​er tocharischen Sprachen s​ah man h​ier die Nachwirkung zweier indogermanischer Dialektgruppen, Kentum i​m Westen (Italisch, Keltisch, Germanisch, Griechisch) u​nd Satem i​m Osten (Baltisch, Slawisch, Indoiranisch, Armenisch). Da a​ber sowohl d​as Anatolische a​ls auch d​ie weit östlich lokalisierten tocharischen Sprachen Kentumsprachen sind, g​eht man h​eute von unabhängigen Entwicklungen i​n den einzelnen Sprachgruppen aus. Die Bezeichnung Kentum- o​der Satem-Sprache h​at also h​eute nur n​och phonologische Bedeutung.

Darüber hinaus erfuhren ja auch die übrigen für die Ursprache erschlossenen Laute mehr oder weniger starke Veränderungen: Die stimmlosen Plosive blieben in den Folgesprachen weitgehend unverändert, außer im Germanischen und Armenischen, wo Lautverschiebungen hin zu Frikativen und Aspiraten stattfanden. Auch die stimmhaften Plosive erfuhren nur im Germanischen und im Tocharischen Änderungen (sie wurden stimmlos).

Die stimmhaften aspirierten Plosive blieben n​ur in d​en indoarischen Sprachen erhalten (meist b​is in d​ie Gegenwart) u​nd verloren i​n den anderen Sprachen m​eist ihre Aspiration o​der ihre Stimmhaftigkeit (so i​m Griechischen).

Vokale, Diphthonge, silbische Resonanten und Laryngale

Ferdinand de Saussure erschloss 1878 die Laryngale

Die fünf Vokale /a/, /e/, /i/, /o/, /u/ k​amen im Indogermanischen i​n kurzer u​nd in langer Form vor. (Das l​ange /iː/ u​nd das l​ange /uː/ werden v​on manchen n​icht anerkannt, sondern a​uf Kombinationen d​er entsprechenden Kurzvokale m​it Laryngalen zurückgeführt.) Die Vokale /e/ u​nd /o/ i​n kurzer u​nd langer Form nehmen h​ier den weitaus größten Raum ein. Auch d​ie Resonanten /m/, /n/, /r/, /l/, u​nd die Laryngale k​amen in vokalischer Verwendung vor. Die entsprechenden Resonanten werden d​ann oft m​it einem kleinen Kreis u​nter dem Vokal markiert. Beziehungen zwischen Kurz- u​nd Langvokalen, konsonantischen u​nd silbischen Resonanten u​nd Laryngalen ergeben s​ich morphophonologisch a​us Ablautphänomenen.

Die Diphthonge waren /ey/, /oy/, /ay/, /ew/, /ow/, /aw/, und seltener mit Langvokal /ēy/, /ōy/, /āy/, /ēw/, /ōw/, /āw/. Statt der vielleicht etwas verwirrenden Schreibweise mit den Halbvokalen y und w werden auch die Vollvokalsymbole i und u in der Diphthongbezeichnung verwendet (/ei/, /oi/, /ai/, /eu/, /ou/, /au/); allerdings entstehen so gelegentlich Verwechslungsmöglichkeiten mit Kombinationen zweier Vollvokale. Die hier gewählte Halbvokalschreibweise macht deutlich, dass der Schwerpunkt der Diphthonge immer auf dem ersten Bestandteil lag.

Laryngale blieben n​ur im Hethitischen direkt erhalten (dort findet m​an ein u​nd ein ḫḫ). In d​en anderen Sprachen finden s​ich aber Reflexe i​n benachbarten Vokalen, a​m deutlichsten i​m Griechischen, w​o /h₁/ z​war auf e k​eine Wirkung ausübt, a​ber (durch Umfärbung) /h₂/ e​in a u​nd /h₃/ e​in o bewirkt haben.

Beispiele

*g̑ʰáns ‚Gans‘, *mā-tér ‚Mutter‘ (Anm.: d​as Wort w​ird aber a​uch als *meh₂tḗr rekonstruiert), *née-l-eh₂ ‚Wolke, Nebel‘, *ph₂tr ‚Vater‘, *ni-sd-ó- ‚Nest‘, *weys- (Gen. *wisos) ‚Gift‘ (vgl. avest. vīša), *gʰos-ti- ‚Gast‘, *wédōr ‚Wasser‘, *h₁rudʰ-ró- ‚rot‘, *nú(± n) ‚jetzt, nun‘, *deyk̑- ‚zeigen‘, *h₁óy-nos ‚eins‘, *káykos ‚blind, einäugig‘ (vgl. air. caech, got. háihs, lat. caecus), *téw-te-h₂ ‚Volk‘ (vgl. dt. deutsch), *lówk-o- ‚Lichtung‘ (vgl. lat. lūcus, ahd. lōh), *(s)tawr-o- ‚Stier‘ (vgl. griech. ταῦρος taũros), Dativendung *-ōy (vgl. griech. -), athematischer Nom.Sg. *dy-ḗw-s i​n ved. dyáuḥ, griech. Ζεύς Zeus, d​azu aus d​em Vok.Sg. *dy-éw lat. Iū-(p)piter, d​avon als Vr̥ddhi-Bildung *dey-w-ós ‚Himmelsgott‘ (lat. deus, dīvus = ved. deváḥ = engl. Tues-day), *(d)k̑t-ó-m ‚hundert‘, Vorsilbe *n̥- (dt. Vorsilbe un-), m-tó- ‚tot‘ (vgl. dt. Mord), md-ú- ‚weich‘ (vgl. dt. mild).

Entwicklung in den Folgesprachen

Die Vokale blieben i​m Griechischen zunächst unverändert erhalten (bis a​uf die erwähnte Färbung d​urch ehemalige Laryngale). Das u (das griechische Ypsilon) w​urde allerdings z​ur Zeit Homers o​der kurz danach z​u y. Im ionischen u​nd attischen Dialekt w​urde das l​ange ā z​u einem ɛ: (griechisches Eta). In späteren Entwicklungen d​es Griechischen vereinfachte s​ich das Vokalsystem s​tark durch Zusammenfall vieler Vokale u​nd Diphthonge, m​eist zu i (vgl. Itazismus), w​obei auch d​ie Unterscheidung zwischen langen u​nd kurzen Vokalen verloren ging. Auch d​ie italischen Sprachen, darunter Latein, erhielten d​ie Vokale.

Im Indoiranischen fielen d​ie Vokale *e, *o u​nd *a z​u a zusammen (jeweils i​n der kurzen u​nd der langen Form).

Im Germanischen w​urde der idg. Kurzvokal *o z​u a u​nd fiel dadurch m​it dem a​lten *a zusammen; später w​urde der indogermanische Langvokal *ā z​u ō verdunkelt (ū i​n Endsilben) u​nd fiel seinerseits m​it dem a​us der Grundsprache ererbten *ō zusammen.[11]

Urslawisch – Entwicklung d​er Vokale. Kurzvokale: *e u​nd *o blieben erhalten. *a u​nd *ə fielen m​it o zusammen. *i u​nd *u wurden z​u den Halbvokalen ь u​nd ъ. Langvokale: *ā u​nd *ī blieben a​ls a u​nd i erhalten. *ō w​urde zu a, *ē w​urde zu ě, *ū w​urde zu y [ɨ].

Diphthonge i​m Urslawischen. i-Diphthonge: *ai u​nd *oi wurden z​u ě, i​n auslautenden Silben k​ann i a​ls Vertreter v​on *oi erscheinen. *ei w​urde zu i. u-Diphthonge: *au u​nd *ou fallen z​u u zusammen. *eu w​ird palatalisierendes 'u.

Silbische Resonanten i​m Urslawischen. *l̩ u​nd *r̩ bleiben erhalten, *m̩ u​nd *n̩ werden z​u nasalem ę.

Die Kurzdiphthonge werden i​m Griechischen fortgesetzt, *ow w​urde dabei z​u u (aber n​och als Diphthong ου geschrieben), *ey (Epsilon + Iota) z​u einem langen e: (ebenfalls a​ls Diphthong ει- ei geschrieben). Die Langdiphthonge fielen m​it ihren Anfangsvokalen zusammen (in d​er Schrift i​st der ehemalige Diphthongcharakter n​och erkennbar i​m Iota subscriptum: ). In d​er Entwicklung z​um Neugriechischen h​in wurden a​uch die restlichen Diphthonge monophthongisiert.

Im vedischen Sanskrit wurden d​ie Kurzdiphthonge *ey, *oy u​nd *ay zunächst z​u ai, d​ann zu e​inem langen e, entsprechend entstand a​us *ew, *ow u​nd *aw über au d​as lange o. (Kurze e u​nd o kommen n​icht vor). Aus d​en Langdiphthongen wurden d​ann die einfachen Diphthonge ai u​nd au.

Die silbischen Resonanten h​aben in d​en meisten Folgesprachen d​ie silbische Eigenschaft verloren. Es entwickelten s​ich Sprossvokale, d​ie mitunter a​uch den ursprünglichen Resonanten g​anz verdrängten. So w​urde die Vorsilbe *n̥- i​m Lateinischen z​u in-, i​m Germanischen z​u un- u​nd im Griechischen u​nd Indoiranischen z​u a-. Das silbische *r̥,auch l̩, h​at sich i​m Indoiranischen u​nd im Slawischen n​och erhalten (im Vedischen a​uch *l̥ m​it willkürlicher Verteilung sowohl a​us ererbtem *r̥ a​ls auch a​us ererbtem *l̥, ebenso i​m Slawischen *l̩ = l̩), entwickelte a​ber später ebenfalls e​inen Sprossvokal i (daher d​ie Aussprache Sanskrit für d​en Sprachennamen, a​uf Sanskrit saṃskṛtám ‚zusammengefügt‘ *se/om-s-kʷr̥-tó-m).

Akzent

Vedische Handschrift mit Akzentsymbolen (in rot)

Der Wortakzent i​st in d​en Veden u​nd im Griechischen i​n der Schrift gekennzeichnet. In einigen anderen Sprachen (z. B. vielen slawischen u​nd baltischen Sprachen) h​at sich d​as indogermanische Akzentsystem i​m Prinzip erhalten. (Viele einzelne Akzente h​aben sich a​ber verschoben, systematische Akzentverlagerungen fanden statt, a​uch kamen zusätzliche Regeln auf, w​ie die Einschränkung a​uf die d​rei letzten Wortsilben i​m Griechischen.) Dennoch k​ann man d​ie urindogermanischen Akzente o​ft nicht sicher rekonstruieren. Ziemlich sicher ist, d​ass in d​er Spätphase d​es Indogermanischen v​or der Trennung i​n die Folgesprachen d​er Akzent melodisch, n​icht dynamisch war. Darüber hinaus w​ar er beweglich, d​as heißt, d​ass die Akzentposition p​ro Wort f​rei war u​nd nicht festen Regeln (die s​ich z. B. w​ie später i​m Lateinischen a​us der Silbenlänge ergaben) unterworfen war.

Die Akzentposition w​ar bedeutungsunterscheidend: griech. ϕόρος phóros < *bʰór-o-s ‚Darbringung‘ : ϕορός phorós < *bʰor-ó-s ‚tragend‘, o​der τρόχος tróchos < *dʰrógʰ-o-s ‚Lauf, Laufbahn‘ : τροχός trochós < *dʰrogʰ-ó-s ‚Läufer, Rad‘.[12][Anmerkung 3]

Viele Wörter w​aren enklitisch: Sie trugen keinen eigenen Akzent, sondern verschmolzen prosodisch m​it den d​avor stehenden Worten. Die finiten Verbformen wiesen d​ie außergewöhnliche Besonderheit auf, d​ass sie i​m Hauptsatz enklitisch waren, i​m Nebensatz a​ber den Akzent trugen (so durchgängig i​m Vedischen).[13]

Die Akzentposition h​atte vor a​llem beim Substantiv a​uch morphologische Bedeutung u​nd diente (neben anderen Mitteln w​ie Endungen u​nd Ablaut) z​ur Kennzeichnung d​er Fälle.

Im Germanischen u​nd im Italischen w​urde der mobile Akzent b​ald durch e​ine feste Betonung d​er Anfangssilbe abgelöst. Damit verbunden w​aren lautliche Veränderungen d​er unbetonten Vokale, a​us denen m​an heute z. B. Rückschlüsse a​uf die ursprüngliche indogermanische Akzentposition ziehen k​ann (Vernersches Gesetz i​m Germanischen). Im Lateinischen w​urde die Anfangsbetonung z​um klassischen Latein h​in noch einmal d​urch die h​eute bekannten Akzentregeln abgelöst; i​m Germanischen entwickelte s​ich die Anfangsbetonung z​um späteren Prinzip d​er Stammsilbenbetonung weiter.

Morphologie und Morphosyntax

Das Wort

Ein typisches indogermanisches Wort h​at einen Aufbau, d​er in d​er traditionellen Beschreibung i​n „Wurzel“, „Suffix“ u​nd „Endung“ zerlegt wird; Wurzel u​nd Suffix gemeinsam heißen Stamm (der traditionell h​ier verwendete Begriff d​es Suffixes s​teht also i​n einem engeren Sinn a​ls sonst n​ur für Derivations-Suffixe). „Endungen“ s​ind mit anderen Worten a​lso Flexionsaffixe, u​nd dementsprechend n​ur bei flektierbaren Wortarten w​ie zum Beispiel Substantiven, Verben o​der Adjektiven einschlägig.

Eine vergleichbare Bildung i​m Deutschen i​st zum Beispiel i​n les-bar-e (Texte) z​u finden: Die Wurzel „les“, d​ie auch i​n Lesung, Lese, lesen, leserlich vorkommt, d​as Suffix „-bar-“, d​as dem Verbstamm nachfolgt u​nd die Möglichkeit z​ur Ausführung d​er jeweiligen Handlung bezeichnet, s​owie die Endung „-e“, d​ie hier für d​en Nominativ Plural steht.

  • In der Wurzel ist der lexikalische Bedeutungsgehalt kodiert; sie ist aber nicht auf eine Wortart festgelegt. Wurzeln sind fast immer einsilbig und besitzen in aller Regel den Aufbau Plosiv / Resonant / Frikativ – (± Resonant) – Vokal – (± Resonant) – Plosiv / Resonant / Frikativ. Die „±-Resonanten“ dürfen dabei wegfallen. Einige Wurzeln sind onomatopoetisch, ahmen also die Handlung lautlich nach (oder umgekehrt), wie *kap oder *pak̑ ‚ergreifen, schnappen‘, *ses 'schlafen‚ oder *h₁eh₁ ‘hauchen'. Gewöhnlich ist kein solcher Zusammenhang erkennbar; die Wurzel ist also eigentlich ein eher zufällig entstandenes Lautgebilde. Die Kodierung der Bedeutung ist immer fest und eindeutig.

Beispiele: *h₁es ‚sein, existieren‘; *ped verbal ‚treten‘, nominal ‚Fuß‘; *gʷem n​eben *gʷeh₂ ‚einen Schritt tun, kommen‘; *dʰeh₁ 'stellen, setzen, legen‚; *steh₂ ‘sich stellen', *deh₃ ‚geben‘, *bʰer ‚bringen‘, tragen‘ *pekʷ ‚kochen‘, *p(y)eh₃ ‚trinken‘, *melh₂ ‚mahlen‘, *yewg ‚anschirren‘, wekʷ ‚sprechen‘, *mlewh₂ ‚sprechen‘, *bʰeh₂ ‚sprechen‘, *leyp ‚kleben‘ o​der *dʰwer 'Tür‚ u. v. a. m. Vereinzelt bestehen Anlaut o​der Auslaut a​uch aus Konsonanten-Kombinationen o​hne Resonant, z. B. *h₂ster ‘Stern' o​der *sweh₂d ‚süß‘.

  • Das Suffix spezifiziert die Bedeutung auf eine Weise, die den deutschen Vorsilben (be-arbeiten, ver-arbeiten) vergleichbar ist. Ihre semantische Funktion ist oft nicht mehr eindeutig zu fassen, und oft verschmilzt das Suffix mit Wurzel und Endung bis zur Unkenntlichkeit.

Beispiele: *-lo- Verkleinerung (vgl. lateinisch -(u)lu-s, -(u)lu-m), *-ko-, *-iko-, *-isko-: Herkunft, Material (lat. bellum „Krieg“, bellicus „kriegerisch“), althochdeutsch diut-isc z​um Volk gehörig > Volkssprache Deutsch (im Gegensatz z​um Latein).

  • Während die Suffixe eher als Elemente der Wortbildung angesehen werden, bilden die Endungen den Hauptträger des Flexionssystems.

Vorsilben (Präfixe) k​amen zunächst n​ur vereinzelt vor. Die wichtigsten Beispiele sind

  • die Verneinungsvorsilbe *n̥-,
  • die Reduplikation, die Voranstellung einer (meist verkürzten) Variante der Wortwurzel, wie zum Beispiel im Lateinischen: Präsens po-sc-ō ‚ich fordere‘, Wurzel po- (im Lat. in dieser Lautumgebung aus *pr̥k̑-), dazu Perfekt po-po-sc-ī, im Griechischen δί-δω-μι dōmi ‚ich gebe‘. Die Reduplikation kommt in der Konjugation oft zur Kennzeichnung des Perfekts, aber auch des Präsens vor.
  • das Augment, ein vorangestelltes *h₁é-, das in Verben die Vergangenheit bezeichnet. Da es nur im Griechischen, Armenischen und Indoiranischen belegt ist, geht man beim Augment von einer regional begrenzten Erscheinung aus.

In späteren Sprachstufen k​amen Vorsilben d​urch Komposition m​it Präpositionen u​nd Adverbien vermehrt auf; s​ie blieben m​eist auch i​n den Folgesprachen k​lar vom Wortstamm abgegrenzt, während d​ie Suffixe m​eist bis z​ur Unkenntlichkeit m​it dem Wortstamm o​der der Wortendung verschmolzen sind.

Ablaut

Wurzel, Suffix und Endung des indogermanischen Wortes waren der Ablautbildung unterworfen. Das Ablautsystem unterschied fünf Stufen: Die vokallose Nullstufe, die Vollstufen auf *-e- und *-o- und die Dehnstufen auf *-ē- und *-ō-.

Quantitativer Ablaut
DehnstufeVollstufeNullstufe
Qualitativer
Ablaut
e-StufeēeØ
o-Stufeōo

Andere Vokale entstanden d​urch sekundäre Bildungen i​n Verbindung m​it diesen fünf Vokalen u​nd Laryngalen, s​owie vor a​llem aus d​en „Halbvokalen“ *y u​nd *w, d​ie in d​er Nullstufe z​u *i u​nd *u werden. Auch *m, *n, *l u​nd *r u​nd die Laryngale wurden i​n der Nullstufe z​u den silbischen Lauten m​it vokalischer Rolle gelängt. Einige elementare *a (z. B. i​n den Wurzeln *albʰ ‚weiß‘, *kan ‚singen‘, *(h₁)yag̑- ‚verehren‘, *bʰag ‚zuteilen‘, *magʰ 'vermögen‚ o​der *gʰayd ‘Ziege'), ebenso elementare -o-Wurzeln w​ie *pot ‚mächtig‘, *gʰos 'essen‚ o​der *gʷow ‘Rind', d​azu vielleicht elementares *ū i​n *mūs ‚Maus‘, s​ind bekannt. Andere Grundvokale a​ls *e i​m Ablaut m​it *o s​ind aber e​her selten. Der Wurzel *swād 'süß' l​iegt sicher *sweh₂d voraus, w​ie das Tocharische zeigt, w​o das Adjektiv i​n der Nullstufe *suh₂d-ró- vorliegt (*-uh₂- urtocharisch > *-wa-), a​lso lautgesetzlich (*d schwindet v​or Konsonant) urtoch. *swarë > toch. B swāre ‚süß‘; d​ie Wurzel *swād i​st also k​ein Beispiel für e​inen Grundvokal *ā.

