Wojciech Jaruzelski
Wojciech Witold Jaruzelski [ˈvɔjtɕɛx ˈvʲitɔlt jaruˈzɛlskʲi] () (* 6. Juli 1923 in Kurów bei Lublin[1]; † 25. Mai 2014 in Warschau) war ein polnischer Politiker und Armeegeneral. Er war von 1981 bis 1989 Vorsitzender der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei, von 1981 bis 1985 Ministerpräsident der Volksrepublik Polen und von 1985 bis 1990 das Staatsoberhaupt von Polen (Staatsratsvorsitzender der Volksrepublik Polen vom 6. November 1985 bis 19. Juli 1989 und Staatspräsident vom 19. Juli 1989 bis 22. Dezember 1990).
Leben
Bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs
Jaruzelski stammte aus einer Familie des katholischen Kleinadels und wuchs in der Nähe von Białystok im heutigen Nordosten Polens auf. Seine Schulzeit verbrachte er in einem Warschauer Marianeninternat in Bielany. Nach dem deutschen Überfall auf Polen 1939 floh die Familie nach Litauen und lebte in Vinkšnupiai bei Vilkaviškis; im Juni 1941 wurde sie nach dem Einmarsch der Roten Armee von der sowjetischen Geheimpolizei NKWD ins Altaigebirge deportiert. Jaruzelski und sein Vater hatten Zwangsarbeit zu leisten. Während dieser Zwangsarbeit als Holzfäller im sibirischen Winter erlitt er eine Schneeblindheit, durch die die Hornhaut seiner Augen dauerhaft geschädigt wurde. Deshalb trug er später in der Öffentlichkeit meist eine dunkle Brille.[2] Im Juli 1943 schloss sich Jaruzelski der Berling-Armee in der Sowjetunion an und kämpfte im Zweiten Weltkrieg. Nach Kriegsende wurde er an der Polnischen Infanteriehochschule und an der Generalstabsakademie ausgebildet. Dort verpflichtete er sich auch als Zuträger des Militärgeheimdienstes.[2]
In der Volksrepublik Polen
Jaruzelski trat 1947 der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei (PZPR), der vormaligen Polnischen Kommunistischen Partei, bei. Jaruzelskis militärische Karriere förderte der Verteidigungsminister Konstantin Rokossowski, im Zweiten Weltkrieg Marschall der sowjetischen Streitkräfte.[3]
Gerade 33 Jahre alt, wurde Jaruzelski 1956 zum jüngsten polnischen General befördert. 1964 wurde er Mitglied des ZK der PZPR und 1968 schließlich Verteidigungsminister. Ebenfalls 1968 war er an der „Säuberung“ der polnischen Armee im Rahmen der antisemitischen Hetzkampagne Mieczysław Moczars sowie am Einmarsch der Staaten des Warschauer Pakts zur Beendigung des „Prager Frühlings“ führend beteiligt.[4]
Im Jahr 1981, als Lech Wałęsas Gewerkschaft Solidarność begann, nationale und internationale Bekanntheit zu erlangen, wurde Jaruzelski am 11. Februar Ministerpräsident Polens und am 18. Oktober, als Stanisław Kania nach Kritik an seiner Parteiführung während einer ZK-Tagung zurückgetreten war, dessen Nachfolger als Erster Sekretär der PZPR. Am 13. Dezember verhängte er das Kriegsrecht, um den wachsenden Einfluss der Solidarność zu brechen und weil diese für den 17. Dezember Massendemonstrationen geplant hatte.[5]
Allerdings misslang das Vorhaben Jaruzelskis, durch eine Politik der massiven Repression die Solidarność zu zerschlagen und innenpolitische Stabilität herzustellen.[6] Die Gewerkschaft wirkte im Untergrund weiter. Jaruzelski blieb bis zum 6. November 1985 Ministerpräsident Polens; danach folgte ihm Zbigniew Messner (Liste hier). In den Jahren von 1985 bis 1989 war er Staatsratsvorsitzender.
Nach einer Welle von Streiks sowie den Verhandlungen am Runden Tisch musste im April 1989 die Solidarność wieder anerkannt werden; sie gewann am 4. Juni die maximale Anzahl der ihr in den teilweise freien Wahlen zugestandenen Plätze. Aufgrund des am Runden Tisch erzielten Kompromisses mit der Opposition war Jaruzelski vom Juli 1989 bis zum Dezember 1990 Staatspräsident. Bei seiner Wahl am 19. Juli 1989 erhielt er lediglich eine Stimme mehr als die geforderte Mehrheit. Er drängte im April 1990 den sowjetischen Staats- und Parteichef Michail Gorbatschow mit Erfolg dazu, die sowjetische Täterschaft am Massaker von Katyn einzugestehen, nachdem er zuvor die offizielle Lesart verteidigt hatte, nach der Deutsche die Täter waren.[7] Sein Amtsnachfolger wurde im Dezember 1990 Lech Wałęsa.
