Geschichte der Stadt Kassel
Die Geschichte der Stadt Kassel umfasst die Entwicklungen auf dem heutigen Gebiet der Stadt Kassel von der ersten Besiedlung bis zur Gegenwart.
Mittelalter
Die erste Erwähnung des Königshofes Kassel (damals unter dem Namen Chassalla bzw. Chassella) findet sich auf zwei Urkunden des deutschen Königs Konrad I., ausgestellt in Kassel am 18. Februar 913. Damals bestand an der Stelle des späteren Stadtschlosses ein Königshof, der beginnend um 1143 allmählich zur Residenz des ludowingischen Grafen Heinrich Raspe II. von Hessen (bzw. Gudensberg) ausgebaut wurde. Zwischen 1140 und 1148 gründeten Heinrich Raspe und seine Mutter Hedwig von Gudensberg das Prämonstratenserinnenstift auf dem Ahnaberg am Nordrand der damaligen Siedlung, das Kloster Ahnaberg. Hof, Kloster und Siedlung wurden schon bald ummauert, und bereits vor 1189 erlangte Kassel das Stadtrecht. Zwar ging die zugehörige Handfeste verloren, doch wurden die darin verbrieften Rechte der Ratsbeamten und Bürger Kassels 1239 von Landgraf Hermann dem Jüngeren von Thüringen bestätigt.[1]
Nach der endgültigen Loslösung Hessens von Thüringen baute der neue Landgraf Heinrich I. von Hessen im Jahre 1277 Kassel als Residenz und Hauptstadt der Landgrafschaft Hessen weiter aus. Er gründete die (Unter-)Neustadt und berief 1292 die Karmeliter nach Kassel. Dieser Bettelorden erbaute die Brüderkirche, das älteste heute noch erhaltene Bauwerk der Stadt. Im Jahre 1297 gründete Mechthild von Kleve, die Gemahlin Heinrichs I., das Elisabethhospital, eines der ersten Siechenhäuser Kassels.
Mit der wachsenden Bedeutung Kassels stieg auch die Einwohnerzahl, und um 1330 erweiterte Landgraf Heinrich II. die Stadt um die sogenannte Freiheit. Bald danach wurde in ihrem Zentrum der Grundstein für die Martinskirche gelegt (um 1366/67 mit einem Chorherrenstift). Sie war ein Zeichen der Emanzipation vom Bistum Mainz und entwickelte sich später zum religiösen Zentrum Hessens. Die Einweihung fand nach über 100-jähriger Bauzeit 1462 statt.
Die drei bis dahin selbstständigen Städte Altstadt, Neustadt und Freiheit wurden 1378 zu einem einzigen Gemeinwesen vereinigt.
1385 wurde Kassel von den Truppen Balthasar von Thüringens erstmals belagert. Die Belagerung war jedoch nicht erfolgreich, auch aufgrund fehlender Nahrungsmittelversorgung der Armee. Weitere erfolglose Belagerungen folgten in den drei Folgejahren.[2]
Am Anfang des 15. Jahrhunderts wurden unter den Landgrafen Hermann II. und Ludwig I. mehrere Gebäude errichtet, die das Stadtbild lange prägten, beispielsweise 1408 das Rathaus und 1415 der Druselturm, der ursprünglich Teil der Stadtbefestigung war und einer der wenigen bis heute erhaltenen mittelalterlichen Gebäude der Stadt ist.[3]
Nach dem Tod Landgraf Ludwig I. 1458 wurde Hessen aufgrund von Erbstreitigkeiten geteilt. Sein ältester Sohn Ludwig erhielt Niederhessen mit Kassel, sein zweiter Sohn Heinrich Oberhessen mit Marburg. Auch daran sieht man, dass die Bedeutung von Kassel innerhalb der Landgrafschaft Hessen zunahm. Landgraf Ludwig II. ließ den Königshof abreißen und an dieser Stelle 1466 ein neues Schloss errichten, in dem er nun residierte.[4]
Historisch wurde Kassel auch bei seinem lateinischen Namen genannt: Castellum.[5]
Zeit der Reformation
Die Reformation führte 1527 zu Veränderungen durch Aufhebung der Klöster und Stifter. Landgraf Philipp der Großmütige war einer der wichtigsten Förderer der Reformation in Deutschland. So trat er beispielsweise auf dem zweiten Reichstag zu Speyer als Sprecher der Protestanten auf.[6] Philipp ließ Kassel zu einer der wichtigsten Festungen des Schmalkaldischen Bundes ausbauen; nach der Niederlage des Bundes 1547 gegen den Kaiser wurde die Stadt besetzt, die Befestigung teilweise geschleift. Philipp wurde von kaiserlichen Truppen gefangen genommen. Nach seiner Rückkehr 1552 begann die Wiederherstellung der Festungsanlagen und 1557 ein umfangreicher Um- und Neubau des alten Landgrafenschlosses (unter der Aufsicht des Erbprinzen Wilhelm). Eine Besonderheit stellte das Alabastergemach dar: Von den niederländischen Hofbildhauern in Kassel, Elias Godefroy und Adam Liquier Beaumont, geschaffen, mit vier großen Reliefs (heute im Hessischen Landesmuseum Kassel); sogar Fußboden, Türflügel, Bänke, Tisch und Saaldecke sind aus Alabaster gefertigt.
