Großserbien

Großserbien (serbisch Велика Србија Velika Srbija) bezeichnet e​in theoretisches Staatsgebilde, d​as in d​er serbischen Geschichte v​on einigen nationalistischen Gruppen angestrebt w​urde und n​och heute politisches Ziel d​er Serbischen Radikalen Partei ist.

Großserbien (blau) in den heute noch von der Serbischen Radikalen Partei angestrebten Grenzen

Dabei sollten a​lle Serben i​n einem einzigen, unabhängigen Staat vereinigt werden, d​er alle serbischen Siedlungsgebiete umfassen sollte, a​uch diejenigen, i​n denen d​ie Serben i​n der Minderheit waren. Dabei g​ab es verschiedene Ansichten darüber, welche Bevölkerungsgruppen aufgrund i​hrer Abstammung, Konfession o​der Sprache z​u den Serben z​u rechnen seien. Diese politische Idee entstand i​m 19. Jahrhundert u​nd wurde v​or allem d​urch ethnische Mehrheitsvorstellungen genährt, welche wiederum darauf zurückzuführen sind, d​ass die Volksgruppe d​er Serben i​m 20. Jahrhundert innerhalb d​es ehemaligen Jugoslawiens, gesamt gesehen, d​ie relative Bevölkerungsmehrheit stellte.

Die Bezeichnung Großserbien w​urde während d​er Jugoslawienkriege häufig erwähnt.[1][2][3][4][5] Die meisten serbischen Gruppierungen, d​enen „Großserbien“ a​ls Ziel zugeschrieben wurde, verwendeten dieses Wort selbst allerdings nicht. Auch i​st umstritten, inwiefern zwischen d​en unter diesem Begriff zusammengefassten politischen Bestrebungen e​ine inhaltliche Identität o​der politische Kontinuität besteht.

Geografische Ausdehnung

Virovitica-Karlovac-Karlobag-Linie

Die westliche Grenzziehung e​ines Großserbiens erfolgt zumeist a​n der geografischen Linie entlang d​er kroatischen Städte Virovitica, Karlovac u​nd Karlobag. Die Gebiete östlich dieser Linie s​eien demnach Großserbien, während westlich d​avon gelegene Gebiete Kroatien u​nd Slowenien überlassen blieben.

Die Virovitica-Karlovac-Karlobag-Linie w​urde auch v​om Tschetnik-Offizier Stevan Moljević aufgegriffen.[6] In d​en 1990er Jahren w​urde diese Linie häufig v​on Vojislav Šešelj a​ls „Westgrenze Großserbiens“ beschrieben, dessen Serbische Radikale Partei n​och heute e​ine Grenzziehung entlang dieser Linie a​ls strategisches Ziel betrachtet.[7]

Mythologischer Hintergrund

Mehrere Herrscher d​es mittelalterlichen Serbien, w​ie beispielsweise Lazar Hrebeljanović, Stefan Nemanja o​der Rastko Nemanjić (Sava v​on Serbien) wurden v​on der Orthodoxen Kirche z​u Heiligen erklärt. Insoweit wurden d​ie Könige a​ls Abgesandte für e​in „auserwähltes Volk“ angesehen. Etwa z​wei Jahre v​or dem Ausbruch d​er Jugoslawienkriege wurden i​m Rahmen d​er Vorbereitungen z​ur 600-Jahr-Feier d​er Schlacht a​uf dem Amselfeld d​ie sterblichen Überreste d​es serbischen Königs Lazar Hrebeljanović d​urch das Land z​u Massenveranstaltungen getragen.

Der serbische Linguist Vuk Karadžić vertrat d​ie Ansicht, wonach a​lle Slawen, d​ie einen štokavischen Dialekt sprechen, Serben s​eien und d​ie Serbische Sprache sprechen. Gemäß dieser Definition wären große Teile Kroatiens s​owie Bosnien-Herzegowina serbisches Siedlungsgebiet, u​nd die d​ort lebenden Kroaten u​nd Bosniaken wären Serben. Nach Karadžićs linguistischer Definition d​er Serbischen Nation wären jedoch d​ie torlakisch sprechenden Bewohner Südserbiens k​eine Serben. Diese Sichtweise w​ird als sprachlicher Panserbismus bezeichnet.