In der III. Polnischen Republik
Gegen Jaruzelski, Czesław Kiszczak (damals Leiter des militärischen Sicherheitsdienstes), Stanisław Kania (ehemaliger Generalsekretär des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei) und sechs andere damals Verantwortliche des Militärrats der Nationalen Errettung wurde am 17. April 2007 am Bezirksgericht Warschau ein Verfahren eröffnet. Staatsanwälte des für die Aufarbeitung nationalsozialistischer und kommunistischer Verbrechen zuständigen Instituts für Nationales Gedenken (IPN) in Kattowitz hatten zuvor zweieinhalb Jahre lang gegen die Angeklagten ermittelt, und am 31. März 2006 wurde Anklage wegen kommunistischer Verbrechen gegen ihn erhoben.[8] Jaruzelski, der am 13. Dezember 1981 das Kriegsrecht verhängt hatte, drohte im Falle einer Verurteilung wegen „Leitung einer verbrecherischen Organisation“ eine Haftstrafe von bis zu zehn Jahren.[9][10]
Im November 1997 wurde bekannt, dass General Jaruzelski vor Ausrufung des Kriegsrechts im Jahre 1981 bei der Sowjetunion um militärisches Eingreifen im Notfall gebeten hatte.[11] Im Dezember 2009 wurde dies erneut thematisiert, weil es Hochverrat hätte bedeuten und eine wichtige Rolle im seit September 2008 laufenden Gerichtsverfahren gegen Jaruzelski, in dem seine Verantwortung an den Kriegsrechtsverbrechen geklärt werden sollte, spielen können.[12]
Im Februar 2008 wurde bekannt, dass Jaruzelski schwer erkrankt war. Wegen einer schweren Lungenentzündung und Herzproblemen wurde er in einem Warschauer Militärkrankenhaus behandelt. Im März 2011 wurde bei ihm ein Lymphom diagnostiziert.
Jaruzelski starb am 25. Mai 2014, wenige Wochen vor seinem 91. Geburtstag, in Warschau.[13] Nach seiner Einäscherung fand das Begräbnis seiner Urne am 30. Mai auf dem Warschauer Powązki-Friedhof statt.[14]
Politische Kontroversen
Die Debatte über seine Rolle ist weiterhin lebhaft. Als Pensionär in Warschau nahm Jaruzelski daran regen Anteil. Insbesondere ist umstritten, inwieweit die Verhängung des Kriegsrechts 1981 durch Druck seitens der Sowjetunion bedingt war. Aus Moskauer Sicht soll eine Zuspitzung der Lage in Polen nicht weiter hinnehmbar gewesen sein und hätte schlimmstenfalls ein Eingreifen wie 1968 in der ČSSR oder 1956 in Ungarn zur Folge gehabt: Vor diesem Hintergrund stellte die Verhängung des Kriegsrechtes durch Jaruzelski die „nationale Lösung des polnischen Problems“ dar. Des Weiteren wird diskutiert, ob die friedliche Machtübergabe ab 1989 durch Jaruzelski mit betrieben wurde oder ob dieser sie ausschließlich aufgrund des inneren (Solidarność, drohender Staatsbankrott) und äußeren Drucks (Perestroika in der UdSSR) geschehen lassen musste.[15]
Jaruzelski entschuldigte sich im August 2005 während einer öffentlichen Diskussionsrunde in Prag für die Beteiligung der polnischen Armee an der Beendigung des „Prager Frühlings“.[16]
Familie
Jaruzelskis Frau Barbara, die er 1960 heiratete, war promovierte Germanistin. Wie er gegenüber seiner Tochter Monika, die Journalistin einer Mode- und Lifestyle-Zeitschrift wurde, erklärte, war diese die einzige Frau, die er näher kennengelernt hat.[17] Unter dem Titel „Genossin Fräulein“ (Towarzyszka Panienka) schrieb Monika Jaruzelska ein autobiographisches Buch, in dem sie ihre Jugend- und Studentenjahre als Tochter des „meistgehassten Mannes im Lande“ beschrieb.[18]
Ehrungen
- 1967: Kommandeurskreuz des belgischen Kronenordens
- Orden Polonia Restituta (Ritterkreuz)
- 1968, 1983: Leninorden
- 1973: Orden der Oktoberrevolution
- 1975: Scharnhorst-Orden
- 1976: Großkreuz des Ordens des Infanten Dom Henrique
- 1983: Karl-Marx-Orden
- 1983: bulgarischer Georgi-Dimitrov-Orden
- 1983: kubanischer José-Martí-Orden
- 1987: Großkreuz des griechischen Heiligen-Erlöser-Ordens
- 1989: Offizier der französischen Ehrenlegion
- 1989: Großkreuz des Verdienstordens der Italienischen Republik
- 1989: Collane des Finnischen Ordens der Weißen Rose
Literatur
- Wojciech Jaruzelski: Ausgewählte Reden 1981 bis 1984. (Übersetzt von Ruth Brümmer), Dietz, Berlin 1985.