1567 wurde nach dem Tod Philipps von Hessen im sogenannten Vierbrüdervergleich aus der Hälfte des hessischen Territoriums die Landgrafschaft Hessen-Kassel errichtet, weiterhin entstanden die Landgrafschaften Hessen-Marburg, Hessen-Rheinfels und Hessen-Darmstadt. Nach dem Erlöschen zweier Linien bestanden ab 1604 noch Hessen-Kassel und Hessen-Darmstadt mit den gleichnamigen Haupt- und Residenzstädten.[7] Diese Teilung trug zur Schwächung des in der Reformationszeit bedeutend gewordenen Mittelstaats Hessen bei.
Unter Landgraf Wilhelm IV., der in Hessen-Kassel 1567 bis 1592 regierte, entstanden zahlreiche Großbauten: Das Kanzleigebäude am neuen Renthof, der Marstall und das Zeughaus, welches sowohl als Waffendepot als auch als Getreidespeicher für Notzeiten diente. Der unter Landgraf Philipp begonnene Um- und Neubau des Landgrafenschlosses wurde zu Ende geführt. In der Martinskirche entstand ein zwölf Meter hohes Grabmal für Landgraf Philipp und seine Frau, Christina von Sachsen, aus schwarzem Marmor und Alabaster, welches zu den bedeutendsten Bildhauerarbeiten der Zeit in Deutschland gehört.
Wilhelm betrieb schon als Erbprinz im Schloss eine Sternwarte, die als erste fest eingerichtete im neuzeitlichen Europa gilt[8]; er war selbst bedeutender Astronom, und in Kassel wurde erstmals bei der Vermessung der Sterne die Kategorie des Raumes durch die der Zeit ersetzt, die Uhr zum wichtigen astronomischen Instrument. Der Hofuhrmachermeister Jost Bürgi entwickelte für die Berechnungen der Sternwarte erstmals Logarithmen (noch vor dem Schotten Neper, aber erst nach ihm auf Drängen Keplers veröffentlicht). Im neu angelegten Lustgarten des Landgrafen in der Fuldaaue wurden auf Anregung des Botanikers Charles de l’Écluse u. a. exotische Pflanzen angebaut. Darunter befanden sich auch Kartoffeln. Kochrezepte entstanden in der Folge, beispielsweise für Bratkartoffeln, die auch an andere Höfe verschickt wurden.[9]
Vom Barock zum Klassizismus
Der Nachfolger Wilhelms, Landgraf Moritz der Gelehrte, gründete im umgebauten Renthof eine Ritterakademie und errichtete das Ottoneum 1606 als erstes feststehendes Theatergebäude der Neuzeit in Deutschland. Ab 1633 durfte sich Kassel für 20 Jahre Universitätsstadt nennen, bevor die hessische Landesuniversität aus dem Renthof in das wiedergewonnene Marburg zurückverlegt wurde. In dieser Zeit entstanden die meisten der prächtigen Fachwerk- und Renaissance-Giebelhäuser wie Brüderstraße 23 (Linkersches Haus) oder auch die Drei Erker Gruppe am Altmarkt, allesamt 1943 zerstört.
