Kameradschaft
Kameradschaft bezeichnet eine zwischenmenschliche Beziehung ohne sexuelle Ansprüche im Sinne einer Solidarität innerhalb einer Gruppe, früher vorwiegend unter männlichen Personen, heute allgemein. Der Begriff entstammt ursprünglich dem Militär und wird auch in der politischen Wortwahl verwendet. Teilweise wird er im allgemeinen Sprachgebrauch synonym zu dem Begriff Freundschaft verwendet.
Allgemeines
Der Ausdruck wird in vielen Zusammenhängen verwendet: Klassen-, Sport-, Vereins- und Schulkameradschaft, auch als Bezeichnung in verschiedenen Gruppen allgemein. Es wird beim Bergsteigen von Berg- oder bei Expeditionen von Expeditionskamerad gesprochen; Kameradschaftlichkeit beinhaltet hier zum Beispiel – als besonderes Merkmal – gegenseitige kameradschaftliche Hilfsbereitschaft unter den Bedingungen von Naturgefahren. Kameradschaft ist allgemein ein gegenseitiger Motor für Gruppendynamik, kann motivieren, menschliche Empathie, Kollegialität und freundschaftliche Gefühle hervorrufen, Rückhalt geben, Zuspruch und Trost leisten, das eigene Körperempfinden reduzieren, gerade wenn eine Situation als schwierig empfunden wird. Kameradschaft kann aber auch: übermotivieren und zu Selbstüberschätzungen in der Gruppe oder Organisation führen, zu Handlungen verleiten, welche ein Mitglied sonst unterlassen würde, ein Gefühl der Zusammengehörigkeit liefern, so etwas wie einen Freundschafts- oder Familienersatz darstellen, in stark übersteigerter und falsch verstandener Form das Gespür für eigene Verantwortung abhandenkommen lassen, zur Verleugnung eigener religiöser oder weltanschaulicher Überzeugungen bis hin zu Kriminalität und Unmenschlichkeiten verleiten, zu Selbstverleugnung, unbedingtem Gehorsam, Automatismus im menschlichen Handeln und völliger Selbstvernachlässigung führen und dies im Besonderen im Zusammenhang mit Ideologien, Weltanschauungen, politischen Strömungen und damit oft einhergehendem Fanatismus.[1]
Grundsätzliches
Es handelt sich grundsätzlich betrachtet bei dem Begriff um eine spezifische Ausprägung von Kollegialität. Kollegialitätsnormen bilden sich allgemein in jeder Organisation heraus. Normen gegenseitiger kollegialer Hilfe erleichtern es Mitgliedern der Organisationen unter anderem, eine gute Arbeit zu leisten. Sie minimieren zudem das Risiko, aus diesen Organisationen entlassen zu werden. In bestimmten Organisationen – Armeen, Polizeieinheiten oder Feuerwehren – entwickelt sich Kollegialität unter anderem unter besonderen Vorzeichen in Form von Kameradschaft. Hier steht bei der Berufsausübung nicht nur die Rolle als Organisationsmitglied auf dem Spiel, sondern die ganze Person, denn es besteht oft eine Gefahr, bei der Berufsausübung schwer verletzt oder getötet zu werden. Insgesamt gesehen sind Soldaten, Polizisten oder Feuerwehrleute solchen lebensbedrohlichen Extremsituationen aber nur selten ausgesetzt.[2] Ihr Alltag besteht größtenteils aus Routinetätigkeiten, Übungen und zum Beispiel auch aus stundenlangem Warten. Gleichwohl prägen Gedanken daran, in eine lebensbedrohliche Situation geraten zu können, ihren Erwartungshorizont.[3][4] Nicht zuletzt bei eventuell hohem Gewicht der am Körper mitzuführenden Ausrüstung, mangelhafter oder auch unzureichender Verpflegung, lebensbedrohlich wirkender Umwelt, Hitze- oder Kälte- sowie Schmutzeinwirkung, Anzeichen von Erkrankungen, körperlicher Ermüdung oder Schlafmangel wird die Existenz dieser Bedrohungen immer wieder wach gerufen. Kameradschaft kann ein notwendiges Mittel für Organisationsmitglieder darstellen, um eigene Überlebenschancen oder die anderer Mitglieder zu verbessern.[5][6] Sie entwickelt sich aber nicht automatisch.
Wortherkunft
Kamerad ist mit Gefährte etymologisch gesehen verwandt. Dem französischen Wort camarade aus dem spanischen camarada entlehnt konkurriert es – anfänglich unter dem Einfluss vom italienischen camerata – mit der später aufgegebenen Nebenform mittelfranzösischen/französischen camerade, das im 16. Jahrhundert in die deutsche Militärsprache entlehnt wird. Auszugehen ist von lateinisch camera („gewölbte Decke, Gewölbe“, mittellateinisch „Zimmer, Schlafraum“ („Kammer“), offenbar auch „eine Stube für Soldaten“), denn die romanische Ableitung bezeichnet die entsprechende kleine militärische Einheit, die „Korporalschaft“ (im Sinne von „einer Stube voll Soldaten“), danach (unter Wandel vom femininen zum maskulinen Genus) das einzelne Mitglied, den Soldaten, „Gefährten im Zimmer, in der Armee“. Das Wort Kamerad wird im Dreißigjährigen Krieg geläufig und bald auch allgemein für „Gefährte, Genosse“ verwendet. Im 17. Jahrhundert wird Kameradschaft für „Freundschaft, Verbundenheit, Gemeinschaft“ verwendet, hinzu kam im 19. Jahrhundert das Adjektiv „kameradschaftlich“ – neben dem heute unüblichen „kameradlich“.[7]
Kameradschaft als soldatische Pflicht und Tugend
Besondere Bedeutung hat die Kameradschaft in der soldatischen Gemeinschaft. Insbesondere bedeutet dies die Pflicht jedes Soldaten, seinem Kameraden unter allen Umständen – auch unter Lebensgefahr – beizustehen. Das besondere an der soldatischen Kameradschaft ist, dass sie nicht an persönliche Verbundenheit im Sinne von Freundschaft, Kumpanei o. ä. gebunden ist, sondern von jedem Soldaten als Dienstpflicht gefordert wird. Dies ergibt sich in der Bundesrepublik Deutschland aus § 12 Soldatengesetz (SG). Ihre Regelungsbedürftigkeit ergibt sich daraus, dass sie sozial in einem Spannungsverhältnis zu einer anderen soldatischen Pflicht stehen kann, der des „Gehorsams“. Die Kameradschaft verpflichtet alle Soldaten, die Würde, die Ehre und die Rechte des Kameraden zu achten und ihm in Not und Gefahr beizustehen. Die Pflicht zur Kameradschaft schließt gegenseitige Anerkennung, Rücksicht und Achtung fremder Anschauungen ein. Kameraden mit entsprechenden Rechten und Pflichten können nur Soldaten im Sinne des Soldatengesetzes sein.
