Nukleare Teilhabe
Die nukleare Teilhabe ist ein Konzept innerhalb der Abschreckungspolitik der NATO, das Mitgliedstaaten ohne eigene Nuklearwaffen in die Zielplanung und in den Einsatz der Waffen durch die NATO einbezieht.
Konzeption
Rolle der USA
Dem transatlantischen Bündnis, das sich auch als „nukleares Bündnis“ versteht, ging es bislang mit der Konzeption der nuklearen Teilhabe darum, zu demonstrieren, dass die USA in der Lage und willens seien, mit ihren Atomwaffen bedrohte europäische NATO-Mitgliedstaaten ohne eigene Nuklearwaffen zu schützen.
Zur nuklearen Teilhabe gehört, dass die beteiligten Staaten in einschlägigen Gremien mitberaten und entscheiden, dass sie technische Voraussetzungen zum Einsatz von Nuklearwaffen – zum Beispiel geeignete Flugzeuge oder Raketenträgersysteme – bereithalten und auf ihrem Territorium US-Nuklearwaffen lagern lassen. Im Kriegsfall können die Teilhabestaaten Nuklearwaffen unter US-amerikanischer Kontrolle einsetzen.
Im Frieden und auch im Kriegsfall sollen die in den Partnerstaaten gelagerten Nuklearwaffen bis zu ihrem Verschuss stets unter US-Hoheit bleiben. Über die nötigen Codes verfügt nur die US-Führung; sie unterliegen strengster Geheimhaltung. Da der Einsatz jedoch in Verantwortung und durch die Waffensysteme des Partnerstaates erfolgt, hat dieser letztlich ein faktisches Vetorecht.
Rolle des Vereinigten Königreichs und Frankreichs
Britische und französische Nuklearwaffen wurden nicht als Instrumente zum Schutz europäischer NATO-Partner konzipiert.[1] Allerdings bezeichnete Frankreichs Staatspräsident Emmanuel Macron im November 2019 die NATO als „hirntot“.[2] Im Bürgerkrieg in Syrien hätten zwei NATO-Mitglieder, die USA und die Türkei, zuletzt ohne jede Absprache mit ihren Partnern gehandelt. Macron kritisierte, dass die NATO das erste Mal mit einem amerikanischen Präsidenten zurechtkommen müsse (Donald Trump), „der unsere Idee des europäischen Projekts nicht teilt“. Vor diesem Hintergrund regte Macron an, den Zugriff auf französische Nuklearwaffen auch auf andere EU-Länder auszuweiten.[3] In seiner Rede vor der École de Guerre am 7. Februar 2020 stellte Macron jedoch klar, dass Frankreich nicht die Absicht habe, Staaten ohne Atomwaffen in Europa zur nuklearen Teilhabe einzuladen.[4]
Geschichte
Die ersten flugzeuggestützten Nuklearwaffen wurden im März 1955 von den USA in der Bundesrepublik Deutschland stationiert, kurz darauf auch Atomsprengköpfe für Marschflugkörper und Kurzstreckenraketen sowie nukleare Artilleriegeschosse und Atomminen. Sie waren im Falle eines Krieges für den Einsatz durch die US-Truppen vorgesehen. Erst 1957 informierten die USA die deutsche Öffentlichkeit vom Vorhandensein der Waffen. Wenig später setzte der damalige Bundeskanzler Konrad Adenauer (CDU) mit breiter Unterstützung und gegen Proteste die nukleare Teilhabe der Bundesrepublik unter Nutzung von Waffensystemen der Bundeswehr in dem Fall eines Angriffs durch den Warschauer Pakt durch. Damals hielten beide Bündnislager Atomwaffen noch für tatsächlich einsetzbare Waffen im Rahmen eines konventionell-nuklearen Krieges. 1960 lagerten 1.500 amerikanische Atomsprengköpfe in der Bundesrepublik und weitere 1.500 im übrigen Westeuropa.[5] Diese Strategie wurde bereits während ihrer Umsetzung gegenstandslos, da angesichts des atomaren Potentials der Sowjetunion die gegenseitige Zerstörung im Fall eines Ersteinsatzes von Atombomben zur Gewissheit wurde. 1967/68 wurde die Flexible Response als neue NATO-Strategie verabschiedet, die auch einen rein konventionellen Schlagabtausch als Möglichkeit vorsah.