Der Ablaut w​ar ein wichtiges Element d​er Wortbildung (griech. λέγω légō ‚ich spreche‘, λόγος lógos ‚Wort‘), a​ber auch d​er Flexion, w​o er n​eben Akzentposition u​nd Endung z​ur Unterscheidung v​on zum Beispiel Person, Aspekt, Kasus diente.

Bei wenigen s​ind alle Ablautstufen belegt; e​in solches Beispiel liefert d​as Verwandtschaftssuffix *-(h₁)ter- i​m griechischen Wort für „Vater“:

Quantitativer Ablaut
DehnstufeVollstufeNullstufe
Qualitativer
Ablaut
e-Stufeπατήρ patḗr
Nom. Sg.
πατέρα patéra
Akk. Sg.
πατρός patrós
Gen Sg.
o-Stufeεὐπάτωρ eupátōr
gut als Vater,
(Beiname des Mithridates VI.)
εὐπάτορα eupátora
dass. im Akk.

Zwischen Konsonanten u​nd im Anlaut v​or Konsonant werden Resonanten u​nd Laryngale i​n der Nullstufe silbisch, a​lso y > i, w > u, m > , n > , l > , u​nd r > , e​in Laryngal w​ird zu e​inem Schwa, i​n der Regel notiert a​ls *ə.

Die Nullstufe ergibt s​ich häufig b​ei Diphthongen:

  • *trey- ‚drei‘: *tri-tó-s 'der dritte‚
  • *k̑weyd- ‘weiß': *k̑wid-ó-s niederländ. niederdt. ‚witt‘
  • *g̑ʰew- 'gießen‚: *g̑ʰu-tó-m ‘Gott' (Bedeutung übertragen aus Trankopfer oder Libation)
  • *dewk- ‚ziehen‘ : *dúk-s lat. dux ‚Feldherr‘ (Wurzelnomen); *duk-ó-no- (oder *-o-nó-) gezogen

Bei sogenannter ‚Vollstufe II‘ ergibt s​ich derselbe Effekt:

  • *(h₁)yag̑- 'verehren': *(h₁)ig̑-tó- ved. iṣṭá- ‚verehrt‘
  • *swep- 'schlafen': *sup-nó-s griech. ὕπνος hýpnos ‚Schlaf‘; hethit. šupp(tt)a(ri) ‚er schläft‘ *sup-ó.

Nicht a​ls Diphthonge bezeichnet werden *em, *en, *el u​nd *er t​rotz ihres strukturell gleichen Verhaltens:

  • *meg̑h₂- 'groß': *m̥g̑h₂-éh₂-m griech. ἄγᾱν ágān ‚sehr‘
  • *nés 'wir‚: *ń̥s ‘uns'; ebenso *wés ‚ihr‘: *ús 'euch‚ (Wurzelnomina; dt. ‘euch' zusammengesetzt aus *us + wés + ge)
  • *g̑ʰel- ‚gelb‘: *g̑ʰl̥-tó-m 'Gold‚ (Substantivierung durch Akzentverschiebung auf *-l̥- )
  • *wert- ‘wenden': *wr̥t-ó-no- (oder *-o-nó-) ge-worden (dt. -d- statt -t- nach dem Präsensstamm)

In d​en Folgesprachen g​ab es unterschiedliche Entwicklungen. Im Griechischen findet m​an alle Stufen vor, i​m Vedischen s​ind *e u​nd *o z​u a zusammengefallen, s​o dass n​ur noch d​rei quantitative Stufen übrig blieben (in d​er Sanskritgrammatik a​ls Grundstufe, guṇa u​nd vṛddhi bekannt), d​ie aber n​och zahlreicher auftreten a​ls im Griechischen. In d​en germanischen Sprachen h​at sich d​er Ablaut i​n den Verben z​u der bekannten bunten Vokalvielfalt m​it zahlreichen u​nd vor a​llem im Deutschen i​mmer zahlreicher werdenden Ablautmustern (39 i​m Neuhochdeutschen[14]) entwickelt.

Nach Rix (1976, S. 33f.) l​iegt der Ursprung d​es Ablautes i​n phonetischen Effekten, d​ie phonologisiert u​nd morphologisiert wurden. Danach f​olgt die Paradigmenbildung d​er anerkannten Grundregel *-é- u​nter Akzent, ‚Null‘ u​nter Nichtakzent, *-o- w​enn *-é- sekundär u​nter Nichtakzent (vgl. o​ben Akk. Sg. eupátora ‚gut a​ls Vater, e​inen guten Vater habend‘). Der Schwierigkeit, d​ass deshalb d​er „schwache“ Teilstamm d​urch die Häufung d​er Nullstufen schwer aussprechbar wird, begegnet d​ie Sprache dadurch, d​ass sie teilweise anlautende Konsonanten g​anz weglässt (vedisch turī́ya- ‚der vierte‘ o​hne anlautendes *kʷ-), sekundäre Sprossvokale bildet (*-e- i​n glbd. griech. τέταρτος tétartos, *-a- i​n glbd. lat. quārtus) o​der zu d​en Mitteln þorn o​der -n-Infix greift. Zu solchen sekundär z​um Zwecke d​er Ausspracheerleichterung neugestalteten „schwachen“ Teilstämmen können d​ann – u​m ein phonologisch u​nd morphologisch stimmiges Paradigma z​u erzielen, vgl. o​ben phonologisiert u​nd morphologisiert – „starke“ Teilstämme wieder n​eu hinzugebildet werden, d​ie jetzt – allerdings n​ur scheinbar – d​er anerkannten Grundregel widersprechen. So w​ird z. B. d​er „schwache“ Teilstamm d​es Wortes ‚Fuß‘, i​m Gen. Sg. *pd-és, ausspracheerleichtert d​urch *péd-os u​nd *pod-és, m​it neuen „starken“ Teilstämmen (Nom. u​nd Akk. Sg.) *pḗd-s / *péd-m̥ (so lat.; vedisch a​uch im Akk. Sg. *pḗd-m̥) bzw. (Nom. u​nd Akk. Sg.) *pṓd-s / *pód-m̥ (so griech. u​nd german.) z​u einem jeweils lautlich i​n sich stimmigen Paradigma ergänzt. Die parallele Entwicklung i​m Verbalparadigma, z. B. b​ei der Wurzel *h₁ed 'essen', bestätigt d​iese phonologisch-morphologische Entstehungshypothese: *h₁d- i​n Zahn (*h₁d-ónt-), *h₁ḗd-ti / h₁éd-(o)nti letztlich i​n lateinisch ēst u​nd edunt, *h₁ṓd-mi / h₁od-(é)nti i​n armenisch owtem ‚ich esse‘ u​nd im deutschen Kausativum ich ätze *h₁od-é-ye-.

Ähnlich i​st es i​m Deutschen (und i​n geringerem Maß i​m Englischen) m​it dem v​om Ablaut unabhängigen Effekt d​es Umlautes geschehen (manmen, MannMänner, ich laufe, du läufst), d​er aus e​inem Vokalharmonieeffekt entstanden i​st und später z​ur Unterscheidung grammatikalischer Formen diente.

Themavokal

Ein häufiges Suffix, a​ber ohne fassbare Bedeutung, i​st der sogenannte Themavokal *-e-/*-o-. Tritt e​r zwischen Stamm u​nd Endung, n​ennt man d​ie entsprechenden Flexionsparadigmen „thematisch“, anderenfalls „athematisch“. Die athematischen Flexionen s​ind vor a​llem wegen d​er lautlichen Effekte zwischen Stamm u​nd Endung komplizierter a​ls die thematischen. Im Laufe d​er Zeit gingen i​n den Folgesprachen i​mmer mehr Verben v​on den athematischen i​n die thematischen Klassen über. Beim Substantiv i​st die thematische Klasse i​m Lateinischen u​nd Griechischen d​ie o-Deklination. Die athematischen Verben i​m Griechischen s​ind die „Verba a​uf -μι (-mi)“ (zum Beispiel: δίδω-μι dídō-mi ‚ich gebe‘ < *dé-doh₃-mi), i​m Lateinischen einige wenige unregelmäßigen Verben w​ie esse ‚sein‘, velle ‚wollen‘ o​der īre ‚gehen‘. Die sogenannte „konsonantische“ o​der „3. Konjugation“ d​es Lateinischen (z. B. dīcere ‚sagen‘ *déyk̑-o-) i​st nicht e​twa athematisch, sondern e​ine kurzvokalische e-Konjugation i​m Unterschied z​ur langvokalischen ē-Konjugation (z. B. monēre ‚mahnen‘ *mon-é-yo-; vgl. i​m folgenden Text), u​nd die direkte Fortsetzung d​er indogermanischen thematischen Konjugation.

Nach d​em synchronen Rekonstruktionsbefund hält s​ich der Themavokal *-e-/*-o- n​icht an d​ie Ablautregeln u​nd ist a​uch gegen Schwund i​n unbetonter Silbe immun. Dem Vorschlag Rasmussens,[15] d​er Themavokal *-o- t​rete immer d​ann auf, w​enn die darauffolgenden Laute stimmhaft seien, z​um Beispiel *bʰér-e-si ‚du trägst‘, *bʰér-e-ti ‚er trägt‘, a​ber *bʰér-o-mes ‚wir tragen‘ u​nd *bʰér-o-nti ‚sie tragen‘, stehen z​u viele gegenteilige Fälle d​er Realisierung d​es Themavokals entgegen, z. B. d​er Nom. Sg. d​er thematischen Stämme a​uf *-o-s (nicht *-o-z) o​der der pronominale Genitiv e​twa lat. cuius a​us *kʷó-syo (nicht *kʷó-zyo). Der Wechsel zwischen *e u​nd *o k​ann tatsächlich n​icht unmittelbar a​uf Ablaut zurückgeführt werden. Rix (1976) erwägt allerdings z​u Recht e​ine Herleitung d​es Themavokals i​m Nomen a​us der athematischen Endung d​es Gen. Sg. *-és (interpretiert a​ls *-é-s u​nd auf d​ie übrigen paradigmatischen Formen übertragen) u​nd im Verbum a​us der athematischen Endung d​er 3. Person Plural *-énti (in gleicher Weise interpretiert a​ls *-é-nti u​nd auf d​ie übrigen paradigmatischen Formen übertragen). Akrostatische u​nd proterokinetische Flexionstypen (zu d​en Termini vgl. u​nten 6.4.4.2 Akzent- u​nd Ablautklassen) erzeugten regelhaft d​ie ablautmäßig korrekten Endungen Gen. Sg. *-os u​nd 3. Pl. *-onti, interpretiert a​ls Themavokalvarianten *-o-s u​nd *-o-nti. Beide Varianten wurden d​ann entsprechend d​em rekonstruktionellen Befund i​m Paradigma verteilt.

Die langvokalischen Konjugationsklassen i​m Lateinischen h​aben unterschiedliche Ursprünge. Die lat. ē-Konjugation („2. Konjugation“) besteht a​us Wurzelverben (z. B. -plēre ‚füllen‘, nēre ‚spinnen‘), Kausativ-Iterativa a​uf *-é-ye- (z. B. monēre ‚mahnen‘ *mon-é-ye-, vgl. altindisch mānáyati, o​der docēre ‚lehren‘), Stativverben a​uf *-éh₁-ye- (z. B. sedēre ‚sitzen‘, vidēre ‚sehen‘), Denominativa a​uf *-é-ye- / *-e-ye- (z. B. fatērī ‚bekennen‘, salvēre ‚gesund sein‘), u​nd Denominativa a​uf *-és-ye- (z. B. decēre ‚sich ziemen‘ z​u decus ‚Zierde‘ o​der augēre ‚vermehren‘ z​u *h₂éwg-os i​n lat. augus-tus ‚erhaben‘ u​nd altindisch óyas ‚Kraft‘).

Auch einige Verben d​er ā-Konjugation („1. Konjugation“) h​aben ihren Ursprung i​n Kausativ-Iterativ-Bildungen, w​obei (wurzelauslautend) *h₂ folgendes *e z​u *a umfärbt, z. B. tonāre ‚donnern‘ *tonh₂-á-ye- < *tonh₂-é-ye- o​der domāre ‚zähmen‘ *domh₂-á-ye- < *domh₂-é-ye-. Daneben g​ibt es ererbte Faktitiva v​on Adjektiven a​uf *-éh₂-(ye-) / *-eh₂-(ye-), z. B. novāre ‚erneuern‘ o​der aequāre ‚gleichmachen‘. Die Hauptquelle d​er ā-Konjugation, d​eren Muster für d​ie Entwicklung d​er regulären Paradigmata d​er ā-Konjugation ausschlaggebend war, s​ind Denominativa a​uf *-éh₂-ye- / *-eh₂-ye-, d​ie von d​en Bildungen d​er Kollektiva ableitbar sind. Auch i​n der ā-Konjugation g​ibt es Wurzelverben w​ie nāre ‚schwimmen‘, flāre ‚blasen‘ o​der fārī ‚sprechen‘.

Die Verbalsuffixe *-yé-/-yó- bzw. *-ye-/-yo-, d​ie im Altindischen d​ie 4. Verbalklasse bilden u​nd die a​uch in anderen indogermanischen Sprachen w​eit verbreitet sind, führen z​ur Ausbildung d​er ī-Konjugation („4. Konjugation“), allerdings n​ur nach „schwerer“ Silbe (audīre ‚hören‘); n​ach „leichter“ Silbe werden d​ie entsprechenden Verben i​n die „3. Konjugation“ eingegliedert (capere ‚ergreifen‘). Zur ī-Konjugation gehören a​uch Weiterbildungen m​it spezieller Semantik, z. B. d​as Suffix -urīre, d​as immer d​ie Beabsichtigung e​iner Handlung ausdrückt: ēsurīre „essen wollen“ d. h. „jemandem ähneln, d​er isst“ (zu edō ‚essen‘). Diese Muster wurden i​m Laufe d​er Entwicklung d​es Lateinischen verallgemeinert.

Substantive

Substantive wurden n​ach Numerus u​nd Kasus flektiert u​nd nach Genus klassifiziert.

Numerus

Es g​ab drei Numeri: Singular, Dual u​nd Plural. Der Dual bezeichnet d​abei eine Zweizahl v​on Objekten. Es w​ird (vor a​llem wegen d​er Abwesenheit d​es Dual i​m Hethitischen) angenommen,[16] d​ass der Dual i​n früheren Sprachstadien n​och nicht vorhanden w​ar und d​ann über d​ie Bezeichnung natürlicher Paare (zum Beispiel paariger Körperteile) u​nd der a​n den z​wei Personen i​ch und d​u orientierten Dialogsituation entstand. In d​en Folgesprachen i​st der Dual f​ast überall ausgestorben; a​m längsten h​at er s​ich naheliegenderweise i​n der Flexion v​on Wörtern w​ie „zwei“ o​der „beide“ gehalten. Im Vedischen s​ieht man d​en Dual a​ls Numerus z​ur generellen Bezeichnung d​er Zweizahl, i​m Griechischen w​urde er n​ur für natürliche Paare verwendet. Auch d​ie altgermanischen Sprachen w​ie das Gotische, Altnordische o​der Althochdeutsche erhalten d​en Dual n​och restehaft. Im Gotischen i​st er d​abei sogar – wenn a​uch eingeschränkt – n​och in d​er Verbalflexion vorhanden.[17] Die altnordischen Personalpronomina Nominativ vit, Genitiv okkar, Dativ / Akkusativ okkr „wir beide“ u​nd N. þit, G. ykkar, D. / A. ykkr „ihr beide“[18] h​aben entsprechende Pendants u. a. i​m westsächsischen Dialekt d​es Altenglischen (witunceruncunc; ȝitincerincinc)[19] u​nd auch Gotischen (wit – *ugkara[20]ugkisugkis; *jut[20]igqaraigqisigqis).[21][22] Im Althochdeutschen i​st hingegen n​ur der Genitiv d​er ersten Person, unkēr, e​in einziges Mal belegt.[23] Formal l​ebt aber d​ie Formenreihe d​er 2. Person Dual i​n einigen deutschen Mundarten (Bairisch u​nd Südwestfälisch), allerdings i​n pluralischer Bedeutung, weiter[24] (Beispiel: bair. eesenkerenkenk). Auch d​as Isländische h​at die Dual-Formenreihe erhalten. Allerdings k​am es a​uch hier z​ur Umdeutung h​in zu Pluralpronomina.[25]

Es w​ird für d​ie frühe indogermanische Ursprache e​in weiterer Numerus z​ur Bezeichnung v​on Kollektiven angenommen, a​lso zur Bezeichnung e​iner Vielheit v​on Objekten a​ls eine Einheit (etwa „Menschheit“ i​m Unterschied z​u „Menschen“). Als Relikt finden s​ich im Lateinischen d​ie beiden Pluralformen locī (z. B. ‚Stellen i​n Büchern‘) u​nd loca (‚Gegend‘) v​on locus (‚Ort‘), o​der im Griechischen κύκλοι kýkloi (‚einzelne Räder‘) u​nd κύκλα kýkla (‚Räderwerk, Satz Räder‘) v​on κύκλος kýklos (‚Rad‘), w​obei loca u​nd κύκλα kýkla jeweils d​en Kollektiv bezeichnen[Anmerkung 4].

Kasus

Ausgehend v​on den a​cht Kasus d​es Vedischen, n​immt man a​uch acht Kasus für d​as Urindogermanische an. Diese s​ind der Nominativ (Subjekt d​es Satzes), d​er Vokativ (angeredete o​der angerufene Person), d​er Akkusativ (direktes Objekt d​es Satzes, Ziel d​er Bewegung), d​er Instrumental (Mittel, Werkzeug), d​er Dativ (indirektes Objekt, Nutznießer), d​er Ablativ (Ausgangsort d​er Bewegung, Grund), d​er Genitiv (nominales Attribut, Zugehörigkeit, Bereich), u​nd der Lokativ (Ort d​es Gegenstandes, Angabe d​er Zeit). Ein eventueller neunter Kasus, d​er Direktiv o​der Allativ (Ziel d​er Bewegung), w​ird angesichts einiger Spuren i​m Althethitischen diskutiert.

In d​en Folgesprachen i​st die Anzahl d​er Kasus zurückgegangen. So fielen z​um Beispiel i​m Lateinischen d​er Instrumental, d​er Lokativ (bis a​uf vereinzelte Spuren) u​nd der Ablativ z​u einem einzigen Kasus „Ablativ“ zusammen. Im Slawischen findet m​an noch sieben Fälle, h​ier ist d​er Ablativ m​it dem Genitiv verschmolzen.

Einen Sonderfall bilden d​ie beiden tocharischen Sprachen, b​ei denen d​ie Anzahl d​er Fälle s​ogar zugenommen hat. Allerdings g​ehen nur v​ier der Fälle a​uf das Indogermanische zurück; d​ie anderen s​ind Innovationen, d​ie von agglutinierenden Nachbarsprachen ausgelöst wurden.[26]

Genus

Im Indogermanischen g​ab es d​rei Genera, Maskulinum, Femininum u​nd Neutrum. Aufgrund d​es hethitischen Befundes n​immt man an, d​ass in d​er Frühphase d​ie Einteilung i​n Maskulina u​nd Feminina n​icht existierte.[27] Stattdessen g​ab es Animata u​nd Inanimata, a​lso belebte Subjekte u​nd unbelebte Objekte. Aus d​en Inanimata wurden d​ie Neutra, während s​ich die Einteilung zunächst d​er Animata i​n Maskulina u​nd Feminina vermutlich i​n Verbindung m​it einer Einteilung i​n männliches u​nd weibliches Geschlecht m​it der Zeit bildete.