Unter Landgraf Carl wurden ab 1685 in Kassel etwa 1700 Hugenotten aufgenommen und für sie die Oberneustadt errichtet. Auf dem damaligen Carlsberg (heute: Wilhelmshöhe) begannen etwa gleichzeitig erste Arbeiten an den Wasserkünsten; 1714 wurde hier das Herkules-Monument vollendet, das Wahrzeichen Kassels. Die Anlage entstand nach Entwürfen von Giovanni Francesco Guerniero, allerdings wurde nur das obere Drittel vollendet. Die Herkulesfigur wurde im Kasseler Messinghof vom Augsburger Kupferschmied Antoni hergestellt. Im Bergpark Wilhelmshöhe fanden auf den Kaskaden am Herkules am 3. Juni 1714, dem ersten Sonntag des Monats, erstmals die Wasserspiele statt. Das Gegenstück zu dem Bergpark nach italienischem Vorbild bildete die Karlsaue als französisch-niederländischer Garten in der Fuldaniederung, mit dem Orangerieschloss als Zentrum (1701–1710 von Johann Conrad Giesler). Als besondere Sehenswürdigkeit wurde in den 1720er-Jahren dort das Marmorbad eingerichtet: ganz mit verschiedenfarbigem Marmor ausgekleidet, als prunkvoller Rahmen für Statuen und Reliefs des Bildhauers Pierre-Étienne Monnot.
1709 wurde das Collegium Carolinum als eine Art technische Hochschule dem Kunsthaus (ehemaliges Ottoneum) angegliedert. Hier lehrten bis zur Schließung durch Wilhelm IX. bedeutende Gelehrte wie der Weltreisende Georg Forster, der Anatom Samuel Thomas Soemmering und der Historiker Johannes von Müller (Autor eines Geschichtswerks der Schweizer Eidgenossenschaft, Begründer der modernen Geschichtswissenschaft). Karl betrieb insbesondere eine umfangreiche technische Forschung. Der Franzose Denis Papin führte Versuche mit Dampf durch und entwickelte das Prinzip des Dampfkochtopfs. Im Jahre 1721 wurde das Karlshospital als Besserungsanstalt fertiggestellt.
Nach dem Tode Carls 1730 übernahm Prinz Wilhelm die Statthalterschaft für seinen Bruder Landgraf Friedrich I., der zugleich König von Schweden war. Wilhelm ließ in einem Palais an der Frankfurter Straße seine reiche Gemäldesammlung unterbringen, die er in den Niederlanden erworben hatte; sie stellt mit zahlreichen Bildern von Rembrandt, Rubens und anderen niederländischen Meistern heute noch den Kernbestand der staatlichen Gemäldegalerie dar. Als Erweiterungsbau des Palais ließ er um 1749 durch den Hofarchitekten der Wittelsbacher, François de Cuvilliés der Ältere einen Galeriesaal errichten; außerdem entstand nach den Plänen des Architekten in der Nähe Kassels das Schloss Wilhelmsthal.
Nachdem der Siebenjährige Krieg die Wirkungslosigkeit der Stadtbefestigung gegenüber den modernen Waffen gezeigt hatte, wurde der mächtige Festungsgürtel 1767 geschleift. Landgraf Friedrich II. ließ die Oberneustadt durch den kreisrunden Königsplatz und den Friedrichsplatz (einem der größten Stadtplätze Deutschlands) mit der alten Stadt verbinden. An zentraler Stelle entstand am Friedrichsplatz das Museum Fridericianum, in dem die landgräflichen Kunstsammlungen und die Bibliothek öffentlich zugänglich waren (1779 eröffnet, nach Plänen von Simon Louis du Ry). 1779 baute er die alte städtische Lateinschule in einem neuen Gebäude als Lyceum Fridericianum aus (heute Friedrichsgymnasium).
1803 behielt Kassel die Hauptstadtfunktion, als Wilhelm I. zum Kurfürsten erhoben wurde.
19. Jahrhundert
Hauptstadt des Königreichs Westphalen
Kassel wurde am 1. November 1806 von französischen Truppen besetzt, nachdem Kurfürst Wilhelm I. noch rechtzeitig geflohen war, und Hessen-Kassel verschwand zunächst von der Landkarte. Kassel war in der Zeit der französischen Fremdherrschaft Hauptstadt des von Napoleon per Dekret vom 18. August 1807 geschaffenen und von seinem Bruder Jérôme regierten Königreichs Westphalen, das neben der einstigen Landgrafschaft Hessen-Kassel auch weite Teile Westfalens, des heutigen Niedersachsens und des heutigen Sachsen-Anhalts umfasste.