Strategieplaner in beiden Lagern gingen davon aus, dass ein Krieg herkömmlichen Stils nicht mehr möglich wäre, in dem beide Seiten nicht zu kämpfen aufhören würden, bevor ihre Potenziale ausgeschöpft gewesen wären und nur der Verlierer am Ende schließlich wehrlos wäre (so erklärt Carl von Clausewitz in seinem Werk Vom Kriege, auf welche Weise Kämpfende üblicherweise „siegen“). Der eigentliche Zweck von Atomwaffen könnte es nach dieser Logik nur sein, Aggressoren, die gegen eine Atommacht einen Krieg planten, von ihrem Vorhaben abzuschrecken, einen konventionellen Krieg zu beginnen. Zu diesem Zweck erschienen der NATO Nuklearwaffen als unverzichtbar.
Im Warschauer Pakt existierte ein der nuklearen Teilhabe vergleichbares System. So verwahrten die Streitkräfte der Sowjetunion in den Sonderwaffenlagern zu Himmelpfort[6] und Stolzenhain[7] von 1968 bis 1990 nukleare Sprengköpfe, die im Kriegsfall an die Nationale Volksarmee der DDR ausgegeben werden sollten. Ab dem 29. Juni 1991 war das Gebiet der ehemaligen DDR offiziell kernwaffenfrei.
2007 wurde das „Abschreckungs- und Verteidigungsdispositiv“ der NATO überprüft. In Abschnitt 12 des Dokuments heißt es: „Im Einklang mit ihrem Bekenntnis, ein nukleares Bündnis zu bleiben, solange es Kernwaffen gibt, kommen die Bündnispartner überein, dass der Nordatlantikrat die entsprechenden Ausschüsse beauftragen wird, Konzepte dafür zu entwickeln, wie die möglichst umfassende Beteiligung der in Rede stehenden Bündnispartner in Bezug auf Vereinbarungen zur nuklearen Teilhabe gewährleistet werden kann, und zwar auch für den Fall, dass sich die NATO entschließen würde, ihre Abhängigkeit von in Europa stationierten nichtstrategischen Kernwaffen zu verringern.“[8]
Der damals neu ins Amt gekommene deutsche Außenminister Guido Westerwelle forderte 2009 in einer nicht in der NATO abgestimmten Initiative den Abzug der US-Atomwaffen von deutschem Boden. Westerwelle verwies auf den Umstand, dass es sich bei diesen Bomben vom Typ B-61 um Relikte aus dem Kalten Krieg handele, deren Ziele einst auf dem Territorium der heutigen NATO-Mitgliedsstaaten in Osteuropa lagen. Angesichts der Herausforderungen des 21. Jahrhunderts, in dem nukleare Gefahren vor allem in Ostasien oder im Mittleren Osten lauerten (Russland wurde 2009 noch als Partner gesehen) war die Logik von Kernwaffen, die mit Trägerflugzeugen ins Ziel gebracht würden, nur schwer zu begründen. Gegen diese Sichtweise erhob sich scharfer Protest aus den Reihen neu aufgenommener NATO-Mitglieder im Osten Europas. Alle 28 Mitgliedsländer der NATO verständigten sich 2012 auf ein neues nukleares Grundsatzdokument – den Deterrence and Defense Posture Review (DDPR) – in dem Atomwaffen zum Kernelelement („core element“) der Abschreckung erklärt wurden. Auch wurde apodiktisch festgelegt, dass die amerikanischen Sprengköpfe in Europa den Erfordernissen der Abschreckung entsprächen. Damit war die Debatte über die Sinn dieser Waffen innerhalb der NATO vorläufig vom Tisch.[9]
Diskussionen ab 2017
