Stanislaw Jewgrafowitsch Petrow
Stanislaw Jewgrafowitsch Petrow (russisch Станислав Евграфович Петров, wiss. Transliteration Stanislav Evgrafovič Petrov); (* 7. September 1939[1] in Tschernigowka bei Wladiwostok[2]; † 19. Mai 2017[3][4][5] in Frjasino bei Moskau) war ein Oberstleutnant der sowjetischen Luftverteidigungsstreitkräfte. Am 26. September 1983 stufte er als leitender Offizier in der Kommandozentrale der sowjetischen Satellitenüberwachung einen vom System gemeldeten Angriff der USA mit nuklearen Interkontinentalraketen auf die UdSSR korrekt als Fehlalarm ein. Der Fehlalarm wurde durch einen Satelliten des sowjetischen Frühwarnsystems ausgelöst, der aufgrund fehlerhafter Software einen Sonnenaufgang und Spiegelungen in den Wolken als Raketenstart in den USA interpretierte. Durch Eingreifen und Stoppen vorschneller Reaktionen verhinderte Petrow womöglich das Auslösen eines Atomkriegs, des befürchteten Dritten Weltkriegs.[6]
Aus Gründen der militärischen Geheimhaltung und wegen politischer Spannungen wurde Petrows Vorgehen erst in den 1990er Jahren publik.[7]
Hintergrund (Kalter Krieg)
Spätestens seit 1947 befanden sich die USA und die UdSSR in einem mit unterschiedlicher Intensität geführten sogenannten Kalten Krieg. Die Spannungen zwischen den beiden Supermächten führten zur Bildung der beiden Bündnissysteme NATO und Warschauer Pakt. Seit Beginn der 1950er Jahre fand ein beispielloses Wettrüsten statt. Eine Nuklearstrategie bildete sich rund um die Kernwaffen heraus. Den anfänglichen Vorsprung der USA bei den strategischen Nuklearwaffen (vgl. Interkontinentalraketen, strategische Bomber) hatte die UdSSR bis gegen Ende der 1960er Jahre durch eine massive Nachrüstung ihrer land- und seegestützten Interkontinentalraketen ausgeglichen, so dass ungefähre Parität hergestellt war. Eine Phase der Entspannungspolitik und die SALT-Verhandlungen Anfang der 1970er Jahre konnten das weitere Anwachsen der Arsenale nicht stoppen. Beide Parteien versuchten, ihre Positionen mit Hilfe neuer Technologien (vgl. z. B.: Mehrfachsprengköpfe) zu festigen.
Als sich die Spannungen um 1980 erneut verschärften, hatten beide Seiten bereits ein Vielfaches der zum Auslöschen des Gegners – und der restlichen Menschheit – erforderlichen nuklearen Zerstörungskraft akkumuliert (Overkill). Im Fall eines gegnerischen Erstschlages sollte die Vergeltung in Form der totalen Vernichtung des Angreifers ausgelöst werden (Mutual assured destruction). In der Realität gingen die Planungen für einen Atomkrieg – entgegen dem Eindruck, der in der Öffentlichkeit vermittelt wurde – allerdings nicht dahin, erst nach Erhalt des gegnerischen Erstschlags zurückzuschlagen – retaliation after ride-out – sondern, aufgrund der Verletzlichkeit der eigenen Kommando-, Kontroll- und Kommunikationssysteme (C3), bereits nach Erhalt der Warnung vor anfliegenden gegnerischen Raketen und Bombern binnen weniger Minuten den eigenen Gegenschlag auszulösen: Launch on Warning. Voraussetzung dieses fragilen Gleichgewichts der Supermächte war das Vorhandensein eines hoch entwickelten automatischen Frühwarnsystems zur Überwachung des Luft- und Weltraums aus Radarstationen und Satelliten.
Im Jahr 1983 war das Verhältnis zwischen den beiden Blöcken wegen Ronald Reagans Bezeichnung der Sowjetunion als „Reich des Bösen“ und der Ankündigung des Raketenabwehrprogramms SDI im März sowie als Folge des Abschusses des Korean-Air-Lines-Flugs 007 durch die Sowjetunion am 1. September zusätzlich gespannt. Zumindest das KGB war zusätzlich wegen wahrgenommenen Planungen der im November stattfindenden US-Kommandostabsübung Able Archer 83 beunruhigt.
Der Vorfall am 26. September 1983
Oberstleutnant Stanislaw Petrow war am 26. September 1983 diensthabender Offizier im Serpuchow-15-Bunker (ungefähr 50 Kilometer südlich von Moskau). Seine Aufgabe bestand in der computer- und satellitengestützten Überwachung des Luftraumes. Im Fall eines nuklearen Angriffes auf die UdSSR sah die Strategie einen mit allen Mitteln geführten sofortigen nuklearen Gegenschlag vor.
