220-kV-Leitung Ludersheim–Aschaffenburg–Borken
Die 220-kV-Leitung Ludersheim–Aschaffenburg–Borken war ursprünglich eine Ende der 1940er Jahre errichtete Drehstrom-Hochspannungsfreileitung zwischen dem Umspannwerk Ludersheim bei Nürnberg, dem Umspannwerk Aschaffenburg und dem Umspannwerk am hessischen Kraftwerk Borken südlich von Kassel. Sie entstand im Zuge der sich entwickelnden Teilung Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg, als Abschnitte der Reichssammelschiene von der sowjetischen Besatzungsmacht unterbrochen wurden, wodurch für die Aufrechterhaltung des Übertragungsnetzes eine neue Verbindung nach Bayern nötig geworden ist.
Anfang der 1990er Jahre wurde der Abschnitt zwischen Aschaffenburg und Borken nahezu vollständig demontiert. Nur im nördlichsten Teil werden die Masten für eine 110-kV-Leitung von Borken nach Lauterbach noch verwendet.
Geschichte
Situation vor dem Zweiten Weltkrieg
Schon in den 1920er Jahren entstand mit der Nord-Süd-Leitung des RWE die erste kommerziell betriebene 220-kV-Leitung in Deutschland. Sie war das Rückgrat eines damals weltweit einzigartiges Verbundsystems zwischen den Kohlekraftwerken im Rheinland und den Wasserkraftwerken in den Alpen und im Südschwarzwald. Ausgehend von den Umspannwerken dieser Leitung entstand im Süden und Westen Deutschlands ein weiträumiges Übertragungsnetz unter Führung des RWE. Pläne für ein gesamtdeutsches, später auch gesamteuropäisches Verbundnetz entstanden bereits zu dieser Zeit, etwa durch Oskar von Miller.
Im Zuge dieses Netzausbaus stieg auch die PreussenElektra in die überregionale Verbundwirtschaft mit einem eigenen 220-kV-Netz ein – sie baute eine eigene Leitung zwischen dem Pumpspeicherkraftwerk Waldeck am hessischen Edersee, dem Kraftwerk Borken und dem Umspannwerk Lehrte östlich von Hannover. Diese Anlage sollte sich im Zuge von mehreren Netzerweiterungen zur Hauptschaltstelle der PreussenElektra, ähnlich der Hauptschaltleitung Brauweiler des RWE, entwickeln. Die erste Verbindung zwischen dem Übertragungsnetz des RWE und dem der PreussenElektra entstand Mitte der 1930er Jahre zwischen dem Umspannwerken Osnabrück-Lüstringen und Lahde bei Petershagen. Eine weitere Ambition war, neben einer zweiten Verbindung zum RWE-Netz zwischen Borken und dem Umspannwerk Kelsterbach bei Frankfurt, die mitteldeutschen Braunkohlereviere um Leipzig zu erschließen. Die erste Ausbaustufe der hierfür nötigen Fernleitung wurde 1935 zwischen Lehrte und dem Kraftwerk Harbke in Betrieb genommen.
Unter Reichswirtschaftsminister Walther Funk wurde ab 1937 eine Hochspannungsleitung der Elektrowerke geplant, die Bayern mit Kraftwerken im mitteldeutschen Revier verbinden sollte. Später war eine Verlängerung von Nürnberg über Linz und Wien bis ins oberschlesische Industriegebiet vorgesehen. Von 1940 bis 1941 ging die als Reichssammelschiene bezeichnete Leitung von Harbke über Magdeburg, Marke, Dieskau, Remptendorf, Ludersheim und St. Peter nach Ernsthofen in Niederösterreich in Betrieb. Sie verband die Kohlekraftwerke im Mitteldeutschland mit Industrieanlagen in Bayern und Österreich, die von den Nationalsozialisten als für die Kriegsproduktion wichtig erachtet wurden – etwa Aluminium- und Stahlwerke. Zusätzlich bestand eine 220-kV-Anbindung an das Netz des Bayernwerks.