Im Januar 2017 trat Donald Trump sein Amt als Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika an. Im Zuge seiner America-First-Außenpolitik stellte er die Unterstützung „zahlungsunwilliger“ europäischer Länder wie Deutschland durch die USA in Frage und begann 2020 mit dem Abzug US-amerikanischer Soldaten aus Deutschland.[10] Vor dem Hintergrund, dass 2020 über 40 Prozent der Deutschen den Präsidenten Trump für ein sicherheitspolitisches Risiko hielten,[11] sprach sich SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich dafür aus, die nukleare Teilhabe zu beenden. Er stieß daraufhin auch in der eigenen Partei auf Kritik. Der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses Norbert Röttgen (CDU) warnte vor einer Isolierung Deutschlands, auch innerhalb Europas, sowie davor, dass Russland durch einseitige Abrüstungsmaßnahmen des Westens ohne Gegenleistung in seiner Aufrüstungspolitik weiter ermuntert und damit die Sicherheitslage in Europa, auch im Hinblick auf den andauernden Krieg in der Ukraine seit 2014, weiter destabilisiert werden könnte. Der Sicherheitsexperte Carlo Masala nannte daher Forderungen nach einer einseitigen Abrüstung ohne Gegenleistung eine „Politik von Hasardeuren“.[12] Ein Auslöser dieser Diskussion war, dass die damalige Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer die dafür verwendeten, veraltenden Tornado-Kampfflugzeuge durch neue Flugzeuge ersetzen wollte.[13] Aus Angst vor einem Abzug der Nuklearwaffen aus Europa bot zwischenzeitig Polen an, diese andernfalls auf seinem Staatsgebiet stationieren zu wollen,[14][15] obwohl eine Verlagerung westlicher Atomwaffen in Gebiete östlich des ehemaligen Eisernen Vorhangs eine Verletzung der 1997 abgeschlossenen NATO-Russland-Grundakte darstellen würde.[16]
Durch den Wechsel im Amt des Präsidenten der USA im Januar 2021 gewann die NATO wieder an Bedeutung. Präsident Joe Biden hatte sich bereits in seiner Zeit als Vizepräsident unter Barrack Obama (2009 – 2017) als überzeugter „Atlantiker“ einen Namen gemacht. Bidens Berater Michèle Flournoy und Jim Townsend erklärten 2020:
- Die USA und die Nato-Nationen – einschließlich Deutschlands – haben sich dazu verpflichtet, die Last und das Risiko der nuklearen Abschreckung gemeinsam zu tragen. Im Gegenzug haben die USA ihren nuklearen Schutzschild über Europa aufgespannt. Sie nahmen damit bewusst in Kauf, dass diese Garantie das Risiko eines atomaren Angriffs auf amerikanische Städte erhöhen würde. Diese Verpflichtung, das Risiko gemeinsam zu tragen, stärkte das Vertrauen und die Solidarität unter den Bündnispartnern und verschränkte die amerikanische Nuklearpolitik mit den Interessen der Europäer. Eine russische atomare Bedrohung, die sich ausschließlich gegen Europa richtet, könnte von den Europäern mit amerikanischen Atomwaffen beantwortet werden. Die Russen wären nicht in der Lage, Europa allein mit Atomwaffen zu erpressen, ohne dass Europa eine nukleare Antwort darauf hätte.[17]
Dennoch berichtete die Stiftung Wissenschaft und Politik im Dezember 2021, dass zwar die NATO, anders als bis 1990, die Fähigkeiten besitze, einen nichtnuklearen Konflikt mit Russland zu gewinnen, aber weiterhin Zweifel unter westeuropäischen Regierungen bestünden, ob die USA im Falle eines konventionellen Kriegs in Europa bereit wären, ihre militärischen Ressourcen hier einzusetzen. Dieser Verdacht werde, so die SWP, durch Bidens Ankündigung bestärkt, Atomwaffen (auch in Europa) nur als Antwort auf einen Atomschlag der Gegenseite einsetzen zu wollen („Sole Purpose“-Strategie).[18]
