Völkerschau
Völkerschau (auch Kolonialausstellung oder Kolonialschau und Menschenzoo genannt) bezeichnet eine zooartige Zurschaustellung von Angehörigen eines fremden Volkes gegen Eintrittsgebühren. Blütezeit der Völkerschauen in Europa war zwischen 1870 und 1940. Allein in Deutschland wurden in dieser Zeit über 300 außereuropäische Menschengruppen vorgeführt. Teilweise wurden in diesen Völkerschauen und Kolonialschauen gleichzeitig über 100 Menschen zur Schau gestellt.[1] Diese Zurschaustellung waren Massenveranstaltungen, die ein millionenfaches Publikum in Europa und Nordamerika anlockten. Sie fanden auch abseits der Großstädte in mittelgroßen und kleinen Städten statt.[2]
Entdeckungsreisende brachten von ihren Unternehmungen ab dem 15. Jahrhundert Menschen aus fernen Ländern nach Europa, die zunächst Adeligen und reichen Kaufleuten gezeigt wurden. Die Entdecker wollten ihren Erfolg belegen und die Obrigkeit reklamierte ihre Besitzansprüche und wollte ihre Weltoffenheit und ihren Reichtum demonstrieren. Im 19. Jahrhundert entstand ein Geschäftszweig, in dem nicht nur einzelne Menschen oder kleine Gruppen aus den entferntesten Gebieten der Erde vorgestellt wurden, sondern diese Veranstaltungen, von denen einzelne bis zu 60.000 Menschen besuchten, erbrachten den Veranstaltern beträchtliche Gewinne. Der sich in jener Zeit entwickelnde europäische Kolonialismus wollte mit Völkerschauen bzw. Kolonialschauen zeigen, dass Kolonien auch für das Volk von Vorteil sein können. Im Jahr 1940 wurden die Völkerschauen eingestellt und sie in den 1950er Jahren wiederzubeleben, gelang nicht.
Begriff
Der Begriff Völkerschau taucht im deutschsprachigen Raum als »Völkerschau auf Reisen« bereits im Jahr 1840 als Buchtitel in den von Theodor Mundt verfassten Reiseberichten aus Europa und Afrika auf. Während Völkerschauen privat betrieben wurden, waren die Kolonialschauen staatlich organisiert. Die erste sogenannte Kolonialausstellung in Deutschland fand 1896 im Treptower Park von Berlin statt, wobei in einem sogenannten »Negerdorf« mit mehr als 100 Schwarzafrikanern sieben Monate lang vermeintlich typische Lebenssituationen nachgestellt wurden.[3] In jener Zeit wurden Völkerschauen auch als anthropologische Ausstellungen oder anthropologische Schaustellungen bezeichnet.[4][5] Von 1901 bis 1903 erschien eine Zeitschrift »Völkerschau« und 1932 gab es ein Sammelalbum »Völkerschau in Bildern« für Sammelbilder aus Zigarettenschachteln. Der Begriff Völkerschau bezog sich in diesen Jahrzehnten auf die Darstellung und Beschreibung exotischer Menschen mit ihren Trachten, Sitten und Gebräuchen wie ihres heimatlichen Umfeldes. 1904 wurde der Begriff zum ersten Mal für eine Vorführung von »Tunesiern« auf dem Oktoberfest in München verwendet. Hagenbeck legte Wert darauf, dass seine Veranstaltungen »ethnologisch-zoologische Ausstellungen« genannt wurden und bezeichnete sie in seiner Korrespondenz und Autobiografie als »Völkerausstellungen«. Im üblichen Sprachgebrauch wurden sie »Karawanen«, »Gruppen«, »Truppen« oder »Ausstellungen« genannt. Im damaligen »wissenschaftlichen Kontext« dieser Zeit wurde auch der Begriff »Menschausstellung« und »Menschenvorstellungen« verwendet.[6]
Neuerdings, beginnend etwa ab 2010, ist im deutschsprachigen Raum festzustellen,[7][8][9][10][11][12] dass in den Medien der Begriff Völkerschau durch Menschenzoo verschiedentlich ersetzt wird.
Geschichte
15. bis 17. Jahrhundert
Entdeckungsreisende in der frühen Neuzeit nahmen auf ihren Rückreisen häufig überseeische Bewohner mit nach Europa. Der in Italien geborene Christoph Kolumbus (um 1451–1506) brachte von seiner ersten Entdeckungsreise sieben Arawak-Indianer nach Spanien mit. Der italienische Seefahrer Amerigo Vespucci (1454–1512) brachte von seinen vier Entdeckungsreisen etwa 200 Bewohner Amerikas nach Europa. Der portugiesische Seefahrer Gaspar Corte-Real (1450–1501) brachte 1500 die ersten nordamerikanischen Indianer nach Lissabon. Als der Spanier Hernán Cortés (1485–1547) im Jahr 1528 zurückkehrte, kamen die ersten Mexikaner in Europa an, die vor Karl V. und vor dem Papst auftraten. Der französische Seefahrer Jacques Cartier (1491–1557) brachte die ersten amerikanischen Ureinwohner nach Frankreich.
