Antijudaismus im Neuen Testament
Als Antijudaismus im Neuen Testament (NT) werden negative Aussagen über das Volk Israel oder „die Juden“ im NT zusammengefasst (zum Beispiel Mt 27,25 ; Joh 8,44 ; 1 Thess 2,15 ). Diese Stellen, ihre Entstehung, Absicht und Funktion wurden im 20. Jahrhundert zum besonderen Forschungsthema. Diskutiert wird, ob und wieweit sie das Judentum kollektiv ablehnen und prinzipielle Judenfeindlichkeit ausdrücken.
Heidenchristen begründeten seit dem 2. Jahrhundert mit solchen antijüdischen NT-Aussagen die Substitutionstheologie, die den Heilsverlust aller ungetauften Juden behauptete. Kirchen, christliche Regierungen und Bevölkerungsmehrheiten rechtfertigten damit die Diskriminierung, Ausgrenzung und Verfolgung jüdischer Minderheiten. Der christliche Antijudaismus bereitete den neuzeitlichen Antisemitismus vor; beide ermöglichten den Holocaust an den europäischen Juden mit.
Aufgrund dieser Wirkungsgeschichte werden antijüdische Stellen des NT seit 1945 verstärkt aus ihrer historischen Entstehungssituation erklärt. Betont wird, dass die meisten NT-Autoren selbst Juden waren, sich als Teil des erwählten Gottesvolks verstanden und sich eben wegen der gemeinsamen Glaubenstradition von anderen, damals herrschenden Richtungen des Judentums abgrenzten. Den situationsbedingten negativen Aussagen wird die positive Grundaussage des NT zum ungekündigten Israelbund als unaufgebbare Voraussetzung der christlichen Heilsbotschaft gegenübergestellt (zum Beispiel Joh 4,22 ; Röm 11,2 ).
Neutestamentlicher Befund
Paulusbriefe
In 1 Thess 2,15f findet sich der Vorwurf des Prophetenmords. Er ist mit antijüdischen Stereotypen verbunden, die aus antiken Ächtungstexten bekannt waren und sich auch im Tanach niederschlugen, zum Beispiel Est 3,8ff . Paulus begründet diese Stereotype mit dem Hindernis, das die Juden der Verkündigung von Jesu Wort entgegenstellen:
„Denn, Brüder, ihr seid Nachahmer der Gemeinden Gottes geworden, die in Judäa sind in Christus Jesus, weil auch ihr dasselbe von den eigenen Landsleuten erlitten habt, wie auch sie von den Juden, die sowohl den Herrn Jesus als auch die Propheten getötet und uns verfolgt haben und Gott nicht gefallen und allen Menschen feindlich sind, indem sie – um ihr Sündenmaß stets voll zu machen – uns wehren, zu den Nationen zu reden, damit die errettet werden; aber der Zorn ist endgültig über sie gekommen.“
Das Gleichnis von den Weingärtnern
Der Prophetenmord kommt in den synoptischen Evangelien auch in dem Gleichnis von den Weingärtnern (Mt 21,33–46 ; Mk 12,1–12 ; Lk 20,9–19 ) vor. Das Gleichnis wird bereits im Text als Mordanschuldigung erklärt und wird unmittelbar von der Forderung Jesu gefolgt, die Verse des Psalters „Der Stein, den die Bauleute verworfen haben, ist zum Eckstein geworden. Vom Herrn ist das geschehen und ist ein Wunder vor unseren Augen“ (Ps 118,22–23 ) zu deuten.
Das theologische Motiv der „Verwerfung“ des ganzen Gottesvolks wurde aus den Schlussworten des Gleichnisses abgeleitet:
„Sie aber, die Weingärtner, sprachen untereinander: ‚Dies ist der Erbe; kommt, lasst uns ihn töten, so wird das Erbe unser sein!‘ Und sie nahmen ihn und töteten ihn und warfen ihn hinaus vor den Weinberg. – Was wird nun der Herr des Weinbergs tun? Er wird kommen und die Weingärtner umbringen und den Weinberg andern geben.“
was als Verlust der Erwählung Israels und deren Übergabe an das neue Gottesvolk gedeutet wurde, denn der Weinberg wird schon im Alten Testament oft als Metapher für das erwählte Volk in seiner Beziehung zu Gott verwendet.