Am 27. Februar 2022 hielt Bundeskanzler Olaf Scholz vor dem Deutschen Bundestag eine Rede, in der er die Politik der Bundesregierung nach dem Russischen Überfall auf die Ukraine drei Tage zuvor erläuterte. Scholz erklärte in diesem Zusammenhang, dass Deutschland für die nukleare Teilhabe rechtzeitig einen modernen Ersatz für die veralteten Tornado-Jets beschaffen wolle. Bis die Flugzeuge, die US-Atomwaffen im Konfliktfall ins Ziel bringen können, einsatzbereit seien, werde der Eurofighter weiterentwickelt. Welches Flugzeug Deutschland künftig als Tornado-Nachfolge beschaffen werde, stehe noch nicht fest.[19][20]
Organisation in der Bundeswehr
Soll es zu einem Einsatz amerikanischer, in Deutschland und anderen Nato-Staaten gelagerter Bomben durch atomwaffenfähige Flugzeuge kommen, müsste der US-Präsident die Bomben freigeben und das jeweilige Stationierungsland dem Einsatz durch eigene Flugzeuge zustimmen. Die allgemeine Erwartung scheint zu sein, dass eine solche Einsatzentscheidung nach Konsultation mit allen Nato-Mitgliedern getroffen würde und der Nordatlantikrat dabei eine zentrale Rolle hätte.[21] Über den Einsatz einer US-Nuklearwaffe durch deutsche Waffensysteme entscheidet, sofern die USA zuvor ihre Waffe zum Einsatz freigegeben haben, stets die deutsche Bundesregierung.[22]
Träger der nuklearen Teilhabe wurden in der Bundesrepublik die Luftwaffe und das Heer. Im Heer wurde Personal in der Pioniertruppe zum Einsatz von ADM-Minen sowie für die Rohr- und Raketenartillerie sowie Teile der Nachschubtruppe und Instandsetzungsbataillone Sonderwaffen[23] für Instandhaltung, Transport und Verschuss von nuklearen Geschossen bzw. Raketengefechtsköpfen ausgebildet. In den folgenden Jahren erhielt die Bundeswehr Raketensysteme wie Pershing, Honest John und Sergeant sowie die Artilleriegeschütze M 110. Später wurden auch Geschosse vom Kaliber 155 mm für die M 109 und Feldhaubitze 155 mm bereitgestellt.
Für europäische NATO-Mitglieder wurden für Einsatz von Nuklearwaffen verschiedene Versionen der Lockheed F-104 Starfighter entwickelt. Die Luftwaffe erhielt dafür die Jagdbomberausführung der Version F-104G, welche mit präzisen Navigationsgeräten (Litton LN-3), Zielanflugrechner (Mergenthal), Sonderwaffenbedienkonsole und Sonderwaffenträgern für nukleare Freifallbomben (B43, später B61) ausgerüstet wurden. Daneben erhielt die Luftwaffe Luftabwehrraketen vom Typ Nike Hercules, die mit nuklearen Gefechtsköpfen bestückt werden konnten.
Parallel wurde eine Führungs- und Feuerleitorganisation aufgebaut, die den strengen Vorgaben von US- bzw. NATO-Seite entsprach. Die Einsatzplanung für das Heer lag bei den Kommandierenden Generälen der Korps. Für die Beratung der Truppenführer hinsichtlich der Führung der an atomaren Einsätzen beteiligten Einheiten, hinsichtlich der Wirkung von Atomsprengkörpern sowie für die äußere Sicherung der Sondermunitionslager (Special Ammunition Storage – SAS)[24] waren in den Korps die Artilleriekorpskommandeure (ARKOs) und die Kommandeure der Artillerieregimenter verantwortlich. Als Spezialisten für diese Aufgaben wurden ihnen „Wirkungsberater“ unterstellt.
Wegen der US-Hoheit über die Atomsprengkörper erfolgt Bewachung, Ausbildung und Übung in engster Zusammenarbeit mit einer US-Artillery-Group (Korpsebene) bzw. einem US-Detachement (Bataillonsebene). Im Einsatz wären die Kompanien der Nachschubbataillone Sonderwaffen, selbständige Nachschubkompanien Sonderwaffen und deren Begleitstaffel bzw. die Begleitbatterien der Artillerie für Sicherung, Transport und Lagerung zuständig.