1606 trat in Nürnberg ein Mann aus Afrika auf, der Spiele mit afrikanischen Tieren und Hunden vorführte.[13] 1610 marschierte ein Huron-Indianer mit indianischem Ledergewand und glattrasiertem Kopf ein Jahr lang durch Paris und wurde so allgemein unter dem Namen „Savigonin“ bekannt. Der Name Pocahontas, eine Häuptlingstochter, die mit ihrem Mann, dem Tabakpflanzer John Rolfe, nach Europa kam, ist bis heute in Erinnerung geblieben. Sie starb vor ihrer Abreise aus Europa.
18. Jahrhundert
Im 18. Jahrhundert, als die Südsee entdeckt wurde, brachte der französische Offizier und Seefahrer Louis Antoine de Bougainville (1729–1811) im Jahr 1769 nach seiner Weltumsegelung Aotourous, den ersten Tahitianer nach Frankreich. Als dieser im März 1790 Paris verließ, starb er auf dem Schiff an Pocken. Der zweite Tahitianer, der im Jahre 1775 nach Europa ins Vereinigte Königreich kam, war der Diener Omai (auch Mai genannt) des britischen Seefahrers James Cook (1728–1779). Im Gegensatz zu anderen Fällen hatten beide angeblich die Seereise nach Europa freiwillig angetreten und mussten, weil ihren Förderern ihr Unterhalt zu teuer wurde, die Rückreise antreten.[14] Gouverneur Arthur Phillip (1738–1814), der Gründer der britischen Sträflingskolonie Australien, nahm auf seiner Rückreise im Jahr 1792 die Aborigines Bennelong (1764–1813) und Yemmerrawanne (1775–1794) ins Vereinigte Königreich mit, die am 24. Mai 1793 König Georg III. vorgestellt wurden.[15]
19. und 20. Jahrhundert
Völkerschauen im eigentlichen Sinne gibt es erst seit der Mitte der 1870er Jahre, davor wurden einzelne »exotische Menschen« zur Schau gestellt. Carl Hagenbeck veranstaltete 1874 seine erste Völkerausstellung mit »Lappländern«, mit der er die Grundlage zum erfolgreichen Veranstalter von Völkerschauen legte.[16] Entscheidend für die Fortentwicklung von der bloßen Zurschaustellungen einzelner oder Gruppen »exotischer Menschen« war der schwindende Publikumserfolg, daher wurden Völkerschauen konzipiert und mit großem Erfolg veranstaltet.[17]
Nachdem das Deutsche Reich im Jahr 1884 mit der Besetzung von Togo, Kamerun und weiteren Gebieten zu einer Kolonialmacht wurde, sollte dies auch in Europa propagandistisch abgesichert werden. Eine erste deutsche Kolonialausstellung fand 1896 im Rahmen der Berliner Gewerbeausstellung in Treptow statt.[18] Insgesamt wurden von den etwa 50 Kolonialschauen lediglich zwei staatlich organisiert, es waren die Berliner Kolonialausstellung von 1896 und die Deutsche Afrika-Schau von 1935 bis 1940. Lediglich in diesen zwei Kolonialschauen kamen die Menschen aus den deutschen Kolonien. Deutlich werden sollte mit diesem Propagandainstrument, dass Kolonien nicht nur den Partikularinteressen einzelner elitärer Kreise dienten, sondern dem Gesamtinteresse von Wirtschaft, Militär und Gesellschaft des imperialistischen Deutschlands. Dem „kleinen Mann“ sollten Kolonialausstellungen, die von 1896 bis 1940 in Deutschland stattfanden, zeigen, dass deutsche Kolonien auch ihm „Vorteile und Chancen“ bieten.[19]
Die Zurschaustellung sogenannter „exotischer Völker“ beschränkte sich nicht auf Deutschland. In anderen Staaten (West-)Europas und Nordamerikas wurden ebenfalls Völkerschauen in Zoologischen Gärten, Panoptiken, auf Volksfesten und Jahrmärkten sowie im Rahmen von Kolonial- und Weltausstellungen veranstaltet. So fanden beispielsweise in Wien zwischen 1870 und 1910 über 50 Völkerschauen statt,[20] der Basler Zoo war Veranstaltungsort von 21 Schauen.