„Kameradschaft ist nicht etwas, was sich der Soldat aussuchen kann – sie ist dem Soldaten befohlen. Sie vollzieht sich nicht nur horizontal, sondern auch vertikal – nicht nur von unten nach oben, sondern auch von oben nach unten.“
In offiziellen und teiloffiziellen Darstellungen wird „Kameradschaft“ als eine der Tugenden von Soldaten eingefordert, beschworen und mitunter verherrlicht[8]. Andere Quellen, wie unter anderem Autobiographien und Romane, zeichnen aber ein differenzierteres Bild von Kameradschaft.[9] Mit Hilfe des slowenischen Kriegsroman Doberdò von Lovro Kuhar[10], zeigt die Soziologin Sabine A. Haring auf, dass Kuhar im Jahr 1940 mit seinem Roman neben anderem auch eine „authentische“ Beschreibung des Kriegsalltags des einfachen Soldaten in der multi-ethnischen – umgangssprachlich meist k.u.k. Armee genannten – Österreichisch-Ungarischen Armee im Sinne einer „Gegenerinnerung“ zu offiziellen oder semi-offiziellen Darstellungen vorgelegt hat. Er schilderte den Drill und die Repression, die nicht zuletzt physischen Entbehrungen und den Kampf ums Überleben in den Isonzoschlachten des Ersten Weltkriegs, aus einer nationalslowenischen Perspektive.
Im Gegensatz zu Nationalstaaten im Ersten Weltkrieg – wie das Vereinigte Königreich Großbritannien und Nordirland, Frankreich oder Deutschland – regierte die Habsburgermonarchie keinen durch ethnische und sprachliche Homogenität gekennzeichneten Staat, sondern einen aus verschiedenen Ethnien zusammengesetzten Vielvölkerstaat. Ethnische Vielfalt, unterschiedliche staatlich-verfassungsmäßige Traditionen, Religionszugehörigkeiten und Sprachen charakterisierten die k.u.k. Armee. Insgesamt sprachen nur etwa 25 Prozent der Soldaten Deutsch als Muttersprache. Die restlichen Soldaten bedienten sich einer der acht anderen Sprachen, die neben Deutsch in der habsburgischen Armee gesprochen wurden, was die Probleme in dieser Armee verschärfte. Die Zusammensetzung des Strafbataillons im Roman spiegelt teilweise die ethnische Zusammensetzung der k.u.k. Armee wider. Die einzelnen Charaktere unterscheiden sich genauso auch im Hinblick auf ihre soziale Herkunft und hinsichtlich ihrer politischen Gesinnung. Dadurch gibt es teilweise zunächst gar keine Gruppensolidarität, sondern Hass bis hin zu gegenseitigen Mordabsichten. Die einzelnen Soldaten nutzen zwar, wenn sie von den Mitsoldaten des 1. Zugs der 1. Kompanie sprechen, den Begriff „Kamerad“ wohl im Sinne einer Funktionsbezeichnung, ihre Gefühle diesen „Kameraden“ gegenüber sind aber ambivalent und haben mit jenen, die gewöhnlich gedanklich mit „Kameradschaft“ als Tugend verbunden werden, wenig gemein. Die gelegentlich stattfindenden Maßnahmen zur „Politischen Erziehung“ definieren trotzdem „soldatischen Geist“ als „Geist des Siegeswillens und der Kameradschaft“. Solidarität lässt sich am ehesten noch dort festmachen, wo exemplarische Strafen an den Armeeangehörigen Mitleid unter den Mitsoldaten erzeugen und Abmilderungen in den Strafausführungen geschildert werden. Nur allmählich lassen sich auch innerhalb des gesamten Zugs erste Anzeichen von Gemeinschaftsgefühlen festmachen. Erst nach einzelnen kameradschaftlichen Solidaritätsbekundungen unter zuvor einander misstrauisch gegenüberstehenden Soldaten entwickelt sich gegenseitiges Vertrauen. Aus Kameradschaft entstehen teilweise Freundschaften. Die Ausweitung gegenseitiger Toleranz von ethnischen Eigenarten und verschiedenen nationalen Ansichten befördert später die Kameradschaft auf Bataillonsebene. Beim Marschieren ereignet es sich zum Beispiel, nachdem die Slowenen ein Volkslied angestimmt haben, dass ein Zugsführer das Organisieren eines Chors beauftragt und sagt: „Die Slowenen! Dann singen wir eben slowenische Lieder, wenn es anders nicht geht.“ Man einigt sich auf Kompromisse oder auf allgemeinen Konsens auf niedrigstem Niveau. Vor dem Kriegseinsatz werden die Soldaten mit militärischen Riten zwar später allgemein emotional in Hochstimmung versetzt. Aber direkt an der Front zeigt sich nicht nur, dass ein Überleben – wenn überhaupt – nur durch gegenseitige Hilfe möglich ist, sondern auch dass: „[...] Obwohl alle wussten, dass der Weg, an dem sie geführt wurden, der Weg in den Tod war, hatte doch jeder Angst vor dem einsamen Tod in diesem von Gewehrfeuer durchlöcherten, steinigen Gefilde.“[11]
Ausbildung von Kameradschaftsnormen am Beispiel des Soldatenberufs