Im Jahr 1810 gründete Georg Christian Carl Henschel zusammen mit seinem Sohn, dem Glockengießer und Bildhauer Johann Werner Henschel, die Gießerei Henschel & Sohn, die bereits 1816 mit der Produktion von Dampfmaschinen begann. Das Unternehmen war bis zu seiner Auflösung 1957 zeitweise einer der bedeutendsten Hersteller von Lokomotiven in Europa.
Restauration 1813 bis 1866
Im Oktober 1813, während der Befreiungskriege, vertrieben Truppen des russischen Generals Tschernitschew die französischen Besatzer aus Kassel, und am 21. November zog Kurfürst Wilhelm I. wieder in seine Residenzstadt ein. Kassel war wieder Haupt- und Residenzstadt des wiederhergestellten Kurfürstentums Hessen. Hier bildete Kassel einen Stadtkreis und war gleichzeitig Sitz des Landkreises Kassel.
Um die Brüder Jakob und Wilhelm Grimm, die als Bibliothekare an der Landesbibliothek arbeiteten, sowie den Freiherren von der Malsburg bildete sich in Kassel ein bedeutender Romantiker-Kreis; hier trafen sich Adolf von Menzel, Achim von Arnim und Clemens Brentano, hier entstand in Teilen die Sammlung Des Knaben Wunderhorn. Das Hoftheater erlebte eine besondere Glanzzeit: Kurfürst Wilhelm II. verpflichtete nach seinem Regierungsantritt 1821 die besten Musiker und engagierte als Hofkapellmeister Louis Spohr, der in seiner Zeit als der bedeutendste Geiger neben Paganini galt und auch als Komponist die Musikgeschichte prägte. Außerdem komponierte Otto Nicolai in Kassel seine Oper Die lustigen Weiber von Windsor, deren Libretto vom Kasseler Salomon Hermann Mosenthal stammt.
Am 1832 gegründeten Kasseler Polytechnikum (Höhere Gewerbeschule) lehrten u. a. die Chemiker Heinrich Buff, Rudolph Amandus Philippi, Friedrich Wöhler und Robert Bunsen, der hier die Gasmaske erfand, und der Architekt Georg Gottlob Ungewitter, dessen neugotische Architektenschule weltweite Ausstrahlung hatte. Ab 1833 wurde die Stadt in nordwestlicher Richtung um den neuen Friedrich-Wilhelms-Stadtteil erweitert (benannt nach dem Kurprinzen, der 1831 zugleich die Regierungsgeschäfte übernommen hatte): Den Kern bildete die Friedrich-Wilhelms-Straße (heute Ständeplatz), an der ab 1834 das neue kurhessische Ständehaus errichtet wurde. Die 1831 unter Wilhelm II. verabschiedete Verfassung galt als die fortschrittlichste, zu der Deutschland damals in der Lage war (Karl Marx).
Am 29. August 1848 wurde die Eisenbahnstrecke Kassel–Grebenstein als Teil der Friedrich-Wilhelms-Nordbahn eingeweiht und Kassel bekam einen Bahnanschluss.
Am 16. Dezember 1850, auf dem Höhepunkt des kurhessischen Verfassungsstreits während der erzkonservativen Regierung Hassenpflug, wurde Kassel von bayrischen und österreichischen Truppen des Deutschen Bundes, sogenannten Strafbayern, besetzt, die erst im Sommer 1851 wieder abgezogen wurden.
„Den 4. Juli [1824], sonntags. Um 5 Uhr aus dem Bett, geht es nach Wilhelmshöhe, wo uns das zweifelhafte Wetter doch einige helle, sehr schöne Momente für die weite herrliche Aussicht vom Oktogon gewährt. Die Reisenden sind über das kolossale Werk ganz erstaunt; alles wird wohl genossen, dann das Museum der Stadt besucht. […] Neben dem Museum am Platz ist ein neueres Schloß im Bau begriffen. Ein herrliches Material von rotem Stein ist zu moderner kleinlicher Architektur verwendet. Die ungeheuren Mauern eines angefangenen Palasts sind seit der jetzigen Regierung unbeendet geblieben. Die Anlage scheint von guter Architektur.“
Nach der Besetzung durch Preußen, Gründerzeit
1866 wurde das Kurfürstentum Hessen von Preußen besetzt, welches es mit dem ebenfalls okkupierten Herzogtum Nassau und der besetzten Freien Reichsstadt Frankfurt zur Provinz Hessen-Nassau vereinigte. Kassel verlor seine Funktion als Residenzstadt, wurde aber Sitz des Oberpräsidenten der neuen Provinz. Gleichzeitig wurde die Stadt Hauptstadt eines Regierungsbezirks und blieb Sitz des nunmehr preußischen Landkreises Kassel. Sie selbst blieb kreisfrei.
