Londoner Vertrag (1915)
Der Londoner Vertrag 1915 (italienisch Patto di Londra) wurde während des Ersten Weltkriegs am 26. April 1915 als Geheimvertrag zwischen Italien auf der einen und den alliierten Großbritannien, Frankreich und Russland auf der anderen Seite geschlossen. Er sah den Kriegseintritt Italiens gegen das Deutsche Kaiserreich und Österreich-Ungarn vor, dem dafür die Anerkennung verschiedener territorialer Ansprüche, wie z. B. das südliche Tirol, zugesichert wurde.
Vorgeschichte
Vor dem Ersten Weltkrieg war Italien als Mitglied des Dreibundes mit Deutschland und Österreich-Ungarn verbündet. Da der Dreibund aber ein Defensivbündnis war, der Krieg aber nach dem Attentat von Sarajevo mit der Kriegserklärung der Habsburgermonarchie an Serbien als Angriffskrieg begann, sah sich Italien nicht mehr zum Beistand verpflichtet und erklärte zunächst seine Neutralität.
Nach der Annexion Libyens durch Italien 1911 war die Verärgerung über die französische Besetzung Tunesiens im Jahre 1881 in Italien abgeflaut. Andererseits lebten immer noch Italiener unter österreichischer Herrschaft im Trentino und im Küstenland. Umgekehrt war Frankreich im Krieg daran interessiert, seine Wachtruppen von der Alpengrenze zu Italien abziehen zu können, um die Front gegen Deutschland zu stärken.
Zustandekommen und Inhalt der Vereinbarungen
Am 4. März 1915 beauftragte der italienische Außenminister Sonnino den Botschafter Guglielmo Imperiali in London, die Forderungen Italiens für einen Kriegseintritt auf Seiten der Triple Entente vorzulegen, nachdem weniger weitreichende Angebote Österreich-Ungarns Italien nicht befriedigt hatten. In London wurden die italienischen Forderungen akzeptiert, wobei insbesondere Südtirol als Tauschobjekt für die italienischen Forderungen am Balkan stand, die Russland strikt ablehnte.[1] Der „Geheimvertrag“ wurde dann am 26. April 1915 im Rahmen einer Konferenz unterzeichnet. Es wurde zudem vereinbart, dass entsprechende Heeres- und Marineabkommen zur Koordinierung der Kriegsanstrengungen gegen die Mittelmächte abgeschlossen werden sollten. Insbesondere verpflichtete sich Russland zu Entlastungsangriffen auf Österreich-Ungarn, wenn dieses seine Hauptmacht gegen Italien richten sollte, Frankreich und Großbritannien verpflichteten sich zur aktiven Bekämpfung der österreichischen Flotte im Mittelmeer. Im Gegenzug verpflichtete sich Italien, gegen alle Gegner mit allen verfügbaren Kräften zu kämpfen. Am 23. Mai 1915 überreichte der italienische Botschafter in Wien die Kriegserklärung seiner Regierung.[1]
Für den Friedensschluss wurden Italien große Gebietsgewinne zugesichert:
- Tirol bis zum Brenner
- Triest und Istrien außer Rijeka (Fiume)
- das nördliche und mittlere Dalmatien mit den vorgelagerten Inseln
- der Besitz des bereits von Italien besetzten Dodekanes in der Ägäis wurde garantiert
- der Besitz des bereits besetzten Libyen wurde garantiert
- Italien solle einen gerechten Anteil bei einer möglicherweise erfolgenden Aufteilung der Türkei erhalten (das Gebiet von Antalya und angrenzende Gebiete bis einschließlich Konya und Smyrna)
- im Falle einer Aufteilung der deutschen Kolonien wurden Italien Kompensationen in Afrika zugesagt
- Italien wurde das Recht zugesprochen, die Außenbeziehungen Albaniens zu leiten
Italien wiederum verpflichtete sich, die Ansprüche Serbiens und Montenegros auf einen Küstenstreifen um Rijeka sowie im südlichen Dalmatien anzuerkennen und sich einer Aufteilung Albaniens auf Serbien, Montenegro, Griechenland und einen kleinen albanischen Reststaat um Durazzo nicht zu widersetzen.