Der Soziologe Stefan Kühl stellte am Beispiel der Diskussion zu Vorfällen bei der Bundeswehr heraus, dass in der allgemeinen öffentlichen Debatte darüber ein fast schon naives Bild davon, wie Kameradschaftsnormen entstehen, vorherrscht: „Man scheint zu glauben, dass sich Kameradschaft allein schon deswegen ausbildet, weil im Soldatengesetz steht, dass der „Zusammenhalt der Bundeswehr wesentlich auf Kameradschaft beruht“ und alle Soldaten verpflichtet sind, die Ehre und Rechte des Kameraden zu achten und ihm in Not und Gefahr beizustehen. Kameradschaft wird hier als eine formale Verhaltenserwartung formuliert, die verlangt, sich auch in Extremsituationen – in „Not und Gefahr“ – für Kameraden einzusetzen.“
Nicht die formalen Vorgaben im Soldatengesetz oder die Indoktrinierung einer Kameradschaftsideologie durch oberste Militärführungen sind es, die Kameradschaftsnormen hervorbringen. Viel stärker entwickeln sich diese Kollegialitätsstandards im Schatten der offiziellen formalen Organisation – durch das autonome, selbstinitiierte Handeln der Soldaten.[12]
Durchsetzung von Kameradschaftserwartungen im Soldaten- und Polizeiberuf
Durchgesetzt werden Kameradschaftserwartungen in Armeen allgemein auch mit Mitteln, von denen die Führung gar nicht so genau Kenntnis haben will.[13] Es gibt aber auch eine friedfertige Variante der Schaffung von Kameradschaftsnormen. In der Regel lernen Militärangehörige schnell, wie loyales Verhalten Kameraden gegenüber zu verwirklichen ist. Unter anderem damit: Sie in öffentlichen Situationen nicht bloßzustellen, sich gegenseitig zu helfen (etwa bei Überforderung einzelner), Fehler in Sinne von Kameradschaft oder Fair Play zu kaschieren oder kurzfristig einzuspringen – wenn dies geboten erscheint. Im idealen Fall bilden sich dabei Vertrauensstrukturen, die dazu führen, dass gegenseitige Unterstützung auch in Extremsituationen erfolgt und gegenseitiges Vertrauen bereits vorhanden ist. Akzeptiert ein Untergebener solche informalen Verhaltenserwartungen nicht, wird in Armeen zu negativen informalen Sanktionen gegriffen. Diese reichen von abschätzigen Bemerkungen oder Beschimpfungen über eine soziale Isolierung des Soldaten oder die Verweigerung von Hilfeleistungen bis hin zu körperlichen Angriffen und drastischen Erniedrigungen. Derartige Sanktionen dienen meist nicht dem Ausschluss aus dem Kreis der Kameraden des Soldaten, sondern der Durchsetzung informaler Normen (nicht formaler sozialer Normen).
Soldaten oder Polizisten, die solche – wie die Praxis zeigt – oft offiziell verbotenen Bestrafungen nicht melden, sondern über sich oder andere ergehen lassen, werden dann auch konsequenterweise sozusagen mit dem Verbleib im Kameradenkreis „belohnt“. Solche Prozesse des Durchsetzens informaler Normen sind aus jeder Organisation allgemein bekannt. Beim Militär treten sie allerdings in einer gewaltbetonteren Form auf. Es liegt nahe, dass in Organisationen, deren Hauptaufgabe die militärische oder polizeiliche Gewaltanwendung ist und in denen zur Durchsetzung formaler Verhaltenserwartungen notfalls auf Gewaltspezialisten zum Beispiel in Form von Militärpolizei zurückgegriffen wird, die Durchsetzung nicht formaler sozialer Normen in körperbetonterer Weise stattfindet als zum Beispiel in der freien Wirtschaft oder in Stadtverwaltungen.[14]
Kameradschaft unter uniformierten Ranggleichen
Frühere Militärforschungen glaubten, dass die Basis für ihre Forschung im Bereich Kameradschaftsentwicklung der Aufbau persönlichen Vertrauens unter den Soldaten, durch gute Kenntnis der Soldaten untereinander, sei.
Anhand von statistisch durchgeführten Befragungen deutscher Wehrmachtsoldaten kamen die Wissenschaftler Edward A. Shills und Morris Janowitz zu dem Ergebnis, dass deren Kampfbereitschaft nicht vorrangig mit Übereinstimmung mit der NS-Ideologie (Motivation über Zweckidentifikation), Freude am Töten (Motivation über „attraktive“ Handlungen), Auszahlung hohen Solds, Bereicherungen durch Plünderungen (Motivation über Geld) oder Furcht der Bestrafung durch den NS-Strafapparat (Motivation über Zwang) im Zusammenhang standen, sondern weil sie sich einer Gruppe von Kameraden verpflichtet sahen.[15]
Die Forscher beschränkten ihren Kameradschaftsbegriff auf eine Gruppe von vier bis fünfzehn Soldaten, bei denen eine Person mitausgebildet, stationiert und im Kampf eingesetzt wurde. Die Bereitschaft, selbst in militärisch aussichtslosen Situationen weiterzukämpfen, hing – so Shills und Janowitz – vorrangig von dem Kontakt der „Primärgruppe“ aus fünf bis sieben Personen eines Zuges ab. Erst als diese Primärgruppen aufgrund des Kriegsverlaufes auseinandergerissen wurden, wich dieser „Zusammenhalt“ einer zunehmenden Auflösung des sozialen Zusammenhalts und die Desertationsbereitschaft der Wehrmachtssoldaten nahm stark zu.[16] Aber für die Herausbildung von Kameradschaftsnormen ist es nicht nötig, dass die Organisationsmitglieder einander kennen.