Nach BRD- und US-Freigabe für den jeweiligen Einsatz müssen die Atomsprengkörper kurz vor dem Verschuss durch ein US-PAL-Team (Permissive Action Links) mit einem Code entsperrt werden. Bis zum Verschuss müssen die Sprengkörper immer von zwei US-Soldaten begleitet werden. Die an einem atomaren Einsatz vorgesehenen Einheiten müssen ihre Fähigkeiten regelmäßig in zahlreichen Inspektionen, Tests und Übungen (ATT, AAT, NSI) nach den Prüfkriterien der NATO unter Beweis stellen.[25]
NATO-Doppelbeschluss und Abrüstung
Nachdem der NATO-Doppelbeschluss ab Anfang der 1980er Jahre noch einmal zu einer massiven nuklearen Aufrüstung in Europa geführt hatte, zogen die USA nach dem Ende des Kalten Krieges die meisten ihrer Atomwaffen wieder ab. Auf den europäischen Fliegerhorsten waren bis dahin nur 208 der 437 NATO-Bunker gebaut oder in Auftrag gegeben worden. 1992 waren in Europa noch rund 700 US-Atomsprengköpfe gelagert. Großbritannien beseitigte seine Fliegerbomben bis Ende 1998 und bereits 1995 wurden bei den deutschen Fliegerhorsten Memmingerberg und Nörvenich die letzten US-Nuklearwaffen abgezogen. 1990 erklärte die NATO ihre Atomwaffen offiziell zu „Waffen des letzten Rückgriffs“ und wandte sich damit in ihren Strategiedokumenten weitestgehend von deren tatsächlichen Einsatz ab.
Derzeit stellen von den drei Nuklearmächten der NATO (USA, Großbritannien, Frankreich) nur die Vereinigten Staaten Waffen für die nukleare Teilhabe an Belgien (Peer), Deutschland (Fliegerhorst Büchel), Italien (Flughafen Rimini), die Niederlande (Uden) und die Türkei (Incirlik Air Base) zur Verfügung. Der Einsatz amerikanischer Atomwaffen durch NATO-Verbündete wurde in Zweischlüssel-Abkommen (engl.: two party key control treaty oder two key international arms control treaty) geregelt, denen zufolge die Befehlsgewalt über die nuklearen Gefechtsköpfe bei amerikanischen Überwachungsteams liegt, während die Trägersysteme samt Bedienmannschaften von den Verbündeten gestellt werden. Dies soll einen Einsatz gegen den Willen der USA oder der Stationierungsländer verhindern.[26]
Es wird vermutet, dass in der Mitte der 1990er Jahre in Europa in diesem Rahmen schätzungsweise bis zu 480 Nuklearwaffen der USA gelagert wurden, davon etwa 150 auf dem US-Stützpunkt Ramstein und auf dem deutschen Luftwaffen-Fliegerhorst des JaboG 33 in Büchel.[27] Seit Januar 2007 gehen Experten davon aus, dass Ramstein von Atomwaffen geräumt ist.[28] Die Luftwaffe trainiert nur in Büchel im Rahmen der nuklearen Teilhabe den Einsatz von Kernwaffen durch Jagdbomber vom Typ Tornado.
Bedeutende NATO-Atomwaffenlager 1995
NATO-Atomwaffen Typ B61-3/-4, Stand 2019
Flughafen | Land | Waffen gelagert | max lagerbar |
---|---|---|---|
Militärflugplatz Kleine Brogel | Belgien | 20 | 44 |
Fliegerhorst Büchel | Deutschland | 20 | 44 |
Aviano Air Base | Italien | 20 | 72 |
Militärflugplatz Ghedi | Italien | 20 | 44 |
Militärflugplatz Volkel | Niederlande | 20 | 44 |
Incirlik Air Base | Türkei | 50 | 100 |
Gesamt: | 150 | 392 |
Quelle: Grafik US Nuclear Weapons In Europe 2019 aus Briefing H.M. Kristensen, Director des Nuclear Information Project der Federation of American Scientists vor dem Center for Arms Control and Non-Proliferation in Washington, D.C. am 1. November 2019. Grafik abgedruckt in der Zeitschrift Zu Gleich 1/2020, S. 8 im Artikel von Heinrich Brauß Amerikanische Nuklearwaffen in Europa – ein wichtiges Element der NATO-Strategie.[29]
Kritik
Politische Bedenken
Das Konzept der nuklearen Teilhabe der NATO beruht auf der Annahme, dass auch Staaten, die keine eigenen Nuklearwaffen besitzen (dürfen), in den Genuss des „atomaren Schirms“ derjenigen NATO-Staaten kommen sollen, die zu den Atommächten gehören. Damit ist in erster Linie die Garantie der USA gemeint, Bündnispartnern durch die Drohung mit dem Einsatz US-amerikanischer Nuklearwaffen beizustehen, die von Drittstaaten unter Druck gesetzt werden, da sie ansonsten politisch erpressbar wären. In Sicherheitskreisen spricht man auch von einer „Käseglocke, die von den USA seit über einem halben Jahrhundert über uns ausgebreitet war“. Diese „Käseglocke“ bestehe aus nuklear bestückten US-Interkontinentalraketen, aus der US-Bomberflotte mit Atombomben, der nuklearen U-Bootflotte und schließlich aus taktischen US-Atomwaffen[30] (nur auf Letztere bezieht sich das Konzept der nuklearen Teilhabe).
