Präexpositionsprophylaxe
Die HIV-Präexpositionsprophylaxe (PrEP) bezeichnet die Einnahme systemisch wirksamer antiviraler Medikamente durch HIV-negative Personen in Erwartung einer potenziellen HIV-Exposition aus bekannten oder unbekannten Quellen, um die HIV-Übertragung zu verhindern.[1] Die Weltgesundheitsorganisation empfiehlt die PrEP seit September 2019 „als zusätzliche Präventionsmöglichkeit für Menschen mit einem erheblichen HIV-Infektionsrisiko als Teil von kombinierten HIV-Präventionsansätzen“.[2] Zur PrEP sind in der Europäischen Union seit 2016 Kombinationspräperate mit den Wirkstoffen Emtricitabin und Tenofovir zugelassen.[3][4] Die Präexpositionsprophylaxe ist eine von mehreren Präventionsmaßnahmen gegen HIV neben beispielsweise Kondomen, einer antiretroviralen Therapie und der HIV-Postexpositionsprophylaxe.[5] Im Gegensatz zu Kondomen schützt die PrEP nicht gegen andere sexuell übertragbare Erkrankungen.
Indikation
Weltgesundheitsorganisation
Die Weltgesundheitsorganisation[6] sieht eine Präexpositionsprophylaxe als indiziert an bei einer Person ohne nachgewiesene HIV-Infektion, die Geschlechtsverkehr mit serodiskordanten Personen ohne (erfolgreiche) antiretrovirale Therapie hat oder in Bevölkerungsgruppen mit einer hohen HIV-Inzidenz bzw. HIV-Prävalenz sexuell aktiv ist, sofern:
- diese Person Vaginal- oder Analverkehr ohne Kondome mit mehr als einer Person hat oder sofern
- diese Person Sex mit Personen mit einem oder mit mehreren HIV-Risikofaktoren hat oder sofern
- bei dieser Person eine sexuell übertragbare Erkrankung durch Labordiagnostik nachgewiesen wurde, diese Person von einer erlittenen sexuell übertragbaren Erkrankung berichtet oder bei dieser Person eine sexuell übertragbare Erkrankung symptomatisch behandelt wurde oder sofern
- diese Person eine Postexpositionsprophylaxe durchgeführt hat oder sofern
- diese Person eine Präexpositionsprophylaxe verlangt.
Deutsch-Österreichische Leitlinien zur HIV-Präexpositionsprophylaxe
Nach der unter Federführung der Deutschen AIDS-Gesellschaft gemeinsam mit der Österreichischen AIDS-Gesellschaft und weiterer medizinischer Fachgesellschaften erarbeiteten deutsch-österreichische Leitlinien zur HIV-Präexpositionsprophylaxe der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften[5] ist das Angebot der PrEP bei Menschen mit „substanziellem HIV-Infektionsrisiko“ indiziert. Dies liegt bei einer HIV-Inzidenz von mehr als 3 pro 100 Personenjahren ohne Zugang zur PrEP vor, insbesondere bei folgenden HIV-negativen Personen:
- Männer, die Sex mit Männern haben, oder Transgender-Personen:
- welche in den letzten drei bis sechs Monaten analen Geschlechtsverkehr ohne Kondom praktiziert haben oder diesen in den nächsten Monaten praktizieren werden,
- bei denen in den letzten zwölf Monaten eine sexuell übertragbare Erkrankung auftrat
- Personen in serodiskordanten Konstellationen mit einer virämischen HIV-positiven Person, welche keine antiretrovirale Therapie durchführt oder die eine nicht suppressive antiretrovirale Therapie, beispielsweise in Folge einer Resistenz, durchführt,
- Personen in serodiskordanten Konstellationen in der Anfangsphase einer antiretroviralen Therapie, mindestens in den ersten sechs Monaten und dann, solange mehr als 200 RNA-Kopien pro Milliliter Blut nachgewiesen werden,
- Personen mit Sex ohne Kondom mit Personen, bei denen eine undiagnostizierte HIV-Infektion wahrscheinlich ist,
- drogeninjizierenden Personen, die nicht sterile Injektionsmaterialien benutzen.
Darüber hinaus kann bei Personen, welche nicht in die erwähnten Gruppen fallen, ein substanzielles Risiko bestehen. Da bislang ein signifikanter Zusammenhang zwischen der Nachfrage nach der PrEP und einem erhöhtem Risiko gezeigt wurde,[7] sollte bei jeder Person, die aktiv nach einer PrEP fragt, eine sorgfältige Risikoevaluation durchgeführt werden und gegebenenfalls eine PrEP verschrieben werden.