Es bilden sich anonymisierte Kameradschaftserwartungen gerade auf der Ebene von Bataillonen, Divisionen oder ganzen Armeen verstärkt heraus.[17] Eine gegenseitige Unterstützung besonders in der Darstellung nach außen sei – so der Soziologe Niklas Luhmann – ein „Grundgesetz interner Kooperation“ in jeder Organisation. Persönliche Bekanntschaft sei keine notwendige Voraussetzung dafür.[18] Eine Ranggleichheit stellt allerdings ein wesentliches und förderndes Element bei der Herausbildung von Kameradschaftserwartungen dar, da Organisationsmitglieder auf gleicher hierarchischer Ebene am ehesten bereit sind, Fehler zu kaschieren oder kleine Regelabweichungen untereinander zu decken. In Militär-, Polizei- oder Feuerwehreinheiten erlauben Uniformen ein schnelles Identifizieren des Dienstgrads einer Person. Bei Militär oder Polizei herrscht zudem große Sicherheit vor, nicht durch einen unsichtbaren Hierarchieunterschied überrascht zu werden. Uniformen haben unter anderem die Funktion, formale Weisungsbefugnisse zu verdeutlichen. Sie ermöglichen aber zudem, informale Kameradschaftserwartungen auch bei geringem oder fehlendem Kenntnisstand über die andere Person greifen zu lassen.
Durch die Druckausübung der Vorgesetzten – vor allem beim Militär – werden Kameradschaftserwartungen unter Ranggleichen verschärft. Es ist der in der Ausbildung „gemeinsam erfahrene Drill“, die „Schikanen der Unteroffiziere“ und das teilweise von diesen eingesetzte „Prinzip der Gruppenhaftung“, was maßgeblich zur Verschärfung von Kameradschaftsnormen beiträgt.[19] Diese stärken jedoch nicht nur, wie in der Forschung häufig angenommen wird, den Zusammenhalt innerhalb derjenigen Kleingruppe, die unter ein und demselben Vorgesetzten leidet, sondern sie transzendieren diese. Weil ein Soldat davon ausgehen kann, dass ein Kamerad aus einer anderen Einheit ähnliche Erfahrungen mit seinen Vorgesetzten gemacht hat, entsteht zwischen gleichrangigen Organisationsmitgliedern einer Organisation auch unabhängig von konkreter Personenkenntnis ein gewisser Zusammenhalt. Es bildet sich Kameradschaft in einer Leidensgemeinschaft, welche Unkameradschaftlichkeit gegenüber dem Vorgesetzten fördert.
Eine Kameradschaft in den Kompanien oder anderen Einheiten kann man auch als „innig verbundene“ Freundschaft verstehen. „Jeder zieht am selben Strang!“
Dabei ist es fast unmöglich, eine Kameradschaft zwischen Mannschaften und Unteroffizieren zu generieren. Geschweige, Mannschaft und Offizieren oder Stabsoffizieren. Leider fungiert der Unteroffizier – mit oder ohne Portepee – als Verbindungsglied, das die Anordnungen der Offiziere oder Stabsoffiziere umsetzen muss. Er hat weder eine besondere mentale Bindung zu den Offizieren oder Stabsoffizieren, noch zu den Mannschaften. Daher wurde auch die so genannte Unteroffiziersgemeinschaft gegründet, deren Zweck es ist, dass Unteroffiziere mit ihresgleichen auf gleicher Ebene kommunizieren können und auch Erfahrungen austauschen können. Im Gegensatz zur Befehlsebene, wo Unteroffiziere von Offizieren oder Stabsoffizieren Befehle entgegennehmen, ist die Kommunikation zwischen Unteroffizieren und Mannschaften meist „kameradschaftlich“, also auch persönlicher. Hierbei steht der Unteroffizier in einer Zwickmühle. Ziel ist es, die Befehle vom Stab oder Ranghöheren auszuführen. Aber dies im Rahmen. Also ist hier Diplomatie wie auch Durchsetzungskraft gefragt.
Kameradschaft und militärische Rangordnung
Der Aufbau kameradschaftlicher und generell kooperativer Strukturen gestaltet sich allgemein zwischen Vorgesetzten und Untergebenen deutlich schwieriger als zwischen gleichrangigen Mitgliedern einer Organisation. Die Loyalität von Vorgesetzten ist nur durch kollegiale Mittel schwer zu kontrollieren. Daher neigen Organisationsmitglieder im Umgang mit Vorgesetzten meist zu „vorsichtiger Zurückhaltung“.[20] Denn ein Rangniederer kann nicht generell davon ausgehen, dass ein Ranghöherer die alltäglichen kleinen Regelabweichungen in der Truppe wie selbstverständlich übergeht. In militärischen Krisensituationen wie Kriegen, Straßenschlachten und Großbränden sind alle in besonderem Maße aufeinander angewiesen. Hier wurzeln die Gründe für die Herausbildung von kameradschaftlichen Normen über hierarchische Ebenen hinaus.[21]
Diese kameradschaftliche Verbundenheit drückt sich teilweise mit an Familienstrukturen orientierten Betitelungen – zum Beispiel wie „Papa“ oder „Vater“ für den Kommandeur oder „Mutter der Kompanie“ für den Spieß in Militäreinheiten – aus. Solches findet sich in vielen Armeen weltweit. Diese Benennungen sind als „Ehrenbezeichnung“ denjenigen Vorgesetzten vorbehalten, die gerade wegen ihrer informalen Einflussmöglichkeiten von Rangniederen – „ihren Männern“ oder „ihren Frauen“ – geschätzt werden. Ihre informalen Einflussmöglichkeiten „erkaufen“ sich Vorgesetzte aber notgedrungen immer auch mit der punktuellen Duldung von Regelverletzungen ihrer Untergebenen.