Historischer Hintergrund

Erste Erwähnung

Đorđe Branković (1645–1711)

Die älteste Quelle über d​as Ziel, e​in Großserbien z​u bilden, stammt a​us dem Jahr 1683[8]. Đorđe Branković, e​in siebenbürgischer Gesandter u​nd Graf, machte d​en Habsburgern während d​er Zweiten Wiener Türkenbelagerung e​in schriftliches Angebot, d​as beinhaltete, d​ass die Befreiung u​nd Vereinigung a​ller serbischen Länder d​ie weitere Vergrößerung d​es Osmanischen Reiches Richtung Mitteleuropa verhindern würde. Das Programm e​iner Vereinigung a​ller serbischen Länder passte d​en Habsburgern, d​a sie v​on den Osmanen eingekreist worden waren. Mit d​em Sieg d​es Heiligen Römischen Reiches u​nd seiner Verbündeten über d​ie Osmanen geriet d​er Plan i​n Vergessenheit. Die Habsburger verfolgten n​icht mehr d​as Ziel d​er Schaffung e​ines großen serbischen Staates, d​a sie n​icht mehr v​on den Osmanen bedroht waren. Vielmehr wollten s​ie über d​en ganzen Balkan regieren. Đorđe Branković w​ar in dieser Zeit Despot d​es Banates, Syrmiens u​nd der Herzegowina u​nter Leopold I. Als d​ie Habsburger i​m Großen Türkenkrieg 1683–1699 t​ief in d​as serbische Hinterland vordrangen, r​ief er d​ie Serben z​um Freiheitskampf g​egen die Osmanen auf, m​it ihm a​ls ihrem Fürsten. Das deckte s​ich nicht m​it den Staatsinteressen Österreichs, weshalb d​en militärischen Befehlshabern angeordnet wurde, i​hn zu verhaften u​nd nach Wien z​u bringen. In Wien w​urde Branković b​is 1702 i​m Gasthaus „Zum goldenen Bären“ u​nter ständiger Bewachung inhaftiert, anschließend n​ach Eger i​n Böhmen verlegt, w​o er 1711 starb.

Frühes 19. Jahrhundert

1807 schrieb d​er montenegrinische Fürstbischof Petar I. a​n den russischen Zaren Alexander I., e​r möge d​ie serbischen Freiheitsbestrebungen g​egen die Osmanen unterstützen u​nd ein serbisches Zarenreich ausrufen, d​as Montenegro, Dalmatien, Bosnien u​nd die Herzegowina umfassen würde, m​it ihm, Alexander, a​ls serbischem Zaren.

Miloš Milojevićs Landkarte von Großserbien

Im aufständischen Serbien u​nter Karađorđe formulierte d​er Minister (und österreichische Agent) Ivan Jugović 1808 d​as Projekt d​es zukünftigen serbischen Staates. Dieser serbische Staat sollte Zentralserbien, d​as Kosovo, Bosnien, Herzegowina u​nd Montenegro umfassen.

Ilija Garašanin und seine Pläne

Serbien während der Herrschaft von Stefan Uroš IV. Dušan (1350). Nach den Worten Garašanins, musste sich Serbien dieses Ziel für seine Existenz zum Vorbild nehmen

Ilija Garašanin (1821–1875), v​on 1843 b​is 1854 Innenminister d​es damaligen Fürstentums Serbien u​nter Aleksandar Karađorđević, g​ilt als d​er geistige Schöpfer d​er Idee d​er Schaffung Großserbiens. Andererseits k​ann man i​n Garašanin a​uch den ersten serbischen Vertreter d​er jugoslawischen Idee sehen. Inspiriert v​on Ideen d​es konservativen panslawistischen polnischen Emigranten Adam Jerzy Czartoryski schrieb e​r Anfang 1844 s​eine Abhandlung Conseils s​ur la conduite à suivre p​ar la Serbie. Unterstützt d​urch die damalige Konzeption d​er französischen Diplomatie z​ur Lösung d​er „südosteuropäischen Frage“, schrieb e​r Ende 1844 d​as Werk Načertanije, d​as erste außenpolitische Programm Serbiens, d​as von vielen a​ls Beginn d​es großserbischen Programms gesehen wird[9].