Exegeten haben den Passus als Ankündigung „des Gerichts über Israel“ und des „Übergang[s] der Verheißung an andere“ gedeutet und in dieselbe Reihe mit analogen Gerichtsaussagen (im Matthäusevangelium 8,11ff. ; 12,41f. ; 19,28 ) gestellt. Solche Aussagen seien gegen die ganze jüdische Volksgemeinde gerichtet, nicht nur gegen seine Führer.[2]
Aus einem nicht-theologischen Gesichtspunkt heraus hat René Girard die Ausstoßung in dem Gleichnis von den Weingärtnern und des Ps 118 mit dem „Stein des Anstoßes“ in Jes 8,14-15 ; 28,16–17 und dem „Ärgernis“ der Evangelien in Verbindung gebracht:[3]
Was als Verwerfung des jüdischen Volkes oder seiner religiösen Führer gilt, ist nach Auffassung Girards nichts anderes als die so oft in den Evangelien und im Alten Testament vorkommende Offenbarung des blutigen Charakters der opferkultischen Religion. Dem ewigen Hindernis (skandalon) der Idolatrie für das Volk Israel folgt die Verurteilung des Opferkults durch die Propheten und die Offenbarung des Opfermechanismus durch Jesus, der die Rolle des Opfers unter aller Augen übernimmt: Der offengelegte Mechanismus wird zum „Ärgernis“ (skandalon), weil er nicht mehr funktioniert und nur noch Blutvergießen hervorbringt. In diesem Sinne seien aber die abschließenden Verse des Passus „Und wer auf diesen Stein fällt, der wird zerschellen; auf wen aber er fällt, den wird er zermahlen“ (Mt 21,44 || Lk 20,18 ) nicht als Verwünschung, sondern zusammen mit Mt 11,6 || Lk 7,23 zu lesen: „Und selig ist, der nicht Ärgernis nimmt an mir“.
Der Blutfluch
Im Matthäusevangelium folgt auf die Selbstentlastung des Pilatus von der Schuld am Tod Jesu die Selbstbelastung der Volksmenge: „Und das ganze Volk antwortete und sprach: ‚Sein Blut komme über uns und unsere Kinder!‘“ (Mt 27,25) Wie in der Antwort, die im Matthäusevangelium dem Gleichnis von den Weingärtnern folgt (Mt 21,41 ), findet sich auch in diesem Text eine Selbstverurteilung.
Auf alle Nachkommen Israels bezogen, wanderte der Satz als festes Stereotyp in die Adversus-Iudaeos-Literatur der Kirchenväter ein. Er prägte die christliche Volksfrömmigkeit und begleitete seit dem 4. Jahrhundert die Ausgrenzung und blutige Verfolgung jüdischer Gemeinden im christianisierten Europa. Die oft im Kontext kirchlicher Passionsspiele ausgelösten Pogrome wurden dann als Erfüllung des „Fluchs“ ausgegeben. Damit wurde die Schuld des Christentums am Leiden der Juden auf diese zurückprojiziert.