Zum Beispiel aus Studien über die US-Armee im Vietnamkrieg ist bekannt, dass die Ausbildung kameradschaftlicher Normen über Hierarchiestufen hinweg überlebenswichtig sein kann. Regelabweichungen wurden hier in relativ großem Umfang geduldet, weil die Vorgesetzten auf die Unterstützung ihrer Untergebenen in besonderem Maße angewiesen waren. Entsprechend wurden junge Offiziere durch Rangniedere bei Bedarf mit subtilen Mitteln darauf aufmerksam gemacht, dass dieser Krieg nicht nach den formalen Regeln zu gewinnen ist, welche in Soldatenausbildungen üblicherweise aufgestellt werden.[22]
Abgrenzung der Begriffe Kameradschaft, Kameraderie und Freundschaft
Der Sozialdemokrat und durch seine Thesen einflussreiche Rechtsphilosoph Gustav Radbruch erklärte den Begriff im Zusammenhang mit dem sozialistischen Freundschaftsbegriff auch allgemein: Demnach beschreibt die Herkunft des Wortes den Begriff Kameradschaft treffend, da mit jemandem eine Kammer zu teilen, eine persönliche Verbundenheit ist, welche nicht aus einer inneren Neigung heraus, sondern auf äußeren Umständen beruht. Am stärksten kameradschaftsbildend wirkt die Gegnerschaft zu anderen; wenn aber Kameradschaft ausschließlich auf der Zugehörigkeit zu der einen und der Gegnerschaft zu einer anderen Gruppe beruht, wird abwertend von Kameraderie gesprochen. Die Übergänge von Kameradschaft und Freundschaft sind oft unmerklich. Der Begriff „Freundschaft“ beschreibt ein auf gegenseitiger Zuneigung beruhendes Verhältnis von Menschen zueinander, von innen heraus entstanden. Freundschaft ist demnach ein Gefühl und nicht einforderbar – Kameradschaft ist ein Verhalten, das gefordert oder auch befohlen werden kann. Während Freundschaft auf einen engen Personenkreis begrenzt bleibt, vermag Kameradschaft Millionen zu versammeln.[23]
Der sozialistische Kameradschaftsbegriff
Nach einer sozialistischen These Radbruchs gibt es echte Kameradschaft nur in solchen Personengruppen, welche in einer gemeinsamen Sache, Werk oder Arbeit miteinander verbunden sind und dabei nur in einer „Gemeinschaft“: „Kameradschaft, Gemeinsinn und Arbeitsfreude sind die drei Grundgedanken sozialistischer Sittlichkeit“. Die höchste Form eines Kameraden wäre demnach der Genosse.
Radbruch formulierte: „Die Gemeinschaft fordert im Verhältnis ihrer Glieder: Kameradschaft; im Verhältnis jedes ihrer Glieder zur Gemeinschaft selbst: Gemeinsinn.“ Er sprach zudem von der „Brüderlichkeit“, dem „Gedanken der Gleichheit alles dessen was Menschenantlitz trägt“ und der „christlichen Liebe“ die der sozialistischen Kameradschaft zur Seite trete und ihrem Wesen nach „Nächstenliebe“ sei, als Elemente einer „Verwandtschaft“ zwischen Sozialismus und Christentum. Er bekannte sich einschränkend aber zu einer „diesseitsfrohen Religiosität“ und bezeichnete die „Bejahung des Lebens“ als Religion.
Die Formulierung Alle Menschen sind Brüder! sah er als schönen Traum. „Alle Menschen sind Kameraden!“ wäre „eine noch nicht greifbare“, aber „doch sichtbare Möglichkeit“. Er merkte an, dass dies eine nüchterne Betrachtung sei. Er schrieb in seiner Kulturlehre des Sozialismus 1922 es wäre durchaus ein neues Gemeinschaftsgefühl feststellbar und nimmt Bezug auf den amerikanischen Dichter Walt Whitman (1819–1892). In seiner Lyrik thematisierte Whitman die Schönheit der Natur und die Demokratie seines Landes und beeinflusste nicht nur die US-amerikanische Literatur, sondern auch den europäischen Naturalismus und Expressionismus. Radbruch bezeichnete ihn in Abgrenzung zum romantischen Kameradschaftsbegriff abwertend als einen „Sänger“.[24]
Der deutsch-französische „Versöhnungsfilm“ aus der Zwischenkriegszeit Kameradschaft, handelt von einem Grubenunglück an der Grenze, bei dem deutsche verunglückte französische Bergwerksarbeiter retten. Auszug aus dem Filmdialog: „Kameraden! Was der französische Kamerad gesagt hat, hab ich nicht verstehen können. Aber was er gemeint hat, haben wir alle verstanden. Weil es egal ist, ob Deutscher oder Franzose. Arbeiter sind wir alle. Und Kumpel is Kumpel. Aber warum halten wir nur zusammen, wenn’s uns dreckig geht? Oder soll’n wir ruhig zuseh’n, bis man uns wieder soweit verhetzt hat, dass wir uns im Krieg gegenseitig totschießen?“
Der Filmkritiker Siegfried Kracauer analysierte: „Pabst gibt sich nicht damit zufrieden, den Nationalismus anzuprangern, er interpretiert ihn im sozialistischen Sinne.“[25]
Der Kinofilm wurde vom deutschen Ausschuss des Völkerbund-Komitees für die Annäherung der Völker durch den Film ausgezeichnet. Vor dem Filmhintergrund des Grubenunglück von Courrières 1906 welches abgewandelt filmisch in die Filmentstehungszeit verlegt wurde und der zu dieser Zeit diskutierten Völkerbundidee thematisierte Georg Wilhelm Pabst die internationale Solidarität. Der Film war kommerziell aber nicht erfolgreich und spielte nur etwa ein Drittel seiner Produktionskosten wieder ein. Vom rechtsstehenden Teil der deutschen Presse wurde er verrissen. Der Regisseur wurde später in die Ehrenlegion aufgenommen. Zur Weltausstellung in Brüssel 1958 wird Kameradschaft von einer internationalen Kritiker-Jury unter die 30 besten Filme aller Zeiten gewählt. Genau betrachtet vermischt er den Begriff Kumpel (Umgangssprachlich: Bergmann od. Freund) mit dem der Kameradschaft und deutet auch diese beiden in „sozialistischem Sinne“. Seiner dargestellten These nach, vermag Sozialismus und Kameradschaft Katastrophenfolgen, Bergwerkshierarchien, Kultur- und Sprachbarrieren, Formalismus, Gesellschaftsschranken, Nationalismus und Nachkriegsfeindschaften, sowie alle Indoktrinationen auszuhebeln.[26][27] Courrières wurde bereits zuvor im linken Lager – vor dem Hintergrund der notdürftig beigelegten Ersten Marokkokrise – zum Symbol von Völkerverständigung, auch durch erfolgte grenzübergreifende Hilfsdienste. In der Presse wurde ein kollegialer Abschiedsausspruch eines französischen Feuerwehrmanns gegenüber einem deutschen zitiert: „Hol der Deuvel die ganze Marokkokrise.“[28]