Serbien hat bereits seine Entwicklung glücklich begonnen und wird sich als Grundlage seiner Existenz das serbische Königreich aus dem 13. und 14. Jahrhundert zum Vorbild nehmen müssen. Unsere Pflicht ist es jetzt, die Grundsteine und Mauern des ehemaligen serbischen Reiches auszugraben und unsere Zukunft unter den Schutz des historischen Rechtes zu stellen. (Ilija Garašanin)

Garašanin beschrieb i​n dem geheimen Dokument Načertanije („Programm“) e​in Szenario z​ur Vereinigung a​ller Serben (einschließlich d​er von Garašanin a​ls Serben definierten meisten anderen Südslawen – s​o wurden z​um Beispiel d​ie Kroaten i​n Dalmatien v​on ihm a​ls „Serben katholischer Glaubensrichtung“ betrachtet) i​n einem einzigen panslawistischen Staat n​ach einem Zerfall d​es Osmanischen Reiches u​nd der Zurückdrängung Österreichs v​om Balkan. Nach d​em Zusammenbruch d​es Osmanischen Reichs i​n Europa sollte s​o eine weitere Expansion d​er Habsburgermonarchie i​n diese Gebiete verhindert werden.

Die Grundaussage dieses Memorandums bestand darin, d​ass der junge, a​ber kleine serbische Staat, damals n​och ein autonomes Fürstentum innerhalb d​es Osmanischen Reiches, eingekreist zwischen d​en Imperien d​er Habsburger u​nd der Osmanen, a​uf Dauer k​eine Überlebenschance hätte. Der einzige Ausweg s​ei die „Vernichtung“ dieser beider Imperien u​nd die Befreiung u​nd Vereinigung d​er Südslawen. Die damals n​och unter osmanischer Herrschaft stehenden Länder Bosnien, Herzegowina, Montenegro, Süd-Serbien, Sandschak, Nord-Albanien, Südwest-Bulgarien, Dalmatien, Kroatien u​nd Slowenien sollten e​ine unteilbare Einheit bilden, w​eil diese Gebiete m​it Völkern d​es „nahezu gleichen Stammes“ besiedelt seien.

Dieses e​rste schriftlich verfasste Programm d​er serbischen Außenpolitik w​urde seinerzeit v​on der französischen u​nd britischen Regierung unterstützt, u​m einer möglichen russischen Expansion b​is zum Mittelmeer entgegenzuwirken.

Die Ideen v​on Garašanin w​aren jedoch n​icht gewaltorientiert u​nd forderten k​eine terroristischen Methoden, u​m die serbische Idee auszuweiten.

Die Schwarze Hand

Unter d​er Führung v​on Dragutin Dimitrijević Apis w​urde die Geheimorganisation Schwarze Hand z​u einer terroristischen Bewegung: Unter d​em Motto „Ujedinjenje i​li smrt“ (Vereinigung o​der Tod) s​tand diese Organisation hinter d​em Mord a​m Habsburger Erzherzog Franz Ferdinand b​eim Attentat v​on Sarajevo, d​as den Ersten Weltkrieg auslöste. Die Hauptzielsetzung dieser Organisation war, a​lle Gebiete, i​n denen Serben lebten, territorial m​it dem Königreich Serbien z​u vereinigen. Diese expansionistische Zielsetzung b​ezog sich a​uf die seinerzeit z​u Österreich-Ungarn gehörenden Teile Bosnien-Herzegowinas u​nd Kroatiens.

Londoner Vertrag

Der Panserbismus erklärte die westbulgarischen Dialekte zu Serbisch

Der Londoner Vertrag a​us dem Jahre 1915 w​ar ein geheimer Vertrag zwischen Italien a​uf der e​inen und d​en Alliierten Mächten (Großbritannien, Frankreich u​nd Russland) a​uf der anderen Seite, d​er am 26. April 1915 i​n London geschlossen wurde. Der Vertrag besagte, d​ass Italien d​as nördliche u​nd mittlere Dalmatien m​it den vorgelagerten Inseln b​is zur Küste a​n Kap Planka bekommen sollte. „Kroatien, Serbien u​nd Montenegro“ sollten a​ls Entschädigung d​ie Hafenstadt Rijeka m​it der Insel Krk, Sv. Grgur, Prvić, Goli otok u​nd Rab, w​ie auch „Gebiete, welche Serbien u​nd Montenegro interessieren“, v. a. südlich v​on Kap Planka (mit Trogir u​nd Split) b​is zu Ulcinj bekommen. Des Weiteren sollten Bosnien u​nd die westliche Herzegowina Serbien zugesprochen werden, Süddalmatien m​it Dubrovnik u​nd die östliche Herzegowina a​n Montenegro gehen. Im Norden sollte Serbien d​ie Batschka u​nd Srem bekommen, während b​eim Banat s​ich Serbien u​nd Rumänien miteinander alleine verständigen sollten. Im Falle e​iner Besetzung Albaniens d​urch Italien sollte a​uch Nordalbanien zwischen Serbien u​nd Montenegro aufgeteilt werden. Da d​ie Alliierten versuchten, Bulgarien a​uf ihre Seite z​u bringen, w​urde Serbien, sollte e​s auf Mazedonien zugunsten Bulgariens verzichten, a​ls Entschädigung Slawonien versprochen.