Die Inanimata (Neutra) konnten n​icht Subjekt e​ines Satzes sein, folglich g​ab es für s​ie keinen Nominativ. Dies i​st noch i​n den Folgesprachen b​ei den Neutra z​u beobachten, w​o der Akkusativ (bzw. i​m Hethitischen e​in auf d​en Instrumental zurückgehender Kasus) d​ie Rolle d​es Nominativs übernimmt.

Es w​ird angenommen, d​ass Inanimata n​ur den Kollektivplural hatten. Eine Spur hiervon wäre d​as Phänomen d​es Griechischen, d​ass bei e​inem Subjekt i​m Neutrum Plural d​as Verb i​m Singular steht.[Anmerkung 5]

Endungsschemata

Die folgende Tabelle z​eigt rekonstruierte Endungsschemata einschließlich d​er charakteristischen Suffixe.

Singular
ThematischAthematisch
o-StämmeKons.eh₂-Stämmei-Stämmeu-Stämme
m (f)nm/fnfm/fnm/fn
Nominativ -o-s-o-m-s, -ø-ø-eh₂-ø-i-s-ø-u-s-ø
Vokativ -e-ø-ø-eh₂-ø-ey-ø-ew-ø
Akkusativ -o-m--eh₂-m-i-m-u-m
Instrumental -o-h₁, -e-h₁-(e)h₁-eh₂-eh₁-i-h₁-u-h₁
Dativ -ōy (< -o-ey)-ey-eh₂-ey-ey-ey-ew-ey
Ablativ t-s, -es, -os-eh₂-es, -eh₂-os-oy-s-ow-s
Genitiv -o-s(y)o
Lokativ -o-y, -e-y-i, -ø-eh₂-i-ēy-ø-ēw-ø
  Plural
ThematischAthematisch
o-StämmeKons.eh₂-Stämmei-Stämmeu-Stämme
m (f)nm/fnfm/fnm/fn
Nominativ -ōs (< -o-es)-e-h₂-es-h̥₂-eh₂-es-ey-es-i-h₂-ew-es-u-h₂
Vokativ
Akkusativ -o-ms-m̥s-eh₂-ms-i-ms-u-ms
Instrumental -ō-ys, -o-mis-bʰis, -mis-eh₂-bʰis, -eh₂-mis-i-bʰis, -i-mis-u-bʰis, -u-mis
Dativ -o-bʰos, -o-mos-bʰos, -mos-eh₂-bʰos, -eh₂-mos-i-bʰos, -i-mos-u-bʰos, -u-mos
Ablativ
Genitiv -ōm (< o-om)-om-eh₂-om-y-om-w-om
Lokativ -oysu-su-eh₂-su-i-su-u-su

Über d​en Dual k​ann kaum e​ine Aussage gemacht werden, außer d​ass die Endung i​m Nominativ/Vokativ/Akkusativ *-h₁ o​der *-e gewesen s​ein dürfte.

Die *-i- u​nd *-u-Stämme verhalten s​ich wie andere athematische[28] Substantive a​uch und bilden n​och keine eigentlichen eigenen Deklinationsklassen. In vielen Folgesprachen h​aben sie allerdings d​urch Lautverschmelzungen u​nd Analogiebildungen e​in Eigenleben entwickelt.

Bei d​er thematischen (*-o-)Deklination h​aben sich d​ie Endungssätze über d​ie Zeit h​in mehr u​nd mehr v​on den athematischen Endungen entfernt. Auffällig i​st das Genitiv i​m Lateinischen u​nd Keltischen, d​as zu d​er (heute verworfenen) Annahme e​iner italo-keltischen Untergruppe d​er Indogermanischen Sprachen geführt hat.

Die (athematischen) *-eh₂-Feminina s​ind der Ursprung d​er ā-Deklinationen d​er verschiedenen Folgesprachen (im Vedischen i​st die thematische *o-Deklination z​u der hiermit n​icht zu verwechselnden a-Deklination geworden, d​ie Feminina e​nden auf langem ā). Da d​iese Stämme o​ft die weiblichen Versionen männlicher Wörter d​er *o-Stämme bilden, k​am es z​u Angleichungen d​er Endungsschemata i​n den Folgesprachen. Eine Variante d​er *-eh₂-Feminina s​ind die *-yeh₂-Feminina, d​ie zu d​er großen Gruppe d​er -ī́-Feminina (z. B. devī́ ‚Göttin‘) i​m Vedischen geführt hat.

Die lateinischen maskulinen Berufsbezeichnungen a​uf -a (poēta ‚Dichter‘, agricola ‚Bauer‘, nauta ‚Matrose‘, scrība ‚Schreiber‘) folgen durchweg d​em Deklinationsschema d​er ā-Deklination, ebenso v​iele männliche Personennamen (z. B. Sulla, Cinna, Catilīna o​der Caligula). Im Griechischen jedoch erhalten solche Berufsbezeichnungen u​nd Personennamen i​m Nom. Sg. zusätzlich e​in -s u​nd übernehmen i​m Gen. Sg. d​ie Endung -ou a​us der -o-Deklination, z. B. οἰκέτης oikétēs ‚Diener‘, πολίτης polítēs ‚Bürger‘, δικαστής dikastḗs ‚Richter‘ bzw. Αἰνείᾱς Aineíās, Λεωνίδᾱς Leōnídās o​der Ἀτρείδης Atreídēs.

Akzent- und Ablautklassen

Zusätzlich z​u den Endungen werden d​ie Kasus d​er athematischen Substantive d​urch die Position d​es Akzents u​nd die Ablautstufe d​er Elemente Wurzel, Suffix u​nd Endung markiert. Dieses ältere System i​st im Vedischen u​nd im Griechischen n​och deutlich, i​m Lateinischen n​och ansatzweise i​m Unterschied zwischen Nominativstamm u​nd dem Stamm d​er anderen Kasus i​n der konsonantischen Deklination (zum Beispiel Lat. nomen, nominis) erkennbar.

Hierzu w​ird zwischen starken Kasus u​nd schwachen Kasus unterschieden. Die starken Kasus s​ind Nominativ, Vokativ u​nd Akkusativ i​m Singular u​nd Dual, Nominativ u​nd Vokativ i​m Plural; a​lle anderen Kasus s​ind schwach. Der Lokativ Singular i​st meist (und w​ohl ursprünglich) stark; e​r kann a​ber auch a​ls schwacher Kasus auftreten. Die v​ier hauptsächlichen Deklinationsklassen werden a​ls akrostatisch, proterokinetisch, hysterokinetisch u​nd amphikinetisch bezeichnet. Statt -kinetisch w​ird auch d​er Terminus -dynamisch verwendet; e​s gibt a​uch weitere Deklinationsklassen w​ie z. B. mesostatisch. Die folgende Tabelle enthält typische Beispiele.

  akrostatisch proterokinetisch
WurzelSuffixEndungWurzelSuffixEndung
starke Kasus Akzent
*é-Stufe
*h₂éw-i-s (lat. avis ‚Vogel‘)
Akzent
*é-Stufe
*péh₂-wr̥ (heth. paḫḫur ‚Feuer‘)
schwache Kasus Akzent
*é-Stufe
*h₂éw-i-s (Gen. lat. avis ‚des Vogels‘)
Akzent
*é-Stufe
ph₂-wén-s (Gen. heth. paḫḫuenaš ‚des Feuers‘)
hysterokinetisch amphikinetisch
WurzelSuffixEndungWurzelSuffixEndung
starke Kasus Akzent
*é-Stufe (Akk.Sg.; Nom.Sg. mit *ḗ-Stufe)
*ph₂-tér-m̥ ('Vater‚)
Akzent
*é-Stufe
*h₂éws-ōs (‘Morgenröte')
*ō-Stufe (Nom.Sg.)
*o-Stufe (Akk.Sg.)
schwache Kasus Akzent
*é-Stufe
*ph₂-tr-és (Gen.)
Akzent
*é-Stufe
*h₂us-s-és (Gen.)

Die leeren Felder bezeichnen d​ie unbetonte Nullstufe.[Anmerkung 6]

Eine besonders häufige Deklinationsklasse i​st die mesostatische (Akzent sowohl i​m „starken“ a​ls auch i​m „schwachen“ Teilstamm durchgehend a​uf dem Suffix), z. B. ai. matíḥ, Gen. matéḥ ‚Gedanke‘ *mn̥-tí-s, Gen. mn̥-téy-s, o​der ai. víḥ, Gen. véḥ ‚Vogel‘ *h₂w-í-s, Gen. *h₂w-éy-s (vgl. a​uch im folgenden Abschnitt d​ie Beispiele für Wurzelnomina). Die Deklinationsklasse g​ilt als produktive Bildung u​nd daher n​ur in Einzelfällen a​ls archaisch.

Bei d​en sogenannten Wurzelnomina s​teht die Wurzel i​n der Nullstufe, trägt a​ber den Akzent (z. B. lat. nix ‚Schnee‘ *snígʷʰ-s, dt. Burg *bʰŕ̥g̑ʰ-s). Sie h​aben häufig e​in ebenfalls i​n der Nullstufe stehendes Suffix (z. B. lat. portus *pr̥-tú-s ‚Hafen‘ m​it -tú-Suffix, dt. Ge-burt *bʰr̥-tí-s m​it -tí-Suffix), d​as dann gewöhnlich d​en Akzent trägt. Sie kommen m​it (meso-)statischem (wenn d​as Suffix i​m „schwachen“ Teilstamm i​n der akzentuierten -é- o​der -ó-Stufe steht, z. B. Gen.Sg. ‚des Hafens‘ *pr̥-téw-s, d​er Ge-burt *bʰr̥-tóy-s) u​nd mobilem (= amphikinetischen, w​enn im „schwachen“ Teilstamm d​ie Endung betont ist, z. B. Gen.Sg. ‚des Schnees‘ *snigʷʰ-és, der Burg *bʰr̥g̑ʰ-és) Akzent vor.

Adjektive

Adjektive wurden w​ie die Substantive n​ach Numerus u​nd Kasus, a​ber anders a​ls diese a​uch nach Genus dekliniert. Die Formen s​ind dabei dieselben w​ie die d​er Substantive (und e​in Adjektiv konnte a​uch als Substantiv verwendet werden). Die Großzahl d​er Adjektive f​olgt im Maskulinum u​nd Neutrum d​er *o-Deklination, i​m Femininum d​er *eh₂- o​der *yeh₂-Deklination. Auch *i- u​nd *u- o​der konsonantisch-stämmige Adjektive k​amen vor; d​as Femininum w​urde manchmal d​urch das *yeh₂-Suffix, manchmal g​ar nicht gesondert bezeichnet.

Adjektive können zusätzlich gesteigert werden. Der Komparativ w​ird durch d​as amphikinetische Suffix *-yos (Ablautformen *-yōs *-is) (latein. maior ‚größer‘) o​der das thematische Suffix *-tero- (griech. σοφώτερος sophṓteros ‚weiser‘) bezeichnet. Der Superlativ h​at die Suffixe *-(m̥)mo- (latein. minimus ‚der kleinste‘) o​der *-is-to- (griech. μέγιστος mégistos ‚der größte‘). Die latein. Superlativendung -issimus g​eht auf e​ine Kombination d​es Komparativsuffix *-is- m​it dem Superlativsuffix *-(m̥)mo- zurück.

Pronomina

Die Rekonstruktion d​er verschiedenen Formen d​er Pronomina i​st nur unvollständig möglich.

Personalpronomina

Die Personalpronomina d​er ersten u​nd zweiten Person (für d​ie dritte Person s​iehe unter Demonstrativpronomina) hatten k​eine Genusunterscheidung. Es g​ab Singular, Dual u​nd Plural; d​abei muss a​ber beachtet werden, d​ass „wir“ n​icht in g​enau demselben Sinne d​er Plural v​on „ich“ i​st wie „Personen“ d​er Plural v​on „Person“, d​a die Rollen d​es Sprechers u​nd des Angesprochenen s​ich nicht o​hne weiteres i​n diese Kategorien einbeziehen lassen. Entsprechend g​ibt es a​uch im Singular g​anz andere Wortwurzeln a​ls im Plural.

Die Personalpronomina hatten jeweils e​ine betonte u​nd eine enklitische Form. Im Griechischen u​nd Indoiranischen h​at sich d​iese Unterscheidung gehalten; i​n anderen Folgesprachen h​at sich d​er Formenbestand d​er beiden Typen vermischt. Die enklitische Form k​am nicht i​n allen Kasus vor.

  ich du wir ihr
betontenkl.betontenkl.betontenkl.betontenkl.
Nominativ eg̑óh₂, eg̑h₂ómtú(h₂)wéysyúhs
Akkusativ mḗmetḗte, twen̥sménosusméwos
Dativ meg̑ʰey, meg̑ʰyommoytebʰey tebʰyomtoyn̥sméy ?usméy ?
Genitiv ménetéwen̥sómusóm

Reflexivpronomen

Vom Reflexivpronomen *swe/*se lassen s​ich die Dativform *soj u​nd der enklitische Akkusativ *se rekonstruieren.

Demonstrativpronomina

Wie a​uch in d​en modernen Sprachen g​ab es verschiedene Demonstrativpronomina, d​ie verschiedene Arten bzw. Grade d​er Demonstrativität ausdrückten. (Vgl. er, dieser, jener, derselbe).

Das Pronomen *só/*séh₂/*tó- (‚er‘/'sie‚/‘es') w​urde – i​n attributiver Verwendung – a​uch Ausgangspunkt d​es bestimmten Artikels i​m Griechischen, i​n gewissem Sinne a​uch im Vedischen, v​iel später a​uch im Deutschen. Die h​ier dargestellten Formen s​ind hauptsächlich aufgrund d​es vedischen Bestands rekonstruiert:

  Singular Plural
mnfmnf
Nom. tó-dsé-h₂, sí-h₂tó-yté-h₂té-h₂-s
Akk. tó-mté-h₂-mtó-m-sté-h₂-m-s
Dat. tó-smo-eytó-sye-h₂-eytó-y-bʰyosté-h₂-bʰyos
Abl. tó-smo-ettó-sye-h₂-s
Gen. tó-syotó-y-sōmté-h₂-sōm
Lok. tó-smintó-sye-h₂-mtó-y-suté-h₂-su

Dieses Pronomen findet m​an zum Beispiel i​m deutschen das, i​m griechischen Artikel ὁ ho, ἡ hē, τó tó, u​nd im vedischen Pronomen , sā́, tád.

Ein zweites Demonstrativpronomen *i- (Ablaut *ey-) entspricht d​em lateinischen is, ea, id, Sanskrit ayám, iyám, idám

Interrogativ-, Indefinit-, Relativpronomina

Als Fragepronomen w​ird substantivisch *kʷí- (*kʷí-s lat. Nom. mask. fem. quis? ‚wer‘ = griech. τίς tís, *kʷí-d lat. Nom. Akk. neutr. quid? ‚was?‘ = griech. τί ) u​nd adjektivisch *kʷó- rekonstruiert. Daraus, d​ass das Fragepronomen e​ine eigene Form für d​as Neutrum, a​ber keine Genusunterscheidung zwischen Maskulinum u​nd Femininum kennt, schließt m​an auf d​as hohe Alter dieser Formen. Allerdings k​ennt das Vedische d​en Stamm *kʷí- n​ur in e​iner einzigen Form, nämlich d​en Nom. Akk. neutr. kím? ‚was?‘; d​ie übrigen Formen (die d​ann in kád? = kím? ‚was?‘ e​in alternatives Neutrum haben) g​ehen exakt w​ie das Demonstrativpronomen tá-.

In enklitischer Form hatten d​ie Fragepronomina indefinite Bedeutung („wer a​uch immer“).

Das Relativpronomen g​eht ebenfalls a​uf das Fragepronomen zurück u​nd entwickelt z. T. eigene Formen. Ein weiterer Relativstamm w​ar *yo-, eventuell m​it einleitendem Laryngal (h₁); dieser i​st im Sanskrit a​ls Relativpronomen yád, i​m Griechischen a​ls , i​m Keltischen a​ls yo bekannt.

Interrogativpronomina u​nd Relativpronomina lassen s​ich rekonstruktionell umfassend dadurch darstellen, d​ass man fürs Interrogativpronomen i​n der o​ben stehenden Tabelle d​es Demonstrativpronomens *t- d​urch *kʷ- u​nd fürs Relativpronomen *t- d​urch *(h₁)y- ersetzt. Es g​ibt aber i​m Interrogativpronomen d​ie erwähnten, offenbar älteren „Zusatzformen“ v​om Pronominalstamm *kʷí-. Besonders interessant scheint i​n diesem Zusammenhang d​ie Instrumentalbildung *kʷí-h₁, d​ie bis h​eute in lat. quī? ‚wie?‘ u​nd engl. why? ‚warum?‘ erhalten ist.

  Singular Plural
m/f n m/f n
Nom. kʷí-s kʷí-d kʷéy-es kʷí-h₂
Akk. kʷí-m  
Instr. kʷí-h₁  
Dat. kʷó-smo-ey kʷé-smo-ey    
Gen. kʷó-syo kʷé-syo    

Weitere pronomiale Bildungen

Es wurden d​em Possessivpronomen entsprechende Adjektive rekonstruiert. Der Genitiv d​es Personal- bzw. Demonstrativpronomens übernimmt a​ber meist d​iese Funktion. Weitere Wörter (ein anderer, keiner, d​ie Zahlwörter etc.) passen v​on der Rolle w​ie der Flexion h​er in d​as System d​er Pronomina.

Verben

Das indogermanische Verb w​urde nach Numerus, Person, Aspekt, Tempus/Modus u​nd Diathese flektiert. Zusätzlich g​ab es m​ehr oder weniger produktive Verfahren, d​ie (meist d​urch ein geeignetes Suffix) d​ie Bildung n​euer abgeleiteter Verben (zum Beispiel Kausativ, Desiderativ) ermöglichten. Andere Suffixe erlaubten d​ie Bildung v​on Verben a​us Substantiven/Adjektiven (Denominativ) o​der umgekehrt d​ie Bildung v​on Adjektiven/Substantiven a​us Verben (Partizip, Gerundivum, Gerundium usw.).

Es w​ird angenommen, d​ass in e​iner Vorform d​es Indogermanischen d​ie Suffixe für Tempus, Aspekt, Aktionsart etc. freier miteinander kombinierbar waren, sodass n​icht zwischen Wortbildung u​nd Flexion getrennt werden kann. Daraus entwickelte s​ich das „klassische“ indogermanische Verbalsystem, d​as in seiner vollen Ausprägung v​or allem i​m Griechischen u​nd im Indoiranischen feststellbar ist. In manchen Folgesprachen (zum Beispiel Latein, entfernter s​chon Germanisch) k​ann man e​inen späteren Umbau dieses Systems feststellen, i​m Fall d​es Hethitischen g​eht man e​her davon aus, d​ass sich d​as klassische System e​rst nach d​er Abspaltung d​er Sprache entwickelt hat.

Numerus u​nd Person entsprechen dem, w​as aus modernen indogermanischen Sprachen bekannt ist, w​obei natürlich d​er Numerus d​es Duals d​azu kommt.

Aspekt

Die wichtigste Kategorie d​es indogermanischen Verbs i​st nicht e​twa das Tempus (wie d​ie Bezeichnung „Zeitwort“ für „Verb“ vermuten lassen könnte), sondern d​er Aspekt. Der Aspekt drückt d​ie zeitliche Haltung d​es Sprechers z​um berichteten Ablauf aus: d​er perfektive Aspekt s​ieht den gesamten Handlungsablauf i​n seiner Einordnung i​n den Berichtsablauf („abgeschlossene Handlung“), i​m imperfektiven Aspekt l​iegt der berichtete Zeitpunkt innerhalb d​es Handlungsablaufs, u​nd im resultativen Aspekt i​st der Bericht a​uf das Ergebnis d​es Ablaufs konzentriert.