Trennung der Netze
Mit der alliierten Besatzung nach Ende des Zweiten Weltkrieges übernahm die Sowjetische Militäradministration in Deutschland die Kontrolle über Teile des Landes. Im Rahmen von Reparationszahlungen veranlasste sie im April 1946 die Demontage der Reichssammelschiene-Leitung 298 von Remptendorf nach Ludersheim bis zum späteren Umspannwerk Würgau. Endgültig getrennt wurde das Stromnetz der sowjetischen Besatzungszone 1952 mit West-Berlin, 1954 dann mit dem der restlichen Bundesrepublik. Mit der Trennung der Leitung Lehrte–Harkbe an der Zonengrenze entstanden zwei getrennte 220-kV-Netze im West- und Ostteil Deutschlands, außerdem eine nicht an das restliche 220-kV-Netz angebundene Leitung von Würgau über Ludersheim nach Österreich. Diese war bis 1988 nach wie vor noch im Besitz der Elektrowerke.
Durch die Trennung vom mitteldeutschen Revier und Demontage einiger Kraftwerke durch die Sowjetunion verlor das Bayernwerk seine wichtigsten Energielieferanten. Obwohl die Bayernwerk-eigenen Kraftwerke weitgehend unbeschädigt blieben, war es aufgrund von Materialmangel zunächst nicht möglich, das Leitungsnetz vollständig wiederaufzubauen. Noch dazu verbot die amerikanische Militärbesatzung zunächst den Bau neuer Kraftwerke, sodass lediglich die Erweiterung bereits bestehender Kraftwerksstandorte in Frage kam. Ein aus dieser Zeit stammender Bau ist etwa die Rißbach-Überleitung zum Walchenseekraftwerk.
Bau einer neuen Leitungsverbindung
Schon 1946, ein Jahr nach Kriegsende, gab es die ersten Pläne zur Verbindung der 220-kV-Anlagen der Elektrowerke in Bayern und dem Netz in Westdeutschland. Das Bayernwerk beschloss den Bau einer 220-kV-Leitung vom Umspannwerk Ludersheim nach Aschaffenburg und von dort weiter ins 220-kV-Netz der PreussenElektra am Kraftwerk Borken.
Nachdem 1947 die alliierten Restriktionen aufgehoben wurden, konnte mit der Errichtung neuer Kraftwerke begonnen werden.[1] Ausschlaggebend für den Neubau war auch das Bewusstsein über die erschöpften Vorräte im Oberpfälzer Braunkohlerevier. In einem Bericht des Landeslastverteilers für Bayern, den Leonhard Wolf, Vorstandsvorsitzender des Bayernwerks am 15. März 1950 drucken ließ, werden ein sofortiger Baubeginn des Dampfkraftwerks am Hafen Aschaffenburg sowie ein Neubau der 220-kV-Leitung Aschaffenburg–Borken zur Preussischen Elektrizitäts-AG als beabsichtigte Maßnahmen aufgeführt.[2]
Bis 1949 wurde die Leitung Ludersheim–Aschaffenburg dann errichtet und am 7. Dezember 1949 mit zwei Stromkreisen auf Donaumasten in Betrieb genommen. Erstmals wurden 350-mm²-Leiterseile mit Stahlkern (111 mm²) und Aluminiummantel eingesetzt, die hier als Einzelleiter ausgeführt waren.[3] Der weiterführende Leitungsabschnitt zwischen Aschaffenburg und Borken wurde auf bayerischer Seite durch das Bayernwerk und auf hessischer Seite durch die PreussenElektra ausgeführt und betrieben.[4]
Ebenfalls 1949 unterzeichnete das Bayernwerk einen Vertrag mit dem RWE über einen Stromaustausch zwischen den beiden Unternehmen. Zwischen Aschaffenburg und Kelsterbach ging bis 1950 eine weitere zweikreisige 220-kV-Leitung in Betrieb. Auf bayerischer Seite verwendet sie Donaumasten, auf hessischer Tannenbaummasten.
Das Kohlekraftwerk Aschaffenburg ging schließlich 1951 in Betrieb. Anteilseigner waren neben dem Bayernwerk auch die PreussenElektra und die Deutsche Bundesbahn.
An drei Netzknotenpunkten wurde mit der Gesamtfertigstellung der Leitung ein Anschluss an die Leitungen der benachbarten Netzbetreiber hergestellt:
- in Ludersheim an das verbliebene Teilstück der Elektrowerke-Reichssammelschiene
- über einen Leitungsabzweig vom Umspannwerk Aschaffenburg an das Netz der RWE beim Umspannwerk Kelsterbach
- am Kraftwerk Borken an die 220-kV-Leitung Lehrte–Borken der PreußenElektra
Später entstanden im Leitungsverlauf 220-kV-Umspannwerke in Raitersaich, Trennfeld, Großkrotzenburg und Lauterbach.