[21] Bei der Pariser Weltausstellung von 1889 gab es neben der Einweihung des Eiffelturms als weitere Hauptattraktion in dem zum Jardin d’Acclimatation Anthropologique verwandelten früheren Jardin Zoologique d’Acclimatation, eine riesige Völkerschau des französischen Kolonialreichs (1877–1912).[22] Auf der World’s Columbian Exposition in Chicago 1893 waren 17 „Eingeborenen“-Dörfer zu sehen.[23] Im Rahmen der Weltausstellung von 1897 in Brüssel wurde ein kongolesisches Dorf aufgebaut, in dem während der Ausstellung 267 Afrikaner lebten.[24] In der Weltausstellung in St. Louis von 1904 wurden unter anderem Patagonier und philippinische Igorot zur Schau gestellt.[25]
Nach dem Ersten Weltkrieg brach der Geschäftszweig zunächst ein. Die Geschäftsbeziehungen in alle Welt waren bei vielen Unternehmen zerstört. In den 1920er Jahren gab es wieder Völkerschauen, allerdings nahm ihre Popularität deutlich ab. Um gegen Konkurrenz, z. B. durch den Rundfunk, zu bestehen, wurden die Ausstellungen immer größer und kostspieliger. Friedrich Wilhelm Siebold veranstaltete zwischen 1930 und 1932 mehrere „Lippenneger“-Schauen sowie 1931 die Ausstellung „Kanaken der Südsee“ auf dem Münchner Oktoberfest.[26]
Der Beginn der nationalsozialistischen Herrschaft markierte das Ende der Völkerschauen in Deutschland. Zunächst gab es noch einige Schauveranstaltungen mit ähnlichem Konzept, so wurde 1937 ein „Eingeborenendorf“ im Düsseldorfer Zoo gezeigt. Von 1935 bis 1940 tourte die Deutsche Afrika-Schau durch das Deutsche Reich, ein varietéartiges Programm, das sich zunehmend dem Konzept der klassischen Völkerschau annäherte und für die Wiedergewinnung der ehemaligen Kolonien warb.[27] 1940 trat ein Auftrittsverbot für Schwarze in Kraft, so dass Völkerschauen nicht mehr organisiert werden konnten. Nach dem Zweiten Weltkrieg gab es in Deutschland kaum noch Völkerschauen (so auf dem Oktoberfest 1950 eine Apachen-Show, 1951 und 1959 an gleicher Stelle je eine unter dem Thema Hawaii) – die Sehnsucht nach Exotik bedienten nun Film und Fernsehen sowie die aufkommenden Fernreisen.
In der Schweiz fanden Völkerschauen ab den 1870er Jahren verbreitet statt, so gab es 1885 »Carl Hagenbecks anthropologische-zoologische Singhalesen-Ausstellung«; am ersten Wochenende wurden 10.000 Eintrittskarten verkauft. Auf der Schweizerischen Landesausstellung im Sommer 1896 in Genf war neben einem Village suisse ein Village noir mit 230 Sudanesen zu sehen. Neben anderen Anlässen wurde beispielsweise im Sommer 1925 in Altstetten zur »Volksbelustigung« eine Siedlung errichtet, in der 74 Menschen aus Westafrika lebten; 1930 baute der Zoo Zürich auf der Flamingowiese ein »Senegalesendorf«. Der Circus Knie führte auf dem Sechseläutenplatz in Zürich bis 1964 Völkerschauen durch. 1955 lautete ein Plakat: »Afrika ruft, Sitten- und Völkerschau. Neger aus dem Sudan. Sechs Männer, drei Frauen, zwei Kinder.«. Im Allgemeinen gingen Besucher nicht aus Sensationslust zu solchen Schauen, sondern aus Interesse an der Kultur der Völker.[28][29]
Völkerschauen
Carl Hagenbeck
Im Jahr 1874 eröffnete Carl Hagenbeck eine erste Völkerschau mit Lappländern nach der Idee des befreundeten Tiermalers Heinrich Leutemann (1824–1905).[30][31] Während des Aufenthalts in Hagenbecks Ausstellungsgelände konnten Besucher den Lappländern bei ihrem alltäglichen Leben zusehen. Hagenbecks Schau feierte große Erfolge.[32] Die kleine Lappländerschau wanderte von Hamburg aus weiter nach Berlin. Anschließend reiste sie nach Leipzig. Um die Ausstellungen aus dem Umfeld von Schaubuden und Vergnügungslokalitäten zu lösen, versuchte man von nun an seriöse Ausstellungsorte zu finden, damit die Schauen auch vom Bürgertum respektiert wurden.