Heutige Exegeten wenden sich unter dem Eindruck dieser Wirkungsgeschichte dem Text zu. Einige haben in diesem Passus die Absicht des Matthäus gesehen, die „eigentlichen Schuldigen“ des Mords, den Pilatus und die „Hohenpriester und Ältesten“, anzuklagen, indem er zeigte, wie diese die Verantwortung dem jüdischen Volk aufbürdeten.[4] Andere haben betont, dass in dem Passus der Evangelist die „todbringende Verwerfung des Unschuldigen“ dazu benutzt, um ebendiese Unschuld und nicht die Schuld des Volkes hervorzuheben. Die Schuldübernahme diene aber auch dazu, die heilgeschichtliche Wende vom alten zum neuen Gottesvolk zu bezeichnen.[5] Klaus Haacker zufolge ist die Textstelle im Matthäusevangelium nicht als Fluch wegen eines Justizmords zu deuten: Der Satz betont nur die Überzeugung der Meute, dass Jesus den Tod verdient habe. Das Einbeziehen der „Kinder“ in die Selbstverfluchung bringt eine traditionelle Auffassung zum Ausdruck, nach der ungesühntes Unrecht Auslöser für Unheil in der Folgegeneration ist.[6]
Die Weherufe gegen Schriftgelehrte und Pharisäer
Die Pharisäer erscheinen in den Evangelien meist als einheitliche Gruppe und Vertreter einer streng orthodoxen Gesetzesobservanz. Sie treten oft zusammen mit den „Schriftgelehrten“ als Gegner Jesu auf, die Anstoß an seiner Lehre nehmen. In Streitgesprächen nehmen sie die Rolle der spitzfindigen Frager ein, die Jesus in die Enge treiben wollen, um einen Grund für seine Verurteilung zu finden. Gleichwohl bewahrte das NT die historische Nähe der Pharisäer zu Jesus und den ersten Christen: Gerade in Jerusalem erscheinen sie als seine Gesprächspartner, die seiner Toraauslegung zustimmten (Mk 12,28–34 ) und der damals berühmte Schriftlehrer und Rabban Gamaliel trat nach Apg 5,34–39 im Sanhedrin als Fürsprecher der Urchristen auf.[7]
Die umgangssprachliche Gleichsetzung von Pharisäern mit „Heuchlern“ geht auf die sogenannten Weherufe gegen die Pharisäer in Mt 23,13–36 ; Lk 11,38–52 zurück. Sie werden mit der Formel
„Weh euch, Schriftgelehrte und Pharisäer, ihr Heuchler …“
eingeleitet und münden in den Vorwurf des Prophetenmords (Mt 23,29–31 ):
„Denn ihr baut die Gräber der Propheten und schmückt die Grabmäler der Gerechten und sagt: Wären wir in den Tagen unserer Väter gewesen, so würden wir uns nicht an dem Blut der Propheten schuldig gemacht haben. So gebt ihr euch selbst Zeugnis, daß ihr Söhne derer seid, welche die Propheten ermordet haben.“
Diese Kritik folgt der Opferkritik der Propheten, z. B. Jes 1,11–16 ; Jer 6,20 ; Hos 5,6 ; 6,6 ; 9,11–13 ; Am 5,21–25 . R. Girard zufolge[8] klagt Jesus keine bestimmte Gruppe des jüdischen Volks an, sondern das religiöse Blutvergießen, das der ganzen Menschheit gemeinsam ist:
- Mt 23,35: „ … alles gerechte Blut, das auf der Erde vergossen wurde … “
- Lk 11,50: „ … das Blut aller Propheten, das von Grundlegung der Welt an vergossen worden ist … “
Nach Dagmar Henze[9] dienten die Pharisäer den Evangelisten hier nur als Hintergrundfolie, um Verhaltensweisen abzuwehren, die sie unter den Christen in den eigenen Gemeinden vorfanden.
Johannesevangelium
Die Verwendung des Gesamtbegriffs „die Juden“ im Johannesevangelium, um die Gegner Jesu zu bezeichnen, die seine Offenbarung verweigern, wird in der neutestamentlichen historisch-kritischen Exegese anhand der Trennung christlicher Gemeinden Kleinasiens – aus deren Tradition das Johannesevangelium stammt – von dem Judentum erklärt. Darin komme keine generelle Verurteilung des Judentums zum Vorschein, sondern eine aktuelle Situation.