Centers for Disease Control and Prevention
Die Richtlinie zur klinischen Praxis[8] der Gesundheitsbehörde der Vereinigten Staaten von Amerika (Centers for Disease Control and Prevention) empfiehlt eine PrEP bei folgenden Personen:
- HIV-negative, erwachsene Männer, die Sex mit Männern haben, welche
- innerhalb der letzten sechs Monate, außerhalb einer monogamen Beziehung mit einer gesichert HIV-negativen Person, kondomlos, empfangend analen Geschlechtsverkehr hatten oder
- innerhalb der letzten sechs Monate eine bakterielle, sexuell übertragbare Erkrankung (Syphilis, Gonorrhoe, oder Chlamydiose) hatten
- HIV-negative, erwachsene Personen, welche
- innerhalb der letzten sechs Monate, außerhalb einer monogamen Beziehung mit einer gesichert HIV-negativen Person, Geschlechtsverkehr mit mehr als einer Person anderen Geschlechts kondomlosen Geschlechtsverkehr hatten und mindestens eine der anderen Personen einen ungesicherten HIV-Status und ein substantielles HIV-Risiko als Mann, der Sex mit Männern hat oder Person, die Drogen injiziert hat,
- innerhalb der letzten sechs Monate eine bakterielle sexuell übertragbare Erkrankung (Syphilis, Gonorrhoe, oder Chlamydiose) hatten oder
- in einer Geschlechtsverkehr in einer serodiskordanten Konstellationen haben.
Kontraindikationen
Weltgesundheitsorganisation
Laut der Weltgesundheitsorganisation ist eine PrEP kontraindiziert bei:
- einer HIV-Infektion
- Symptomen einer HIV-Infektion
- einem möglichen infektiösen Kontakt mit einer HIV-positiven Person
- einer geschätzten glomerulären Filtrationsrate von weniger als 60 ml/min (soweit bekannt)
- Allergien gegen die Medikation
Deutsch-Österreichische Leitlinien zur HIV-Präexpositionsprophylaxe
Die Leitlinie der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften[5] sieht eine PrEP nicht angezeigt bei:
- positivem HIV-Test (p24-Antigen/HIV-Antikörper-Testung [4. Generations-Test])
- replikativer Hepatitis-B-Infektion
- einer Nierenfunktionsstörung (die geschätzte glomeruläre Filtrationsrate muss mindestens 60 ml/min und sollte >80 ml/min sein)
- einer Osteoporose
Schutzwirkung
Übersichtsstudien ergaben, dass die PrEP „eine wirksame und sichere Therapie zur Verhinderung der HIV-Übertragung“ ist, welche „mit zunehmenden Verschreibungsraten für Patienten mit HIV-Risiko das Potenzial hat, HIV-Neuinfektionen zu reduzieren“.[9] Die Wirksamkeit der PrEP hängt jedoch stark von der Adhärenz ab. Bei einer Adhärenz von ≥70 Prozent reduziert sich das relative Risiko auf 27 Prozent (95 Prozent CI: 19 bis 39 Prozent), bei einer Adhärenz zwischen 40 Prozent und 70 Prozent auf 51 Prozent (95 Prozent CI: 38 bis 70 Prozent) und bei einer Adhärenz von weniger als 40 Prozent auf 93 Prozent (95 Prozent CI: 72 bis 120 Prozent).[10]
Wirkmechanismus
Die PrEP beinhaltet die beiden Wirkstoffe Emtricitabin und Tenofovirdisoproxil, ein Prodrug von Tenofovir. Emtricitabin ist ein chemisches Analogon des Nukleosids Cytidin. Tenofovirdisoproxil wird in vivo in Tenofovir, ein Nukleotid-Analogon von Adenosinmonophosphat, umgewandelt. Beide Substanzen wirken als Inhibitoren der reversen Transkriptase (Nukleosidische Reverse-Transkriptase-Inhibitoren). Beide Wirkstoffe werden von zellulären Enzymen über nicht überlappende Wege phosphoryliert und bilden Emtricitabintriphosphat und Tenofovirdiphosphat, alternative Substrate für Desoxyadenosintriphosphat und Desoxycytidintriphosphat. Der Einbau in die sich bildende Virus-Desoxyribonukleinsäure führt zu einer Kettenabbruchreaktion und zur Hemmung der viralen reversen Transkriptase: Nukleosidische Reverse-Transkriptase-Inhibitoren haben keine 3'-Hydroxygruppe an der 2'-Desoxyribosyl-Einheit. Aufgrund der fehlenden 3'-Hydroxygruppe verhindert das NRTI die Bildung einer 3'-5'-Phosphodiesterbindung in wachsenden Desoxyribonukleinsäure-Ketten und kann so die Replikation des Virus verhindern.