Verlauf
Umspannwerke der Leitung |
Ludersheim–Aschaffenburg
Vom Ludersheim her kommend verläuft die Leitung zunächst in westliche, dann in nordwestliche Richtung und umgeht dabei die Stadt Nürnberg südlich. Danach quert sie die bayerischen Regierungsbezirke Mittelfranken (wo sich das Umspannwerk Raitersaich befindet) und Unterfranken, südwestlich an Würzburg vorbei. Sie überquert den Main und bindet das nahe an der A 3 gelegene Umspannwerk Trennfeld an. Anschließend verläuft sie über die Höhen des Spessart, quert bei Großwallstadt erneut den Main und biegt in nördliche Richtung ab. Der Ersatzneubau der Leitung zwischen Ludersheim und Raitersaich ist Teil der geplanten Juraleitung.
Aschaffenburg–Borken
Der heute nicht mehr bestehende Abschnitt weiter bis Borken verlief jenseits der Landesgrenze zu Hessen in nördliche, anschließend in nordöstliche Richtung westlich an Gelnhausen vorbei auf die Höhen des Vogelsberges. Dort führte sie wieder nach Norden, ehe nordwestlich von Lauterbach, wo ein Leitungsabzweig bestand, die Originaltrasse wieder besteht.
Das zweite noch bestehende Teilstück führt als 110-kV-Leitung vom Umspannwerk Lauterbach zum Umspannwerk Borken. Sie knickt von Lauterbach her kommend bei Heblos in die Trasse nach Norden. Südlich von Rainrod (Schwalmtal) zweigt eine zweikreisige Leitung zum Umspannwerk Alsfeld ab. Bei der Raststätte Berfa quert die Leitung die A 5. Dahinter zweigt eine einkreisige Leitung zum Umspannwerk Ottrau ab. Anschließend verläuft sie in nordwestliche Richtung zum Umspannwerk Borken.
Aschaffenburg–Kelsterbach
Um eine Verbindung des bayerischen 220-kV-Netzes mit dem des RWE einrichten zu können, wurde vom Umspannwerk Aschaffenburg eine Leitung zum Umspannwerk Kelsterbach der Nord-Süd-Leitung gebaut. An der bayerisch-hessischen Landesgrenze westlich von Stockstadt wechselte der Masttyp von Donau- auf Tannenbaummast. Der von dort an durch das RWE errichtete und betriebene Abschnitt wurde 1950 fertiggestellt.[5]
Nördlich an Babenhausen vorbei traf sie bei Eppertshausen auf die 220-kV-Leitung Kelsterbach–Schönbrunn. Bei Urberach liefen die beiden Leitungen zusammen mit der 110-kV-Leitung Kelsterbach–Darmstadt–Dettingen der HEAG parallel Richtung Westen und bei Mörfelden dann zusammen mit der Nord-Süd-Leitung nach Nordwesten zum Umspannwerk Kelsterbach.
Betrieb
Ursprünglich war die Leitung an die 220-kV-Anlage im Umspannwerk Aschaffenburg angeschlossen, doch seit diese durch eine 380-kV-Anlage ersetzt wurde, die an die Leitung Großkrotzenburg–Grafenrheinfeld angeschlossen ist, läuft die 220-kV-Leitung daran vorbei, überquert kurz darauf ein drittes Mal den Main und führt weiter nach Norden bis an die bayerisch-hessische Landesgrenze, wo der noch erhaltene Teil der Leitung endet. Die 220-kV-Stromkreise knicken bei Albstadt in westliche Richtung auf eine vierkreisige Leitung ab, die parallel zur vierkreisigen 380-kV-Leitung von Grafenrheinfeld bzw. Dipperz her verläuft, und enden an der Umspannanlage des Kraftwerks Staudinger in Großkrotzenburg.
Zwischen Trennfeld und Großkrotzenburg ist die Leitung noch heute mit zwei 220-kV-Stromkreisen in Betrieb. Von Ludersheim bis Raitersaich und von Raitersaich bis Trennfeld sind noch zwei Systeme auf den Masten installiert, allerdings nur durch einen Stromkreis belegt.