Eine der Textstellen des Johannesevangeliums, denen ausdrücklicher Antisemitismus unterstellt wird, ist eine Rede, in der Jesus die Mordabsichten seiner Gegner anprangert:
„Warum versteht ihr meine Sprache nicht? Weil ihr mein Wort nicht hören könnt. Ihr seid aus dem Vater, dem Teufel, und die Begierden eures Vaters wollt ihr tun. Jener war ein Menschenmörder von Anfang an und stand nicht in der Wahrheit, weil keine Wahrheit in ihm ist. Wenn er die Lüge redet, so redet er aus seinem Eigenen, denn er ist ein Lügner und der Vater derselben. Weil ich aber die Wahrheit sage, glaubt ihr mir nicht.“
Selbst wenn Jesus Israels Erwählung zum Volk Gottes ausdrücklich betont (Joh 8,37 ) – und auch an anderen Stellen des Johannesevangeliums die Vorrangstellung des jüdischen Glaubens bekräftigt wird (z. B. Joh 4, 22) –, scheint der Satz das Judentum als Satansbrut zu verdammen und als teuflischen Gegenspieler Jesu zu fixieren. Diese widersprüchliche Lesart erübrigt sich in der Interpretation des Textes als Hinweis auf die Verbindung zwischen Mord, Lüge und Satan, die durch René Girard vorgeschlagen worden ist.[10]
Apostelgeschichte
Einige Texte des Neuen Testaments werden besonders oft als antijüdisch eingestuft. In diesen Texten kommt ein Bündel von Motiven zum Ausdruck, die sich um den Prophetenmord und um die kollektive Schuld an diesem Mord gruppieren. Die Themen, die dort vorkommen, sind außerhalb der biblischen Exegese und der christlichen Theologie selten Objekt der Forschung gewesen und manchmal als Anzeichen eines dem Christentum innewohnenden Antisemitismus gedeutet worden.
In einigen NT-Texten, in denen dem Volk Israel eine Kollektivschuld am Tod Jesu zugewiesen wird, wird dieser Tod in die innerjüdische Tradition des Prophetenmords eingeordnet. Diese war im Tanach als Bußpredigt von Juden an andere Juden bereits seit Jahrhunderten bekannt (z. B. 1 Kön 19,10 ; Jer 2,30 ; Neh 9,26 ; Esra 9,11 ). Die Adressaten solcher Schuldzuweisungen sind das jüdische Volk (1Thess 2,15f), das Synedrium (4,10 ; 5,30 ; 7,52 ) und Jerusalems Einwohner (Apg 2,23.36 ; 3,13–15 ; 13,27–29 ), die zugleich als Zeugen des Unrechts beansprucht werden (Apg 2,36 ; 4,10 ).
In allen Passionsberichten wird jedoch die Einmütigkeit aller am Mord Jesu Beteiligten – von der politischen Führung bis zum Volk und Jesu Gefolgschaft selbst – betont. In 1 Kor 2,7f wird die Verantwortung am Tod Jesu den „Herrschern dieser Welt“ angelastet, hinter denen Satan stehe. Dies kann als Hintergrundfolie für den „Triumph des Kreuzes“ (Kol 2,14f ) betrachtet werden.
Forschung seit 1945
Angesichts der nachhaltigen Wirkungsgeschichte des christlich motivierten Antijudaismus hat in der christlichen Exegese und Theologie der letzten Jahrzehnte ein tiefgreifendes Umdenken eingesetzt. Jahrhundertelang eingeübte antijudaistische Vorurteile beim Auslegen des Neuen Testament werden als hinfällig betrachtet: Verstärkt wird darauf Wert gelegt, den ursprünglichen Sinn und Kontext der Aussagen im Neuen Testament, die als judenfeindlich wahrgenommen wurden, freizulegen und sie gegebenenfalls theologisch zu kritisieren.