Kurz nach Mitternacht meldete der Computer den Start einer auf die Sowjetunion gerichteten Atomrakete im US-Bundesstaat Montana. Ab einem feindlichen Raketenstart hatte die sowjetische Führung 28 Minuten Zeit, um – unwiderruflich – über einen Gegenschlag zu entscheiden. Petrow blieb eine Viertelstunde für die Unterrichtung seines Vorgesetzten. Da der Raketenstart laut dem System nur von einer einzigen Basis erfolgt sein sollte, hielt Petrow einen Erstschlag für unwahrscheinlich. Zusätzlich war die Verlässlichkeit des Satellitensystems (Kosmos 1382)[6] zuvor mehrfach in Frage gestellt worden. Auf Satellitenaufnahmen der US-Militärbasis konnte Petrow keine Rakete erkennen. Da die Basis jedoch zu dem Zeitpunkt genau auf der Tag-Nacht-Grenze lag, hatten die Bilder nur eingeschränkte Aussagekraft. Petrow meldete der Militärführung einen Fehlalarm.[8] Kurze Zeit später meldete das Computersystem eine zweite, dritte, vierte und fünfte abgefeuerte Rakete. Da das Satellitensystem letztlich keine weiteren Raketen meldete, ging Petrow weiterhin von einem Fehlalarm aus, da ein tatsächlicher Atomschlag seiner Ansicht nach mit deutlich mehr Raketen hätte stattfinden müssen.[9] Dabei standen ihm keine anderen Daten zur Verfügung, um seine Einstufung im maßgeblichen Zeitraum überprüfen zu können. Das landgestützte sowjetische Radar konnte keine zusätzlichen Daten liefern, da dessen Reichweite dafür zu gering war. Erst nach 17 Minuten wurde aus den Daten der Bodenradare klar, dass tatsächlich keine Raketen heranflogen.[10]
Petrow stand während dieser Entscheidungsphase unter erheblichem Druck: Einerseits würde eine Weiterleitung von fehlerhaften Satellitendaten (Fehlwarnung) zu einem sowjetischen atomaren Erstschlag führen. Andererseits würden im Falle eines tatsächlichen US-amerikanischen Angriffs umgehend dutzende nukleare Sprengköpfe auf sowjetisches Territorium niedergehen und seine Einstufung der Satellitenwarnung als Falschmeldung eine gravierende Einschränkung der sowjetischen Handlungsoptionen bedeuten. Dies hatte auch den Hintergrund, dass die Sowjetunion damals eine dezentral organisierte Zweitschlagfähigkeit als Gegenmaßnahme gegen Enthauptungsstrategien erst teilweise aufgebaut hatte.
Am Morgen stellte sich heraus, dass das satellitengestützte sowjetische Frühwarnsystem Sonnenreflexionen auf Wolken in der Nähe der Malmstrom Air Force Base in Montana, wo auch US-amerikanische Interkontinentalraketen stationiert waren, als Raketenstarts fehlinterpretiert hatte.
Auch wenn den Befehl zum Gegenschlag letztlich noch das sowjetische Oberkommando und die Staatsführung hätten geben müssen, hatte Petrow durch sein Verhalten die hierarchische Kettenreaktion bis zu einem möglichen Nuklearkrieg rechtzeitig unterbrochen.
Weiterer Lebensweg
Petrow wurde für sein Verhalten seitens seiner Vorgesetzten weder belobigt noch belohnt – aber auch nicht bestraft. Eine ursprünglich für sein Handeln geplante Ordensverleihung blieb aus, denn als sich der Grund für die Anfälligkeit des Systems herausgestellt hatte, zogen Vorgesetzte die Geheimhaltung vor, um ihr eigenes Gesicht zu wahren.[11] Jedoch erhielt er später einen Orden für andere Verdienste um den Aufbau der Anlage und wurde schließlich noch befördert. Er verließ das Militär im Folgejahr aus rein familiären Gründen, kehrte jedoch später als Zivilist wieder auf seinen früheren Posten zurück. Petrow starb am 19. Mai 2017 in Frjasino bei Moskau, wo er die letzten Jahrzehnte seines Lebens gewohnt hatte.
Ehrungen und Gedenken
Der Unternehmer Karl Schumacher aus Oberhausen[12] besuchte Petrow 1998 in Russland, um sich für dessen Verhalten zu bedanken, und lud ihn nach Deutschland ein. 1999 besuchte Petrow Oberhausen, gab Radio- und Fernsehinterviews und diskutierte mit Oberhausener Schülern.