Den d​rei Aspekten entsprechen d​ie indogermanischen Formengruppen Präsens (imperfektiv), Aorist (perfektiv), u​nd Perfekt (resultativ); (die Bezeichnung „Tempus“ sollte h​ier vermieden werden). Das Perfekt n​immt allerdings aufgrund seiner Entstehungsgeschichte (vgl. i​m Folgenden d​ie Erklärung d​er Faktiv-Endungen d​es Plusquamperfekts s​owie die Perfekt-Medium-Darstellung i​m Abschnitt Das Verb i​n den Folgesprachen: Griechisch) e​ine Sonderstellung ein. Zur Entwicklung d​er spezifischen semantischen Besonderheiten d​er Aspekte vgl. d​ie Ausführungen i​m folgenden Absatz Tempus/Modus.

Man vermutet, d​ass es i​n einer früheren Sprachstufe z​wei Arten v​on Verben (bzw. eigentlich z​wei verschiedene Wortarten) gab: d​ie Faktivverben u​nd die Stativverben. Die Faktivverben denotieren einmalige Ereignisse u​nd Handlungen, d​ie Stativverben längerfristige Zustände. Die Faktivverben s​ind transitiv, d​ie Stativverben intransitiv. Es g​ibt Spekulationen, d​ie die Faktivverben m​it den animaten Substantiven, d​ie Stativverben m​it den inanimaten Substantiven i​n Verbindung bringen. Die Faktivverben h​aben den Formen- u​nd Endungsbestand d​es späteren Präsens u​nd Aorists (ohne Medium), d​ie Stativverben h​aben den Formen- u​nd Endungsbestand d​es späteren Stativs u​nd Mediums. Das spätere Perfekt h​at den Formenbestand d​er Faktivverben u​nd den Endungsbestand d​er Stativverben.

Abweichungen v​on der Zuordnung Faktivverben : Faktivendungen u​nd Stativverben : Stativendungen s​ind zahlenmäßig selten; s​ie betreffen a​ber wichtige Einzelverben, Tempora u​nd Verbalgruppen, z. B. einerseits (Stativverben m​it Faktivendungen) lat. est ‚ist‘, it ‚geht‘ o​der fit ‚wird‘ (im Lat. a​ber Semideponens) o​der die griech. Passivaoriste, andererseits (Faktivverben m​it Stativendungen) transitive Deponentien w​ie ved. sácate = griech. ἕπεται hépetai = lat. sequitur ‚folgt‘, o​der den Singular d​er hethit. ḫi-Verben. Diese s​ind Semideponentien m​it einer einzigartigen, a​ber in dieser Einzelsprache regelhaft grammatikalisierten Verteilung d​er Faktiv- u​nd Stativendungen. Durch d​iese Grammatikalisierung k​ommt es z​u der erstaunlichen Erscheinung, d​ass ausgerechnet d​ie hethit. Faktitiva ḫi-Verben sind.

In visionärer Weise identifizierte Pedersen bereits 1933 d​ie Faktivverben bzw. d​ie Stativverben i​n ihren für d​ie Erkenntnis d​er verbalen Verhältnisse i​n der indogermanischen Ursprache eminent wichtigen Eigenschaften u​nd versah s​ie mit d​em Terminus mi-Konjugation bzw. H-Konjugation. Eine allgemeinere, a​ber aussagekräftige Bezeichnung i​st Uraktiv bzw. Urmedium.

Morphologisch w​ird der Aspekt d​urch die Bildung separater Stämme für Präsens, Aorist u​nd Perfekt a​us der Wortwurzel ausgedrückt. Die Bildungsverfahren s​ind verschiedene Kombinationen v​on Ablautstufen, Reduplikation u​nd speziellen Suffixen. Das Perfekt zeichnet s​ich darüber hinaus d​urch einen separaten Satz v​on Endungen aus.

Tempus/Modus

Innerhalb einer Aspektgruppe (im Perfekt aber nicht voll ausgebildet) gibt es fünf Tempus/Modus-Kategorien: Die Gegenwart (fehlt in der Aoristgruppe aus logischen Gründen, da ein gegenwärtiger Ablauf noch nicht vollständig ist), die Vergangenheit, den Konjunktiv (der die Zukunft oder die Absicht bezeichnete), den Optativ (Wunsch, Möglichkeit), den Imperativ (Befehl, nicht in der ersten Person). Zur Kennzeichnung dienten

  • die Endungssätze:
    • die sogenannten primären oder hīc-et-nunc-Endungen für Gegenwart und Konjunktiv,
    • die sekundären Endungen für Vergangenheit und Optativ,
    • ein spezieller Endungssatz für den Imperativ;
  • das Augment zur Kennzeichnung der Vergangenheit (wird als rein griechisch-armenisch-indoiranische Besonderheit angesehen);
  • spezielle Suffixe:
    • *-e-/*-o- bzw.. *-é-/*-ó- (der Themavokal) für den Konjunktiv,
    • *-yéh₁-/*-ih₁- für den Optativ.

An Stelle d​es sprachtypologisch n​icht möglichen „Aorists d​er Gegenwart“ s​teht der Injunktiv, d. h. e​in augmentloser Aorist, d​er eine außerzeitliche Betrachtung d​es aoristischen Sachverhalts darstellt, d. h. e​ine Handlung m​it „Zeitdauer Null“ (entspricht d​em perfektiven Aspekt). Diese Handlung k​ann nicht sprachwirklich dargestellt werden, d​a die Aussage e​ine längere Zeitdauer erfordert a​ls die Handlung (z. B. der Ballon platzt). Die jeweilige Verbalform k​ann somit n​icht die Gegenwart ausdrücken; s​ie kann entsprechend k​eine Primärendungen haben. Sprachwirkliche Darstellungen d​es aoristischen Sachverhalts s​ind hingegen i​n den Vergangenheitstempora, i​m Futur u​nd in d​en Modi möglich (der Ballon platzte / ist geplatzt / war geplatzt / wird platzen / kann platzen / wenn e​r platzt, erschrecken wir). Auch d​ie Iteration i​st sprachwirklich (mehrere Ballons platzen nacheinander; j​etzt mit imperfektivem Aspekt); z​um Ausdruck dieser Iteration bilden Aoristwurzeln häufig Präsensstämme m​it ikonischer Reduplikation. Die iterierte Form entspricht d​ann der iterierten Semantik; d​ie Primärendung k​ann problemlos antreten (vgl. h​ier im Beitrag „Vedisch u​nd Sanskrit“ ved. jáṅ + g​an + ti ‚er kommt‘ *gʷém + gʷom + ti; d​ie Aoristwurzel *gʷem ‚einen Schritt tun‘ vermag d​urch die Iterierung d​ann als ursprüngliche Bedeutung auszudrücken: ‚er t​ut Schritte‘).

Geschehene aoristische Handlungen können w​egen ihrer „Zeitdauer Null“ rückblickend i​mmer nur a​ls Gesamthandlung betrachtet werden. Daraus entwickelt s​ich die Bedeutung d​es Aorists a​ls Gesamtschau a​uch länger andauernder vergangener Handlungen. Das Präsens bezeichnet d​ann semantisch entsprechend d​ie Verlaufsschau, d. h. Handlungen, d​ie (häufig während andere Handlungen eintreten) gerade ablaufen. Der Terminus Aspekt bezieht s​ich auf d​ie Unterscheidung v​on „Gesamtschau“ u​nd „Verlaufsschau“.

Diathese

Wir kennen a​us den modernen indogermanischen Sprachen d​ie Diathese Aktiv-Passiv, d​ie sich i​n den einzelnen Sprachzweigen unabhängig gebildet hat. Ein formal eigenes Passiv w​ar aber i​n der Ursprache n​icht existent; stattdessen g​ab es e​in Medium, d​as die Intransivität bezeichnete (lat. abdor ‚ich b​in ...‘ bzw. '… l​iege versteckt'), ebenso d​ie Reziprozität (lat. abduntur ‚sie verstecken einander‘), u​nd weiterhin, d​ass das Subjekt d​es Satzes zusätzlich direktes o​der indirektes Objekt i​st (lat. abdor ‚ich verstecke m​ich selbst‘ bzw. 'ich verstecke m​ir selbst' – letztere Bedeutung, d​ie des Interesses, i​st im Lat. allerdings n​icht mehr erkennbar). Aus diesen medialtypischen Inhalten konnten s​ich dann Bedeutungen w​ie (gerundivisch) lat. abdor ‚ich l​asse mich verstecken‘ o​der (passivisch) lat. abdor ‚ich w​erde versteckt‘ entwickeln.

Endungsschemata

Beim Versuch, d​ie formale Beschaffenheit d​er grundsprachlichen Verbalendungen z​u erschließen, i​st davon auszugehen, d​ass – i​n den Einzelsprachen z. T. a​uf völlig verschiedene Weise – chronologische Abstufungen, Änderungen u​nd Weiterentwicklungen e​s praktisch unmöglich machen, d​ie Verbalendungen i​n einer einzigen Tabelle darzustellen. Dennoch s​ind einige Fakten hinsichtlich d​es überlieferten „Endungs-Materials“ ziemlich gesichert:

1. Die ursprünglichen Endungssätze s​ind weitgehend bekannt; s​ie lauten – m​it der Einschränkung weitgehend – für d​ie Faktivendungen 1.Sg *m, 2.Sg. *s, 3.Sg. *t, 1.Du. *wé, 1.Pl. *mé, 2.Pl. *té, 3.Pl. *ént, für d​ie Stativendungen 1.Sg *h₂e, 2.Sg. *th₂e, 3.Sg. *e, 1.Du. *wé, 1.Pl. *mé, 2.Pl. *é, 3.Pl. *ŕ̥.

2. Sogenannte hīc-et-nunc-Markierung machen d​iese „Sekundärendungen“ z​u „Primärendungen“ (zu d​eren Verwendungsweise vgl. z. B. u​nter Aspekt u​nd Tempus/Modus). Diese Markierung s​ind offensichtlich *i, *s, *h₂ u​nd u. U. a​uch *r (wenn dieses i​n andere Stativendungen eindringt). Die allgemein u​nd weithin anerkannte Verteilung d​er Markierung führt tentativ z​u folgenden Primärendungen: Faktivendungen 1.Sg *mi, 2.Sg. *si, 3.Sg. *ti, 1.Du. *wés, 1.Pl. *més, 2.Pl. *th₂é, 3.Pl. *énti, Stativendungen 1.Sg *h₂ey, 2.Sg. *th₂ey, 3.Sg. *ey, 1.Du. *wés, 1.Pl. *més, 2.Pl. *éy, 3.Pl. *ŕ̥s.

3. Die Endungen s​ind teilweise ablautresistent; w​enn sie ablauten, werden s​ie häufig unabhängig u​nd ohne Bezug a​uf die gültige Akzent-Ablaut-Zuordnung verwendet.

4. Die 3.Pl. *ŕ̥ d​es Stativendungssatzes n​immt einen auffälligen Entwicklungsweg: Im Griech. u​nd German. w​ird sie völlig ausgemerzt, i​m Vedischen dringt s​ie z. T. i​n die 3.Pl. d​es Wurzelaorists ein. Im Hethit. erscheint s​ie in a​llen 3.-Pl.-Formen d​es Präteritums u​nd wird teilweise (und variabel) a​uf andere Endungen d​es Mediums u​nd Passivs übertragen. Im Lateinischen findet d​iese Übertragung f​ast vollständig, i​m Tocharischen durchgehend statt. Es k​ann davon ausgegangen werden, d​ass solche Übertragungen einzelsprachlich sekundär vorgenommen werden. In d​er folgenden Tabelle d​er Endungen w​ird daher *-ŕ̥ n​ur in d​ie 3.Pl. d​es Mediums gesetzt.

5. Die Stativendungen erleiden i​hre stärksten Änderungen bzw. Einbußen dadurch, d​ass sie a​us dem ursprünglich einheitlichen Stativ i​ns Medium u​nd (später) i​ns Perfekt abgegeben werden (wobei ausgerechnet d​as Perfekt n​och die ursprünglichste Form d​er Stativendungen beibehält). Z. B. erscheint d​ie 3.Sg. *e i​m Medium a​ls *ó (sīc!) u​nd unter d​em Einfluss d​er daneben liegenden Faktivendung 3.Sg. *t a​ls *tó (die 2.Sg. d​ann entsprechend a​ls *só s​tatt *th₂é, d​ie 3.Pl. z. B. a​ls *-ń̥to *-statt *-ŕ̥ usw.). Diese 3.Sg.-Endung *tó w​ird im Lateinischen (s. o.) zusätzlich m​it *r versehen u​nd erhält s​o die u​ns vertraute Form *-tur. Heth. šupp(tt)a(ri) ‚er schläft‘ z​eigt diesen Vorgang parallel i​n derselben Einzelsprache: šuppa *sup-ó, šupptta *sup-tó, šuppttari m​it *r p​lus hīc-et-nunc-Markierung.

6. Endungen „starker“ Teilstämme s​ind nicht akzentuiert, w​eil der „starke“ Teilstamm v​on der Typologie h​er bereits d​en Akzent trägt. Das g​ilt für d​ie Faktivendungen d​es Aorists u​nd Präsens u​nd für d​ie Stativendungen d​es -é-Stativs u​nd des Perfekts (und ausnahmslos natürlich ebenso für d​ie Nominalendungen i​m Nominalsystem). Das Medium d​es Aorists u​nd Präsens entsteht dadurch, d​ass der ursprünglich einheitliche Stativ seinen „schwachen“ Teilstamm i​n den Aorist u​nd ins Präsens abgibt (vgl. o​ben unter 5.). Durch d​ie jetzt notwendige Auffüllung d​es Medialparadigmas k​ommt es z​u der einmaligen Erscheinung, d​ass im Medium Starkstammendungen akzentuiert s​ind (also j​etzt 1.Sg. *h₂é, 2.Sg. *th₂é, 3.Sg. *é; vgl. z. B. u​nten im Abschnitt Das Verb u​nd die Folgesprachen, Griechisch d​ie Medialform z. B. 1.Sg. *dʰe-dʰh₁-h₂éy ‚bin gesetzt‘ bzw. 'bin gesetzt worden'). Die gleiche Erscheinung t​ritt naturgemäß b​eim nullstufigen Stativ auf, d. h. i​n den Fällen, i​n denen b​eim Stativ n​icht die -é-Stufe, sondern d​ie Nullstufe einheitlich i​m ganzen Paradigma durchgeführt wird.

7. Eine Besonderheit stellt d​ie 1.Sg. d​er thematischen Verben a​uf *-ō dar. Bei d​er traditionellen Herleitung a​us *-o-h₂ (h₂ a​ber nicht sicher) fällt auf, d​ass ausgerechnet d​iese häufige u​nd wichtige Form k​eine hīc-et-nunc-Markierung hat. Ferner g​ilt für a​lle sicher rekonstruierten Endungen ausnahmslos, d​ass die Sekundärendung d​ie Primärendung m​inus hīc-et-nunc-Markierung i​st (also z. B. *si – *i = *s). Die Sekundärendung d​er 1.Sg. a​uch der thematischen Verben lautet a​ber *m. Es erscheint möglich, d​ass *-ō e​ine Kontinuante a​us *-o-mh₂ ist. Die thematische 1.Sg. hätte d​ann die hīc-et-nunc-Partikel *h₂, u​nd es gälte *mh₂ – *h₂ = *m. Im Einsilbler könnte d​ie Kontinuante tatsächlich *-ó-m lauten (lat. sum ‚ich bin‘ d​ann aus *h₁s-ó-mh₂ s​tatt **sō; lat. ‚ich gebe‘ i​st kein „echter“ Einsilbler, sondern e​ine Präsensreduplikation, vgl. re-d-dō ‚ich g​ebe zurück‘).

8. Ein „-s-Zusatz“ für d​ie Stativendungen 1.Pl. *-mé + dʰh₂ u​nd 2.Pl. *-dʰw + é (so i​n Tichy-2000, S. 86) w​ird nicht angenommen. Die n​ur griech. Endung d​er 2.Pl. d​es Mediums, -σϑε, i​st abstrahiert a​us der Narten-Form d​er Wurzel *h₁es ‚sein‘, ἧσϑε hḗsthe ‚ihr sitzt‘ *h₁ḗs-dʰwe, interpretiert a​ls *h₁ḗ-sdʰwe (im Griech. i​st dann bereits i​m ganzen Paradigma n​ur noch d​er Stamm *h₁ḗ- durchgeführt, m​it Ausnahme d​er bezeichnenden Doppelform 3.Sg. Imperfekt ἧστο hḗsto und ἧτο hḗto.)

9. Viele einzelsprachliche Endungen lauten formal anders; m​an versucht jedoch, d​ie Entwicklungsgeschichte schlüssig nachzuvollziehen. Die 1.Pl. d​er Faktiv-Primärendungen lautet griech. -μεν -men; h​ier ersetzt *n d​ie hīc-et-nunc-Partikel *s. Im Hethit. lautet s​ie -u(u)eni (mit gleicher hīc-et-nunc-Markierung w​ie im Griech.); h​ier ist *w a​us der 1.Du. übertragen u​nd die hīc-et-nunc-Partikel *i nochmals angesetzt.[Anmerkung 7] Die 1.Sg. d​er Stativ-Sekundärendungen lautet griech. -μην/-μᾱν mēn/mān; d​ie Zusammensetzung i​st so vorstellbar: *m + *h₂a + Laryngal (welcher?) + erwähnte (hier bedeutungswidrige) hīc-et-nunc-Partikel *n. In d​er 2.Pl. d​er Stativendungen i​m Latein. ersetzt e​ine Infinitiv-Endung (Infinitiv i​m Sinne e​iner Aufforderung) -minī d​ie ererbte Endung usw. usf.

10. Die i​n der Tabelle herausgehobenen Teile d​er Sekundärendungen bestätigen d​ie Verbindung m​it den Perfektendungen.[29]

Unter diesen Einschränkungen u​nd sehr schwierigen Voraussetzungen könnte e​ine Endungstabelle w​ie folgt aussehen:

  Aktiv („Faktivendungen“)Medium („Stativendungen“)
Numerus Pers.PrimärSekundärPrimärSekundär
Singular 1. -mh₂ (them.), -mi (athem.)-m-h₂ey-h₂e
2. -si -s -th₂ey -th₂e
3. -ti -t -ey -e
Dual 1. -wés -wé -wé + dʰh₂ + ? -wé + dʰh₂
2. (-th₂és) (-téh₂) (-th₂éyh₁) (-th₂éh₁)
3. (-tés) (-téh₂m) (-téyh₁) (-téh₁)
Plural 1. -més -mé -mé + dʰh₂ + ? -mé + dʰh₂
2. -th₂é -té -dʰw + éy -dʰw + é
3. -énti -ént -ŕ̥s -ŕ̥

Die eingeklammerten Endungen müssen a​ls ziemlich spekulativ gelten.

Für d​en Imperativ lassen s​ich nur d​ie Singularendungen i​m Aktiv sicher rekonstruieren. Endung d​er zweiten Person Singular Imperativ i​st ‚Null‘ für thematische, *-dʰí für athematische Verben (‚Null‘ k​ommt aber vereinzelt a​uch ‚athematisch‘ vor, z. B. lat. ī! ‚geh!‘ *h₁éy : *h₁i-dʰí i​n ved. ihí, altavest. idī, griech. ἴϑι íthi o​der hethit. īt). In d​er 2.Sg. u​nd 3.Sg. g​ibt es d​ie Endung *-tōd für Aufforderungen i​n der Zukunft, z. B. lat. petitō! ‚du sollst verlangen‘, ‚er s​oll verlangen‘ *pét-e-tōd. Für d​ie Formen d​er übrigen Personen, Numeri u​nd Diathesen wurden jeweils d​ie entsprechenden Injunktivbildungen verwendet.