Die Zeit der Romantik und der Kameradschaftsbegriff
1809 schrieb Ludwig Uhland das Gedicht Der gute Kamerad. Es fand – 1825 mit der Melodie von Friedrich Silcher versehen – großen Anklang. Der Text handelt – nüchtern und doch bewegend – von zwei Soldaten, Kriegsschicksal und ihrer Kameradschaft; aber vielmehr noch von Freundestreue. Das Lied wurde bekannt unter der Anfangszeile der ersten Strophe: „Ich hatt’ einen Kameraden,“ und nicht unter seinem eigentlichen Titel. Die zweite Zeile verweist darauf, dass sich zwischen den beiden bereits eine – über reine soldatische Kameradschaft hinausgehende – stark emotionale Freundschaft entwickelt hat: „Einen bessern findst du nit.“, gemeinsam mit der Zeile: „Will mir die Hand noch reichen“. Dennoch endet das Lied mit: „Mein guter Kamerad!“ und gerade nicht mit: Mein guter Freund.
Die spätere Zeile: „Derweil ich eben lad.“ gefolgt von „Kann dir die Hand nicht geben,“ lässt sich ohne weiteres als die gehobene Formulierung einer Bitte um Hilfeleistung oder um einen letzten tröstenden Freundschaftsdienst – was durch das Nachladen der Waffe aufgrund der Gefahrenlage durch den Feindbeschuss unmöglich wird – interpretieren. „Bleib du im ew’gen Leben“ ist als christliche Metapher für ein ewiges Weiterleben im Paradies zu identifizieren, welches ihm für erwiesene gute Freundschaft tröstend gewünscht oder vorhergesagt wird.[29]
Uhland war ein bekannter, wenn auch nicht allzu typischer, Vertreter der Deutschen Romantik und später – für die damalige Zeit gesehen – ein „linksradikaler Politiker“. Der Liedtext beschreibt gut, dass verklärende Kameradschafts- und Soldatenbild, welches die Romantik verbreitete.[30][31]
Das Lied wurde vor allem von der politischen Reaktion propagandistisch genutzt[32], unter anderem zur Beschönigung und Verklärung des Kriegsopfers und Heldentods.[33] Die Deutungen des Gedichts gehen jedoch weit auseinander.[34] Die politische Wandlungsfähigkeit des, hiermit in bestimmter Richtung geförderten, Begriffs Kameradschaft zeigt Thomas Kühne in seiner Habilitationsschrift auf. Er beschreibt für die gesamte Bandbreite von links bis rechts, wie hiermit ein politisch-agitatorischer Kameradschaftsmythos konstruiert werden konnte. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde dieses Konstrukt einer vorgeblich „guten Kameradschaft“ zunehmend als eine „böse Kameradschaft“ angesehen.[35]
Der Kameradschaftsbegriff in der Jugendbewegung
Als Jugendbewegung wird eine besonders im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts einflussreiche Strömung betitelt, die dem von der Industrialisierung geprägten städtischen Leben eine vor allem in Kreisen der bürgerlichen Jugend sich ausbreitende Hinwendung zum Naturerleben entgegensetzte. Die Jugendbewegung entstand auch aus Unmut über die starre Welt der Alten im Wilhelmismus mit ihrem Militarismus und Konformismus. Sie schwelgte zunächst im Pathos des Individualismus. Freundschaft und nicht Kameradschaft war der Leitbegriff ihrer Bewegung.[36] Jedoch entwickelte sie kein individualistisches Gegenmodell zu Kameradschaft, sondern arbeiteten an der Verschmelzung dieses Begriffes mit dem der Freundschaft. Eine abwertende Behandlung des Begriffes Kameradschaft findet sich im Rückblick selten. In der Jugendsprache dieser Bewegung erscheinen diese Begrifflichkeiten oft synonym.[37] In der sprachlichen Vermischung von Ideen oder Philosophien zu einem neuen System oder Weltbild spiegelte sich die Unentschiedenheit einer Bewegung wider, welche die Persönlichkeitsentfaltung des Einzelnen mit der Geborgenheit einer Gemeinschaft kombinieren wollte. Während bei Lagerfeuerromantik viele „Ichs“ sich zusammenfanden, regierte in Horden und Bünden ein „Wir“ über diese.[38]
Im grundsätzlichen Selbstverständnis waren die verschiedenen Gruppierungen zunächst unpolitisch. Den zeitgenössischen ideologischen Strömungen waren sie dennoch ausgesetzt und nur ganz allgemein auch daran orientiert. Tiefe Einschnitte für die Jugendbewegung stellte der Erste Weltkrieg dar, auf den die politisch stärker polarisierte Phase der bündischen Jugendbewegung folgte. Der Wertehorizont in der Gesellschaft wurde zunehmend wieder konformistischer. Ab 1930 war er nicht mehr nur ein Feld auf dem sich überwiegend Nationalisten und Militaristen bewegten, sondern er gehörte wieder zum kulturellen Allgemeingut der Deutschen. Auch die Jugendbewegung arbeitete ihm vor.[39]
Es war eine neue Vielfalt von Teilbewegungen und Neugründungen charakteristisch für die nachrevolutionären frühen Jahre der Weimarer Republik, die aber im weiteren Verlauf auch zu einer organisatorischen Einbindung von Pfadfinderbünden in die Jugendbewegung führte. Dagegen bildete die Arbeiterjugendbewegung immer einen eigenständigen Zweig unter den organisierten Gruppierungen.