Britisch-italienischer Geheimvertrag
In einem parallelen Geheimabkommen (ohne Einbeziehung Frankreichs) sicherte Großbritannien 1915 Italien neben den versprochenen vagen Kompensationen in Afrika auch konkret die Erwerbung Abessiniens (Äthiopiens) zu.[2]
Öffentliche Wahrnehmung
Nach der Oktoberrevolution 1917 begann die bolschewistisch-russische Regierung, die Geheimverträge des Russischen Kaiserreiches zu veröffentlichen, darunter auch den Vertrag von London. Die österreich-ungarische Militärverwaltung übersetzte die Albanien betreffenden Passagen ins Skypetarische und publizierten diese. In Albanien kippte die Stimmung gegen die italienischen Besatzungstruppen im Süden. Am 3. Juni 1917 proklamierte der Kommandant der italienischen Besatzungstruppen, Generalleutnant Giacinto Ferrero, in Gjirokastra die Einheit und Unabhängigkeit ganz Albaniens unter dem Protektorat von Italien.[3]
Nach der Oktoberrevolution veröffentlichte der Rat der Volkskommissare im November 1917 den russischen Vertragstext in der Regierungszeitung Iswestija, um die Bevölkerung über die imperialistischen Kriegsziele Italiens aufzuklären und den Friedensvertrag von Brest-Litowsk zu rechtfertigen.
Nach Ende des Krieges erhielt Italien tatsächlich Südtirol, Triest und Istrien und behielt Libyen und den Dodekanes. Dalmatien wurde allerdings dem neu gebildeten Königreich Jugoslawien zugeschlagen. Die Zone im Süden der Türkei musste wieder geräumt werden, da die Regierung unter Kemal Atatürk den Friedensvertrag nicht akzeptierte, und bei der Verteilung der deutschen Kolonien ging Italien zunächst ebenfalls leer aus.
Die italienischen militärischen Erfolge waren trotz großer Kriegsanstrengungen weniger erfolgreich als erhofft gewesen. Außerdem erhielt Italien die im Vertrag versprochenen Gebietsgewinne nicht vollständig. Daher war trotz des Sieges die Enttäuschung in Italien groß. Dies gilt als einer der Gründe für das Erstarken des Faschismus.
1924/26 überließen die Briten dem seit Oktober 1922 faschistischen Italien doch noch einige relativ unbedeutende ägyptische und kenianische Grenzgebiete zur Abrundung Libyens und Italienisch-Somalilands (Oase Dscharabub, Jubaland).
Einzelnachweise
- Rolf Steininger: 1918/1919. Die Teilung Tirols. In: Georg Grote, Hannes Obermair (Hrsg.): A Land on the Threshold. South Tyrolean Transformations, 1915–2015. Peter Lang, Oxford-Bern-New York 2017, ISBN 978-3-0343-2240-9, S. 3–25, hier: S. 6.
- Gerhard Hellwig, Gerhard Linne: Daten der Weltgeschichte. Bertelsmann Lexikon Verlag, Gütersloh 1975, S. 373.
- Michael Schmidt-Neke: Entstehung und Ausbau der Königsdiktatur in Albanien (1912–1939). Regierungsbildungen, Herrschaftsweise und Machteliten in einem jungen Balkanstaat. (=Südosteuropäische Arbeiten 84), Verlag Oldenbourg, München 1987, ISBN 3-486-54321-0, S. 43.
Literatur
- John Fisher: Curzon and British imperialism in the Middle East, 1916–19. Verlag Frank Cass, London 1999, ISBN 0-7146-4429-3, S. 307ff. (Ungekürzter englischer Text des Vertrags online bei Google Books)
- John Ashley Soames Grenville, Bernard Wasserstein (Hrsg.): The major international treaties of the twentieth century. A history and guide with texts. Taylor & Francis, London 2001, ISBN 0-415-23798-X, S. 64ff. (The major international treaties in der Google-Buchsuche)
- Johannes Hürter, Gian Enrico Rusconi (Hrsg.): Der Kriegseintritt Italiens im Mai 1915. Sondernummer der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte. Verlag Oldenbourg, München 2007, ISBN 978-3-486-58278-9 (Inhaltsverzeichnis).
Weblinks
- Primary Documents – Treaty of London, 26 April 1915 (Gekürzter englischer Text)
- Parliamentary papers. Command Papers. LI Cmd. 671, Miscellaneous Nr. 7,2–7. London 1920. Gekürzter Text des Vertrags online (englisch)