1868 wurde in Kassel der Allgemeiner Landsmannschafts-Convent, ein Vorgängerverband der Deutschen Landsmannschaft gegründet.
1870 wurde Napoléon III. nach der Kapitulation am 2. September als Gefangener im Schloss Wilhelmshöhe inhaftiert. Ab 1891 war Kassel Sommerresidenz des Deutschen Kaisers (bis 1918). Die Stadt durfte daher in jener Zeit wieder ihren bis 1866 geführten Titel Haupt- und Residenzstadt führen.
20. und 21. Jahrhundert
Um die Jahrhundertwende vom 19. ins 20. Jahrhundert überschritt die Einwohnerzahl der Stadt die 100.000-Grenze, Kassel wurde somit Großstadt. Die Stadt litt unter einem großen Wohnungsmangel, auch war die Qualität des Wohnraums in der Kasseler Altstadt eher schlecht, noch 1925 fehlten in der Stadt über 5000 Wohnungen. Unter der Leitung des Architekten Otto Haesler wurde von 1929 bis 1931 die Rothenbergsiedlung errichtet, dabei wurde konstruktiv und gestalterisch Neuland betreten. So verzögerte sich die Baumaßnahme durch das mangelnde Wissen der Behörden, eine moderne Stahlskelettkonstruktion zu prüfen und abzunehmen.[11] Schließlich wurden die letzten Gebäude in traditioneller Ziegelbauweise errichtet.
Von 1902 bis zur Stilllegung 1966 verband die Herkulesbahn den Kasseler Westen mit dem Hohen Habichtswald. Internationale Kunstausstellungen in der Orangerie erst zum Jugendstil dann zur Moderne waren Vorläufer der späteren documenta. Am 1. April 1914 wurde die Stadthalle Kassel offiziell eingeweiht. Im Sommer 1916 bestimmte die Oberste Heeresleitung das Schloss Wilhelmshöhe zu ihrem Sitz, das Schloss war bis zum Ende der Monarchie der Sommersitz der kaiserlichen Familie.
Im Jahr 1920 tagte in Kassel die erste Reichsfrauenkonferenz, die sich mit Fragen der Gleichberechtigung und des Wahlrechts beschäftigte. Am 24. August 1924 wurde der Flugplatz Kassel-Waldau offiziell eröffnet, der von 1926 bis 1930 in das Liniennetz der Deutschen Luft Hansa eingebunden war. Außerdem diente er als Werksflugplatz für die sich seit 1923 entwickelnde Kasseler Flugzeugindustrie insbesondere für die Gerhard-Fieseler-Werke.
- Fuldabrücke im Zentrum von Kassel, Photochromdruck um 1900
- Unterneustadt 1895
- Blick von der Schönen Aussicht auf den Kaufunger Wald (Bellevue), Louis Kolitz um 1900
- Königsplatz um 1900, Photochrom
- Blick über Kassel um 1900, Photochrom
- Auetor am Friedrichsplatz, um 1900
Zeit des Nationalsozialismus
Administrativ war Kassel zwischen 1933 und 1945, in der Zeit des Nationalsozialismus, „Gauhauptstadt“ des NSDAP-Gaues Kurhessen. Es war demnach die zweite Angliederung nach der preußischen Annexion infolge des Deutsch-Französischen Krieges und der Reichsgründung 1871. Wirtschaftlich war die Stadt für die Nationalsozialisten nur aufgrund der bedeutenden Industrie von Interesse. 1933 fand der Reichkriegertag statt, eine besondere Bedeutung sollte sich daraus nicht ableiten. Die Geheime Staatspolizei (Gestapo) hatte ihren Sitz in der Straße Königstor. Von dort aus wurden in großem Umfang die taktischen Säuberungen, die Pogrome sowie Verfolgung und Deportation politischer, religiöser und rassischer Gegner der NS-Ideologie geplant und organisiert. So zum Beispiel auch Maßnahmen gegen die linkssozialistische Widerstandsgruppe Roter Stoßtrupp, die einen Ableger in Kassel hatte. Die Gruppe wurde im Ort allem Anschein nach auch vom späteren hessischen Ministerpräsidenten Georg August Zinn unterstützt, dessen Bruder Karl Zinn in Berlin einer der führende Köpfe der Widerstandsgruppe war.[12]
Die Landesfeuerwehrschule wurde nach Verfügung des preußischen Innenministeriums am 15. November 1936 in Kassel eingeweiht, da dort der Sitz der Aufsichtsbehörde des damaligen Provinzialfeuerwehrverbandes war. Während des Zweiten Weltkriegs musste der Lehrgangsbetrieb eingestellt werden und konnte erst im Januar 1948 wieder aufgenommen werden. Seit dem 1. April 1949 ist das Hessische Ministerium des Innern Träger der Hessischen Landesfeuerwehrschule.