Nebenwirkungen
Im Rahmen der Zulassung durch die Europäische Arzneimittel-Agentur wurden als sehr häufige Nebenwirkungen Durchfall und Übelkeit festgestellt, darüber hinaus Hypophosphatämie, Kopfschmerzen, Schwindel, Erbrechen, Ausschlag, Schwäche sowie erhöhte Creatin-Kinasespiegel im Blut.[11] Die Europäische Arzneimittel-Agentur empfahl dennoch das Inverkehrbringen zu genehmigen, da der Nutzen die Risiken überwiege.
Kosten
Kosten-Nutzen-Analyse
Das Originalmedikament „Truvada“ hatte in Deutschland einen Einführungspreis von 819 Euro für 30 Tabletten, wobei die Einnahme von täglich einer Tablette empfohlen wurde. Aufgrund des Patentschutzes war es das einzig verfügbare PrEP-Medikament. Nach dem Ende des Patentschutzes 2017 kamen erste Generika für um 600 Euro auf den deutschen Markt.[12] Inzwischen sank der Preis auf rund 50 Euro für 30 Tabletten in Deutschland[13] und rund 65 Franken in der Schweiz[14].
Dies führte vor Ablauf des Patentschutzes dazu, dass Studien zu divergierenden Kosten-Nutzen Ergebnissen-kamen.[15][16][17] Seit dem Ablauf des Patentschutzes bestätigen Studien einvernehmlich ein positives Kosten-Nutzen-Verhältnis der PrEP.[18][19][20][21]
Deutschland
In Deutschland haben gesetzlich krankenversicherte Personen, die das 16. Lebensjahr vollendet und ein substantielles HIV-Infektionsrisiko haben, seit dem 1. September 2019 einen gesetzlichen Anspruch auf die Durchführung einer PrEP sowie auf Beratungen und Untersuchungen (§ 20j SGB V i. V. m. § 2 Anlage 33 BMV-Ä).[22]
Zu den Menschen, die ein substantielles HIV-Infektionsrisiko haben, zählen
- Männer, die Sex mit Männern haben, oder Transgender-Personen mit der Angabe von analem Geschlechtsverkehr ohne Kondom innerhalb der letzten drei bis sechs Monate und/oder voraussichtlich in den nächsten Monaten bzw. mit einer sexuell übertragbaren Erkrankung in den letzten zwölf Monaten,
- Personen in Zusammenhang mit serodiskordanten Konstellationen mit einer virämischen HIV-positiven Person ohne antiretrovirale Therapie, mit einer nicht suppressiven antiretroviralen Therapie oder in der Anfangsphase einer ART (HIV-RNA, die nicht schon sechs Monate unter 200 RNA-Kopien/ml liegt),
- nach individueller und situativer Risikoüberprüfung drogeninjizierende Personen ohne Gebrauch steriler Injektionsmaterialien und
- nach individueller und situativer Risikoüberprüfung Personen mit Geschlechtsverkehr ohne Kondom mit einer Person, bei der eine undiagnostizierte HIV-Infektion wahrscheinlich ist (z. B. Personen aus Hochprävalenzländern oder mit risikoreichen Sexualpraktiken).
Die Kosten einer PrEP werden in Deutschland seit September 2019 von den gesetzlichen Krankenkassen übernommen. Der Patient muss die Zuzahlung bei verschreibungspflichtigen Arzneimitteln in Höhe von fünf bis zehn Euro entrichten. Die privaten Krankenkassen haben eigene Regelungen. Man kann sich die PrEP-Tabletten auch auf Privatrezept verschreiben lassen.[23][24]
Auch Personen mit Anspruch auf Beihilfe nach der Bundesbeihilfeverordnung können, unter den gleichen Voraussetzungen wie gesetzlich versicherte Personen, die PrEP erstattet bekommen. Zu diesen Personen zählen Bundesbeamte, Bundesrichter, Versorgungsempfänger des Bundes und ggf. Familienangehörige der vorgenannten Personengruppen. Die Beihilfetarife der privaten Krankenversicherungen übernehmen den nicht beihilfefähigen Anteil. Zum 1. Januar 2021 wurde in die Bundesbeihilfeverordnung aufgenommen, dass für beihilfeberechtigten Personen, die das 16. Lebensjahr vollendet haben, Aufwendungen beihilfefähig sind für ärztliche Beratungen zu Fragen der medikamentösen Präexpositionsprophylaxe zur Verhütung einer Ansteckung mit HIV sowie Untersuchungen, die bei Anwendung der für die medikamentöse Präexpositionsprophylaxe zugelassenen Arzneimittel erforderlich sind.[25] Auch Soldaten der Bundeswehr haben Anspruch auf die PrEP im Rahmen der Heilfürsorge in Form der unentgeltlichen truppenärztlichen Versorgung.