Die Association of World Citizens mit Sitz in San Francisco zeichnete Petrow sowohl am 21. Mai 2004 in Moskau – wo ihm mit der Auszeichnung auch 1000 US-Dollar überreicht wurden – als auch am 19. Januar 2006 im UN-Hauptquartier in New York mit dem World Citizen Award aus.[11]
Am 24. Februar 2012 wurde Stanislaw Petrow mit dem Deutschen Medienpreis ausgezeichnet.[13] Am 17. Februar 2013 wurde ihm in der Dresdner Semperoper der mit 25.000 Euro dotierte Dresden-Preis 2013 verliehen.[14][15]
Anfang Juli 2018 ging bei der Stadt Bonn ein Bürgerantrag ein, einen Platz nach Petrow und Wassili Archipow, der vermutlich ebenfalls einen Atomkrieg verhindert hatte, in Archipov-Petrov-Platz umzubenennen.[16] Der Antrag wurde allerdings abgelehnt.[17]
Denkmal
An seinem 2. Todestag im Jahr 2019 wurden in Oberhausen Gedenktafeln[18] in drei Sprachen für Petrow aufgestellt. Die Inschrift lautet:
„Wäre er den Computermeldungen gefolgt, wäre der sofortige atomare Gegenschlag erfolgt und damit der Tod von Millionen Menschen in den USA, in Europa und Russland die Folge gewesen.“[18]
Es handelte sich hierbei um das weltweit erste Denkmal für Petrow überhaupt. Bei der Enthüllung der Tafeln waren die Tochter und der Sohn Petrows anwesend.
Dokumentarfilm
Der dänische Filmregisseur Peter Anthony begleitete Stanislaw Petrow über einen Zeitraum von 10 Jahren für den 2014 erschienenen (und mit nachgestellten Rückblenden versehenen) Dokumentarfilm Der Mann, der die Welt rettete (im Original: The Man Who Saved the World).[19][20]
35. Jahrestag
Am 26. September 2018 ehrte der MIT-Professor Max Tegmark Petrov bei einer Zeremonie im New Yorker Museum of Mathematics mit dem mit 50.000 Dollar dotierten Future of Life Award des Future of Life Institute. Der ehemalige Generalsekretär der Vereinten Nationen, Ban Ki-Moon, sagte bei diesem Anlass:
„Es ist schwer, sich etwas Verheerenderes für die Menschheit vorzustellen als einen totalen Atomkrieg zwischen Russland und den Vereinigten Staaten. Und doch hätte es am 26. September 1983 zufällig dazu kommen können, wenn Stanislaw Jewgrafowitsch Petrow nicht so weise entschieden hätte. Dafür gebührt ihm die tiefe Dankbarkeit der Menschheit. Lassen Sie uns beschließen, gemeinsam an der Verwirklichung einer Welt ohne Angst vor Atomwaffen zu arbeiten und uns dabei an das mutige Urteil von Stanislaw Petrow zu erinnern.“
Der Preis wurde von seiner Tochter Elena entgegengenommen. Petrovs Sohn Dmitry hatte seinen Flug nach New York verpasst, weil die US-Botschaft sein Visum verzögert hatte. „Dass ein Mann kein Visum bekommt, um die Stadt zu besuchen, die sein Vater vor der nuklearen Vernichtung gerettet hat, ist sinnbildlich dafür, wie frostig die amerikanisch-russischen Beziehungen geworden sind, was das Risiko eines versehentlichen Atomkrieges erhöht“, sagte Tegmark bei der Übergabe des Preises.[21]
Zu diesem Jahrestag brachte der WDR eine Folge der Sendung Stichtag über Stanislaw Petrow.[22]
Populärkultur
- Die Stoner-Rock-Band Beehoover widmete Petrow ein Lied.[23]
- 2009 inszenierte die Theatergruppe Rimini Protokoll mit Petrow, als Darsteller seiner Geschichte, das dokumentarische Stück Der Zauberlehrling. (U. A. am 22. Mai 2009 im Central, Düsseldorfer Schauspielhaus)[24]
- 2011 widmete die deutsche Elektronikformation ['ramp] ihr Album return Stanislaw Petrow (im Booklet irrtümlich als „Vladimir“ vermerkt durch einen in den Medien falsch übermittelten Namen).[25]
- 2019 widmete die Punkrock-Band Krachmakers Stanislaw Petrow einen deutschsprachigen Song auf einer Vinyl-Single.[26]
- Im Januar 2021 veröffentlichte Roger Waters, der ehemalige Bassist und Sänger von Pink Floyd, den Song The Gunner's Dream, in dem er sich mit Petrow auseinandersetzte.
Weblinks
- Haarscharf an einem Atomkrieg vorbei, Neue Zürcher Zeitung vom 25. September 2013
- Der Mann, der den Dritten Weltkrieg verhinderte (Spiegel-Online-Artikel vom 22. April 2010)
- Ursula Scheer: „The Man Who Saved the World“ – Wie ein russischer Oberst den Atomkrieg verhinderte. Weil er den Computern misstraute, blieb uns der Dritte Weltkrieg erspart: Der dänische Dokumentarfilmer Peter Anthony erzählt die Geschichte von Stanislaw Petrow. In: FAZ. 4. August 2015.
