Tastmodell
Tastmodelle (auch Blindenmodelle oder taktile Modelle) sind maßstäblich stark verkleinerte, detailgetreue dreidimensionale Nachbildungen von kompletten Städten oder Stadtteilen, Sehenswürdigkeiten oder Denkmalen. Blinde und sehbehinderte Menschen können durch Betasten dieses Hilfsmittels eine bessere Vorstellung von den Formen, Strukturen und Dimensionen der dargestellten Objekte bekommen. Entfernungen und Höhenunterschiede, die Anordnung von Gebäuden oder der Verlauf eines Flusses durch eine Stadt lassen sich anhand des Modells mit den Fingerkuppen ablesen. Stadtmodelle werden auch von Touristen zur Information und Orientierung genutzt.
Die Tastmodelle werden von Bildhauern, Objektdesignern und Modellbauern entworfen und gestaltet. Sie stehen in der Regel etwas erhöht auf Sockeln und sind meist zusätzlich in Brailleschrift beschriftet.
Verwendete Materialien
Im Gegensatz zu plastischen Stadtmodellen, die nicht berührt werden sollen und deshalb oft von schützenden Glasschaukästen umgeben sind, werden Tastmodelle speziell zum Zweck des Berührens und Betastens aus besonders robusten Materialien hergestellt.
Bronze
Das am häufigsten verwendete Material für Tastmodelle ist Bronze. Bronzemodelle werden im Wachsausschmelzverfahren hergestellt, das eine besonders detailgetreue und filigrane Wiedergabe ermöglicht. Die am meisten berührten Stellen der Bronzemodelle sind oft auffällig glänzend.
Ein Großteil der existierenden Stadtmodelle aus Bronze wurde von dem deutschen Bildhauer Egbert Broerken entworfen und hergestellt, dessen Arbeiten in mehr als 120 Orten in Deutschland, Österreich, Frankreich und in der Schweiz zu finden sind.[1]
Aluminium
Die jeweils 50 × 50 cm großen Tastmodelle der Würzburger Residenz, der Alten Mainbrücke, des St.-Kilians-Doms und des Rathauses in Würzburg wurden aus wetterbeständigem Aluminium hergestellt. Diese Modelle wurden in Zusammenarbeit mit dem Würzburger Blindeninstitut von einem Modellbauer der dortigen Vinzenz-Werkstätten angefertigt.[2]
Messing
Auf dem Marktplatz der Stadt Neubrandenburg steht ein Tastmodell aus Messing, das mit einer Schutzschicht gegen Witterungseinflüsse überzogen wurde. Das 1,20 × 1,20 m große Modell ist pultartig geformt und zeigt die Innenstadt von Neubrandenburg.[3]
Holz
In witterungsgeschützten Innenräumen werden auch Tastmodelle aus Holz gezeigt. Sie werden von Holzschnitzern oder Krippenbauern angefertigt. Ein Beispiel hierfür ist in der Basilika St. Lorenz in Kempten (Allgäu) zu sehen.[4] Die Basilika wurde vom Krippenbauer Hermann Weiß im Maßstab 1:100 aus massivem Holz nachgebildet; die Kuppeln bestehen aus versteifter Pappe.[2]
Kunststoff
In Leipzig ist seit Dezember 2015 ein 91 cm hohes Tastmodell des 91 Meter hohen Völkerschlachtdenkmals zu sehen, das in innovativer 3D-Drucktechnik aus Kunststoff hergestellt wurde. Eine Besonderheit an diesem Modell ist, dass auch das Innere des Bauwerks teilweise betastbar ist.[5]
Kosten und Finanzierung
In Abhängigkeit von der Größe des Modells und dem verwendeten Material können Tastmodelle mehrere Zehntausend Euro kosten. Die Finanzierung wird oft von Wohltätigkeitsclubs wie dem örtlichen Lions Club oder Rotary Club, von Stiftungen oder gemeinnützigen Organisationen übernommen oder durch Spendenaktionen ermöglicht.