Am Abend des 7. November 1938 wurden die Synagoge und andere jüdische Einrichtungen von Angehörigen der SA und SS verwüstet, zwei Tage vor der „Kristallnacht“ am 9. November. Sie trugen Zivilkleidung, um einen Volkszorn zu mimen.
In der Nacht vom 22. auf den 23. Oktober 1943 wurde die Kasseler Innenstadt durch einen Luftangriff der RAF nahezu komplett zerstört. Etwa 10.000 Menschen kamen in den Flammen und Trümmern ums Leben, über 80 Prozent der Stadt wurden zerstört, darunter 97 Prozent der Altstadt mit ihren aus dem Mittelalter stammenden gotischen Fachwerkhäusern.[13]
Am 4. April 1945 kapitulierten die in Kassel befindlichen Einheiten der Wehrmacht, als Truppen der US-Armee von Süden her kommend in die Frankfurter Straße einmarschierten und bis zum 5. April auch Bettenhausen als letzten Stadtteil eroberten.
Vom Ende des Zweiten Weltkrieges bis zur Gegenwart
Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges gehörte die Stadt zusammen mit der ganzen Provinz Hessen-Nassau zur amerikanischen Besatzungszone. Daraus wurde das neue Land Hessen gebildet. Kassel blieb Sitz des Regierungsbezirks und des Landkreises Kassel und wurde auch weiterhin als kreisfreie Stadt innerhalb des neuen Landes geführt. Die Stadt hatte große Schäden erlitten. Zum Wiederaufbau siehe Wiederaufbau von Kassel nach dem Zweiten Weltkrieg.
1949 bewarb sich Kassel neben Bonn, Frankfurt am Main und Stuttgart um den Sitz des Bundestages. Am 29. November 1949 wurde jedoch Bonn mit 200 gegen 176 Stimmen vom Bundestag zur provisorischen Bundeshauptstadt gewählt. Als Entschädigung wurde Kassel 1953 Sitz sowohl des Bundesarbeitsgerichts als auch des Bundessozialgerichts. Im selben Jahr besuchte am 2. Mai der Bundespräsident Theodor Heuss die Stadt. Im August fand die 2. CVJM-Europa-Konferenz statt, und am 9. November wurde die Treppenstraße, ein Teil der Fußgängerzone der Innenstadt, eingeweiht. Damit war Kassel die Stadt, in der erstmals in Deutschland eine Fußgängerzone eröffnet wurde. Zwischen 1953 und 1960 war Kassel nicht nur Drehort einiger bedeutender Filmproduktionen, sondern auch Ort vieler weiterer Kinopremieren, es kamen regelmäßig Stars wie Heinz Rühmann, Hildegard Knef, Heinz Erhardt, Hans Moser, Theo Lingen, Maximilian Schell, Alice und Ellen Kessler, Joachim Fuchsberger, Christine Kaufmann oder Johannes Heesters.[14] Am 21. April 1954 gründete sich der Landesfeuerwehrverband Hessen mit Sitz in Kassel.[15] 1955 fand die Bundesgartenschau in der Karlsaue statt, begleitet wurde diese von der ersten documenta. Im September 1957 führte die damalige Carl-Schomburg-Realschule als erste Schule in Deutschland eine Fünftagewoche ein.[16] 1960 landete der belgische König Baudouin in Kassel-Waldau. Er besuchte die Stadt und reiste weiter zu den belgischen Truppen in Kassel und anderswo in Deutschland. Am 15. März 1961 wurde auf Initiative des Polizeipräsidenten Heinz Hille in Kassel als erster deutscher Großstadt die Parkscheibe eingeführt.[17] 1964 wurden die Henschel-Werke zu einer Tochtergesellschaft der Rheinischen Stahlwerke Essen und verloren ihre Selbstständigkeit, im selben Jahr fand die Documenta 3 statt. Im Februar 1968 ging die U-Straßenbahn Kassel, ein unterirdischer Streckenabschnitt der Straßenbahn Kassel in Betrieb, es war die zweite Stadtbahnstrecke Deutschlands, drei Monate später fand die 4. documenta statt.