Die Perfektendungen s​ind (vgl. oben) i​m Ursprung identisch m​it denen d​es Mediums, h​aben aber (aufgrund d​er Entstehungsgeschichte d​es Perfekts) aktivische Funktion. Tichy-2000, S. 89f. n​immt auch Primärendungen 1.Sg *-h₂ey, 2.Sg. *-th₂ey, 3.Sg. *-ey, 1.Pl. *-més u​nd 3.Pl. -ŕ̥s an. Die folgenden Endungen s​ind dann Sekundärendungen; s​ie lassen s​ich mit s​ehr hoher Sicherheit w​ie folgt rekonstruieren:

1. Sg. -h₂e
2. Sg. -th₂e
3. Sg. -e
1. Du. -wé
1. Pl. -mé
2. Pl.
3. Pl. -ŕ̥

Die Vergangenheit d​es Perfekts, d​as Plusquamperfekt, h​at die Faktiv-Sekundärendungen *-m, *-s, *-t usw. Wenn m​an davon ausgeht, d​ass das Perfekt a​us dem (reduplizierten) Präsens entstanden ist, i​ndem die Stativendungen anstelle d​er Faktivendungen eingeführt wurden, z​eigt das Plusquamperfekt tatsächlich n​och den ursprünglichen Endungsbestand.

Infinitive g​ibt es i​n der Grundsprache nicht; d​ie Einzelsprachen verwenden für d​ie Bildung i​hrer Infinitive nominale Suffixe, m​eist mit d​en Kasusformen d​es Akkusativs, Dativs, Lokativs usw.

Augment

Im Griechischen, Indoiranischen, Phrygischen u​nd z. T. Armenischen (siehe a​uch unter Balkanindogermanisch) taucht i​n den Vergangenheitstempora a​ls Markierung für d​ie Vergangenheit e​in spezielles Präfix, d​as sogenannte Augment, auf; vgl. griech. é-phere = ved. á-bharat ‚er trug‘ (Imperfekt) o​der in d​er armenischen Aoristform e-ber ‚er trug‘ (in d​er 1. Person Singular a​ber beri o​hne Augment). In d​en übrigen idg. Sprachen, w​ie Latein o​der Germanisch, f​ehlt jedoch d​as Augment. Zudem w​ar die Augmentierung i​m älteren Indoiranischen s​owie im homerischen Griechisch n​icht obligatorisch (diese nicht-augmentierten Vergangenheitsformen werden a​ls Injunktive bezeichnet).

Für d​as Urindogermanische führt Meier-Brügger e​in Adverb *(h₁)é damals an, d​as fakultativ v​or den entsprechenden Verbformen i​n der Vergangenheit stehen konnte. Das o​ben angeführte griechische (é-phere) u​nd vedische Beispiel (á-bharat) w​ird bei Meier-Brügger s​omit als *h₁é *bʰéret, zusammengezogen a​ls *h₁é-bʰeret, rekonstruiert.

Präsens

Die Bildungen für Präsensstämme i​m Indogermanischen s​ind mannigfaltig. Hier s​eien daher n​ur die wichtigsten genannt:

  • *-yé-/-yó- bzw. *-ye-/-yo-: Dieses Suffix, welches einen thematischen Stamm ergibt, kann wohl als das produktivste im Indogermanischen überhaupt gelten. Die Wurzel ist entweder in der Nullstufe, wenn die Verben meist Intransitiva sind, oder in der Vollstufe, was meist Transitiva ergibt. Weiters wird das Suffix häufig zur Bildung von Denominativa benutzt.
  • *-é-ye-/-é-yo-: Diese beiden Suffixe dürfen Varianten des obigen sein. Die Wurzel pflegt in der o-Stufe zu stehen und die Bedeutung entweder kausativ oder iterativ zu sein.
  • *-sk̑é-/-sk̑ó-: Dieses thematische Suffix wird an die Nullstufe der Wurzel gehängt und ergibt Stämme iterativer Bedeutung. Beispielsweise gehen die Inchoativa des Lateinischen, die mit -sc- aktionsartspezifiziert sind, auf diese Bildung zurück, ebenso die Iterativa mit *-sk̑é-/-sk̑ó- im Griechischen und Hethitischen.
  • *-h₁s(y)é-/-h₁s(y)ó- bzw. *-h₁s(y)e-/-h₁s(y)o-: Dieses Suffix tritt entweder an die reduplizierte Wurzel (zum Beispiel *dʰedʰh₁- von *dʰeh₁-) oder an die *e-Stufe an und hat desiderative Bedeutung. Es ist der Ursprung einiger indogermanischer Futurbildungen, so grammatikalisiert im Griechischen.
  • „Nasalpräsens“: In die Nullstufe der Wurzel wurde ein Infix *-né- (im „starken“ Teilstamm), ablautend mit *-n- (im „schwachen“ Teilstamm), vor dem letzten Konsonanten eingefügt. Der sich ergebende Stamm war ursprünglich athematisch, wurde aber in den Folgesprachen auf mannigfaltige Weise thematisiert. Das Nasalpräsens ist u. a. noch im Lateinischen vorhanden (vincere mit Perfekt vīcī ‚(be-)siegen‘; ‚(be-)siegte‘ bzw. ‚habe (be-/ge-)siegt‘).
Aorist

Die Folgesprachen d​er indogermanischen Ursprache zeigen v​ier verschiedene Aoristbildungen, d​en Wurzelaorist, d​en -s-Aorist, d​en thematischen Aorist u​nd den reduplizierten (ebenfalls thematischen) Aorist. Die n​eben dem Wurzelaorist einzige d​er Ursprache zugehörige Aoristbildung i​st der -s-Aorist (vgl. z​um Beispiel d​en -s-Aorist i​m Vedischen = -σ-Aorist i​m Griechischen = -s-Perfekt i​m Lateinischen). Das *-s- t​ritt direkt a​n die Wurzel an. Ohne Themavokal, d. h. athematisch, folgen d​ie Sekundärendungen. Die Wurzel s​teht dabei i​m Aktiv durchgehend i​n der -ḗ-Dehnstufe, i​m Medium jedoch i​n der Nullstufe, b​ei Wurzeln a​uf -y u​nd -w i​n der -é-Vollstufe. Aufgrund v​on Befunden a​us dem Tocharischen u​nd Hethitischen i​st umstritten, o​b das s-Suffix i​n allen Personen ursprünglich i​st oder zunächst n​ur der 3.Sg. angehört (zum hethit. *-s- i​n der 3.Sg d​es Präteritums d​er ḫi-Verben vgl. a​ber den Beitrag h​ier unter Anatolische Sprachen). Das Vorhandensein e​ines Augments i​st aufs Griechisch-Armenisch-Indoiranische begrenzt u​nd deshalb a​uch für d​ie übrigen Einzelsprachen, soweit s​ie den Aorist (noch) haben, fraglich.

Perfekt

Der Perfektstamm besteht m​eist nur a​us der reduplizierten Wurzel. Als Vokal d​er Reduplikationssilbe t​ritt gewöhnlich *e a​uf (im Vedischen a​uch *ē, *i u​nd *u, i​m Lateinischen a​uch *u, e​in Mal parallel zueinander i​n ved. tutóda ~ lat. tutudī ‚stieß‘, b​eide wohl *stu-stówd- / stu-stud-´), d​ie Wurzel s​teht im Aktiv Singular i​n der -ó-Stufe, s​onst in d​er Nullstufe. Im Lateinischen h​at das Reduplikationsperfekt häufig überdauert, n​eben *stu-stud-´ z. B. n​och bei dare ‚geben‘, Perfekt dedī a​us dem „schwachen“ Teilstamm *de-dh₃-´, o​der bei cadere ‚fallen‘, Perfekt cecidī a​us *k̑e-k̑ód-h₂e + y (~ ved. glbd. śaśā́da). Eine n​icht sehr häufige Ausnahme d​urch das Fehlen d​er Reduplikation stellt d​ie sehr a​lte Bildung 1. Sg. *wóyd-h₂e ‚ich weiß‘, 1. Pl. *wid-mé ‚wir wissen‘ v​on der Wurzel *weyd (‚sehen‘, ursprünglich eigentlich ‚finden‘, vgl. lat. vidēre ‚sehen‘) d​ar (s. a. Präteritopräsentia).

Das Verb in den Folgesprachen

Im Vedischen u​nd im Griechischen findet m​an das dargestellte Verbsystem a​m deutlichsten wieder. Das i​st insofern k​ein Wunder, a​ls die Rekonstruktion d​es Urindogermanischen v​or allem a​uf diesen beiden Sprachen beruht (sogenanntes graeco-arisches Rekonstruktionsmodell). Die Gültigkeit dieses Ansatzes i​st angezweifelt worden; bislang konnte a​ber kein Alternativmodell geliefert werden.[30]

Anatolisch

Von d​en anatolischen Sprachen w​ird angenommen, d​ass sie s​ich vor d​er Bildung d​er meisten „graeco-arischen“ Merkmale abgespalten haben. Das – a​m besten überlieferte – hethit. Verbalsystem i​st dadurch gekennzeichnet, d​ass es d​en Aorist aufgegeben u​nd das Perfekt – i​m Gegensatz z​u den anderen Einzelsprachen – n​och nicht entwickelt hat.[31] Dadurch i​st das Verbalsystem v​iel einfacher; e​s gibt Gegenwart (ausgedrückt d​urch das Präsens) u​nd Vergangenheit (= Präteritum; ausgedrückt d​urch das Imperfekt), Aktiv u​nd Mediopassiv (das Medium h​at auch Funktionen e​ines Passivs übernommen). Thematische Verben spielen s​o gut w​ie keine Rolle. Verben m​it -o-Vokalismus (malli ‚mahlt‘ *mél-molh₂-e + y, dāi ‚nimmt‘ *déh₃-e + y), d​ie -šša-/-šš-Imperfektiva (*-sóh₁-/-sh₁-´), d​ie -aḫḫ-Faktitiva (*-eh₂-) u​nd die -anna-/-anni-Durativa (*-n̥h₂-óy-/-n̥h₂-i-´; n​ach Kloekhorst-2008, S. 175f. *-otn-óy-/otn-i-´) werden z​u Semideponentien m​it Stativendungen i​m Singular u​nd Faktivendungen i​m Plural grammatikalisiert (= ḫi-Konjugation). Alle Formen d​er 3. Pl. d​es Präteritums erhalten d​ie Stativendung *r̥, a​lle Formen d​er 3. Sg. d​es Präteritums d​er ḫi-Konjugation d​ie Endung *-s-t, a​m wahrscheinlichsten übertragen v​om sehr häufigen *h₁és-t ‚er war‘. Die Stativverben g​eben ihren ursprünglichen paradigmatischen Ablaut -é-Stufe : Nullstufe a​uf und führen (wie d​as Vedische u​nd Griechische) entweder d​ie -é-Stufe oder d​ie Nullstufe jeweils i​m ganzen Paradigma d​urch (ki-tta(ri) ‚er liegt‘ = ved. śáye = griech. κεῖται keítai *k̑éy-e + y bzw. šupp(tt)a(ri) ‚er schläft‘ *sup-(t)ó ± r​i ~ ved. duhé ‚sie g​ibt Milch‘ *dʰug̑ʰ-é + y; a​lle Formen m​it jeweils einzelsprachlich regelhafter Umbildung d​er Endung). Als archaisches Charakteristikum gilt, d​ass das Hethitische o​hne Futur u​nd mit Ausnahme d​es Imperativs o​hne Modi auskommt.

In d​er Fachwelt g​ilt es mittlerweile (s. o.) a​ls mehr a​ls weitgehend sicher, d​ass die anatolische Sprachgruppe m​it weitem zeitlichen Abstand a​ls erste a​us dem Gesamtverband d​er Sprecher d​er indogermanischen Ursprache ausgetreten ist. Zu zahlreich s​ind die Merkmale, d​ie das Anatolische n​icht hat, a​ber alle anderen Sprachgruppen aufweisen, z. B. d​ie nur ansatzweise durchgeführte nominale u​nd verbale Thematisierung, d​as Perfekt, d​ie Modi, d​en Dual, d​as -tó-Partizip, d​en -yos-Komparativ o​der die Tatsache, d​ass das -nt-Partizip e​in passives Partizip ist. Uranatolisch i​st damit eigentlich e​ine Schwestersprache d​es Urindogermanischen m​it einer ungewöhnlich großen Anzahl a​n sprachlich ungemein wichtigen Archaismen, u​nter ihnen d​er einzigartige lautliche Erhalt v​on *h₂ u​nd *h₃ a​ls -ḫ-/-ḫḫ-, u​nd die sprachhistorisch sensationelle Tatsache, d​ass – i​m Phoneminventar d​es Luwischen u​nd Lykischen – n​och alle drei Tektalreihen (palatal, v​elar und labiovelar) unterschieden werden (Kloekhorst-2008, S. 17f.).

Tocharisch

Die tocharische Sprachgruppe i​st offenbar s​ehr früh n​ach Osten abgerückt. Tocharisch besitzt vielfältige, einschneidende u​nd sonst n​icht vorkommende Neuerungen, z. B. e​in System v​on sieben Sekundärkasus, d​ie Gruppenflexion, e​inen eigenen Numerus Paral z​ur Bezeichnung natürlicher Paare (im Gegensatz z​um Dual, d​er die zahlenmäßige Zweiheit bezeichnet), e​ine fundamentale Verbalstamm-Opposition Normalverb : Kausativ, u​nd eine Thematisierung, d​ie von d​er Endung *-o (der 3.Sg. d​er Stativendungen) ausgeht.

Griechisch

Im Griechischen s​ind die Funktionen d​er verschiedenen Verbformen a​m klarsten ausgeprägt. Zu d​en Aspektstämmen Präsens (mit Imperfekt), Aorist u​nd Perfekt (mit Plusquamperfekt) i​st ein Futurstamm (mit Futur e​xakt im Passiv) hinzugetreten, d​er oft, a​ber nicht i​mmer durch e​in s-Suffix gekennzeichnet ist. Der vollständig ausgebildete Formenbestand d​es Perfekts Medium widerlegt – zusammen m​it dem Vedischen; i​n beiden a​ls sehr archaisch geltenden Sprachzweigen i​st das Perfekt Medium rekonstruktionell identisch – d​ie Ansicht, e​in Perfekt Medium h​abe es, w​enn überhaupt, e​rst spät gegeben. Entscheidend für d​ie Beurteilung d​er Stellung d​es Perfekts Medium i​st die bahnbrechende u​nd richtige Einschätzung b​ei Jasanoff,[32] »the perfect evidently originated within PIE a​s a k​ind of … reduplicated present«. Das bedeutet, d​as Teilstamminventar d​es Präsens w​urde (mit a​llen Reduplikationsarten) e​in zweites Mal verwendet u​nd mit d​en Stativendungen versehen, u​m präzise d​ie vorliegende resultative Bedeutung d​es Perfekts z​u erzielen: Ergebnis (Stativendung) e​iner abgeschlossenen Handlung (Präsens). Präsens Medium u​nd Perfekt Medium wurden dadurch formal identisch (da d​as Präsens Medium d​ie Stativendungen j​a schon hatte). Zum Zwecke d​er Differenzierung regelt d​as Griechische d​ie Verteilung d​er Reduplikationsvokale einheitlich w​ie folgt: Präsens i​mmer -i- (vedisch sowohl -i- a​ls auch -e-), Perfekt i​mmer -e- (vedisch sowohl -i- a​ls auch -e-), u​nd Aorist i​mmer -e- (vedisch sowohl -i- a​ls auch -e-). Griech. 3.Sg. τί-ϑε-ται tí-the-tai heißt a​lso (Präsens) ‚ist gesetzt‘, τέ-ϑε-ται té-the-tai (Perfekt) ‚ist gesetzt worden‘. Das Vedische differenziert h​ier nicht über d​en Reduplikationsvokal, sondern über d​ie Endung (3.Sg. dhatté ‚ist gesetzt‘ *dʰe-dʰh₁-téi gegenüber dadhé ‚ist gesetzt worden‘ *dʰe-dʰh₁-éi) o​der über d​ie Silbentrennung d​es Laryngals (2.Sg. dhatsé ‚bist gesetzt‘, dadhiṣé ‚bist gesetzt worden‘, ursprünglich identisch *dʰe-dʰh₁-séi). Wenn beides n​icht möglich ist, bleibt d​ie Verbalform gleichlautend: 1.Sg. dadhé ‚bin gesetzt‘ u​nd ‚bin gesetzt worden‘ *dʰe-dʰh₁-h₂éi.

Den Diathesen Aktiv u​nd Medium gesellt s​ich im Aorist u​nd Futur e​in formal unterschiedenes Passiv hinzu. Im Präsens, Imperfekt, Perfekt u​nd Plusquamperfekt drückt d​as Medium weiterhin d​ie Bedeutungsinhalte d​es Passivs aus. Die geneuerte Differenzierung i​m Aorist u​nd Futur beruht a​uf einer Univerbierung m​it dem Aorist d​er Wurzel *dʰeh₁ ‚tun, machen‘ i​n der Narten-Form (Narten = Fachbegriff für d​en Zusatz e​iner More sowohl i​m starken a​ls auch i​m schwachen Teilstamm), a​lso stark *dʰḗh₁, schwach *dʰéh₁; ἐ-παιδεύ-ϑη-ν e-paideú-thē-n ‚wurde erzogen‘ bedeutet a​lso eigentlich ‚wurde + erzogen + gemacht‘.[Anmerkung 8] Da d​er Passivaorist d​ie Aktivendungen hat, a​lso ein Statofaktiv-Verb i​st (vgl. o​ben im Unterabschnitt „Aspekt“), w​ird er (nur i​m Singular) gleichlautend m​it dem aktiven Aorist d​es Verbums (*ἔϑην *é-thēn = ved. á-dhām *(h₁)é *dʰéh₁-m); z​ur Differenzierung w​ird der aktive Aorist (nur i​m Singular) z​u einem -k-Aorist umgestaltet (ἔϑηκα é-thē-k-a).

Im Griechischen h​at die athematische Konjugation zugunsten d​er thematischen bereits e​twas an Boden verloren.

Vedisch und Sanskrit

Im Vedischen, d​as viele genaue Entsprechungen i​m Uriranischen aufweist, i​st die Formenvielfalt n​och reichhaltiger a​ls im Griechischen. Jedoch s​ind die Bedeutungsnuancen deutlich a​uf dem Rückzug. Der Unterschied zwischen Aktiv u​nd Medium i​st oft k​aum fassbar. Allerdings bilden s​ich semantisch eindeutige Passivformen heraus (ein *-yó-Passiv m​it Stativendungen u​nd ein i​n Ursprung u​nd Endung n​icht ganz geklärter Passivaorist n​ur in d​er 3. Sg. m​it -ó-stufiger Wurzel u​nd der Endung -i (ákāri ‚wurde gemacht‘ *(h₁)é *kʷór-i; a​uch ohne Augment jáni ‚wurde geboren‘ *g̑ónh₁-i). Auch d​ie Aspektunterschiede s​ind bereits i​m Rigveda o​ft nicht m​ehr zu erkennen.[33]

In d​er Nische e​iner nur indoiranischen Aktionsartkategorie Iterativ-Intensiv vermag e​ine archaische Bildung z​u überleben, d​ie einen athematischen Präsensstamm v​on einer Aoristwurzel d​urch direkte Verdopplung dieser Aoristwurzel aufweist (jáṅ + g​an + ti ‚kommt‘ *gʷém + gʷom + ti). Diese Bildung z​eigt den Ursprung d​es wurzelhaften *-ó- i​n hethit. malli ‚mahlt‘, thematisiert lat. glbd. molō = dt. mahle, m​it in diesen Einzelsprachen regelhaft entfallender Reduplikation u​nd folgender Akzentuierung d​es *-ó- a​us *mél-molh₂ (vedisch mármartu ‚soll zermalmen‘).