- Rede des Ersten Sekretärs des ZK der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei und Vorsitzenden des Staatsrates der Volksrepublik Polen, Gen. Wojciech Jaruzelski, auf der Tagung des PBA der Teilnehmerstaaten des Warschauer Vertrags. Bukarest, 7.–8. Juli 1989. (SAPMO, DC20/I/3/2840, online im Parallel History Project)
- Wojciech Jaruzelski: Mein Leben für Polen. Erinnerungen. Mit einem Gespräch zwischen Wojciech Jaruzelski und Adam Michnik. Autobiografie (Originaltitel: Les chaînes et le refuge übersetzt von Hans Kray), Piper, München / Zürich 1993, ISBN 3-492-03506-X.
- Wojciech Jaruzelski: Hinter den Türen der Macht. Der Anfang vom Ende einer Herrschaft (Originaltitel: Stan wojenny dlaczego, von Ekkehard Grube). Militzke, Leipzig 1996, ISBN 3-86189-089-5.
- Anton Pelinka: Jaruzelski oder die Politik des kleineren Übels. Innsbruck University Press, Innsbruck 2011, ISBN 978-3-902811-79-0.
Weblinks
- Literatur von und über Wojciech Jaruzelski im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek
- Publikationen von und über Wojciech Jaruzelski im Bibliotheks- und Bibliographieportal / Herder-Institut (Marburg)
- http://www.dasmagazin.ch/index.php/%c2%abich-entschuldige-mich-ich-schame-mich%c2%bb/ (Memento vom 23. November 2010 im Internet Archive) Das Magazin, Ausgabe 9/2008
- Siegfried Kogelfranz, Andreas Lorenz, Andrzej Rybak: Das war psychische Folter. Ex-Präsident Wojciech Jaruzelski über Kriegsrecht und Interventionsgefahr in Polen 1981. In: Der Spiegel. Nr. 20, 1992 (online).
- General Jaruzelski: „Ich bitte um Verzeihung“ Interview mit Jaruzelski 2010, auf geraldpraschl.de, abgerufen am 28. April 2016
- Eigene Internetseite (polnisch)
Fußnoten
- Diariusz. Abgerufen am 15. Juni 2019.
- Thomas Urban: Tragische Gestalt der polnischen Geschichte (Zum Tod von Wojciech Jaruzelski). In: Süddeutsche Zeitung, 25. Mai 2014; abgerufen am 7. Juli 2017.
- Paradoks, czyli życie Wojciecha Jaruzelskiego. onet.pl, 27. Mai 2015.
- Najbardziej haniebna interwencja układu warszawskiego. (Memento des Originals vom 30. Mai 2016 im Internet Archive) Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht geprüft. Bitte prüfe Original- und Archivlink gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis. newsweek.pl, 14. Mai 2015.
- Siegfried Kogelfranz, Andreas Lorenz, Andrzej Rybak: Das war psychische Folter. Ex-Präsident Wojciech Jaruzelski über Kriegsrecht und Interventionsgefahr in Polen 1981. In: Der Spiegel. Nr. 20, 1992, S. 181–194 (online – 11. Mai 1992).
- Reinhold Vetter: Polens eigensinniger Held. Wie Lech Wałęsa die Kommunisten überlistete. Berliner Wissenschaftsverlag, Berlin 2010, S. 168–175.
- Andrzej Przewoźnik/Jolanta Adamska: Katyń. Zbrodnia prawda pamieć. Warschau 2010, S. 435–439.
- Jaruzelski muss wegen Kriegsrecht vor Gericht. In: Die Welt, 17. April 2007.
- Ex-Staatschef Jaruzelski soll wegen Kriegsrechts degradiert werden. Welt Online, 5. Februar 2007.
- Polen: Anklage gegen General Jaruzelski. (Memento des Originals vom 25. Mai 2014 im Internet Archive) Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht geprüft. Bitte prüfe Original- und Archivlink gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis. Zeit Online, 17. April 2007.
- Antoni Dudek: Bez Pomocy nie damy rady (Memento vom 29. Dezember 2009 im Internet Archive) (PDF; 391 kB) Instytut Pamięci Narodowej, 8. Dezember 2009 (polnisch).
- IPN: generał prosił o pomoc ZSSR. In: TVN24, 8. Dezember 2009 (polnisch).
- Ex-Diktator Jaruzelski ist tot. Spiegel Online, 25. Mai 2014.
- Pogrzeb gen. Wojciecha Jaruzelskiego. WP.pl, 30. Mai 2014.
- Ulrich Krökel: Schurke oder Revolutionär? fr-online.de, 5. Juli 2013
- Antoni Kroh: Praga. Przewodnik. Oficyjna Wydawnicza Rewasz, Pruszków 2007, S. 50.
- Ostatni wywiad z Jaruzelskim. “Moim życiorysem można obdzielić kilka osób”. onet.pl, 26. Mai 2014.
- Monika Jaruzelska o ojcu. dziendobry.tvn.pl, 15. April 2013.