Das Werk von Jules Isaac
Zum tiefgreifenden Umdenken innerhalb der christlichen Kirchen – vor allem der katholischen – nach dem Zweiten Weltkrieg hat das Werk des französischen Historikers Jules Isaac einen wichtigen Beitrag geleistet. In seinem Buch Jésus et Israël analysierte Isaac die evangelischen Texte und formulierte seine Schlussfolgerungen in 21 Argumente, die zusammenfassend ausschließen, dass im Verhältnis zwischen Jesus und seinem Volk jeglicher Widerspruch, Ablehnung, Verurteilung bestanden habe. In der exegetischen Betrachtung dieses Verhältnisses gehe „die fließende, verschwimmende Tradition ohne dogmatischen oder ‚normativen‘ Charakter, stets über den Wortlaut des Evangeliums hinaus, interpretiert ihn willkürlich und tendenziös. Sie zerfällt in eine Reihe von Mythen, in denen sich einzelne Wahrheiten mit einer Menge von Unwahrheiten vermischen.“[11]
Der interreligiöse Dialog
Das eingeleitete Umdenken hat dazu beigetragen, die Voraussetzungen für die Erneuerung des Dialogs zwischen Christen und Juden zu schaffen. Im Bereich der Evangelischen Kirche in Deutschland intensivierte sich dieser Dialog seit den Kirchentagen der 1960er Jahre: Während christliche Historiker und Theologen die neutestamentliche Verkündigung stärker aus dem Alten – heute auch genannt: Ersten – Testament erklärten, setzte auch auf jüdischer Seite eine „Heimholung“ des Rabbis (Tora-Lehrers) Jesus von Nazaret ins Judentum ein.
Während auf katholischer Seite das Zweite Vatikanische Konzil 1965 eine neue Hinwendung zu Israel und eine Auseinandersetzung mit dem christlichen Schuldanteil am Holocaust begründete, setzte auf evangelischer Seite der Rheinische Synodalbeschluss von 1980 einen Meilenstein für die Revision und Präzisierung kirchlicher Lehraussagen. Diesen Prozess haben inzwischen eine Reihe von evangelischen Landeskirchen in Deutschland sowie die Evangelische Kirche in Deutschland nachvollzogen.[12] Kernaussage ist das Bekenntnis zum „ungekündigten Bund“: Israel sei und bleibe das erwählte Volk Gottes, das als solches die Wurzel der Kirche sei. Nur auf diesem Grund sei die Botschaft von Jesus Christus Gnade für alle Völker. Die Auswirkungen dieser theologischen Klärung auf sämtliche kirchliche Aufgabenbereiche wie auch den staatlichen Religionsunterricht und den allgemeinen Religionsdialog sind noch nicht absehbar.
Der anthropologische Ansatz René Girards
Der katholische Literaturwissenschaftler und Anthropologe René Girard hat in vielen seiner Bücher die alt- und neutestamentlichen Texte zum Objekt seiner anthropologischen Forschung gemacht. In seiner Arbeit hat Girard die Aspekte der biblischen Offenbarung thematisiert, die von der modernen Forschung entweder nicht betrachtet oder explizit verworfen werden: die Figur des Satans, den kollektiven und einträchtigen Mord, die kollektive Schuld an dem Mord. Nach Girard hat sich eine traditionelle Lesart der entsprechenden Texte eingebürgert, die dem Antijudaismus ausgeliefert ist, weil sie das eigentliche anthropologische Objekt der biblischen Lehre ausblendet.
Natürlich könne man die neutestamentlichen Schuldzuweisungen des Antijudaismus verdächtigen, aber nur, solange man sie voneinander getrennt liest und die Offenlegung des Sündenbockmechanismus als Leitfaden aller dieser Texte nicht wahrnimmt. Doch dabei handle es sich um einen verhängnisvollen Teufelskreis:
„Wenn die wahre Bedeutung dieser Texte noch immer verkannt wird, so liegt das gerade an der antijüdischen Deutung, die man ihnen unterstellt … Die Evangelien sind nicht judenfeindlich, doch solange man die Bedeutung des grundlegenden Mordes in den Texten, aus denen sich der christliche Antisemitismus nährt, nicht allgemein anerkannt ist, werden sich viele Christen auch weiterhin genötigt fühlen, zwischen einem antisemitischen Evangelium und dem Evangelium überhaupt zu wählen. Man darf nicht den Evangelien die verengte antijüdische Lektüre vorwerfen, der man sie unterzieht. Die Ankläger der Evangelien halten es für zweifelsfrei, daß die traditionelle Lesart die richtige und einzig mögliche ist. Ihr negativer Konservativismus wäscht die Christen völlig von ihrem eigenen Antisemitismus rein, der wohlgemerkt höchst real ist.“
Nur wenn man die antijudaistische „traditionelle Lesart“ aufgibt – so Girard –, kann man den wahren Sinn des Opfers Jesu wahrnehmen und so die unvermeidbar universelle Tragweite aller biblischen Mordanschuldigung erkennen: Die biblisch-christliche Offenbarung hätte nicht den Wert, den man ihr anerkennt, wäre sie gegen eine bestimmte Gruppe von Menschen gerichtet gewesen.