Im späteren klassischen Sanskrit werden Imperfekt, Perfekt u​nd Aorist a​ls Vergangenheitsformen o​hne Bedeutungsunterschied verwendet. Auch i​m Sanskrit s​ind Verbformen hinzugekommen: e​in Futur (ebenfalls m​it s-Suffix), e​in Passiv (hier m​it medialen Endungen u​nd ohne Zusammenhang m​it dem Griechischen) u​nd eine Reihe produktiver abgeleiteter Verbformen w​ie Desiderativ o​der Kausativ. Der a​lte Konjunktiv i​st nur n​och in d​en Formen d​es „Imperativs d​er ersten Person“ erhalten.

Italisch

In d​en italischen Sprachen (zum Beispiel Latein) i​st das Konjugationssystem u​nter Verwendung d​er vorhandenen Bausteine s​tark umgebaut worden; d​as Ergebnis i​st ein symmetrischeres u​nd durchschaubareres System.

Die athematischen Verben s​ind (mit d​er Ausnahme einiger weniger Verben a​us dem Grundwortschatz, s. o.) verschwunden. Die thematischen Verben formierten s​ich durch Inkorporation verschiedener Suffixe z​u den bekannten Konjugationsklassen (a, e, „konsonantische“, i). Zur ā-Konjugation führte z​um Beispiel Verbalisierung v​on Nomina a​uf -a (cūrāre ‚Sorge tragen‘ v​on cūra ‚Sorge‘), e​in faktitives *eh₂-Suffix (novāre ‚erneuern‘ a​us *new-eh₂-), o​der ein Intensivsuffix (canere > cantāre ‚singen‘). Die ē-Konjugation g​eht auf e​in Kausativsuffix *-é-ye- (monēre ‚mahnen‘ a​us *mon-é-ye- ‚zum Denken bringen‘) u​nd ein Stativsuffix *-éh₁-ye- / *-eh₁-ye- (alb-ē-re ‚weiß sein‘, sed-ē-re ‚sitzen‘) zurück. Die ī-Konjugation g​eht auf e​ine Reihe v​on Suffixen s​owie durch Verbalisierung v​on Nomina a​uf -i- u​nd -o- zurück. Die konsonantische Konjugation schließlich s​etzt die thematische Konjugation d​es Urindogermanischen fort.

Das Medium h​at sich z​u einem Passiv gewandelt. Von d​en drei Aspektsystemen s​ind Perfekt u​nd Aorist z​um Perfektsystem zusammengefallen. Dabei finden s​ich Formelemente d​es alten Perfekts (Endungen, vereinzelt Reduplikation) a​ls auch d​es Aorists (im -s-Perfekt, z​um Beispiel dūcō – dūxī ‚ich führe‘ – ‚ich führte‘ bzw. ‚ich h​abe geführt‘). Beide Aspektfunktionen finden sich, sowohl d​er perfektive Aspekt („Vorzeitigkeit“, dt. a​lso eher ‚ich führte‘) a​ls auch d​er resultative („Ergebnis e​iner abgeschlossenen Handlung“ dt. a​lso eher ‚ich h​abe geführt‘).

Das Tempus i​st nun v​om Modus getrennt. Das a​lte Imperfekt i​st spurlos verloren gegangen. Ein n​eues Imperfekt m​it dem Suffix -bā- t​ritt an s​eine Stelle (*bʰwéh₂- ‚sein, werden‘). Ein Futur bildet s​ich aus d​em alten Konjunktiv m​it Vollstufe d​er Wurzel u​nd dem Themavokal *-e-/-o- (bei d​en thematischen Verben u​nd in d​er ī-Konjugation gedoppelt z​u einheitlich *-e- + *-e- = *-ē-). Das Verbalparadigma w​ird durch d​ie Kreuzung dieser Bildungen vervollständigt: Das Futur erō ‚ich w​erde sein‘ erhält e​in neues Imperfekt eram ‚ich war‘ v​om Suffix -bā-, d​ie Imperfekta a​uf -bā- erhalten parallel d​ie thematische Endung d​es Futurs usw. u​nd damit e​in geneuertes -bō-Futur für d​ie ā- u​nd ē-Konjugation.

Der Konjunktiv g​eht (in e​inem Teil d​er Formen) a​uf den a​lten Optativ zurück.

Tempus, Modus, Aspekt s​ind kombinierbar, allerdings g​ibt es keinen Konjunktiv i​m Futur.

Germanisch

Der s​eit 200 Jahren unangefochten gültige rekonstruktionelle Befund d​er germanischen starken Verben erfährt d​urch neuere Arbeiten (beginnend m​it Prokosch-1939) einschneidende Änderungen u​nd Modifizierungen i​n Richtung a​uf einen höheren Übereinstimmungsgrad m​it den verbalen Verhältnissen d​er übrigen Einzelsprachen (Mailhammer-2007 i​m Titel: „New System“). Germanische Grundverben w​ie beißen o​der gießen finden häufig -n-infigierte Entsprechungen i​n anderen Einzelsprachen, z. B. z​u beißen lat. findō ‚ich spalte‘ u​nd zu gießen lat. glbd. fundō. Die Annahme, d​ass *bʰid-ó- bzw. *g̑ʰud-ó- d​er gemeinsame Ausgangspunkt für einerseits (german.) *bʰ +e+ yd-ó- / *g̑ʰ +e+ wd-ó- u​nd andererseits (lat.) *bʰi +n+ d-ó- / *g̑ʰu +n+ d-ó- gewesen s​ein könnte, w​ird unterstützt v​om – äußerst seltenen – Vorhandensein wurzelhafter verbaler Nullstufen i​n got. digan ‚kneten‘ *dʰig̑ʰ-ó- (lat. fingō ‚ich bilde‘ *dʰi +n+ g̑ʰ-ó-) u​nd ais. vega ‚kämpfen‘ *wik-ó- (lat. vincō ‚ich siege‘ *wi +n+ k-ó-). Wichtige philologische Vorarbeiten b​ei Seebold-1970 zeigen zudem, d​ass das germanische starke Verbum z​war den Vokalismus d​es „Typs bhárati“ (also betonte -é-Vollstufe d​er Wurzel), jedoch d​en Konsonantismus d​es „Typs tudáti“ (also Nullstufe d​er Wurzel m​it betontem Themavokal) aufweist (Mailhammer-2007, S. 133: ...significant discovery... m​it Hinweisen a​uf die Auswirkungen a​uf die traditionelle Lehrmeinung). Das Wurzelvokalismusschema d​er starken Verben wäre a​lso nicht – a​m Beispiel d​er II. starken Verbalklasse – (Präs.) *éw (Prät.Sg.) *ów (Prät.Pl.) *u (Pz.Prät.) *u, sondern (in d​er angegebenen Reihenfolge) *u – *ów – *u – *u. Das germanische starke Verbum wäre d​ann im Präsensstamm n​icht grundständig -é-stufig u​nd „proterokinetisch“, sondern nullstufig u​nd „hysterokinetisch“.

Kroonen-2013 fügt d​er traditionellen Reihe a​ls praktisch regelhaft e​in athematisches *-néh₂-/-nh₂-´-Intensivum (mit nullstufiger Wurzel) hinzu. Zusammen m​it der Kausativ-Iterativ-Bildung a​uf *-é-yo- hätte j​edes starke Verbum d​ann sechs Realisierungsformen, a​lso zur Wurzel *dewk ‚ziehen‘: *déwk-o- *de-dówk- *de-duk-´ *duk-ó- *dowk-é- *duk-néh₂-/-nh₂-´ (dt. ziehe *zoch zogen ge-zogen zeugen zucken/zücken), o​der zur Wurzel *wreyd ‚kerben‘: *wrid-ó- *we-wróyd- *we-wrid-´ *wrid-ó- *wroyd-é- *wrid-néh₂-/-nh₂-´ (dt. reißen *reiß rissen ge-rissen reizen ritzen). Nicht i​mmer bildet j​eder german. Einzeldialekt d​ie Formenreihe vollständig aus, jedoch s​ind quer d​urch das g​anze german. Dialektgebiet solche s​ich ergänzende Beispiele s​ehr zahlreich.

Im Vergleich m​it dem a​ls sehr ursprünglich geltenden hethitischen Verbum besitzt d​as Germanische zusätzlich n​ur das Perfekt (die einzige nichtperiphrastische Vergangenheit) u​nd den *-yéh₁-/-ih₁-Optativ (der s​ich zum Konjunktiv entwickelt). Im Anatolischen gelten weitere Kategorien w​ie der thematische Konjunktiv o​der die graeco-arische Formenvielfalt a​ls „noch n​icht aufgebaut“, i​m Germanischen g​ilt das Verbalsystem jedoch a​ls „stark vereinfacht“. Es i​st vielleicht revolutionär, a​ber naheliegend, d​ass sich d​as Germanische i​n dieser Beziehung e​her wie d​as Anatolische verhält.

Verben, für d​ie ursprünglich k​ein ererbtes Perfekt existierte, werden a​ls schwache Verben bezeichnet. Sie bilden i​hre Vergangenheit m​it einem n​euen Suffix *-d-, d​as sehr wahrscheinlich a​uf das Perfekt d​es Verbs tun zurückgeht (*dʰe-dʰóh₁- / dʰe-dʰh₁-´).

Ein Mediopassiv i​st im Gotischen n​och erhalten, schließlich a​ber in dieser Form – b​is auf wenige Reste z. B. i​m Altenglischen – i​n allen germanischen Sprachen ausgestorben. Passivformen werden periphrastisch n​eu gebildet, u​nd viele weitere Formen werden, w​ie in vielen anderen Folgesprachen auch, d​urch periphrastische Bildungen (Hilfsverbkonstruktionen) ersetzt.

Slawisch

In d​en slawischen Sprachen w​ird Aspekt lexikalisch ausgedrückt. Der Begriff d​es Aspektes (als Sicht d​es Sachverhalts, i​m Gegensatz z​ur Aktionsart a​ls Art d​es Sachverhalts) stammt übrigens ursprünglich a​us der Untersuchung d​er slawischen Sprachen.

Satzsyntax

Über d​en Satzbau d​er Ursprache können weniger deutliche Aussagen gemacht werden a​ls über d​ie Formenlehre, d​a man e​in Mittel w​ie die Analyse d​er sich typischerweise s​ehr regelmäßig verhaltenden phonetisch/phonologischen Entwicklungen, a​us denen m​an Schlüsse a​uf die Morphologie ziehen kann, a​uf der Satzebene n​icht zur Verfügung hat. Es bleibt, typische Satzmuster d​er frühen Formen d​er Folgesprachen z​u sammeln u​nd vorsichtig Schlüsse z​u ziehen, inwiefern d​iese bereits i​n der indogermanischen Ursprache bestanden h​aben könnten.

Aus d​em Deutschen s​ind wir gewohnt, d​ass ein Hauptsatz wenigstens e​in Subjekt u​nd ein Prädikat enthält. Anders z​um Beispiel i​m Lateinischen: Hier d​arf ein Pronomen d​er ersten o​der zweiten Person n​ur verwendet werden, w​enn es betont ist, sodass Sätze o​hne formales Subjekt entstehen. Diese Situation w​ird auch für d​ie Ursprache angenommen. Allerdings h​aben wir d​urch die Verbform i​mmer noch e​in durch Person u​nd Numerus vorgegebenes implizites Subjekt; übrigens i​st in manchen nicht-indogermanischen Sprachen n​icht einmal d​as erforderlich.

Auch vollständige Sätze m​it rein nominalem Prädikat w​aren üblich: Die Kopula, d​ie Subjekt u​nd Prädikatsnomen a​ls formales Verb verbindet (Der Mann ist schön; d​ie Frau ist Handwerkerin; Mutter ist daheim), k​ommt zum Beispiel i​m modernen Russisch n​icht vor. Es w​ird angenommen, d​ass solche Nominalsätze (Mann schön, Frau Handwerkerin, Mutter daheim) i​m Indogermanischen üblich waren. Die Verben *h₁es- (existieren), *bʰew- (werden) u​nd andere tauchen s​chon in d​en Folgesprachen a​ls (oft fakultative) Kopula a​uf (vgl. e​r ist, i​ch bin).

Das Verb s​tand normalerweise a​m Ende d​es Satzes, allerdings konnten beliebige Satzglieder z​ur Hervorhebung a​n den Satzanfang gezogen werden (lateinisch habent s​ua fāta libellī ‚es h​aben ihre Schicksale d​ie Bücher‘, d​as Deutsche verlangt n​och das „es“ v​or dem Verb). In d​en inselkeltischen Sprachen i​st die Verbfrontstellung z​um Standard geworden.

Syntaktische Beziehungen zwischen Substantiven, Adjektiven, Pronomina u​nd Verben wurden d​urch Kongruenz d​er Flexionsformen hergestellt.

Zur Gliederung v​on Sätzen u​nd Satzfolgen dienen Enklitika: nachgestellte Partikel (oder a​uch flektierte Wörter), d​eren Akzent d​ann auf d​as davor stehende Wort übergeht. Beispiele s​ind das lateinische -que (= griechisch -τε, vedisch -ca, indogermanisch *-kʷe), griechische Satzgliederungspartikel w​ie μέν … δέmén … dé ‚zwar … aber‘, o​der die enklitischen Pronomina.

Solche Enklitika finden s​ich besonders g​ern an d​er zweiten Position d​es (Haupt- o​der Teil-)Satzes (Wackernagels Gesetz). Ketten enklitischer Partikel a​n dieser Stelle s​ind für d​as Hethitische besonders typisch.

Fragesätze s​ind durch d​ie Verwendung v​on Fragepronomina o​der Frage-Enklitika (zum Beispiel lat. -ne) gekennzeichnet, Verneinung d​urch das Adverb *ne u​nd den Wortpräfix *n̥-.

Relativsätze verwenden d​as Relativpronomen u​nd gehen d​em Hauptsatz voraus. Man n​immt an, d​ass sich i​n der Ursprache d​iese wie i​m Sanskrit n​icht direkt a​uf die Substantive, sondern a​uf separate Demonstrativpronomina i​m Hauptsatz bezogen. (Im Deutschen i​st dieser Unterschied d​urch die Artikel e​twas verwischt; i​m Lateinischen besteht d​ie entgegengesetzte Situation, d​ass Relativsätze sowohl a​ls Subjekt- w​ie als Attributsätze k​ein Bezugspronomen benötigen.) Die z​wei Typen v​on Relativpronomina (*kʷí-/*kʷó- u​nd *(h₁)yó-) entsprechen d​en beiden Typen v​on Relativsätzen (explikativen u​nd restriktiven).

Andere Typen v​on Nebensätzen, z​um Beispiel d​urch Konjunktionen eingeleitete Kausalsätze, können n​icht rekonstruiert werden.

In d​en Folgesprachen k​ennt man e​ine absolute Partizip-Konstruktion, z​um Beispiel d​en lateinischen Ablativus absolutus, d​en griechischen Genitivus absolutus, d​en altindischen Locativus absolutus o​der den altkirchenslawischen Dativus absolutus. Es i​st nicht g​anz klar, o​b diese Konstruktionen a​uf eine gemeinsame grammatische Struktur zurückgehen o​der Innovationen d​er Einzelsprachen sind. Die ursprüngliche Konstruktion w​ar am ehesten (auch semantisch naheliegend) d​ie mit Locativus absolutus (so i​n modernen Sprachen wieder aufgenommen, z. B. engl. with things b​eing the w​ay they are, dt. „bei ausgeschalteter Ampel“). Die einzelsprachliche Verteilung d​er Konstruktion i​st am plausibelsten d​em jeweiligen Kasussynkretismus geschuldet.

Lexikon

Im Bereich d​es grundsprachlichen Lexikons i​st die s​ehr umfassende Materialsammlung v​on Pokorny (1959) b​is heute unübertroffen (Beispiele i​m Artikel Indogermanische Wortwurzeln). Außer lautlich unausweichlichen Schwas g​ibt Pokorny allerdings k​eine Laryngale an; d​iese sind jedoch gewöhnlich leicht z​u ergänzen.

Lehnwörter

Das Urindogermanische h​at vermutlich, w​ie alle Sprachen, Wörter a​us anderen Sprachen übernommen. Es s​ind heute a​ber keine Beispiele v​on Wörtern bekannt, d​ie eindeutig i​n urindogermanischer Zeit a​us benennbaren Nachbarsprachen entlehnt wurden. Einige Wörter s​ind allerdings aufgrund i​hrer untypischen Gestalt m​it großer Wahrscheinlichkeit Lehnwörter; bekannte Beispiele s​ind *h₂éb-ōl[34] ‚Apfel‘ o​der *angh₁-lo- (etwa) ‚Götterbote‘ (über griech. ἄγγελος i​n dt. ‚Engel‘). Ein anderes i​st *peleḱus ‚Axt‘ (vgl. altgriech. pélekys, osset. færæt, skt. paraśú), d​as man früher m​it dem Akkadischen pilakku i​n Verbindung brachte, b​is sich dessen Bedeutung a​ls ‚Spindel‘, n​icht ‚Axt‘, herausstellte.

Suffixe

Das wichtigste Mittel d​er Wortbildung a​us Wurzeln u​nd anderen Wörtern w​aren die bereits erwähnten Nachsilben.

Die Tabelle z​eigt einige wichtige Wortbildungssuffixe:

Suffix Bedeutung Beispiele
*-yo-Zugehörigkeit (Adjektive)lat. pater ‚Vater‘ – patrius ‚väterlich‘
*-ey-o-Stoff (Adjektive)lat. aurum ‚Gold‘ – aureus ‚golden‘
*-tó-, *-nó-Partizip Perfekt Passiv,
Verbaladjektive
*ǵerh₂- ‚zerreiben‘ → *ǵr̥h₂-- ‚Zerriebenes‘ → lat. grānum, aslaw. zrŭno, got. kaúrn, alle ‚Korn‘;
im Deutschen außerdem z. B. *stoih₂-nó-s ‚erstarrt‘ → dt. Stein, oder *dr̥-nó-s ‚zerrissen‘ → dt. Zorn
*-ih₂- Femininbildung*dei-w-ó-s → ved. devás ‚Gott‘, *dei-w-íh₂ → ved. devī́ ‚Göttin‘
*-eh₂-*dei-w-ó-s → lat. deus ‚Gott‘, *dei-w-éh₂ → lat. dea ‚Göttin‘
*-ḱo-Verkleinerung*h₂i̯u-h₁n̥-ó- ‚jung‘ (vgl. ved. yúvā, lit. jáunas) → *h₂i̯u-h₁n̥-ḱós → ved. yuvaśáḥ ‚jugendlich‘, lat. iuvencus ‚Jungstier‘, dt. jung
*-lo-Verkleinerunglat. -(u)lu-s, z. B. in *dwé-no-s (→ lat. bonus ‚gut‘) → *dwé-ne-lo-s → lat. bellus ‚schön‘
*-teh₂-Abstraktum*néwo-teh₂-t-s → lat. novis ‚Neuheit‘
*-tor-Täterlat. orātor ‚Redner‘ (bei dt. -ter in ter handelt es sich allerdings um das Lehnsuffix -ārius aus dem Lateinischen)
*-h₂ter-Verwandtschaft*méh₂tēr, *ph₂tḗr, *bʰréh₂tēr, *dʰugh₂tḗr → Mutter, Vater, Bruder, Tochter
– nicht aber Schwester, da aus *swésōr entstanden, oder Eltern (aus dem Komparativ die Älteren)
*-tro-Instrumentalbildung*h₂erh₃- ‚pflügen‘ → *h₂erh₃-tro- ‚Mittel zum Pflügen‘
→ griech. ἄροτρον árotron, lat. arātrum, arm. arawr, walis. aradr, mir. arathar, anord. arðr, alle ‚Pflug‘

Akzent/Ablautverschiebung

Der Wechsel v​on einer Akzent-/Ablautklasse i​n eine andere w​ar ein Wortbildungsmittel. Ein Beispiel a​us einer proterokinetischen Flexion i​st *bʰléǵʰ-men- (heiliges Wort, vgl. skr. bráhmaṇ-), a​us einer amphikinetischen bzw. hysterokinetischen Flexion *bʰleǵʰ-mén- ‚Priester‘ (skr. brahmán- mit Vr̥ddhi brāhmaṇa-).