Am 21. Mai 1970 trafen sich im Rahmen des Gipfeltreffens in Kassel 1970, als Gegenbesuch zum Treffen am 19. März in Erfurt, Bundeskanzler Willy Brandt und der stellvertretende Vorsitzende des Staatsrats der DDR Willi Stoph in Kassel. Dies waren die ersten deutsch-deutschen Treffen auf Regierungsebene. Die von Willy Brandt in Kassel als Vorentwurf für ein zu schließendes Abkommen vorgelegten 20 Punkte bildeten den Rahmen für den am 21. Dezember 1972 unterzeichneten Grundlagenvertrag. Am 1. April wurde der erste Bankautomat Hessens von der Kreissparkasse Kassel in Betrieb genommen. 1977 fand die documenta 6 statt.
Der hessische Ministerpräsident Holger Börner lud den französischen Staatspräsidenten Giscard d’Estaing nach Kassel ein, der die Stadt am 8. Juli 1980 besuchte. Die von 1980 bis 1982 errichtete Siedlung documenta urbana war ein Versuch, die documenta auch städtebaulich zu orientieren. 1981 fand die Bundesgartenschau in der Karls- und Fuldaaue statt. Zur documenta 7 stellte Joseph Beuys das Projekt der 7000 Eichen vor, die mit Basaltblöcken versehen ab 1982 gepflanzt wurden.
Nach der Fertigstellung einer der ersten Neubaustrecken der Bahn wurde auch der neue Fernverkehrsbahnhof Kassel-Wilhelmshöhe errichtet. Seit dem 29. Mai 1991 hat Kassel somit einen ICE-Anschluss (siehe dazu hier). Seit 1997 wird im Bereich des ehemaligen Messeplatzes (1950er bis 1997), dort wo sich bis zum Bombenangriff in der Nacht vom 22. auf den 23. Oktober 1943 ein Teil der Unterneustadt befand, ein neues Wohnviertel errichtet (Bauarbeiten dauern noch an). Nach der deutschen Wiedervereinigung wurde 1999 das Bundesarbeitsgericht aus Kassel nach Erfurt verlegt.
Der Abriss der „Treppe ins Nichts“ auf dem Königsplatz im Jahr 2000 führte bundesweit zu Kontroversen. Nachdem Wilhelmshöhe die Anerkennung als Thermalsoleheilbad im Jahr 2000 erhielt, wurde 2001 aus Wilhelmshöhe/Wahlershausen die amtliche Bezeichnung Bad (Bad Wilhelmshöhe). 2005 bewarb sich Kassel um den Titel der Kulturhauptstadt Europas 2010, unterlag jedoch in der Vorauswahl. Im Juli 2011 wurden im Auestadion die Deutschen Leichtathletik-Meisterschaften ausgetragen. 2013 fand in Kassel der Hessentag 2013 und die 1100-Jahr-Feier der Stadt Kassel. Seit 2013 ist der Bergpark Wilhelmshöhe als UNESCO-Weltkulturerbe anerkannt.
Ab den 2000er Jahren wurden Verkehrsbauten der Nachkriegszeit abgesperrt, zugeschüttet oder abgerissen, darunter der U-Bahnhof Hauptbahnhof und die Unterführungen, z. B. am Altmarkt.