Siehe auch
Literatur
- Ingo Broer: Antijudaismus im Neuen Testament? Versuch einer Annäherung anhand von zwei Texten (1 Thess 2,14 und Mt 27,24f.). In: Ingo Broer: Hermeneutik in Geschichte: Fallstudien. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2014, ISBN 3-8471-0277-X, S. 169–202
- Zsolt Keller: Der Blutruf (Mt 27,25). Eine schweizerische Wirkungsgeschichte. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2006, ISBN 978-3-525-55328-2.
- Gerald Sigal: Anti-Judaism in the New Testament. Xlibris, 2004, ISBN 1-4134-3306-5
- Rainer Kampling: „Nun steht aber diese Sache im Evangelium...“. Zur Frage nach den Anfängen des christlichen Antijudaismus. 2. Auflage, Schöningh, Paderborn 2003, ISBN 3-506-74253-1.
- Klaus Haacker: Versöhnung mit Israel. Exegetische Beiträge. Neukirchener Verlag, Neukirchen-Vluyn 2002, ISBN 3-7887-1836-6.
- William R. Farmer (Hrsg.): Anti-Judaism and the Gospels. Trinity Press International, 1999, ISBN 1-56338-270-9
- John Dominic Crossan: Wer tötete Jesus? Die Ursprünge des christlichen Antisemitismus in den Evangelien. München 1999, ISBN 3-406-44553-5.
- Dagmar Henze, Claudia Janssen, Stefanie Müller, Beate Wehn: Antijudaismus im Neuen Testament? Grundlagen für die Arbeit mit biblischen Texten. Christian Kaiser, München 1997, ISBN 3-579-05149-0.
- Lillian C. Freudmann: Antisemitism in the New Testament. University Press of America, 1994, ISBN 0-8191-9294-5.
- Rainer Kampling: Neutestamentliche Texte als Bausteine der späteren Adversos-Judaeos-Literatur. In: Herbert Frohnhofen (Hrsg.): Christlicher Antijudaismus und jüdischer Antipaganismus: ihre Motive und Hintergründe in den ersten drei Jahrhunderten. Steinmann & Steinmann, Hamburg 1990, ISBN 3-927043-13-3, S. 121–138.
- Gerd Theißen: Aporien im Umgang mit den Antijudaismen des Neuen Testaments. In: Erhard Blum, Christian Macholz, Ekkehard W. Stegemann (Hrsg.): Die Hebräische Bibel und ihre zweifache Nachgeschichte. Festschrift für Rolf Rendtorff zum 65. Geburtstag. Neukirchener Verlag, Neukirchen-Vluyn 1990, ISBN 3-7887-1353-4, S. 535–553.
- Felix Porsch: „Ihr habt den Teufel zum Vater“ (Joh 8,44). Antijudaismus im Johannesevangelium? In: Bibel und Kirche 44 / 1989, S. 50–57.
- Rosemary Radford Ruether: Brudermord und Nächstenliebe. Die theologischen Wurzeln des Antisemitismus. (1978) Christian Kaiser, München 1987, ISBN 3-459-01131-9.
- Schalom Ben-Chorin: Antijüdische Elemente im Neuen Testament. In: Evangelische Theologie 40, 1980, S. 203–214.