Bereits 1998 wurde die Bedeutung US-amerikanischer Atomwaffen für die Sicherheit des europäischen Teils der NATO in Frage gestellt: „Durch den Rückzug der meisten amerikanischen Atomwaffen hat die erweiterte nukleare Abschreckung der USA in Europa fast virtuellen Charakter bekommen. Wahrscheinlich übertreffen heute das britische und das französische Arsenal im Umfang zum ersten Mal die Zahl der substrategischen Kernwaffen, die Washington der NATO assigniert hat. Die amerikanische Nukleargarantie beschränkt sich weitgehend aufs Deklaratorische.“[31]
Einige Kritiker behaupteten, dass die Idee eines „atomaren Schutzschirmes“ schon im Ansatz verfehlt sei. 2010 meinten z. B. Bündnis 90/Die Grünen, dass spätestens seit Ende des Kalten Krieges bodengestützte Nuklearwaffen in Europa nicht mehr „die geringste strategische Bedeutung“ hätten.[32]
Bereits in der Friedensbewegung der 1980er Jahre wurde der Verdacht geäußert, den USA gehe es mit der Stationierung von Atomwaffen in Europa nicht darum, Europa zu schützen, sondern darum, den amerikanischen Kontinent dadurch vor Angriffen mit Atomwaffen zu schützen, dass trotz aller Beistandsbeteuerungen ein „Euroshima“ (ein auf Europa beschränkter, mit taktischen und eurostrategischen Atomwaffen geführter, immer noch „begrenzter“, da nicht mit Langstreckenwaffen geführter Atomkrieg) billigend in Kauf genommen werde. Das Reden von einem „atomaren Schutzschirm“ der USA sei ein „Märchen“. „Der ‚Atomschirm‘ ist keiner. Was da in Wahrheit über uns hängt, ist ein Damoklesschwert, und der Faden ist wieder dünner geworden. Es wäre verheerend, erneut zu verdrängen, dass der Frieden bereits während des Kalten Krieges unter dem vermeintlichen Schutzschirm an einem hauchdünnen Faden hing. Gleich mehrfach schrammte Europa nur durch reines Glück (und einmal durch die Besonnenheit eines russischen Offiziers) am atomaren Inferno vorbei.“[33]
Völkerrechtliche Bedenken
Kritiker der nuklearen Teilhabe sind trotz der o. a. Code- und Hoheitsregelung der Meinung, dass die Weitergabe und Stationierung von US-amerikanischen Atomwaffen in anderen NATO-Staaten im Rahmen der nuklearen Teilhabe den Atomwaffensperrvertrag verletzt. Mit der geplanten Weitergabe an die Luftwaffen dieser Staaten im Kriegsfall würde gegen Artikel I und II des Vertrags verstoßen, die die Weitergabe oder Annahme der unmittelbaren oder mittelbaren Verfügungsgewalt verbieten. Auch die Bewegung der blockfreien Staaten fordert mit Bezug auf diese Artikel die Beendigung der nuklearen Teilhabe. Ein 2017 vom Wissenschaftlichen Dienst des Deutschen Bundestages gefertigtes Gutachten kommt dagegen zu der Auffassung, der Vertrag verbiete nur die alleinige Verfügungsgewalt, die bei der „nuklearen Teilhabe“ nicht gegeben sei.[34]
Nichteinhaltung interner Standards
Nach einer internen Studie im Auftrag der amerikanischen Luftwaffe der Federation of American Scientists (FAS) entsprechen im Jahre 2008 viele Atomwaffenlager nicht den minimalen Sicherheitsstandards des amerikanischen Verteidigungsministeriums. Daraufhin plant das US-Militär, Atomwaffen auf weniger Standorte in Europa zu verteilen. Die Studie wurde in Auftrag gegeben, nachdem im August 2007 sechs Atomsprengköpfe ohne Wissen der amerikanischen Luftwaffe durch die Vereinigten Staaten geflogen wurden. Das Institut schätzt, dass sich 2008 rund 200 bis 350 US-Atombomben in Europa befinden, davon 10 bis 20 in Büchel.[35]
Siehe auch
Literatur
- Florian Reichenberger: Die »Teufelsspirale« zur Apokalypse – Die Bundeswehrführung im Bann des Atomkriegs. In: Militärgeschichte – Zeitschrift für historische Bildung. Nr. 4, 2018, S. 4–9.