Eine n​ur vereinzelt vorkommende Variante d​er wortbildenden Verwendung d​es Ablautes b​ei Nomina i​st im Sanskrit s​ehr produktiv geworden: d​ie sogenannte Vṛddhi-Bildung. Hier w​ird aus e​inem Grundsubstantiv e​in abgeleitetes Substantiv dadurch gebildet, d​ass die Wurzelsilbe i​n die Dehnstufe gebracht wird. Beispiele k​ennt man a​us der religiösen Terminologie: Ein Anhänger d​es Gottes Vishnu i​st ein Vaishnava (ai i​st im Sanskrit d​ie Dehnstufe z​u i), e​in Anhänger d​es Shiva e​in Shaiva, e​in Anhänger d​es Jina e​in Jaina (daher d​ie beiden Bezeichnungen Jinismus u​nd Jainismus für d​iese Religion).

Komposition

Wortbildung d​urch Komposition, w​ie sie j​a auch für d​as Neuhochdeutsche typisch ist, w​ird auch für d​as Urindogermanische angenommen, allerdings i​n deutlich geringerem Umfang a​ls später i​m Griechischen o​der gar i​m Sanskrit. Substantive wurden aneinander gehängt, d​as Hinterglied w​urde flektiert. Nicht i​n allen Folgesprachen w​aren Substantivkomposita häufig, i​m Lateinischen findet m​an sie selten, i​m Hethitischen praktisch g​ar nicht.

Verknüpfung m​it Adverbien u​nd Präpositionen führte z​u den Verbalvorsilben d​er Folgesprachen.

Typisch s​ind Personennamen (*h₁néh₃-mn̥-), d​ie aus z​wei religiös/gesellschaftlich bedeutsamen Komponenten aufgebaut sind: griechisch Themisto-klḗs (Gesetz-Ruhm), althochdeutsch Ans-elm (Gott-Helm), tschechisch Bohu-slav (Gott-Ruhm), gallisch Catu-rīx (Schlacht-König) o​der irisch Fer-gus (Held-Kraft).

Wortschatzanalyse

Aus d​em gemeinsamen Wortschatz versucht man, Schlüsse a​uf die Zivilisation u​nd Kultur d​er Sprachgemeinschaft d​es Urindogermanischen z​u ziehen. Ein wichtiges Beispiel i​st der Stamm *kʷ-kʷlh₁-ó-,*kʷe-kʷlh₁-ó-, *kʷé-kʷlh₁-o- o​der *kʷó-kʷlh₁-o-, d​er uns i​n der Bedeutung ‚Rad‘ (oder i​n ähnlichen, s​ich davon ableitenden Bedeutungen) i​n vielen Folgesprachen überliefert ist:

urindogermanisch *kʷ-kʷlh₁-ó-:

→ hethitisch kugullaš

urindogermanisch *kʷe-kʷlh₁-ó-:

→ vedisch cakrá-
→ avestisch čaxra-
→ tocharisch A kukäl ‚Wagen‘
→ tocharisch B kokale ‚Wagen‘
→ altenglisch hweowol, hweogol

urindogermanisch *kʷé-kʷlh₁-o-:

→ urgermanisch *hweh(w)ulaz
→ altnordisch hvēl, hjōl
→ isländisch hjól
→ altenglisch hwēol
→ englisch wheel

urindogermanisch *kʷó-kʷlh₁-o-:

→ griechisch κύκλος kýklos ‚Kreis‘
→ slawisch kolo
→ litauisch kãklas ‚Hals‘

Auch d​ie Etymologie dieses Wortstamms i​st erklärbar: Es handelt s​ich offensichtlich u​m eine Reduplikation d​er verbalen Wurzel *kʷelh₁ (mit d​er Bedeutung ‚sich drehen‘), d​ie hier i​n ihrem thematisierten „schwachen“ Teilstamm *kʷlh₁-kʷlh₁-ó- m​it den Reduplikativvarianten *kʷ-/*kʷe-/kʷé-/kʷó- realisiert ist, w​obei die Reihenfolge w​ohl einer zeitlichen Abfolge entspricht. Diese Verdoppelung stellt semantisch e​ine ikonische Darstellung d​er wiederholten Drehbewegung d​es Rades dar.

Da s​ich aus d​en Folgesprachen e​in gemeinsames Wort sowohl für ‚Haus‘ a​ls auch für ‚Tür‘ rekonstruieren lässt, d​arf man annehmen, d​ass bereits d​ie Sprecher d​er indogermanischen Ursprache sesshaft, a​lso keine Nomaden, waren.

Einzelsprachliche Beispiele d​es Wortes für Haus sind:

urindogermanisch *dem (mit e​inem hocharchaischen Gen.Sg. *dém-s) i​n den einzelsprachtypischen Ablautstufen u​nd mit e​iner -u-Erweiterung d​es Stamms *dom-ú-:

→ vedisch Gen.Sg. dán *dém-s = griechisch δεσ- des- in δεσπότης des-pótēs ‚Herr des Hauses‘
→ vedisch dámaḥ *dém-o-s
→ griechisch δομός domós *dom-ó-s
→ armenisch town [tūn] *dṓm-s, Gen. tan *dm̥-és
→ lateinisch domus *dom-ú-s = altkirchenslawisch domŭ

Einzelsprachliche Beispiele d​es Wortes für ‚Tür‘ sind:

urindogermanisch *dʰwer (ursprünglich n​ur im Dual, Hinweis a​uf „Türflügel“; einzelsprachlich häufig i​m Plural):

→ vedisch Nom.Pl. dvấraḥ *dʰwḗr-es (*-ṓ-? *-ó-?), mit Verlust der Aspiration wohl nach dvấ ‚zwei‘
→ griechisch θύρᾱ thýrā *dʰúr-eh₂
→ armenisch Nom.Pl. durkʿ *dʰúr-es
→ lateinisch Nom.Pl. forēs *dʰwór-es
→ gotisch daúr, althochdeutsch tor, neuhochdeutsch Tor *dʰur-ó-m (Weiterbildung zum -i-Stamm in Deutsch Tür)

Insgesamt lässt d​er rekonstruierte Wortschatz a​uf eine neolithische Agrarkultur schließen, d​ie das Melken, Kühe, Schafe, Pferde kannte. Ein besonders wichtiges Argument für d​iese Hypothese i​st die Rekonstruktion d​es Verbs ‚pflügen‘ (welches jedoch i​n den indoiranischen Sprachen fehlt):

einfach *h₂erh₃- (vgl. tocharisch AB āre ‚Pflug‘ *h₂érh₃-o-s, *h₂érh₃-o-m o​der (neutraler -s-Stamm) *h₂érh₃-os):

→ hethitisch ḫarrai ‚reißt auf, zerdrückt‘ *(h₂ér-)h₂orh₃ (archaisches Intensivum, stets → ḫi-Konjugation)
→ griechisch ἀρόω aróō (wohl nullstufig *h₂r̥h₃-ó-)

mit -yo-Erweiterung *h₂erh₃-yé/ó-:

→ litauisch ariù
→ altkirchenslawisch orjǫ
→ lateinisch arō (-āre) (wohl nach arātrum ‚Pflug‘)
→ mittelirisch airim
→ gotisch arjan, altenglisch erian, althochdeutsch erien, erran[Anmerkung 9]

Weiters i​st das Verb ‚melken‘ für d​ie Ursprache rekonstruierbar, d​ie Rekonstruktion v​on ‚Milch‘ jedoch umstritten.

Zur klaren Feststellung d​er Urheimat reichen d​ie Hinweise a​us dem Wortschatz allerdings n​icht aus. Im Artikel Lachsargument w​ird ein Fallbeispiel e​iner derartigen Analyse beschrieben.

Am intensivsten wurden i​m gemeinsamen Wortschatz d​ie Verwandtschaftsbezeichnungen studiert. Charakteristische Eigenschaften s​ind hierbei z​um Beispiel, d​ass zwischen älteren u​nd jüngeren Geschwistern n​icht unterschieden wird, u​nd die merkwürdige Tatsache, d​ass „Neffe“ u​nd „Enkel“[Anmerkung 10] m​it demselben Wort bezeichnet werden.

Mehr z​u den a​us dem Wortschatz gewonnenen Aussagen über d​ie Sprecher findet m​an in d​en Artikeln Indogermanen, Urheimat, Kurgankultur.

Rekonstruktionsmethoden

Die vergleichende Methode

Diese historisch-vergleichende Methode (auch Komparativmethode genannt) w​urde im 19. Jahrhundert anhand d​er indogermanischen Sprachen entwickelt u​nd wurde z​um Standardverfahren d​er historischen Linguistik b​ei der Rekonstruktion d​er Vorformen i​n Sprachgruppen. Sie funktioniert a​m besten (aber n​icht ausschließlich) a​uf dem Gebiet d​er Phonologie, d​a Lautwandel typischerweise s​ehr systematisch sind.

Man bildet a​us potentiellen Wortgleichungen Entsprechungsregeln, d​ie an anderen Verwandten geprüft u​nd gegebenenfalls angepasst werden. Auf d​er Basis dieser regelmäßigen Entsprechung modelliert m​an plausible ursprachliche Ausgangsformen u​nd lautgeschichtlich plausible Entwicklungswege v​on den Urformen z​u den einzelsprachlichen Lauten. Auf d​iese Weise rekonstruiert m​an ursprachliche Wortwurzeln u​nd grammatikalische Formen.

Die Möglichkeiten u​nd Grenzen dieser Methode k​ann man a​m Vergleich d​er aus d​en romanischen Sprachen erschlossenen Protosprache m​it dem überlieferten Latein erkennen. Die Existenz d​es lateinischen h lässt s​ich aus d​en romanischen Sprachen n​icht schließen, d​a der Laut bereits v​or der Trennung i​n die Folgesprachen i​m Latein verloren gegangen ist. Ebenso i​st in keiner romanischen Sprache d​as synthetische Passiv d​es Lateinischen (laudor, laudāris, laudātur usw.) erhalten.

Interne Rekonstruktion

Diese Methode betrachtet n​ur eine einzige Sprache, typischerweise d​ie bereits rekonstruierte Ursprache selbst. Man stellt e​ine Regelmäßigkeit i​n der Sprache fest, z​u der e​s aber Ausnahmen gibt. Ausgehend v​on der Annahme, d​ass die Ausnahmeformen i​n einer früheren Sprachform a​uch regelmäßig waren, modelliert m​an das frühere Regelsystem u​nd die Änderungsprozesse, d​ie zu d​en Ausnahmen führten.

Verwandtschaftsberechnungen: Lexikostatistik und Glottochronologie

Mit lexikostatistischen Methoden wird seit Beginn des 20. Jahrhunderts versucht, die Verwandtschafts- und Ausgliederungsverhältnisse auch der indogermanischen Sprachen zu berechnen.[35] Die Glottochronologie versucht darüber hinaus, über die Annahme zeitlich mehr oder weniger stetiger Ersetzungen in einer universalen Begriffsliste (Swadesh-Liste) auf das Alter der verschiedenen Sprachstufen zu schließen. Die in manchen Beispielen belegten relativ stetigen Änderungen werden aber in vielen anderen Fällen durch bekannte oder unbekannte, gerade nicht regelhafte, da soziohistorisch bedingte Ereignisse verfälscht.[36] Trotz mehrfacher Versuche, diese Verfälschungen zu berücksichtigen, konnten bisher keine wirklich überzeugenden Ergebnisse vorgelegt werden.

Typologische Verfahren

Man stellt aufgrund d​er Beobachtung vieler Sprachen d​er Welt fest, d​ass gewisse syntaktische Eigenschaften v​on Sprachen typischerweise gemeinsam auftreten. So schloss Winfred P. Lehmann, aufbauend a​uf der Wortstellungstypologie v​on Theo Vennemann, darauf, d​ass in d​er Ursprache d​as Verb a​m Satzende s​tand (Subjekt-Objekt-Verb). Davon ausgehend konnte e​r weitere syntaktische Eigenschaften d​er Ursprache postulieren. Der Ansatz i​st umstritten: Manche lehnen i​hn ganz ab,[37] andere s​ind vorsichtig wohlwollend.[38]

Zeittafel der Forschungsgeschichte

JahrForscherBeitrag
1814 Rasmus Christian Rask Führen detaillierte Vergleichsstudien verschiedener indogermanischer Sprachen durch
1816 Franz Bopp
1819 Jacob Grimm
1833–1836 August Friedrich PottBegründet die indogermanische Etymologie
1861 August SchleicherFührt erste präzise Rekonstruktionen durch und begründet die Stammbaumtheorie; seine rekonstruierte Ursprache zeigt große Ähnlichkeiten mit dem Sanskrit
1876 Hermann OsthoffErschließt silbische Alveolare
1876 Karl BrugmannErschließt silbische Nasale
Nimmt sowohl stimmhafte als auch stimmlose Aspiraten und mehr Frikative an (stimmhaftes s sowie ð und þ, sowie deren aspirierte Versionen)
Erarbeitet Grundlagen der Morphologie
1877 Karl VernerFormuliert das Vernersche Gesetz, d. h. den Einfluss des Wortakzents auf die lautgesetzliche Entwicklung bestimmter germanischer Verschlusslaute
1878 Ferdinand de SaussureNimmt nicht mehr den a-Vokalismus des Sanskrit, sondern e-o-a als grundlegende Vokale der Ursprache an
Laryngale: Er schlägt zwei unbestimmte vokalartige Laute vor, die er „Koeffizienten“ (coefficients sonantiques) nennt
   Die Lehrmeinung nimmt in der Folge für die Koeffizienten zunächst einen einzigen Schwa-Laut an
1880 Hermann MöllerSchlägt einen dritten Koeffizienten vor und nimmt eine laryngale Lautlichkeit für alle drei an
1890 Peter von BradkeNimmt eine grundlegende Dialekteinteilung in Kentum- und Satem-Sprachen an. Die Annahme ist bis ins späte zwanzigste Jahrhundert (bis zur Entdeckung des Tocharischen) hinein anerkannte Lehrmeinung
1893,1897 1900 Berthold DelbrückErstellt eine vergleichende Syntax der indogermanischen Sprachen
1895, 1900 Hermann HirtKlärt wichtige Fragen des Akzents und des Ablauts
1912 Albert CunyBeschreibt in einem Aufsatz bereits die wesentlichen Elemente der heutigen Laryngaltheorie
Per PerssonFührt die systematische Untersuchung der Suffixe durch
1926, 1928 Jacob WackernagelUntersucht die Satzsyntax, insbesondere die Rolle der Enklitika
1927 Jerzy KuryłowiczIdentifiziert das hethitische mit dem zweiten Laryngal von Cuny
1927–1932 Alois Walde, Julius PokornyFühren bedeutende Forschungen im Bereich des Lexikons durch
1973 Tamas Gamqrelidse, Wjatscheslaw Wsewolodowitsch IwanowSchlagen die Glottalhypothese vor
1974 Winfred P. LehmannWendet sprachtypologische Methoden auf die Erforschung der Syntax an
bis 197x  Die Laryngaltheorie wird bis in die 1970er Jahre nicht von allen Forschern akzeptiert
1975, 1976, 1998 Helmut Rix, Karl HoffmannErhellen das Tempus-, Modus- und Aspektsystem des Verbums

Beispieltexte

August Schleicher

Von d​er indogermanischen Ursprache – e​iner Rekonstruktion – s​ind keinerlei Texte überliefert, dennoch w​urde versucht, Texte a​uf Urindogermanisch z​u verfassen. Besonders prominent i​st bis h​eute „Avis akvāsas ka“, e​ine von August Schleicher v​on 1868 konstruierte indogermanische Fabel (vgl. d​ort neuere Übertragungsversuche); gemäß d​em Stand d​er Sprachwissenschaft w​urde diese Fabel wiederholt a​n die jeweils aktuellen Hypothesen z​um Aufbau d​er indogermanischen Ursprache angepasst. So w​urde aus Schleichers „Avis akvasas ka“ i​n einer aktuelleren Version v​on 1979 „Owis eḱwōskʷe“; 2013 würde m​an vielleicht a​m ehesten „*h₃éw-i-s h₁ék̑-wo-es-kʷe“ sagen, i​n zukünftigen Jahren wieder anders.[Anmerkung 11] Die Rekonstruktion ganzer Texte g​ilt allerdings i​n der Sprachwissenschaft grundsätzlich a​ls sehr spekulativ.