- Reinhold Leistner: Antijudaismus im Johannesevangelium? Darstellung des Problems in der neueren Auslegungsgeschichte und Untersuchung der Leidensgeschichte. Peter Lang, Frankfurt am Main 1974, ISBN 3-261-00940-3
- Jules Isaac: Genesis des Antisemitismus. Vor und nach Christus. Europa Verlag, Wien 1969, DNB 457077727.
- Willehad Paul Eckert, Nathan Peter Levinson, Martin Stöhr (Hrsg.): Antijudaismus im Neuen Testament? Exegetische und systematische Beiträge. Christian Kaiser, München 1967, DNB 454586930.
Weblinks
- Sven Pernak: „Sein Blut komme über uns“: Das Neue Testament und der Antijudaismus in: talmud.de © 2004
- Thomas Breuer: Jesus verflucht einen Feigenbaum (Mk 11,12–14.20–25)
Einzelnachweise
- René Girard hat in Bezug auf die Frage „Was wird nun der Herr des Weinbergs tun?“ hervorgehoben, dass – anders als im Markus- und Lukasevangelium – in Mt 21,40–41 nicht Jesus, sondern das Volk die Antwort „Er wird jene Übeltäter übel umbringen, und den Weinberg wird er an andere Weingärtner verpachten“ gibt. R.Girard, Das Ende der Gewalt, S. 193–194. W. Wiefel, Das Evangelium nach Matthäus, S. 373, hat hier einen Verweis auf Davids Antwort an Nathan in 2 Sam 12,5–7 gesehen.
- Vgl. W. Wiefel, Das Evangelium nach Matthäus, 369ff und (dort zit.) G. Bornkamm/G. Barth/H.J. Held Überlieferung.
- In: Livre III; in Des choses cachée depuis la fondation du monde; das dritte Buch fehlt in der dt. Übersetzung Das Ende der Gewalt
- Theo C. de Kruijf: Antisemitismus: Im Neuen Testament in: Theologische Realenzyklopädie, Band III (1978), S. 126.
- W. Wiefel, Das Evangelium nach Matthäus, S. 471 und 474. Für die theologische Reflexion über dieses Thema und die Kritik am Begriff der „Selbstverfluchung“ siehe die dort angegebene Literatur.
- Siehe u. a. 1 Kön 22 ; 2 Kön 1 ; 9 ; Est 7,10 ; 9,6–14 .
- Von Rabbi Gamaliel überliefert der Talmud dieselbe Kritik an der Heuchelei, die die Evangelien Jesus in den Mund legen: „Lasst keine Schülerin und keinen Schüler (Jünger), die innerlich nicht das sind, was sie äußerlich sind, in das Lehrhaus eintreten.“ (Berakot 28a).
- R. Girard, Die Frage des Antisemitismus in den Evangelien, in: Die verkannte Stimme des Realen, S. 115
- D.Henze, Antijudaismus im Neuen Testament? Grundlagen für die Arbeit mit biblischen Texten
- Jesus offenbart in diesem Abschnitt den Sinn der Mordabsichten seiner Gegner. Die Prophetenmorde und der Mord an Abel der Synoptischen Evangelien kommen hier lediglich als Menschenmord vor, als Ergebnis der Lüge der opferkultischen Gewalt zum Vorschein, wenn man den „Menschenmörder von Anfang an“ mit dem Prinzip der heiligenden Gewalt identifiziert, wie jeder Hinweis auf Satan, der im Neuen Testament zu finden ist, nahelegt. Siehe dazu Der Teufel in der religiösen Reflexion der Gegenwart; R. Girard, Ich sah den Satan vom Himmel fallen wie einen Blitz.
- J. Isaac, Genesis des Antisemitismus, 14.
- Evangelische Kirche in Deutschland Kirchenamt: Christen und Juden : I - III ; die Studien der Evangelischen Kirche in Deutschland 1975-2000. Gütersloher Verlagshaus, 2002, ISBN 3-579-02374-8.
- R. Girard: Die verkannte Stimme des Realen; S. 127–128