Befördert wurde die Tendenz zur weiteren Auffächerung der Gruppierungen in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg – dem Psychologen Ulfried Geuter zufolge – durch die zunehmende Bedeutung der Mädchen in manchen Organisationen. Es gab Meinungsäußerungen, das Wesen der Geschlechter sei so grundsätzlicher unterschiedlicher Art, dass es zu den Jungen kein kameradschaftliches Nebeneinander geben könne und andere: „Wo Mädchen sind, da ist es gemütlich. Dort fühlt man sich zufrieden, nicht revolutionär.“ Auffällig geworden sind nach Geuter solche Abgrenzungen von männlicher Seite her gerade zu der Zeit, als in Deutschland eben das Frauenwahlrecht eingeführt worden war und immer mehr Frauen auf höhere Schulen und Universitäten gingen.[40]
Die Kameraden, deutsch-jüdischer Wanderbund waren ein Jugendbund innerhalb der jüdischen Jugendbewegung in Deutschland und verknüpfte den Begriff im Organisationsnamen bei seiner Gründung. Der 1916 gegründete Bund spaltete sich 1932 in drei Nachfolgeorganisationen auf.[41][42]
Ab 1930 verdrängte mehr und mehr der ursprünglich aus dem militärischen Sprachgebrauch stammende Begriff Kameradschaft den der Freundschaft, bis zum Aufgehen in die Hitlerjugend oder dem Verbot aller Zweige der Jugendbewegung und einem Schattendasein im Untergrund (1933–1945). Die HJ sollte so gut wie alle und schon die zehnjährigen männlichen Jugendlichen im NS-Staat abhärten und langfristig auf den Kriegsdienst vorbereiten. Dementsprechend herrschte eine stark militärisch geprägte Wortwahl vor. Der Bund Deutscher Mädel (BDM) war die Variante für Mädchen.
Kameradschaft und Unkameradschaft im Ersten Weltkrieg
Nach einer statistischen Befragung – des bayrischen Ministerialbeamten Joseph Schneider aus dem Jahr 1926 unter Kriegsveteranen – hatte jeder zwölfte „Unkameradschaft, Ungerechtigkeit“ erfahren, jeder fünfzigste „Kameradschaft“. Dies kann als Beleg gesehen werden, dass im Ersten Weltkrieg eher Unkameradschaft der Wirklichkeit entsprach und Kameradschaft kaum überhaupt wahrgenommen wurde.[43][44][45]
Ein Frontsoldat des Ersten Weltkrieges berichtet 1976 im Deutschlandfunk: „Ja, wat heeßt da Kameradschaft. Da war net vil Kameradschaft. Jeder war sich da selbst der Nächste, nit.“[46] Darin spiegelt sich eine Verknüpfung mit dem christlichen Begriff der Nächstenliebe wider.
Der deutsche Schriftsteller und ehemalige Teilnehmer an diesem Krieg Adam Scharrer veröffentlichte 1930 sein Werk Vaterlandslose Gesellen. Es wird als proletarische Antwort auf Remarques Im Westen nichts Neues angesehen und als eine Abrechnung mit dem Wilhelminischen System und dem von diesem begonnenen imperialistischen Krieg. Er betont die Unfreiwilligkeit von Kameradschaft im Krieg und nimmt Bezug auf das „Uhland-Lied“, verquickt dabei aber sprachlich den Begriff mit dem der Freundschaft und dem der Kameradschaft in sozialistischem Sinn: „‚Ich hatt' einen Kameraden‘? Mag sein, dass manch einer Trost darin findet, seine eigene Tragödie zu besingen. Ich gehöre nicht zu diesen Glücklichen. Wenn die Granaten über uns krepieren, die zerschundenen Nerven den Angriff erwarten, Patrouillen nach vorn schleichen oder ein Angriff bevorsteht, dann gibt dir der Leutnant eine Zigarette, der Bauernsohn oder Gutsbesitzer ein Stück Wurst. ‚Nimm, Kamerad!‘ sagen sie dann. Was wollen sie noch damit, wenn die Kugel sie trifft? Es ist dann gut, einen Kameraden zu haben, auf den man sich verlassen kann. Sie ist billig, diese Kameradschaft — und hört sofort auf, wenn wir etwas weiter vom Schuss sind. Dann essen die Habenichtse, die Proletarier, wieder ihr trockenes Brot. Die Leutnants rauchen ihre Zigaretten selber. Die Bauern und Geldleute suchen mit ihrem Überfluss ebenfalls allein fertig zu werden. Wer ihnen die dreckigen Stiefel putzt, ihre dreckigen Hemden wäscht, der kann mal einen Brocken erben, aber nicht von dem ‚Kameraden‘, der Herr bezahlt seinen Knecht. Die Kameradschaft im Kriege ist die größte Lüge, die je erfunden wurde. Sie war niemals eine freiwillige, sondern immer nur eine Gemeinschaft von Todeskandidaten. Und doch habe ich zwei gute Kameraden verloren. Das waren der Tischler Franz Daimler und der Landarbeiter Döring.“
Danach beschreibt er rückblickend ein erstes Zusammentreffen mit Döring bei einer Brunnenbaumaßnahme: „Der Landarbeiter Döring half uns bei unserem Brunnen. Noch nie hat er vordem anderes von den Hetzern, den vaterlandslosen Gesellen gehört, als dass sie an den Galgen gehören. Er verstand auch jetzt nicht viel von dem, was wir besprachen — aber er ahnte, dass wir seine wirklichen Kameraden sind.“[47]