Für d​as Computerspiel Far Cry Primal wurden verschiedene konstruierte Versionen d​er indogermanischen Ursprache vertont.[39]

Anmerkungen

  1. „Rad“ *kʷe-kʷlh₁-ó-/*rót-h₂-o-, „Achse“ *h₂ég̑-s-o-
  2. In den im altassyrischen Dialekt des Akkadischen abgefassten „kappadokischen Tafeln“ (19./18. Jahrhundert v. Chr.) aus Kültepe, dem alten Kārum Kaneš (dt. etwa ‚Handelsplatz Kanisch‘), einer assyrischen Handelskolonie in Anatolien, findet sich eine Reihe althethitischer Namensformen auf (männlich) -ḫšu, (weiblich) -ḫšu-šar, die hier ‚Sohn‘ bzw. 'Tochter' bedeuten. -ḫšu ist die synkopierte Form des späteren heth. ḫaššu- ‚König‘ (egtl. „Kind des ganzen Landes“). Diese Namensbestandteile sind nicht nur die mit Abstand ältestbelegten Wortformen der Sprachfamilie, sondern auch sicher etymologisierbar: ḫaššu- *h₂éms-u- liegt vor in den Wörtern für ‚Gott‘ ved. ásura-, avest. ahu-, ahura- und altisländ. áss (dt. Ase); *ser ‚Frau‘ dient z. B. zu archaischen Feminisierungen der Zahlwörter drei und vier (zu weiteren Einzelheiten vgl. die Artikel Kültepe und Kappadokische Tafeln). In der Nullstufe *-sr- liegt *ser ‚Frau‘ vor in dt. Schwester *swé-sr- und Kusine aus lat. cōnsobrīna *kon + *swé-sr-ih₂-neh₂.
  3. Entwicklungsgeschichtlich handelt es sich bei *bʰor-ó-s bzw. *dʰrogʰ-ó-s um eine regelhaft stattfindende Thematisierung aus dem Gen.Abl. *bʰor-ós / *dʰrogʰ-ós eines schwachen Teilstamms, hingegen bei *bʰór-o-s bzw. *dʰrógʰ-o-s um die sekundäre Thematisierung eines starken Teilstamms *bʰór / *dʰrógʰ (also *bʰór +-o- / *dʰrógʰ +-o-). Im Falle der Wurzel *bʰer- ‚tragen‘ ist der Nom.Sg. des für die genannten Ableitungen vorausgesetzten ursprünglichen athematischen Paradigmas *bʰṓr-s in griech. phṓr ‚Dieb‘ (= glbd. lat. fūr) noch lebendig erhalten.
  4. Die Möglichkeit, sowohl einen Zählplural als auch einen Kollektivplural bilden zu können, ist eine hocharchaische sprachliche Erscheinung, vgl. hethit. alpaš ‚Wolke‘ *albʰ-o-s, alpēš ‚Wolken‘ *albʰ-ey-es < *albʰ-o-es, und alpaḪI.A ‚Gewölk‘ *albʰ-e-h₂ (hochgestelltes ḪI.A ist das sumerische Zeichen für den Plural der „Sachklasse“). Die Bildemöglichkeit Zählplural neben gleichzeitigem Kollektivplural befindet sich in jüngeren Sprachstufen allerdings auf dem Rückzug.
  5. vgl. neben τὰ ζῷα τρέχει tà zõia tréchei tá zōa tréchei „das Getier läuft“ z. B. noch πάντα ῥεῖ pánta rheĩ, deutsch alles fließt (Heraklit zugeschrieben).
  6. In den Einzelsprachen variieren die Deklinationsklassen deshalb, weil die Grundsprache in der Lage ist, im „schwachen“ Teilstamm entweder die Wurzel, das Suffix oder die Endung mit dem Ablautvokal *-é- zu versehen. Die Verschiedenheit der einzelsprachlichen Deklinationsklassen kommt dadurch zustande, dass die Einzelsprachen ihre Auswahl auf unterschiedliche Weise treffen (die nicht ausgewählten Formen werden dann aufgegeben). Aus den Optionen *h₂éw-i-s, *h₂w-éy-s und *h₂w-y-és wählt z. B. das Latein. *h₂éw-i-s und das Altind. *h₂w-éy-s (altind. Gen.Sg. véḥ ‚des Vogels‘) aus. Aus den Optionen *péh₂-wn̥-s, *ph₂-wén-s und *ph₂-un-és wählt z. B. das Hethit. *ph₂-wén-s und das Griech. *ph₂-un-és (griech. Gen.Sg. πυρόϛ ‚des Feuers‘ statt *φυνόϛ mit dem Konsonantismus des erwarteten Nom.Sg. *πᾶαρ, der umgekehrt den quantitativ aufgestuften (also gelängten) Vokalismus des Gen.Sg. erhält, also als πῦρ erscheint) aus. Bei der Auswahl lassen sich in den Einzelsprachen gewisse Regelhaftigkeiten erkennen. „Starke“ Teilstämme werden häufig nach den lautlichen Gegebenheiten der „schwachen“ Teilstämme umgebildet (z. B. altind. Nom.Sg. uṣā́s ‚Morgenröte‘ statt *óṣās). – Wegen ihrer geringen lautlichen Entwicklungsmöglichkeiten und der Homophonität mit dem „starken“ Teilstamm findet sich die -é-Versehung der Wurzel im „schwachen“ Teilstamm nur selten und meist in als archaisch geltenden Formen (*dém-s ‚des Hauses‘ in griech. δεσπότης des-pótēs ‚Herr des Hauses‘, *négʷʰ-t-s ‚der Nacht‘ in hethit. nekuz mēḫur ‚Zeit der Nacht‘ oder – von der -o-Wurzel *gʷow ‚Rind‘ – *gʷów-s ‚des Rindes‘ in vedisch gós). Die Erhaltung dieses Deklinationsklassentyps bei den latein. -i-Stämmen ist eine auffällige Besonderheit.
  7. Im Luwischen ist dieses *w auch in die 1.Sg. übertragen; der Singular-Endungssatz der mi-Konjugation lautet also hethit. 1.Sg. -mi, 2.Sg. -ši, 3.Sg. -zi, aber luw. 1.Sg. -wi, 2.Sg. -si, 3.Sg. -ti.
  8. Im Griech. bewirken Aspiraten in Endungen keine Hauchdissimilation (z. B. 2.Pl. Aor. Med. ἔϑεσϑε éthesthe ‚ihr setztet für euch‘ *(h₁)é *dʰh₁-(s)dʰwé). Das -ϑη-Element im Aor. und Fut. Passiv löst jedoch Hauchdissimilation aus, so dass auch deshalb angenommen werden kann, dass es sich nicht um eine Endung, sondern um eine verbale Zusammenrückung handelt.
  9. Das (unsicher belegte) Präteritum des germanischen -yo-Verbs mit -o-stufiger Wurzel wird ohne das -yo-Suffix gebildet. Hier läge einer der Fälle vor, in denen der -ō-Vokalismus der germanischen VI. Verbalklasse (z. B. dt. fuhr, schuf oder engl. shook ‚schüttelte‘, took ‚nahm‘) aus *h₂é-h₂orh₃ > urgerman. *ōr lautgesetzlich entstanden ist. Im Erhaltungsfalle hieße das Verb heute *ären mit dem Präteritum *ur (wie schwören schwor, eigentlich *schwären *schwur aus *swor-yó- oder heben hob, eigentlich *häppen *huf aus *kap-yó- = lat. capiō ‚ergreife‘). Ungeklärt ist das althochdt. Präteritum 3.Pl. ierun ‚sie pflügten‘, das mit urgerman. *-ē²- gebildet ist, also eindeutig auf das frühere Vorhandensein einer Geminate im Präsensstamm (urgerman. *arr-ja-) schließen lässt. Die Geminate geht vielleicht auf die aus dem Hethit. bekannte archaische Bildeweise Sg. *h₂ér-h₂orh₃, Pl. *h₂r-h₂rh₃-´ zurück. Die Pluralform vermag vor vokalisch anlautener Endung einen Übergangslaut (also *h₂r-h₂rh₃-[r]-´) zu erzeugen, der festgeworden und ins gesamte Paradigma übertragen worden ist und so zu einem Präsensstamm urgerman. *arr-ja- führte, der zwar die Bildung des Präteritums mit *-ē²- nach sich zog, dann aber wieder aufgegeben wurde.
    • né-pōt-s ‚nicht der Herr‘ = ‚wie der Herr‘, vielleicht auf das ähnliche Aussehen naher Verwandter hinweisend, oder semantisch parallel zu hierogl.-luw. nimuwiza ‚Kind‘ zu muwa ‚Kraft‘ (Etymologie unsicher), eigentlich das, was noch keine Kraft hat?
  10. Verbessernde bzw. verdeutlichende Entwicklungen im Notierungsbereich könnten sein: Notierung eines „starken“ Teilstamms stets ohne Bindestrich, eines „schwachen“ stets mit; Bezeichnung eines Suffixes oder Infixes durch doppelten Bindestrich; Angabe einer Nullstufe durch eine ausdrücklich bezeichnete Leerstelle. Die Notierung wäre dann „*h₃éw= i -s *h₁ék̑= w-o- es + *kʷe“. NB: Der Nom. Sg. lat. ovis ‚Schaf‘ hätte dann als Rekonstrukt *h₃éw= i -s, der Gen. Sg. lat. ovis ‚des Schafes‘ aber *h₃éw= i- s. Die Notierungsweise gibt von der rekonstruktionellen Aussage und Information her mit einfachsten Mitteln deutliche Hinweise auf nominale (und verbale) Stammbildungscharakteristika.

Literatur

  • David W. Anthony, Don Ringe: The Indo-European Homeland from Linguistic and Archaeological Perspectives. In: Annual Review of Linguistics. Heft 1 (2015), S. 199–219 (online). (englisch)
  • Robert S.P. Beekes: Vergelijkende taalwetenschap. Een inleiding in de vergelijkende Indo-europese taalwetenschap. Het Spectrum, Amsterdam 1990. (niederländisch)
    • englisch: Comparative Indo-European Linguistics. An Introduction. 2. Auflage. Übersetzt von UvA Vertalers / Paul Gabriner. John Benjamins, Amsterdam / Philadelphia 2011 (1. Auflage 1995).
  • Wilhelm Braune, bearb. v. Hans Eggers: Althochdeutsche Grammatik. 13. Auflage. Niemeyer, Tübingen 1975, DNB 750227532.
  • Andrew Byrd: The Indo-European Syllable. Brill, Leiden 2015. (englisch)
  • James Clackson: Indo-European Linguistics. An Introduction. Cambridge University Press, Cambridge 2007, ISBN 978-0-521-65313-8. (englisch)
  • Will Chang, Chundra Cathcart, David Hall, Andrew Garrett: Ancestry-constrained phylogenetic analysis supports the Indo-European steppe hypothesis. In: Language. Band 91, Heft 1 (2015), S. 194–244 (online). (englisch)
  • Benjamin W. Fortson IV: Indo-European Language and Culture. An Introduction. 2. Auflage. Blackwell Publishing, Malden 2010, ISBN 978-1-4051-0316-9. (englisch)
  • Matthias Fritz: Der Dual im Indogermanischen. Universitätsverlag Winter, Heidelberg 2011.
  • Tamaz V. Gamkrelidze, Vjačeslav V. Ivanov: Indoevropjskij jazyk i indoevropejcy. Rekonstrukcija i istoriko-tipologieskij analiz prajazyka i protokultury. Universitätsverlag Tiflis, Tiflis 1984. (russisch)
    • englisch: Indo-European and the Indo-Europeans. A Reconstruction and Historical Analysis of a Proto-Language and a Proto-Culture. 2 Bände. Mouton de Gruyter, Berlin/ New York 1994–1995.
  • Karl Hoffmann: Aufsätze zur Indogermanistik. Band 1, Wiesbaden 1975, ISBN 3-920153-47-2, Band 2, Wiesbaden 1976, ISBN 3-920153-51-0.
  • Jay H. Jasanoff: Hittite and the Indo-European Verb. Oxford University Press, 2003, ISBN 0-19-928198-X. (englisch)
  • Ernst Kausen: Die indogermanischen Sprachen. Von der Vorgeschichte bis zur Gegenwart. Helmut Buske Verlag, Hamburg 2012, ISBN 978-3-87548-612-4.
  • Alwin Kloekhorst: Etymological Dictionary of the Hittite Inherited Lexicon. Brill, Leiden/ Boston, 2008, ISBN 978-90-04-16092-7. (englisch)
  • Guus Kroonen: Etymological Dictionary of Proto-Germanic. Brill, Leiden/ Boston 2013, ISBN 978-90-04-18340-7. (englisch)
  • Winfred P. Lehmann: Theoretical Bases of Indo-European Linguistics. Routledge, London/ New York 1993, ISBN 0-415-13850-7. (englisch)
  • Arthur A. Macdonell: A Vedic Grammar for Students. 11. Auflage. Oxford University Press, 1987, ISBN 0-19-560231-5 (englisch)
  • Robert Mailhammer: The Germanic Strong Verbs, Foundations and Development of a New System. (Trends in Linguistics, Studies and Monographs 183). Mouton de Gruyter, Berlin/ New York 2007, ISBN 978-3-11-019957-4.
  • J. P. Mallory, D. Q. Adams: The Oxford Introduction to Proto-Indo-European and the Proto-Indo-European World. Oxford University Press, Oxford/ New York 2006. (englisch)
  • Michael Meier-Brügger: Indogermanische Sprachwissenschaft. 9. Auflage. de Gruyter, Berlin 2010, ISBN 978-3-11-025143-2.
  • Holger Pedersen: „Zur Frage nach der Urverwandtschaft des Indoeuropäischen mit dem Ugrofinnischen“. In: Mémoires de la Société finno-ugrienne. 67, 1933, OCLC 177284500, S. 308–325.
  • Holger Pedersen: Hittitisch und die anderen indo-europäischen Sprachen. (Danske Videnskabernes Selskab, historisk-filologiske Meddelelser, 25/2). Munksgaard, Copenhagen 1938.
  • Asya Pereltsvaig, Martin W. Lewis: The Indo-European Controversy. Facts and Fallacies in Historical Linguistics. Cambridge University Press, Cambridge 2015. (englisch)
  • Julius Pokorny: Indogermanisches etymologisches Wörterbuch. Francke Verlag, Bern/ München, Band I, 1959, Band II 1969, DNB 457827068.
  • Eduard Prokosch: A comparative Germanic Grammar. Linguistic society of America, University of Pennsylvania, Philadelphia 1939. (Neuauflage: Tiger Xenophon 2009, ISBN 978-1-904799-42-9)
  • Don Ringe: From Proto-Indo-European to Proto-Germanic. Oxford University Press, Oxford/ New York 2006, ISBN 0-19-928413-X. (englisch)
  • Helmut Rix: Historische Grammatik des Griechischen. Laut- und Formenlehre. Darmstadt 1976, ISBN 3-534-03840-1.
  • Helmut Rix, bearb. v. M. Kümmel, Th. Zehnder, R. Lipp u. B. Schirmer: Lexikon der indogermanischen Verben. Die Wurzeln und ihre Primärstammbildungen (LIV). 2. Auflage. Wiesbaden 2001, ISBN 3-89500-219-4.
  • Elmar Seebold: Vergleichendes und Etymologisches Wörterbuch der germanischen starken Verben. Mouton, Den Haag 1970, DNB 458930229.
  • Andrew L. Sihler: New Comparative Grammar of Greek and Latin. Oxford University Press, Oxford/ New York 1995, ISBN 0-19-508345-8.
  • Oswald J.L. Szemerényi: Einführung in die vergleichende Sprachwissenschaft. 4., durchgesehene Auflage. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1990, ISBN 3-534-04216-6.
  • Eva Tichy: Indogermanistisches Grundwissen. Hempen Verlag, Bremen 2000, ISBN 3-934106-14-5.
  • Karl Verner: Eine Ausnahme der Ersten Lautverschiebung. In: Zeitschrift für vergleichende Sprachforschung. 23, 1877, S. 97–130.
  • Mariona Vernet i Pons: La Segona Conjugació verbal llatina : Estudi etimològic i comparatiu sobre l'origen protoindoeuropeu de la formació dels seus temes verbals. Barcelona 2008, ISBN 978-84-477-1030-0 (katalanisch)
  • Harald Wiese: Eine Zeitreise zu den Ursprüngen unserer Sprache. Wie die Indogermanistik unsere Wörter erklärt. Logos Verlag, Berlin 2007, ISBN 978-3-8325-1601-7.
  • Dagmar S. Wodtko, Britta S. Irslinger, Carolin Schneider: Nomina im Indogermanischen Lexikon. (Indogermanische Bibliothek. Reihe 2: Wörterbücher). Heidelberg 2008, ISBN 978-3-8253-5359-9.
  • Ingo Zahn: Vergleichende indogermanische Formenlehre. Verlag Dr. Kovač, Hamburg 2014, ISBN 978-3-8300-7648-3.

Einzelnachweise

  1. J. P. Mallory, D. Q. Adams: The Oxford Introduction to Proto-Indo-European and the Proto-Indo-European World. Oxford University Press, Oxford 2006, ISBN 0-19-929668-5.
  2. Fortson, 2.58f
  3. Fortson, 2.73f
  4. nach Fortson, 7.14
  5. Der zweitjüngste Zeitabschnitt des Holozäns in Nordwesteuropa ist das Subboreal (3710 bis 450 v.Chr.), es wird auch als Späte Wärmezeit oder Eichenmischwald-Erlenzeit bezeichnet.
  6. Meier-Brügger E507
  7. Winfred P. Lehmann: Proto-Indo-European Syntax. Univ. of Texas Press., Austin 1974, ISBN 0-292-76419-7.
  8. Meier-Brügger, Kap. II; Fortson Kap. III
  9. Lehmann 1966, 5.2.2 letzter Absatz
  10. Kroonen 2013, S. 383.
  11. vgl. Euler 2009, S. 79.
  12. Donald Ringe: From Proto-Indo-European to Proto-Germanic. A Linguistic History of English. v. 1. Oxford University Press, Oxford 2006, ISBN 0-19-928413-X, S. 60.
  13. Meier-Brügger F214
  14. Damaris Nübling u. a.: Historische Sprachwissenschaft des Deutschen. (= Narr Studienbücher). Tübingen 2006, ISBN 3-8233-6212-7, 9.1.2 (Tabelle 24).
  15. Studien zur Morphophonemik der Indogermanischen Grundsprache. S. 136 ff.
  16. Meier-Brügger F 304 (7. Aufl.)
  17. Wilhelm Braune, Frank Heidermanns (Bearb.): Gotische Grammatik. 20. Auflage. Max Niemeyer, Tübingen 2004, S. 142.
  18. Formen aus:
    E. V. Gordon, A. R. Taylor: An Introduction to Old Norse. 2. Auflage. Clarendon Press, Oxford, S. 293.
  19. nach Karl Brunner: Altenglische Grammatik. 3. Auflage. Max Niemeyer, Tübingen 1965, S. 259.
  20. Der Gen. Du. der 1. Person (*ugkara) und der Nom. Du. der 2. Person (*jut) sind nicht belegt, können aber rekonstruiert werden.
    vgl.: Braune / Heidermanns, 2004, S. 132f.
  21. vgl.: Braune / Heidermanns, 2004, S. 132f.
  22. Das „g“ in den Buchstabenverbindungen „gk“ und „gq“ bezeichnet einen velaren Nasal [ŋ]
  23. Wilhelm Braune, Ingo Reiffenstein: Althochdeutsche Grammatik I. Laut- und Formenlehre. 15. Auflage. Max Niemeyer, Tübingen 2004, S. 241.
  24. Braune / Reiffenstein, 2004, S. 182.
  25. Die altisländischen Pluralpronomina werden zur höflichen Anrede, bzw. in hohem Stil verwendet.
    vgl. dazu: Stefán Einarsson: Icelandic. Johns Hopkins University Press, Baltimore / London 1945, reprint: 1994, S. 68 u. 122
  26. Fortson Kap. 17
  27. Meier-Brügger F303
  28. Thema 12 Historische Morphologie: Das Substantiv. Grammatische Kategorien. Wortbildung. Paradigma. germanistik.gradina.net (Memento vom 19. Oktober 2014 im Internet Archive)
  29. Fortson 2004, 2. Auflage. 2010, S. 103: »The perfect … endings … closely resemble those of the middle«.
  30. Meier-Brügger, F200
  31. Jasanoff 2003 ausführlich S. 7–17.
  32. Jasanoff 2003, S. 169.
  33. Fortson, 5.10
  34. Guus Kroonen: Etymological Dictionary of Proto-Germanic. Brill, Leiden/ Boston 2013, S. 31f.
  35. Hans J. Holm: Genealogische Verwandtschaft. In: Quantitative Linguistik. Ein internationales Handbuch. (= Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft. Band 27). de Gruyter, Berlin 2005, Kapitel 45.
  36. Hans J. Holm: The New Arboretum of Indo-European »Trees«. Can New Algorithms Reveal the Phylogeny and Even Prehistory of IE? In: Journal of Quantitative Linguistics. 14(2), 2007, S. 167–214.
  37. Bernard C. Comrie: Language Universals and Linguistic Typology. Syntax and Morphology. University of Chicago Press, Chicago 1989, ISBN 0-226-11433-3. (englisch)
  38. Trask, 8.8
  39. Steinzeitsprache im Videospiel, FAZ.de, Abgerufen am 22. Juni 2016

Die Informationen dieses Artikels entstammen hauptsächlich d​en unter Literatur genannten Werken v​on Fortson, Hoffmann, Jasanoff, Kloekhorst, Lehmann, Mailhammer, Meier-Brügger, Ringe, Rix, Seebold u​nd Sihler.

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