Nach dem unerwarteten großen Erfolg der ersten Völkerschau Carl Hagenbecks plante dieser schnell weitere. Mithilfe seiner Verbindungen zu Tierfängern auf der ganzen Welt brachte er 1876 drei „Nubier“ nach Europa und gleich darauf eine Inuitfamilie aus Grönland. 1883 und 1884 veranstaltete er eine Kalmücken- und eine Singhalesen- bzw. Ceylonschau. Mit der Eröffnung seines Tierparks in Stellingen 1907 vor den Toren Hamburgs stand Carl Hagenbeck ein eigenes Ausstellungsgelände zur Verfügung, wo Somalier, Äthiopier und Beduinen auftraten.
Andere Schausteller
Hagenbecks Völkerschauen fanden bald Nachahmer, die zu der Zeit Eduard Gehring, Carl, Fritz und Gustav Marquardt, Willy Möller, Friedrich Wilhelm Siebold, die Firmen Ruhe und Reiche sowie Carl Gabriel waren.[33]
Die Firmen von Ludwig Ruhe und Carl und Heinrich Reiche waren die größten Konkurrenten Hagenbecks. Beide waren ansässig in Niedersachsen und wetteiferten mit Hagenbeck unter anderem durch Nubier- und Irokesen-Schauen, „Wild-Afrika“ (1926) und die „Riesenpolarschau“ (1930).
Carl Gabriel war selten überregional, sondern meist nur in München auf dem Oktoberfest tätig. Er besaß ein Wachsfigurenkabinett, ein Lichtspieltheater und später ein Kino. Mit seinen „Riesen-Schauen“, die oft über einhundert ausgestellte Menschen zeigten, lockte er viele Besucher auf das Oktoberfest und machte es so zu einem mehrfachen „Exoten-Schauplatz“.
Aus Völkerschauen in Freiburg im Breisgau und Basel entwickelte Karl Küchlin die Programme seines Varieté-Theaters.
Organisation
Die Organisation der Völkerschauen war mit großem Aufwand verbunden. Insgesamt mussten für eine Völkerschau bis zu fünf Jahre zur Vorbereitung und Umsetzung eingeplant werden. Bereits die Anwerbung begann ein halbes Jahr vor der eigentlichen Tournee. Anwerber des Tierhändlers Carl Hagenbeck waren zum Beispiel der Nordpolargebiet-Reisende Johan Adrian Jacobsen oder Mitglieder aus Hagenbecks Familie.[34]
Es wurde stark darauf geachtet, möglichst Kinder und Erwachsene beiden Geschlechts und verschiedenen Alters vorzuführen, damit die Besucher mehr über das „Familienleben“ der Völker erfahren konnten. Mit einem Vertrag zwischen Organisator und den Exoten wurde die Länge des Aufenthalts, die Verpflichtungen während der Schau und das Gehalt festgelegt. Einige Schauen verzeichneten Verluste durch Krankheiten ihrer Darsteller, wodurch eine medizinische Untersuchung Pflicht wurde.[35]
Werbung, Inszenierung
Schon die Ankunft der Teilnehmer erregte viel Aufsehen unter anderem mit Umzügen durch die Stadt. Die Schauen profitierten von Ereignissen wie Tod, Hochzeit oder Geburt der Ausgestellten und dem dadurch entstehenden Besucherandrang.[36] Auch prominente Besucher der Schauen wie zum Beispiel Otto von Bismarck lockten noch mehr Publikum zum Ausstellungsort. Durch zahlreiche Verbindungen zur Presse erschienen hunderte von Artikeln über derartige Ereignisse. Auch Post- und Sammelkarten, Film und Radio trugen zur Vermarktung bei. Plakate waren wichtige Werbemedien: Sie waren farbenfroh, bildgewaltig und groß gestaltet. Am begehrtesten waren die Plakate der Hamburger Druckerei Adolph Friedländer.
Die Inszenierung der Ausstellungen konnte man teilweise mit Theateraufführungen vergleichen. Deshalb wurden bevorzugt Artisten, Gaukler und Handwerker nach Deutschland gebracht. Alle Teilnehmer mussten gesund und kräftig sein. Es gab drei Typen der Völkerschauen: Zum einen das „Eingeborenendorf“, das der Zuschauer durchlaufen konnte, dann Schauen mit geregelten Abläufen der Vorführungen und den Beiprogrammen, bei denen stark auf die körperliche Andersartigkeit gegenüber den Europäern hingewiesen wurde. Oft gab es aber auch Mischformen. Wichtig waren auch passende Kostüme und aufwendig gestaltete Bühnen und Kulissen, die ein Bildnis der Heimat darstellten.