Weblinks
- Hans M. Kristensen: U.S. Nuclear Weapons in Europe. 2005 (PDF-Datei; 4,91 MB)
- Brad Roberts: „Deutschland und die Nukleare Teilhabe der NATO“. 2021
- Otfried Nassauer:
- „Nur eine Frage der Verfügungsgewalt? Die neue NATO-Strategie, der Nichtverbreitungsvertrag und die Nukleare Teilhabe“. 2000
- „Nukleare Abrüstung, Atomwaffensperrvertrag und Nukleare Teilhabe: Sollte Deutschland das nukleare Outsourcing beenden?“. 2005
- „Die nukleare NATO. Ein Problemaufriss“. 2010
- „Die NATO und der nukleare „Schirm“ – Gibt es gute Gründe für Atomwaffen in Deutschland und Europa?“. 2010
Einzelnachweise
- Konstantin von Hammerstein u. a.: Der weiße Elefant. In: Der Spiegel, Ausgabe 50/2016. 10. Dezember 2016, S. 54ff. (online)
- Macron nennt NATO „hirntot“. tagesschau.de, 7. November 2019, abgerufen am 4. März 2022.
- Luigi Mosca: Frankreich, die nukleare Abschreckung und die NATO im Kontext alter und aktueller geostrategischer Überlegungen. pressenza.com, abgerufen am 4. März 2022.
- Ronja Kempin, Marco Overhaus: Frankreichs nukleare Abschreckung im Dienst Europas – Eine deutsche Antwort. Stiftung Wissenschaft und Politik, 7. Februar 2020, abgerufen am 4. März 2022.
- Florian Reichenberger: Die »Teufelsspirale« zur Apokalypse – Die Bundeswehrführung im Bann des Atomkriegs. In: Militärgeschichte – Zeitschrift für historische Bildung. Nr. 4, 2018, S. 7.
- Martin Kaule: Faszination Bunker. Steinerne Zeugnisse der europäischen Geschichte. Ch. Links, Berlin 2014, ISBN 978-3-86153-761-8, S. 80 f. (eingeschränkte Vorschau in der Google-Buchsuche).
- Sebastian Meinke und Björn Lasinski: Untergrund Brandenburg.
- Ständige Vertretung der Bundesrepublik Deutschland bei der Nordatlantikvertrags-Organisation: Überprüfung des Abschreckungs- und Verteidigungsdispositivs (Memento vom 10. November 2016 im Internet Archive). 2007, S. 4
- Karl-Heinz Kamp: Das atomare Element im Russland-Ukraine-Konflikt. In: Arbeitspapiere zur Sicherheitspolitik. Bundesakademie für Sicherheitspolitik, Nr. 3/2015, abgerufen am 1. März 2022.
- Rüdiger Lüdeking: Abzug von US-Truppen aus Deutschland - Wohin steuert Präsident Trump? cicero.de, 9. Juni 2020, abgerufen am 1. März 2022.