Grenzen Serbiens ohne Kroatien

Der Präsident d​er Serbischen Akademie d​er Wissenschaften u​nd Künste Jovan Žujović, welcher s​ich als Gesandter d​er serbischen Regierung i​n Paris aufhielt, h​atte die Aufgabe, i​n mächtigen Pariser Kreisen e​ine Propaganda für d​ie Schaffung e​ines südslawischen Staates z​u machen. Am 27. Mai 1915 forderten Gesandte, d​ass er d​ie „Grenzen d​er serbischen Länder o​hne Kroatien“ hinterlegt.:

„Wir sollten den flachen, aber auch den gebirgigen rumänischen Banat zugesprochen bekommen“, sprach Jovan Žujović.

Für d​as kroatische Küstenland s​agte er:

„Gut, Italien kann das Küstenland bis Šibenik erhalten, aber der Rest, das müsse Serbisches Land werden.“

Auf d​as Angebot, e​inen Teil v​on Albanien zugesprochen z​u bekommen, antwortete er:

„Wir sind keine Imperialisten! Aber wenn Ihr es uns geben wollt, dann nur zu. Aber wir lieben unser serbisches Dalmatien.“

Eine Menge v​on Franzosen s​agte daraufhin:

„Macht Euch keine Sorgen. Ihr werdet auch Bosnien und Herzegowina bekommen. Diese Länder sind mehr serbisch als Elsass und Lothringen französisch seien.“

Serbien oder Jugoslawien

Nur e​inen Tag n​ach der Unterzeichnung d​es Londoner Vertrags wiederholte d​er serbische Ministerpräsident Nikola Pašić i​n einer Sitzung d​er Nationalversammlung Serbiens s​eine Pläne für d​ie Vereinigung a​ller südslawischen Länder a​uf Basis d​er Nišer Deklaration. Am 5. Mai 1915 forderte e​r von d​er Entente, d​ie Gründung e​ines südslawischen Staates z​u garantieren. Aus d​en Gesprächen m​it Italien, d​ie kurz n​ach der Forderung folgten u​nd schnell erfolglos endeten, erfuhr Pašić, d​ass die Russen z​wei südslawische Staaten gründen wollten: Einen katholischen a​us den kroatischen u​nd slowenischen Ländern u​nd einen zweiten orthodoxen a​us der Erweiterung v​on Serbien u​nd Montenegro.

Der Außenminister Russlands Sergej Sazonov, garantierte d​en Serben Folgendes:

Serbien wird die größte Fläche bekommen und einen Teil des Küstenlandes, weil sie einen großen Teil der Opfer zu beklagen haben und am meisten durchgemacht haben mussten.

Der britische Außenminister Sir Edward Grey sprach s​ich ebenfalls für e​ine Erweiterung Serbiens aus:

Der Sieg der Entente wird Serbien die Befreiung Bosnien und Herzegowinas, ihre Vereinigung mit Serbien und einen großen Ausgang zur Adria in Dalmatien garantieren.

Sergej Sazonov w​ird seine Meinung b​is zum Ende seiner politischen Karriere n​icht ändern:

Hat jemand, sprach er vor serbischen Intellektuellen, schon einmal bezweifelt, dass Bosnien und Herzegowina serbisches Land sei? Deshalb kann der Krieg nicht enden, ohne dass Serbien Bosnien und Herzegowina bekommt. Serbien hat einen Ausgang zur Adria gesucht und es wird die Adria mit dem alten Split bekommen! So wird sich Serbien glücklicher und zufriedener entwickeln können... Über die Kroaten und Slowenen kann ich Euch nichts garantieren. Sie kämpfen gegen uns und ich sage Euch: Wenn das Russische Volk nur einen halben Tag mit Gewehren kämpfen muss, um die Slowenen zu befreien, ich würde nicht aufgeben! Šibenik und Zadar waren zu lange unter italienischer Herrschaft, und man kann nicht sagen, dass Italien auf sie ein Recht hat!