Die Leitung wird heute im Abschnitt Ludersheim–Großkrotzenburg von TenneT TSO und im Abschnitt Lauterbach–Borken von Avacon betrieben. Geplant ist der Ausbau zwischen Raitersaich und Ludersheim auf 380 kV mit Fortführung in der Trasse der bestehenden Reichssammelschiene bis nach Altheim.[6]
Auch die Leitung nach Kelsterbach existiert heute nicht mehr in ihrer gesamten Länge. Einige Zeit nach ihrer Inbetriebnahme entstand in der Trasse das Umspannwerk Urberach mit 380-, 220- und 110-kV-Schaltanlagen. Zwischen Urberach und Aschaffenburg wurde die Leitung nicht mehr benötigt und abgebaut. Lediglich zwischen Babenhausen und Stockstadt stehen die Masten noch und tragen eine einkreisige 110-kV-Leitung. Zwischen Kelsterbach und Urberach stehen die Originalmasten noch heute und werden von einer einkreisigen 220-kV-Leitung benutzt. Der zweite 220-kV-Stromkreis führt über die benachbarte Leitung (siehe Bild).
Anders als die bestehenden Leitungen wurde die neue Leitung schon bei ihrem Bau in einem Bogen westlich um dem Flughafen herum verlegt, dabei wurden niedrige Einebenenmasten verwendet. Mit Verlängerung der Nordbahn mussten 1956 auch die anderen Leitungen umverlegt werden, wobei der vorbereitete Trassenraum parallel zur neuen Leitung genutzt wurde. Ein zweites Mal wurden die Leitungen mit Inbetriebnahme der Startbahn West 1984 südlich um diese herum verlegt.[7]
Mit dem Bau und der Inbetriebnahme der neuen Landebahn Nordwest wurde von 2007 bis 2009 das komplette Kelsterbacher Umspannwerk demontiert und etwas versetzt neu gebaut sowie alle zuführenden Leitungen aufgrund der Lage direkt im Bereich der Landebahn erdverkabelt. Die 220-kV-Stromkreise führen auch nicht mehr in das Umspannwerk, da dieses heute nur über die Spannungsebenen 380 kV und 110 kV verfügt. Stattdessen enden diese einige Kilometer weiter im Umspannwerk Farbwerke Höchst Süd Noch heute lassen sich die ursprünglichen Verläufe der Leitungen im Wald anhand der Schneisen erahnen.
Demontage
Die 220-kV-Stromkreise zwischen Großkrotzenburg und Borken wurden Anfang der 1990er Jahre demontiert, da als Ersatz eine 380-kV-Leitung vom Kraftwerk Staudinger nach Dipperz errichtet wurde. Diese 1996 fertiggestellte Leitung verläuft dabei zwischen Albstadt und Birstein größtenteils in der Trasse der abgebauten Leitung. Ab dem Umspannwerk Dipperz besteht über Mecklar eine 380-kV-Verbindung nach Borken.
Südlich von Lauterbach, bei Ober-Moos, wurden zwei Masten beim Abbau der Leitung bei 50°27'1"N 9°20'35"E und bei 50°27'59"N 9°20'56"E stehen gelassen, da man dort die Ansiedlung von Fischadlern seitens des NABU Hessen plante. Allerdings wurden die Masten nie tatsächlich von diesen angenommen.
Einzelnachweise
- encyclopedia.com: Bayernwerk AG. Abgerufen am 21. Juni 2017.
- Thomas Schlemmer, Hans Woller: Bayern im Bund, Band 1: Die Erschließung des Landes 1949 bis 1973. R. Oldenbourg Verlag München 2001, S. 46
- Karl Girkmann, Erwin Königshofer: Die Hochspannung-Freileitungen. Springer-Verlag, Wien 1952, S. 55
- Deutsche digitale Bibliothek: Bayernwerk AG München: 220 kV-Leitung Ludersheim – Aschaffenburg – Landesgrenze (Borken). Abgerufen am 5. Dezember 2016.
- Freileitungen im erweiterten Dreieichgebiet. Abgerufen am 5. Dezember 2016.
- Bürgerdialog Stromnetz: Raitersaich-Altheim. Abgerufen am 5. Dezember 2016.
- Chronik Flughafen Frankfurt am Main: Aus dem Nachlaß von Verkehrsdirektor Rudolf Lange der Flughafen Frankfurt AG, Seite 167. Abgerufen am 2. April 2017.