Eingemeindungen
Ehemals selbstständige Gemeinden und Gemarkungen, die nach Kassel eingegliedert wurden:
Jahr | Orte | Zuwachs in ha |
1899 | Wehlheiden | 372 |
1906 | Wahlershausen, Kirchditmold, Rothenditmold, Bettenhausen | 1.770 |
1926 | Gutsbezirk Fasanenhof | 142 |
1928 | Gutsbezirk Oberförsterei Kirchditmold, Wilhelmshöhe, Kragenhof, Oberförsterei Elend |
2.968 |
1936 | Waldau, Niederzwehren, Oberzwehren, Nordshausen, Harleshausen, Wolfsanger |
2.483 |
Die Eingemeindung von Lohfelden scheiterte 1970 am gegenteiligen Volkswillen der Gemeinde. Kassel konnte jedoch die Abtretung von den Kasseler Gemarkungen am heutigen Gewerbegebiet Kassel-Waldau erreichen.
Siehe auch
Literatur
- Franz Carl Theodor Piderit: Geschichte der Haupt- und Residenzstadt Kassel. Kassel 1844 (online).
- Heide Wunder, Christina Vanja, Karl-Hermann Wegner (Hrsg.): Kassel im 18. Jahrhundert. Residenz und Stadt. Euregio, Kassel 2000, ISBN 3-933617-05-7.
- Jörg Adrian Huber: Stadtgeschichte Kassel. 2. Auflage. Imhof, Petersberg 2012, ISBN 3-86568-377-0 (448 S.).
Weblinks
Einzelnachweise
- Heinrich Gottfried Philipp Gengler: Regesten und Urkunden der Verfassungs- und Rechtsgeschichte der deutschen Städte im Mittelalter, Erlangen 1863, S. 467 ff..
- Jörg Adrian Huber: Stadtgeschichte Kassel. 2. Auflage. Imhof, Petersberg 2012, ISBN 3-86568-377-0, S. 46 ff.
- Jörg Adrian Huber: Stadtgeschichte Kassel. 2. Auflage. Imhof, Petersberg 2012, ISBN 3-86568-377-0, S. 57.
- Jörg Adrian Huber: Stadtgeschichte Kassel. 2. Auflage. Imhof, Petersberg 2012, ISBN 3-86568-377-0, S. 61.
- Lateinische Stadtnamen (Memento vom 14. Juli 2012 im Webarchiv archive.today) (Lexicum nominum geographicorum latinorum)
- Jörg Adrian Huber: Stadtgeschichte Kassel. 2. Auflage. Imhof, Petersberg 2012, ISBN 3-86568-377-0, S. 77.
- Schätze des Staatsarchivs Marburg: Vertrag der Erbeinigung zwischen Wilhelm, Ludwig, Philipp und Georg, den vier Söhnen des Landgrafen Philipp von Hessen, 28. Mai 1568
- Ludolf von Mackensen: Die erste Sternwarte Europas mit ihren Instrumenten und Uhren. 400 Jahre Jost Bürgi in Kassel. Callwey, 1979, ISBN 3-7667-0642-X, S. 9.
- valsolda: Die erste deutsche Kartoffel wuchs in Hessen. 30. Januar 2015, abgerufen am 13. Februar 2022.
- K. Fr. Schinkel: Reisen nach Italien. Zweite Reise 1824. Aufbau-Verlag, Berlin und Weimar 1994, ISBN 3-351-02269-7, S. 13.
- Detlef Möhlheinrich: Moderner Wohnungsbau in Kassel im 20. Jahrhundert, S. 23 ff.
- Dennis Egginger-Gonzalez: Der Rote Stoßtrupp. Eine frühe linkssozialistische Widerstandsgruppe gegen den Nationalsozialismus. Lukas Verlag, Berlin 2018, ISBN 978-3867322744, u. a. S. 116–120
- Bombennacht am 22. Oktober 1943. Stadt Kassel, abgerufen am 17. Oktober 2020.
- Wilhelm Ditzel: Die Helden der Kinoleinwand waren bei den Premieren hautnah zu erleben., auf regiowiki.hna.de
- Landesfeuerwehrverband Hessen (Hrsg.): Alle Kraft der Feuerwehr! – 50 Jahre Landesfeuerwehrverband Hessen. Kassel 2004, ISBN 3-927006-48-3, S. 20–45.
- Rudolf Augstein: Spiegel, Nr. 25/1971. Spiegel-Verlag S. 68.
- Pariser Pappe. In: Der Spiegel. Nr. 24, 1962 (online).