Die Zurschaustellung der Völker entsprachen meist nicht der Wirklichkeit und der wahren Lebensweise der Völker, sondern vielmehr einem Abbild der europäischen Klischees zu den fremden Menschen, die durch Bücher und Erzählungen (z. B. von Karl May) und Berichten von Entdeckern entstanden waren. So zum Beispiel wurden die Feuerländer als Kannibalen dargestellt und mussten rohes Fleisch essen, Kämpfe und Kriegstänze vorführen. Indien zeichnete sich durch seine malerischen Kulissen, die prachtvollen Kostüme und bunt geschmückte Elefanten aus. Die Völkerschauen zeigten keinesfalls das reale Leben, es handelte meist um eine erniedrigende Darstellung fremder Kulturen.
Stereotypen, Klischees
Ein wesentliches Merkmal zur erfolgreichen Vermarktung der Völkerschauen seien, so eine Darstellung aus dem Jahr 2005[37], die Bildung von Stereotypen gewesen, die an den vorhandenen Rassismus und die Klischees über andere Völker anknüpften. Die Klischees, die in den Völkerschauen verwendet worden seien, seien Teil des europäischen kulturellen Erbes. Sie knüpften an das verbreitete Wissen um außereuropäische Völker an, das vorher schon durch Reiseberichte verbreitet worden sei. Dadurch bestätigten die Völkerschauen vorhandene Vorstellungen der breiten Masse der Bevölkerung und festigten sie. Völkerschauen seien nicht aufklärerisch gewesen. Die Bevölkerung habe das glauben sollen, was es auf den Völkerschauen sah. Es gab zwar in dieser Zeit auch Wissenschaftler, die andere Erkenntnisse gewonnen hatten und andere Auffassungen vertraten, aber die Schausteller, die auf Zuspruch aus waren, haben diese negiert oder deren Erkenntnisse in ihrem Sinne unter kommerziellen Gesichtspunkten abgewandelt. Zur Verbreitung dienten vor allem Plakate und auch Postkarten, neben Berichten der Presse. Die Stereotypen seien massenhaft verbreitet worden.
Sieben Völkergruppen seien anhand von Plakaten auszumachen:
- Als »Urmenschen« galten die Feuerländer, Hottentotten und Australneger. Sie zeichneten sich dadurch aus, dass sie ihren Körper verunstalteten, dass sie Kannibalen seien, keine richtige Sprache sprächen und trotz ihrer geistigen Beschränktheit Tänze aufführen könnten.
- »Afrikaner« galten als wild und stolze Kämpfer. Sie teilten sich in ihrer Wildheit nicht nur den Lebensraum mit wilden Tieren, sondern werden mit wilden Tieren Afrikas verglichen. Auf den Plakaten sehe man sie nie arbeiten und auch auf den gezeigten Landschaftsabbildungen sehe man nie bestellte Felder, sondern lediglich Dschungellandschaften.
- Die »Araber« wurden als stolze Krieger und Reiter dargestellt. Basare, Moscheen, Bauchtänze und Schlangenbeschwörer bildeten das Beiwerk für die dargestellte Gefährlichkeit und ungestüme Wildheit von Arabern.
- Die Vorstellung von »Südseeinsulanern« basierte auf einem Leben im Paradies, in dem alle unbeschwert glücklich gewesen seien. Es gebe keine Kriege und keine Not. Frauen werden halb nackt dargestellt, lediglich mit einem Lendenschurz bekleidet. Die Insulaner feierten, spielten und vergnügten sich nur.
- Dass die »Indianer« Kriege führten und von der Büffeljagd lebten, sei das Bild, das den Besuchern von Völkerschauen vermittelt worden sei. Auf den Plakaten seien ferner das Rauchen der Friedenspfeife, das Abhalten von Kriegsrat, Kriegstänze und das wilde Jagen abgebildet worden.
- Die »Menschen auf dem hohen Norden« seien in Stereotypen abgebildet worden. Unterstellt wurde: Die Kalmücken und Lappländer müssten der Natur ihr Leben abringen. Sie führten keine Kriege und sie lebten in Lagern, in denen ein komplexes Sozialsystem jedem eine Aufgabe zuweise. Auch die Tiere, die sie nutzten, würden als Zug- und Lasttiere verwendet (Kalmücken nutzten Dromedare und die Lappländer Rentiere) und diesen Tieren seien keine vergleichsweisen menschlichen Attribute zugewiesen worden, wie dies bei den Afrikanern der Fall gewesen sei.