Tastmodelle in deutschen Städten (Auswahl)
- Berlin (Innenstadt[6] und Museumsinsel[7])
- Erfurt (Altstadt)[8]
- Kempten (Stadtbild des Jahres 1832[9], Basilika St. Lorenz[4])
- Königstein (Festung Königstein)[10]
- Lübeck (Altstadt)[2]
- Potsdam (Schlosspark Sanssouci)[11]
- Stralsund (Ozeaneum)[12]
- Ulm (Altstadt)[13]
- Weimar (Innenstadt, Standort: Markt 22)[14]
- Westerland (Innenstadt)[15]
Das Tastmodell der Berliner Innenstadt im Maßstab 1: 2.000 gewann im Jahr 2013 bei der 8. Internationalen Design-Biennale in Saint-Étienne den Design-Preis „Design for All Foundation Award 2013“.[6]
Tastmodelle in der Kunst- und Museumspädagogik
Im Hinblick auf ein barrierefreies Museum werden in der Kunst- und Museumspädagogik mit Tastmodellen neue Wege beschritten. So werden beispielsweise von berühmten Gemälden Tastmodelle mit herausnehmbaren Elementen hergestellt. Diese meist aus Holz gefertigten Modelle werden bei Führungen für Blinde und Sehbehinderte zur Veranschaulichung des Kunstwerks verwendet.[16]
Während der Ausstellung „Im Licht von Amarna“, die Ende 2012 bis Mitte 2013 im Ägyptischen Museum auf der Museumsinsel in Berlin stattfand, wurde ein Tastmodell der Nofretete-Büste zum „Begreifen“ zur Verfügung gestellt.[17]
Auf der Albrechtsburg in Meißen können seit Januar 2016 plastische Modelle von sechs Wandgemälden mit Darstellungen zur sächsischen Geschichte ertastet werden, die im 3D-Druckverfahren im Format DIN A3 hergestellt wurden. Das landesweit einmalige Projekt wurde vom sächsischen Sozialministerium mit 42.000 Euro gefördert.[18]
Siehe auch
Weblinks
Einzelnachweise
- Bruno Elberfeld: Mit einem Tastmodell die Stadt kennenlernen, Aachener Zeitung, 30. August 2015, aachener-zeitung.de, abgerufen am 22. Februar 2016
- Liste von Tastmodellen in Deutschland (Auswahl), databus.dbsv.org, abgerufen am 21. März 2016
- Details zum Tastmodell in Neubrandenburg, ostsee-Spezial.de, abgerufen am 21. März 2016
- Basilika mit den Händen erfühlen, 5. Februar 2008, all-in.de, abgerufen am 11. Januar 2016
- Völkerschlachtdenkmal in 3D, Bericht auf der Homepage der Stadt Leipzig, leipzig.de, abgerufen am 11. Januar 2016
- Tastmodell der Berliner Innenstadt, stadtentwicklung.berlin.de, abgerufen am 11. Januar 2016
- Tastmodell der Berliner Museumsinsel, visitberlin.de, abgerufen am 21. März 2016
- Tastmodell auf dem Erfurter Fischmarkt, bsvt-erfurt.de, abgerufen am 21. März 2016
- Beschreibung des Stadtmodells von Kempten (1832), databus.dbsv.org, abgerufen am 21. März 2016
- Tastmodell auf Königstein, Dresdner Woche, 28. Mai 2014, sachsenwirtschaft.com, abgerufen am 21. März 2016, .pdf, S. 2
- Bronze-Modell des Schlossparks Sanssouci, stadtentwicklung.berlin.de, abgerufen am 11. Januar 2016
- Tastmodell des Ozeaneums in Stralsund, databus.dbsv.org, abgerufen am 21. März 2016
- Tastmodell auf dem Münsterplatz übergeben (Memento des Originals vom 10. Januar 2016 im Internet Archive) Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht geprüft. Bitte prüfe Original- und Archivlink gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis. , Homepage der Stadt Ulm, ulm.de, abgerufen am 21. Februar 2016
- , stadt.weimar.de, abgerufen am 30. September 2020
- Beschreibung des Tastmodells von Westerland, databus.dbsv.org, abgerufen am 21. März 2016
- Tastmodelle in der Museumspädagogik in: Hartmut John und Anja Dauschek: Museen neu denken: Perspektiven der Kulturvermittlung und Zielgruppenarbeit, Schriften zum Kultur- und Museumsmanagement, transcript Verlag, 2015, ISBN 978-3-839408-02-5, S. 103.
- Schönheit mit nur einem Auge, Deutschlandradio, 6. Dezember 2012, deutschlandradio.de, abgerufen am 21. März 2016
- Geschichte aus 3D-Druck: Tastmodelle, 25. Januar 2016, Die Welt, welt.de, abgerufen am 21. März 2016