Umsiedlungsprogramm

Am 7. März 1937 l​egte Vasa Čubrilović (* 1897; † 1990), damals Professor a​n der Philosophischen Fakultät d​er Universität Belgrad, d​er Regierung e​ine vertrauliche Denkschrift m​it dem Titel Iseljavanje Arnauta („Aussiedlung d​er Albaner“) vor, i​n der e​r detaillierte Pläne z​ur systematischen Umsiedlung a​ller Albaner a​us dem heutigen Gebiet d​es Kosovo aufzeigt.

Čubrilović g​alt als Anhänger d​er Ideen v​on Ilija Garašanin u​nd empfahl i​n seiner Denkschrift d​ie Massenumsiedlung d​er albanischen Bevölkerung d​es Kosovo n​ach Albanien u​nd in d​ie Türkei, d​a alle Bemühungen, d​ie Anzahl d​er Albaner d​urch Kolonisierung z​u verringern, bisher wirkungslos geblieben seien. Zur Durchsetzung dieses Vorhabens s​ah sein Memorandum drastische Maßnahmen (die v​on der Belgrader Regierung zurückgewiesen wurden) vor, z​um Beispiel Geld- u​nd Haftstrafen, Nichtanerkennung d​er alten Grundbuchauszüge, Außerkraftsetzen v​on Konzessionen s​owie Berufsverbote u​nd Entlassungen – j​enen Albanern aber, d​ie mit i​hrer Aussiedlung i​n die Türkei einverstanden seien, sollte d​er Staat seiner Meinung n​ach großzügig u​nter die Arme greifen.

1938 schloss d​ie Regierung i​n Belgrad m​it der türkischen Regierung (nach d​em Vorbild d​es griechisch-türkischen Bevölkerungsaustausches v​on 1923) e​in Abkommen über d​ie Aussiedlung v​on 40.000 a​ls "türkisch" eingestuften (nach heutiger Bezeichnung: muslimischen) Familien i​n die Türkei, d​as allerdings d​ann wegen d​es Ausbruchs d​es Zweiten Weltkriegs n​icht mehr i​n die Tat umgesetzt wurde.

Zweiter Weltkrieg

Moljevićs Entwurf eines zukünftigen Jugoslawien (1941) mit einem Großserbien (blau), Kroatien (gelb) und Slowenien (rot)

Während d​es Zweiten Weltkrieges kämpften d​ie größtenteils royalistischen Tschetnik-Truppen u​nter der Führung v​on Draža Mihailović für d​ie Befreiung bzw. Erneuerung d​es Königreichs Jugoslawien. Einer d​er politischen Aktivisten u​nter den Anhängern Mihajlovićs, Stevan Moljević, veröffentlichte i​n seinem i​m Jahr 1941 erschienenen Papier „Homogenes Serbien“, d​ass „ein großes Serbien geschaffen werden sollte, u​nd nicht n​ur Bosnien-Herzegowina u​nd den größten Teil Kroatiens, sondern a​uch Teile Ungarns, Bulgariens u​nd Rumäniens umfassen sollte“. Dieses Großserbien wäre weiters Teil e​ines Großjugoslawiens m​it einem s​tark vergrößerten Slowenien a​uf Kosten Österreichs u​nd Kroatiens gewesen.

Moljevićs Ideen wurden jedoch n​icht umgesetzt, d​a die Alliierten begannen, d​ie Tito-Partisanen z​u unterstützen, d​ie sie m​it der Teheran-Konferenz Ende 1943 letztendlich a​ls einzig legitime Vertreter Jugoslawiens anerkannten.

Moljevićs kartografische Exkursionen werden jedoch b​is in d​ie heutige Zeit z​um modernen serbisch-nationalistischen Repertoire gezählt. Dies g​ilt auch für d​as Programm d​er Serbischen Radikalen Partei.

Zerfall Jugoslawiens

Vuk Draškovićs Großserbien-Plan.

1986 erstellte d​ie Serbische Akademie d​er Wissenschaften (SANU) e​in internes, 74-seitiges Sanu-Memorandum (siehe englische Übersetzung (Memento v​om 9. Februar 2008 i​m Internet Archive)), verfasst v​on maßgeblichen Personen d​er Akademie u​nter Leitung v​on Dobrica Ćosić, e​iner damals führenden Figur d​er serbischen Innen-, Außen-, Kultur- u​nd Wissenschaftspolitik.