- Die »Inder und Singhalesen« seien auf Plakaten als Mitglieder einer hohen Kultur abgebildet gewesen, die den Europäern fremd geblieben sei. Sie kämen kulturell den Europäern zwar am nächsten, aber Indien sei das Land der Magier, Gaukler, Tempeldienerinnen und Schlangenbeschwörer. Die Singhalesen seien auf Plakaten ähnlich wie Inder dargestellt, allerdings etwas schlichter.[38]
Völkerschauende
In den 1930er Jahren begann das Interesse an Völkerschauen und auch das »wissenschaftliche Interesse«, das mit überaus fragwürdigen Methoden Forschung betrieb, an »exotischen« Menschen zu schwinden. Die Gründe hierfür sind vielschichtig. In der Wissenschaft trat an die Stelle der Forschung daheim die Feldforschung, bei der das Verhalten der Menschen in ihrer Umwelt untersucht wurde. Das Interesse der NSDAP an Völkerschauen war zunächst gering. Das Auswärtige Amt genehmigte in den späten 1930er Jahren die sogenannte »Afrikaschau« nur unter dem Vorbehalt, dass „Unzuverträglichkeiten gegenüber der Öffentlichkeit“ ausgeschlossen seien. Die Afrikaschau kam bei der Bevölkerung gut an und die Nationalsozialisten kamen auf die Idee John Hagenbeck daran zu beteiligen und so tourte diese Veranstaltung von 1935 bis 1940 durch Deutschland. 1939 wurde eine »Kamerunschau« ohne Hagenbeck veranstaltet, zu einer weiteren derartigen Veranstaltung kam es nicht, denn das Auswärtige Amt war der Auffassung, dass diese „Art der Kolonialpropaganda […] in breiten Schichten des deutschen Volkes einer berechtigten Verständnislosigkeit begegnet“. Auch wenn 1940 jegliche Völkerschauen verboten wurden, war die Haltung hierzu in der NSDAP nicht einheitlich. Die Nationalsozialisten sahen und befürchteten in den Völkerschauen vor allem eine Rassenmischung. Kolonialprogaganda war ihnen zwar wichtig, aber nicht in der Form von Völkerschauen und diese Propaganda sollte durch Vorträge, Lichtbildervorträge und Schulungen erfolgen.[39]
Das Ende der Völkerschauen schreibt Anne Dreesbach, die Autorin des Buches Gezähmte Wilde, nicht allein den Nationalsozialisten zu, sondern sieht einen wesentlichen Faktor in der aufkommenden Filmindustrie, die seit den 1920er Jahren zu einem Massenphänomen geworden war. Filme erzielten nicht nur eine größere Wirkung, sondern waren auch einfacher zu realisieren.[40]
Als nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs in den 1950er Jahren auf dem Oktoberfest in München die Völkerschauen wiederbelebt wurden und mehrere Völkerschauen an verschiedenen Orten bis 1959 in der Bundesrepublik stattfanden, war das »Zeitalter der Völkerschauen« vorbei,[41] wesentlich verursacht durch den beginnenden Ferntourismus.[42] Hinzu kam die Haltung der europäischen Gesellschaften in den 1950er und 1960er Jahren, die aus den Erfahrungen des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkriegs resultierte, mit dem Zerfall der europäischen Kolonialreiche und mit den Unabhängigkeitsbestrebungen der überseeischen Völker verbunden war.[43]
Kritik
In der Zeit, in der die Völkerschauen abgehalten wurden, gab es wenig Kritik daran. Seit dem 21. Jahrhundert wurde der Begriff Völkerschau hinterfragt und auch der Begriff Menschenzoo verwendet.
1872 wurde von der Münchener Polizeidirektion die Ausstellung eines „Indianers“ auf dem Oktoberfest untersagt, weil „derartige Schaustellungen … der Menschenwürde zuwiderlaufen“.[44] Kritik kam auch aus den Reihen der Deutschen Kolonialgesellschaft, deren Vorstandsmitglied Franz Strauch 1900 in einer Denkschrift den Veranstaltern die rein kommerzielle Ausrichtung vorwarf und deren schädlichen Einfluss thematisierte.[45] Ab den 1930er Jahren verschwanden die Völkerschauen aus der Öffentlichkeit.[46]
Seit der im Jahr 1999 einsetzenden Diskussion über die Rede Regeln für den Menschenpark des Philosophen Peter Sloterdijk sind auch Völkerschauen als „Menschenpark“ kritisiert worden.[47] So geriet zum Beispiel der Augsburger Zoo im Juni 2005 in die öffentliche Diskussion, nachdem er eine viertägige Veranstaltung mit dem Titel „African Village“ („Afrikanisches Dorf“) angekündigt hatte. Wegen dieser Wortwahl, so hieß es, könne auf das Zurschaustellen von außereuropäischen Völkern in Zoos wie in den Völkerschauen geschlossen werden.[48][49][50]
Dokumentarfilme und Reportagen
- „Die Wilden“ in den Menschenzoos. 92 Min. Regie: Bruno Victor-Pujebet, Pascal Blanchard. Produktion: Arte. Frankreich 2017.[51][52]
- The Human Zoo. (Lost Places. Staffel 6, Folge 11). 60 Min. Regie: Luke Wales und Tom Williams. Vereinigtes Königreich 2020.[53][54]
- Menschen ausgestellt im Zoo – Das dunkle Kapitel Völkerschauen. 30 Min. Ein Film von Anne Ruprecht und Mirco Seekamp. Produktion: NDR. Deutschland 2021.[55]
Literatur
- Utz Anhalt: Tiere und Menschen als Exoten – Exotisierende Sichtweise auf das „Andere“ in der Gründungs- und Entwicklungsphase der Zoos. Technische Informationsbibliothek (TIB) – Leibniz-Informationszentrum Technik und Naturwissenschaften und Universitätsbibliothek Hannover, Hannover 2007 (PDF).