- Dokumentarfilm „The Man Who Saved the World“ von Peter Anthony über Petrow auf YouTube
- Telepolis - Stanislaw Jewgrafowitsch Petrow - Der Mann, der einen "Atomkrieg aus Versehen" verhinderte, ist tot.
- Ostexperte - Der einsame Tod des Mannes, der die Welt gerettet hatte
- Nachdenkseiten - Stanislaw Petrow oder die Anstrengung der Phantasie - Vor 35 Jahren drohte die atomare Apokalypse
- Private Webpräsenz des Sohnes Dimitrij über das Leben seines Vaters mit zahlreichen Dokumenten und Fotos (russisch)
Einzelnachweise
- Ingeborg Jacobs: „Stanislaw Petrow: Der Mann, der den Atomkrieg verhinderte. Wer rettet uns das nächste Mal?“ Ffm 2015: 49
- Ingeborg Jacobs: „Stanislaw Petrow: Der Mann, der den Atomkrieg verhinderte. Wer rettet uns das nächste Mal?“ Ffm 2015: 48
- Todesanzeige. In: WAZ Oberhausen. 9. September 2017, abgerufen am 10. September 2017.
- Karl Schumacher: Unsere Begegnung mit Stanislaw Petrow, der Mann, der die Welt rettete! 7. September 2017, abgerufen am 8. April 2021.
- Roland Oliphant: Stanislav Petrov, the 'man who saved the world' dies at 77. In: telegraph.co.uk. 18. September 2017, abgerufen am 18. September 2017 (englisch).
- Benjamin Bidder: Der Mann, der den Dritten Weltkrieg verhinderte, in: einestages, 21. April 2010.
- Laut Interview mit Petrow, FAZ.NET (18. Februar 2013, eingesehen 21. Februar 2013), 1993 durch einen Artikel in der Prawda; ebenso das Interview in welt.de (29. Februar 2012, eingesehen 21. Februar 2013); laut Spiegel Online (21. April 2010, eingesehen am 21. Februar 2013) 1998 durch ein Interview mit Generaloberst Votintsev
- Heike Vowinkel: „Um 0.15 Uhr ging die Hölle los“ Interview mit Petrow in Welt Online. 27. Februar 2012, abgerufen am 28. Februar 2012
- Friedrich Schmidt: Der Mann, der die Welt rettete. Zum Tod von Stanislaw Petrow, der als sowjetischer Oberstleutnant einst einen Atomkrieg verhinderte. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 20. September 2017, S. 7.
- Friedrich Schmidt: Der Mann, der die Welt rettete. In: FAZ.net. 19. September 2017, abgerufen am 13. Oktober 2018.
- Petrows Entscheidung. Die Zeit, 18. September 2008, abgerufen am 4. Oktober 2011.
- Der Bestatter, der den Retter der Welt ausgrub bei rp-online.de, abgerufen am 14. Juli 2019
- Deutscher Medienpreis 2011 für Dr. Sakena Yacoobi, Dr. Mitri Raheb, Stanislaw Petrow und Dr. Denis Mukwege. Deutscher Medienpreis, archiviert vom Original am 30. Januar 2012; abgerufen am 24. Februar 2012.
- Porträt von Stanislaw Petrow online auf Dresdner Friedenspreis (Friends of Dresden Deutschland e.V.). Abgerufen am 23. April 2019.
- „Ich wollte nicht schuld sein am Dritten Weltkrieg.“ Auf dradio.de, 17. Februar 2013. Abgerufen am 16. März 2013.
- Gedenken an zwei Weltenretter, Neues Deutschland, 31. August 2018
- Archipov-Petrov-Platz für Bonn abgelehnt, Neues Deutschland, 7. September 2018
- Kai Spanke: Ein Denkmal für den Mann, der die Welt rettete. In: FAZ. 20. Mai 2019, abgerufen am 21. Mai 2019.
- The man who saved the world / Der Mann, der die Welt rettete. 105 Min. (imdb 2277106)
- The Man Who Saved the World auf Vimeo
- $50,000 Award to Stanislav Petrov for helping avert WWIII – but US denies visa
- Stichtag - 26. September 1983: Stanislaw Petrow verhindert Atomkrieg. 26. September 2018, abgerufen am 8. April 2021.
- Recordings. Beehoover, abgerufen am 16. November 2011 („Stanislav Petrov“ auf „Heavy zooo“ (2008)).
- Der Zauberlehrling - Rimini Protokoll. Abgerufen am 16. Juli 2017.
- Widmung "this album is dedicated to vladimir petrov." bei Discogs
- discogs.com: Krachmakers