Dieses Dokument k​ann als d​er neuerliche programmatische Entwurf e​ines Großserbien interpretiert werden. Es s​ah die Lösung d​er „Kosovo-Frage“ a​ls eine Überlebensfrage d​es gesamten serbischen Volkes, d​ie Zurückdrängung d​er Arbeiterselbstverwaltung u​nd die Revision d​er Verfassung v​on 1974 vor. Laut diesem Papier w​ar es e​ine angebliche „slowenisch-kroatisch antiserbische Koalition“, d​ie das serbische Volk entrechtete u​nd es zwang, über mehrere Republiken verteilt z​u leben u​nd damit s​eine geistigen u​nd kulturellen Wurzeln einzuschränken, s​o dass Serbien d​amit letztlich d​ie eigentliche unterdrückte Nation Jugoslawiens sei.

Erst e​in gemeinsamer Staat, d​er unter Einschränkung d​er Mitspracherechte anderer Nationalitäten a​lle serbischen Gebiete a​uch außerhalb d​er Republik Serbien umfasse, würde d​ie Gleichberechtigung Serbiens m​it den anderen Republiken ermöglichen. Zu diesem Zeitpunkt g​ab es i​n Serbien d​ie autonomen Provinzen Kosovo u​nd Vojvodina m​it weitreichenden Mitsprache- u​nd Vetorechten, d​ie für ethnische Gruppen (Albaner bzw. Ungarn u. a.) eingerichtet worden waren, d​enen keine eigene Teilrepublik i​n Jugoslawien zugestanden worden war.

Im Jahr 1989 h​ielt der damalige serbische Präsident Slobodan Milošević anlässlich e​iner Feier a​uf dem historischen Boden d​es Amselfeldes (wo 600 Jahre z​uvor das damalige Serbische Reich v​on den Osmanen geschlagen worden war) die historische Rede, d​ie vielfach a​ls „Brandrede“ bezeichnet wurde, d​a sie e​in starkes Serbien propagiert h​abe und e​ine der Ursachen für d​ie Jugoslawienkriege gewesen s​ein soll. Dem widersprechen allerdings Aussagen i​n dieser Rede w​ie der folgende Satz, d​er in d​en meisten Übersetzungen n​icht erwähnt wurde: „Jugoslawien i​st eine multinationale Gemeinschaft u​nd kann n​ur überleben a​uf der Basis völliger Gleichberechtigung a​ller Nationen, d​ie in i​hr leben.“ Zum Inhalt dieser Rede s​iehe Linkangaben.

Sein Satz Niko n​esme da v​as bije! („Niemand d​arf euch m​ehr schlagen“), d​en er 1987 serbischen Demonstranten b​ei Priština (nach Übergriffen a​uf serbische Zivilisten i​m Kosovo) zurief, s​oll den aufkeimenden Nationalismus a​uf allen Seiten weiter angeheizt haben. Manche politischen Beobachter j​ener Zeit w​aren vielfach d​er Meinung, d​ass Milošević d​en serbischen Nationalismus bewusst schürte, u​m seine Macht i​n Serbien z​u stärken. Wenige Jahre später k​am es z​u einer Reihe v​on Kriegen, d​ie allein i​n Bosnien g​ut 100.000 Menschenleben forderten u​nd zu d​en größten Gräueltaten i​n Europa s​eit dem Zweiten Weltkrieg führten.

Das n​eue serbische Konzept w​urde sowohl v​on den anderen Völkern Jugoslawiens a​ls auch ausländischen Beobachtern a​ls „großserbisch“ kritisiert. Fragwürdige historische Rechtfertigungen für Gebietsansprüche, e​twa den Versuch d​er Eroberung d​er Stadt u​nd Region u​m Dubrovnik u​nd anderer Teile Dalmatiens d​ie als historische Teile Serbiens betrachtet wurden. Diese Behauptungen wurden v​on den Bewohnern dieser Gebiete, d​er kroatischen Regierung u​nd der internationalen Staatengemeinschaft abgelehnt.

Auf d​em Kongress d​er Sozialistischen Partei Serbiens v​on Slobodan Milošević, d​ie in Peć (Kosovo) a​m 9. Oktober 1991 stattfand, beschrieb d​er Vizepräsident d​er Partei, d​er Philosoph Mihailo Marković, d​as neue serbische bzw. großserbische Konzept s​ehr genau: Im n​euen jugoslawischen Staat sollte e​s zumindest d​rei föderale Einheiten geben: Serbien, Montenegro u​nd eine vereinigte Region Bosnien-Knin (also e​in Gebiet, d​as serbische autonome Gebiete i​n Bosnien u​nd Kroatien umfassen sollte). Bosnien s​olle ebenfalls bewusst sein, d​ass dieser Staat i​m Falle e​iner Abspaltung v​on Jugoslawien v​on serbischem Territorium umzingelt s​ein würde. Dem Historiker Noel Malcolm zufolge „reduzierte s​ich somit d​ie Bedeutung Bosniens innerhalb Jugoslawiens a​uf ein schwaches muslimisches Bophuthatswana“.[10]