- Manuel Armbruster: „Völkerschauen“ um 1900 in Freiburg i. Br. – Kolonialer Exotismus im historischen Kontext. freiburg-postkolonial.de, Freiburg im Breisgau 2011 (PDF).
- Pascal Blanchard, Nicolas Bancel u. a.: MenschenZoos. Schaufenster der Unmenschlichkeit. Les éditions du Crieur Public, Hamburg 2012, ISBN 978-3-9815062-0-4.
- Rea Brändle: Wildfremd, hautnah. Völkerschauen und ihre Schauplätze in Zürich 1880–1960. Rotpunktverlag, Zürich 1995, ISBN 3-85869-120-8.
- Anne Dreesbach, Helmut Zedelmaier (Hrsg.): Gleich hinterm Hofbräuhaus waschechte Amazonen. Exotik in München um 1900. Dölling und Galitz, Hamburg 2003, ISBN 978-3-935549-77-6.
- Anne Dreesbach: Gezähmte Wilde. Die Zurschaustellung „exotischer“ Menschen in Deutschland 1870–1940. Campus-Verlag, Frankfurt am Main 2005, ISBN 978-3-593-37732-2.[56]
- Anne Dreesbach: Kolonialausstellungen, Völkerschauen und die Zurschaustellung des „Fremden“. In: Europäische Geschichte Online, Leibniz-Institut für Europäische Geschichte, Mainz 2012, ISSN 2192-7405 (Online; PDF).
- Gabi Eissenberger: Entführt, verspottet und gestorben – Lateinamerikanische Völkerschauen in deutschen Zoos. Verlag für Interkulturelle Kommunikation, Frankfurt am Main 1996, ISBN 3-88939-185-0.
- Angelika Friederici: Völker der Welt auf Castans Bühnen. In: Castan’s Panopticum. Ein Medium wird besichtigt. Heft 10 (D3). Karl-Robert Schütze, Berlin 2011, DNB 1018126627.
- Cordula Grewe (Hrsg.): Die Schau des Fremden. Ausstellungskonzepte zwischen Kunst, Kommerz und Wissenschaft. Steiner, Stuttgart 2006, ISBN 978-3-515-08843-5.
- Carl Hagenbeck: Völkerschauen von der Arktis bis zum Feuerland. In: Carl Hagenbeck: Von Tieren und Menschen. Leipzig 1967, S. 66 ff. (Online bei Zeno.org).
- Sylke Kirschnick: Koloniale Szenarien in Zirkus, Panoptikum und Lunapark. In: Ulrich van der Heyden, Joachim Zeller (Hrsg.) … Macht und Anteil an der Weltherrschaft. Berlin und der deutsche Kolonialismus. Unrast, Münster 2005, ISBN 978-3-89771-024-5, S. 171–176.
- Haug von Kuenheim: Carl Hagenbeck. Ellert & Richter, Hamburg 2007, ISBN 978-3-8319-0182-1, S. 95–117.
- Susann Lewerenz: Völkerschauen und die Konstituierung rassifizierter Körper. In: Torsten Junge, Imke Schmincke (Hrsg.): Marginalisierte Körper. Beiträge zur Soziologie und Geschichte des anderen Körpers. Unrast, Münster 2007, ISBN 978-3-89771-460-1, S. 135–154.
- Hartmut Lutz (Hrsg.): Abraham Ulrikab im Zoo – Tagebuch eines Inuk 1880/81. von der Linden, Wesel 2007, ISBN 978-3-926308-10-8.
- Volker Mergenthaler: Völkerschau – Kannibalismus – Fremdenlegion. Zur Ästhetik der Transgression (1897–1936). Niemeyer, Tübingen 2005, ISBN 978-3-484-15109-3.
- Balthasar Staehelin: Völkerschauen im Zoologischen Garten Basel 1879–1935. Basler Afrika Bibliographien, Basel 1993, ISBN 3-905141-57-4.
- Werner Michael Schwarz: Anthropologische Spektakel. Zur Schaustellung „exotischer“ Menschen, Wien 1870–1910. Turia und Kant, Wien 2001, ISBN 3-85132-285-1.