- Ekkehard Brose: Trumps Atombomben in Deutschland: Rückversicherung oder Risiko? In: angeBAKSt 5/2020. Bundesakademie für Sicherheitspolitik, abgerufen am 28. Februar 2022.
- tagesschau.de: Bericht aus Berlin. Abgerufen am 17. Mai 2020.
- FAZ.net / Konrad Schuller 2. Mai 2020: Zwei Schlüssel zur Bombe
- Peter Carstens, Berlin: Nach SPD-Vorschlägen: Sollen amerikanische Atomwaffen künftig statt in Deutschland in Polen lagern? In: FAZ.NET. ISSN 0174-4909 (faz.net [abgerufen am 17. Mai 2020]).
- siehe auch faz.net vom 4. Dezember 2021
- Karl-Heinz Kamp: Das atomare Element im Russland-Ukraine-Konflikt. In: Arbeitspapiere zur Sicherheitspolitik, Nr. 3/2015. Bundesakademie für Sicherheitspolitik, abgerufen am 2. März 2022.
- Michèle Flournoy, Jim Townsend: "Das trifft den Kern der transatlantischen Idee". In: Der Spiegel. 31. Mai 2020, ISSN 2195-1349 (spiegel.de [abgerufen am 3. März 2022]).
- Liviu Horovitz, Claudia Major, Jonas Schneider, Lydia Wachs: Bidens Idee einer »sole purpose«-Nukleardoktrin für die USA. Folgen für Verbündete in Asien, die Nato und Deutschland. Stiftung Wissenschaft und Politik, 7. Dezember 2021, abgerufen am 2. März 2022.
- Scholz: 100 Milliarden Euro zusätzlich für Bundeswehr. mdr.de, 27. Februar 2022, abgerufen am 2. März 2022.
- Matthias Hochstätter: Nato und die „Nukleare Teilhabe“ Deutschland als Bidens Atombomben-Taxi: Die Ampel muss eine heikle Entscheidung treffen. focus.de, 12. Januar 2022, abgerufen am 2. März 2022.
- Peter Rudolf: Deutschland, die Nato und die nukleare Abschreckung. Stiftung Wissenschaft und Politik, S. 7 (10), abgerufen am 4. März 2022.
- Heinrich Brauß Amerikanische Nuklearwaffen in Europa - ein wichtiges Element der NATO-Strategie, Zeitschrift ZU GLEICH 1/2020, S. 7 ff.
- InstBtl 210, Großengstingen
- Lager jeweils am Standort des Raketenartilleriebataillons bzw. der Begleitbatterie mit dem US-Detachement.
- Die Organisation für die nukleare Teilhabe im Bereich des Heeres umfasste ca. 8.000 Soldaten und wurde 1992 aufgelöst.
- Atomwaffen von A bis Z (Memento vom 10. März 2012 im Internet Archive)
- Otfried Nassauer: US-Atomwaffen in Deutschland und Europa http://www.bits.de/public/stichwort/atomwaffen-d-eu.htm
- SPIEGEL ONLINE - 9. Juli 2007 - USA haben Nuklear-Arsenal in Ramstein geräumt http://www.spiegel.de/wissenschaft/mensch/0,1518,493451,00.html
- U.S. Nuclear Weapons In Europe. Federation of American Scientists, 1. November 2019, abgerufen am 12. September 2020.
- Fredy Gsteiger: Europas Verteidigungspolitik: Der atomare Schutzschild könnte fallen. SRF. 30. Dezember 2016
- Burkard Schmitt: Europäische Integration und Atomwaffen. International Politics and Society 1/1998
- Annalena Baerbock / Agnieszka Malczak: Atomarer Lackmustest. 25. August 2010
- Karl D. Bredthauer: Atomarer Schutzschirm? Ein Damoklesschwert!. Blätter für deutsche und internationale Politik. Ausgabe März 2019.
- Völkerrechtliche Verpflichtungen Deutschlands beim Umgang mit Kernwaffen, Wissenschaftlicher Dienst des Deutschen Bundestages, 23. Mai 2017, WD 2 - 3000 - 013/17
- Tagesschau: Atomwaffenlager nicht sicher genug? (Memento vom 25. März 2009 im Internet Archive) vom 21. Juni 2008