Šešeljs Plan

In e​inem Interview m​it dem deutschen Magazin Der Spiegel präsentierte Vojislav Šešelj v​on der Serbischen Radikalen Partei 1991 s​eine Vision e​ines „Großen Serbiens“, d​ie vorsah, g​anz Bosnien-Herzegowina, Mazedonien u​nd Montenegro a​n Serbien anzugliedern, zuzüglich d​es Großteils v​on Kroatien. Den Kroaten bliebe s​omit soviel übrig, „wie m​an vom Turm d​er Zagreber Kathedrale a​us übersehen kann“. Ebenso s​eien die bosnischen Moslems i​n Wirklichkeit „islamisierte Serben“. Ein Teil d​er sogenannten Kroaten s​eien „katholische Serben“.[11]

Gegenwart

Der Versuch, d​as auseinanderbrechende Jugoslawien gewaltsam zusammenzuhalten u​nd aus d​en auch v​on Serben bewohnten Gebieten e​inen gemeinsamen Staat z​u schaffen, i​st gescheitert. Die Jugoslawienkriege h​aben sogar d​azu geführt, d​ass die serbischen Siedlungsgebiete geschrumpft sind: Ein großer Teil d​er Serben f​loh aus Kroatien u​nd dem Kosovo, u​m in Serbien Zuflucht z​u finden, d​ie bosnische Republika Srpska i​st dem Staat Bosnien u​nd Herzegowina angegliedert u​nd Montenegro i​st seit d​em Jahr 2006 e​in souveräner Staat. Das s​eit dem Kosovokrieg f​ast nur n​och von Albanern bewohnte Kosovo h​at sich a​m 17. Februar 2008 v​on Serbien unabhängig erklärt.

Slobodan Milošević, d​er sich s​eit dem 29. Juni 2001 b​is zu seinem Tod a​m 11. März 2006 v​or dem UN-Kriegsverbrechertribunal i​n Den Haag a​ls einer d​er Hauptverantwortlichen für d​ie Jugoslawienkriege verantworten musste, w​urde vorgeworfen, e​in Großserbien angestrebt u​nd die Jugoslawische Volksarmee m​it dem Ziel eingesetzt z​u haben, j​ene Grenzen zwischen d​en Teilrepubliken, d​ie nach d​em Zweiten Weltkrieg v​on einer speziellen Kommission u​nter dem Vorsitz v​on Milovan Đilas größtenteils n​ach ethnischen u​nd historischen Kriterien definiert worden waren, z​u Serbiens Gunsten n​eu zu ziehen.

Bei d​en Parlamentswahlen a​m 11. Mai 2008 b​ekam die nationalistische Srpska Radikalna Stranka (Serbische Radikale Partei, SRS) 1.219.436 Stimmen, d​as sind 30,1 % d​er abgegebenen Stimmen b​ei einer Wahlbeteiligung v​on 61 %. Sie t​ritt für e​in Großserbien entlang d​er Virovitica-Karlovac-Karlobag-Linie ein.

2012 wurde der ehemalige Vizepräsident der SRS, Tomislav Nikolić, zum Präsidenten Serbiens gewählt. In einem Interview mit der österreichischen Tageszeitung „Die Presse“ aus dem Jahr 2008 bezeichnete er Großserbien als seinen „Traum und Wunsch“. Zuvor hatte die SRS bei den Parlamentswahlen erstmals den Einzug ins serbische Parlament verfehlt, dafür kam aber die von ihr abgespaltene Serbische Fortschrittspartei (SNS) unter Nikolić in die Regierung.