- Hilke Thode-Arora: Für fünfzig Pfennig um die Welt. Die Hagenbeckschen Völkerschauen. Campus-Verlag, Frankfurt am Main 1989, ISBN 3-593-34071-2.
- Stefanie Wolter: Die Vermarktung des Fremden. Exotismus und die Anfängen des Massenkonsums. Campus-Verlag, Frankfurt am Main 2005, ISBN 978-3-593-37850-3.
Weblinks
- Online-Archiv HumanZoos.net (englisch)
- Menschenzoos und Völkerschauen. In: Meinstein.ch
- Stefan Nagel: Völkerschau. In: Schaubuden.de (PDF; 5,53 MB)
- Kalenderblatt Hagenbecks Exotenschau. Deutsche Welle, 11. März 1874
- Die Deutsche Colonial-Ausstellung von 1896 im Treptower Park. Deutsches Historisches Museum
- Kurt Jonassohn: On A Neglected Aspect Of Western Racism.
- ISD: „Afrikaner im Zoo / Wir protestieren!“ (Memento vom 7. April 2011 im Internet Archive), 2005
- Zoo zeigt Afrikaner. (Memento vom 13. Dezember 2009 im Internet Archive) Der Tagesspiegel, 28. Mai 2005
- Armin Fuhrer: Ausflugsziel Völkerschau: Als ganze Massen zu den „Freak-Shows“ und „Negerdörfern“ strömten. In: Focus.de, 10. Juli 2020
- Sabine Scholl: Vorgeführt und ausgestellt im Menschenzoo. In: DerStandard.de, 5. Januar 2020
- "Die Wilden" in den Menschenzoos. Arte-Mediathek vom 1. Juli 2020
- Literatur von und über Völkerschauen im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek
Einzelnachweise
- Anne Dreesbach: Gezähmte Wilde. Die Zurschaustellung „exotischer“ Menschen in Deutschland 1870–1940. Frankfurt a. M. 2005, S. 11 ff.
- Manuel Armbruster: „Völkerschauen“ um 1900 in Freiburg i. Br. – Kolonialer Exotismus im historischen Kontext. S. 3 ff.
- Ursula Trüper: Die Deutsche Colonial-Ausstellung von 1896 im Treptower Park. In: Deutsches Museum (Hrsg.), ohne Datum, abgerufen am 29. Juli 2020
- Ausstellungen, anthropologische. In: Meyers Großes Konversations-Lexikon. 6. Auflage. Band 2, Bibliographisches Institut, Leipzig/Wien 1905, S. 158.
- Schaustellungen, anthropologische. In: Meyers Großes Konversations-Lexikon. 6. Auflage. Band 17, Bibliographisches Institut, Leipzig/Wien 1909, S. 716.
- Anne Dreesbach: Gezähmte Wilde. Die Zurschaustellung »exotischer Menschen« in Deutschland 1870-1940. Campus Verlag, Frankfurt/New York 2005, ISBN 3-593-37732-2. S. 320–321.
- Christa Hager: Nackt müsst ihr sein natürlich In: Wiener Zeitung ohne Datum, abgerufen am 27. Juli 2020
- Marc Tribelhorn: Menschenzoos. In: Neue Zürcher Zeitung vom 23. Dezember 2013
- Kannibalen gucken. In: Tagesspiegel vom 28. September 2018
- Völkerschauen: Menschen zur Schau gestellt wie im Zoo. In: Deutsche Welle vom 10. März 2017
- Peter Burghardt: Rassismus. Reste des Menschenzoos. In: Süddeutsche Zeitung vom 17. Mai 2010
- Sina Riebe: Rassismus-Vorwürfe gegen Hagenbeck Hamburger erinnern an grausamen „Menschenzoo“. In: Hamburger Morgenpost vom 3. Juli 2020
- Anne Dreesbach: Gezähmte Wilde. Die Zurschaustellung »exotischer Menschen« in Deutschland 1870-1940. 1. Aufl. Campus Verlag, Frankfurt/New York 2005, ISBN 3-593-37732-2. S. 25.
- Anne Dreesbach: Gezähmte Wilde. Die Zurschaustellung »exotischer Menschen« in Deutschland 1870-1940. 1. Aufl. Campus Verlag, Frankfurt/New York 2005, ISBN 3-593-37732-2. S. 21/22
- Elenor Dark: Bennelong (c. 1764–1813). In: Australian Dictionary of Biography von 1966
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- Anne Dreesbach: Gezähmte Wilde. Die Zurschaustellung »exotischer Menschen« in Deutschland 1870-1940. 1. Aufl. Campus Verlag, Frankfurt/New York 2005, ISBN 3-593-37732-2 S. 40 bis 49
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