Österreich
Derzeit werden die Kosten für die PrEP in Österreich nicht von den Krankenkassen übernommen. Menschen müssen für die Medikamente und für manche Kontrolluntersuchungen selbst aufkommen.[26]
Schweiz
In der Schweiz werden die Kosten für Arzt und Untersuchung durch die Grundversicherung der Krankenkasse gedeckt, die Kosten für das Medikament selbst werden jedoch nicht von der Krankenkasse übernommen.[27]
Kritik
Ein Schutz gegen andere sexuell übertragbare Erkrankungen besteht durch die PrEP nicht. Umstritten ist, ob durch die Verwendung einer PrEP ein risikoreicheres Sexualverhalten provoziert wird und ob so ein höheres Risiko besteht, an anderen sexuell übertragbaren Erkrankungen zu erkranken.[28] Eine Übersichtsstudie[29] fand vielfach erhöhte Wahrscheinlichkeiten, sich mit anderen sexuell übertragbaren Erkrankungen zu infizieren. Eine andere Übersichtsstudie[30] konnte keinen Nachweis für ein risikoreicheres Sexualverhalten erbringen, sondern fand bei den PrEP-Verwendern nur einen besseren Zugang zu entsprechenden Testmöglichkeiten. Darüber hinaus bestehen Bedenken, ob die PrEP anders durchgeführt wird als verordnet (z. B. eine Tabletteneinnahme nur kurz vor oder nach dem Sex).[31] Eine Studie zeigt das Risiko möglicher Resistenzentwicklungen auf.[32]
Bedeutung für Männer, die mit Männern Sex haben
Zur Zeit wird die Präexpositionsprophylaxe überwiegend von Männern, die Sex mit Männern haben, verwendet, oft als eine Alternative zum Kondom.[33] Sie ermöglicht zum ersten Mal seit dem Ausbruch der AIDS-Pandemie kondomlosen, aber HIV-präventiven Geschlechtsverkehr und ändert deshalb die Geschlechtskultur zwischen Männern, die Sex mit Männern haben: Mit der Verbreitung der PrEP nimmt laut einer Studie die absolute Anzahl der Sexualkontakte sowie der Anteil der kondomlosen Sexualkontakte zu.[34] Da das Kondom für lange Zeit als das einzig effektive HIV-Präventionsmittel galt[35], lehnen einige Männer, die Sex mit Männern haben, Sex ohne Kondom ab.[36] Auf Online-Dating-Plattformen, die sich an Männer richten, die Sex mit Männern haben, wie Grindr oder PlanetRomeo, teilweise aber auch in den Medien, gibt es entsprechend „Slutshaming“/„PrEP-Shaming“ von PrEP-Nutzern, also eine Stigmatisierung von Promiskuität durch Herabwürdigung.[37] Jedoch könnte die PrEP auch zur Verminderung von Stigmata und zu einer (internalisierte) Homophobie beitragen, da sie langfristig zu einer verminderten Assoziation zwischen Männern, die Sex mit Männern haben, und erhöhten Krankheitsrisiken beitragen könnte, die seit dem Ausbruch der AIDS-Pandemie gesellschaftlich verbreitet ist.[38]
Einzelnachweise
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- Verzeichnis der Beschlüsse der Europäischen Union über die Zulassung von Arzneimitteln vom 1. August 2016 bis 31. August 2016 (Veröffentlichung gemäß Artikel 13 bzw. Artikel 38 der Verordnung (EG) Nr. 726/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates), abgerufen am 31. Dezember 2018
- Deutsche AIDS-Gesellschaft, Österreichische AIDS-Gesellschaft, Deutsche Arbeitsgemeinschaft niedergelassener Ärzte in der Versorgung HIV-Infizierter, Deutsche Gesellschaft für Infektiologie, Deutsche STI-Gesellschaft, Deutsche Tropenmedizinische Gesellschaft, Gesellschaft für Virologie, Paul-Ehrlich-Gesellschaft, Deutsche AIDS-Hilfe, Robert Koch-Institut, Behörde für Gesundheit und Verbraucherschutz, Gemeinnützige Stiftung Sexualität und Gesundheit, Projekt Information, Nicholas Feustel: Leitlinien zur HIV-Präexpositionsprophylaxe. AWMF-Register-Nr.: 055-008. Hrsg.: Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften. Hannover 24. Mai 2018 (awmf.org [PDF; 893 kB; abgerufen am 4. Dezember 2020]).
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