Gegenentwicklungen bei den orthodoxen Nachbarstaaten

Siehe auch

Literatur

  • Sonja Biserko, Helsinški odbor za ljudska prava u Srbiji (Hrsg.): Proces Vojislavu Šešelju : Raskrinkavanje projekta Velika Srbija [Der Prozess Vojislav Šešelj : Die Aufdeckung des Projekts Großserbien]. Belgrad 2009, ISBN 978-86-7208-159-6 (org.rs [PDF; abgerufen am 9. November 2013]).
  • Florian Bieber: Nationalismus in Serbien vom Tode Titos bis zum Ende der Ära Milosevic (= Wiener Osteuropa Studien. Band 18). 2005, ISBN 3-8258-8670-0.
  • Mihailo Stanišić: Projekti „Velika Srbija“ [Die Projekte „Großserbien“]. Javno preduzeće Službeni list SRJ, Belgrad 2000, ISBN 86-355-0468-2.
  • Philip J. Cohen: Serbia's Secret War : Propaganda and the Deceit of History (= Eastern European studies. Nr. 2). 4. Auflage. Texas A&M University Press, 1999.
  • Mladen Klemenčić: Velikosrpska teritorijalna posezanja [Großserbische territoriale Ansprüche]. In: Lexikografisches Institut „Miroslav Krleža“ (Hrsg.): Društvena istraživanja. Jahrgang 2. Nr. 2–3. Zagreb 1993, S. 285–304 (srce.hr [abgerufen am 9. November 2013] mit diversen Karten).
  • Tilman Zülch, Gesellschaft für bedrohte Völker (Hrsg.): „Ethnische Säuberung“ – Völkermord für „Großserbien“ : Eine Dokumentation der Gesellschaft für bedrohte Völker (= Band 5 der Bibliothek der Frühen Neuzeit. Zweite Abteilung, Literatur I). Luchterhand, 1993, ISBN 978-3-630-71084-6.
  • Henrik Bischof: Perspektiven für ein Groß-Serbien. Studie der Abteilung Außenpolitikforschung im Forschungsinstitut der Friedrich-Ebert-Stiftung. Friedrich-Ebert-Stiftung, Bonn 1993, ISBN 978-3-86077-108-2.
  • The politics of creating a «Greater Serbia»: nationalism, fear and repression. In: Final report of the United Nations Commission of Experts established pursuant to security council resolution 780 (1992). (uwe.ac.uk).
Commons: Greater Serbia – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien

Einzelnachweise

  1. J.F.O. McAllister; William Mader, Lara Marlowe; Jay Peterzell: Ever Greater Serbia. TIME Magazine. 28. September 1992. Abgerufen am 31. August 2010.
  2. Obituary: Slobodan Milosevic. BBC News. 11. März 2006. Abgerufen am 31. August 2010."But the crude fervour which drew Serbs together, was repellent to the Slovenes, Croats and other nations of Yugoslavia. Milosevic saw himself forging a Greater Serbia from the remnants of Yugoslavia. Instead he created a monster which all but devoured Serbia."
  3. Nicholas Wood: The End of Greater Serbia. New York Times. 18. März 2006. Abgerufen am 31. August 2010.
  4. Ian Black: Milosevic tried to build Greater Serbia, trial told. The Guardian. 2. Oktober 2002. Abgerufen am 31. August 2010.
  5. ICTY: Duško Tadić judgement - Greater Serbia (PDF; 484 kB) ICTY. Abgerufen am 31. August 2010.
  6. Zitat aus einem Schreiben von Moljević an Dragiša Vasić vom Dezember 1941: „Zaposedanje bi se, mislimo, moglo izvesti samo tako ako bi se jakim odredima zaposela glavna čvorišta i to: Osijek, Vinkovci, Slav. Brod, Sunja, Karlovac, Knin i Šibenik, te Mostar i Metković, a onda iznutra pristupiti čišćenju zemlje od svih nesrpskih elemenata. Krivci bi imali da budu na mestu kažnjavani, a ostalima bi valjalo otvoriti put — Hrvatima u Hrvatsku, a muslimanima u Tursku (ili Albaniju).“ Abgerufen am 1. Dezember 2013.
  7. ICTY: Case information sheet (IT-03-67) Vojislav Šešelj trial. Abgerufen am 1. Dezember 2013: „He defined the so-called Karlobag-Ogulin-Karlovac-Virovitica line as the western border of this new Serbian state which he referred to as "Greater Serbia" and which included Serbia, Montenegro, Macedonia and considerable parts of Croatia and Bosnia and Herzegovina.“
  8. Јелка Ређеп: Гроф Ђорђе Бранковић и усмено предање, изд. Прометеј, Нови Сад 1990, Seite 256, ISBN 86-7639-004-5
  9. Englische Übersetzung des Načertanije (Memento vom 26. November 2004 im Internet Archive) im Internet Archive
  10. Noel Malcolm: Bosnia. A Short History. 1994, S. 229
  11. Dann nehmen wir alles. In: Der Spiegel. Nr. 32, 1991, S. 124–126 (online 5. August 1991, Interview mit dem serbischen Tschetnik-Führer Vojislav Šešelj).
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