Als ein in die Medien gelangtes Beispiel für Unkameradschaftlichkeit und Kriegsgreuel im Ersten Weltkrieg gegenüber Soldaten – der Gegenseite – kann unter anderem die Erschießung der Überlebenden U-Bootbesatzung von U 27 angesehen werden. Dieser Vorgang wurde als Baralong-Zwischenfall (engl. Baralong Incident) bezeichnet. Dabei wurden alle überlebenden Besatzungsmitglieder des zerstörten deutschen U-Boots von der Mannschaft der britischen U-Boot-Falle getötet. Der Zwischenfall führte zu einem monatelangen Notenwechsel zwischen der Deutschen Reichsregierung und der des Vereinigten Königreiches. Auch wenn der Tathergang unter der Rahmenbedingungen des Weltkrieges nicht zufriedenstellend geklärt werden konnte – weshalb der Baralong-Zwischenfall auch nie offiziell als Kriegsverbrechen eingestuft worden ist – erfüllte er alle Merkmale für ein Kriegsverbrechen.[48]
Der Kameradschaftsbegriff in kirchlichen Zusammenhängen der Zwischenkriegszeit
Josefa Fischer – eine profunde Kennerin der damaligen Jugendarbeit, Buchautorin und 1932 kritische zeitgenössische Beobachterin – beschrieb das gemeinsame Auftreten von Jugendlichen in der Jugendbewegung der späten Weimarer Republik anschaulich:
„Marschierende, einheitlich gekleidete Jungentrupps in geschlossenen, disziplinierten Reihen. Sie halten Gleichschritt, die Fahne an ihrer Spitze, die einmal die rote Fahne des kommenden sozialistischen Staates ist, oder Hakenkreuzfahne als Wahrzeichen des kommenden Dritten Reiches; ein andermal das Kreuz katholischer oder evangelischer Jugend oder die schwarze Fahne des Widerstandes gegen den Versailler Gewaltfrieden. Das Stehen und Marschieren in Reih und Glied ist allen Ausdruck ihres stärksten Lebensgefühls, bedeutet allen elementares Erlebnis, wirkt auf alle wie ein Rausch.“[49][50][51]
In der Ideenwelt der Jugendorganisationen der Weimarer Republik vollführte das militärische Element offensichtlich eine große Rolle. Zum Leitbild der männlichen Jugend wurde das des „Frontsoldaten“. Es dominierten militärische Tugenden wie Tapferkeit und Härte, Kameradschaft und Einsatzbereitschaft in den Erziehungswerten. Somit kristallisierte sich der Männerbund als ein vorgebliches Ideal für den Aufbau von Jugendgruppen heraus. Für emanzipatorische Tendenzen blieb kaum Platz übrig.[52]
Es trat bei Gruppen der Jugendbewegung – konfessioneller, politischer oder bündischer Ausrichtung – eine Militarisierung ein. Zudem eine zumeist unreflektierte Glorifizierung der Vergangenheit, welche zwischen 1918 und 1933 ebenso verbreitet war, wie das Verlangen nach utopischen Zukunftsentwürfen. Im Geleit der hiermit verknüpften Diskussionen, durch Gründung von Vereinen und (Kampf-)Bünden, Publikationen und vielem mehr, wurde – insbesondere in jugendlichen Köpfen – ein latenter Militarismus etabliert. Wie schon vor dem Ersten Weltkrieg – nur verschärft – gab es einen „Kampf um die Jugend“, bei dem sicherlich die kommunistischen und vor allem NS-Verbände durch ihre Agitation als Auslöser fungierten, aber keineswegs als alleinige Verursacher. In diesem Kampf ließ sich eine große Anzahl von Jugendlichen nicht nur widerstandslos, sondern geradezu mit einer Überidentifikation in Dienst nehmen. Nicht Emanzipation, sondern Integration war ein massenhaftes Generationsbedürfnis. Die HJ und der BDM machten letztere allen Jugendlichen zur Pflicht.[53]
Als der eigentliche Schlüssel zum Erfolg des Kameradschaftskonzepts kann dessen Fähigkeit, unterschiedlichen Erfahrungen, Einstellungen und Weltsichten Raum zu geben angesehen werden. In einer historisch bereits tief verankerten Tradition war in der Zwischenkriegsphase – wie auch nach 1945 – vor allem Kameradschaft als Leidensgemeinschaft anschlussfähig. Eine „quasi-sakrale Sinnstiftung“ des Soldatentodes und die Ausblendung des eigenen, aktiven Tötens verband sich effektiv mit der christlichen Motivik des Leidens für die Glaubensgemeinschaft.[54]
Als die höchste Form deutsch-christlicher Gemeinschaft wurde die Kameradschaft bei den Deutschen Christen beschrieben. Die Anrede Kamerad war im alltäglichen und wie auch dienstlichem Verkehr in Gebrauch. Verschiedene deutsch-christliche Gruppen schlossen sich zu Kameradschaften zusammen. Eine neue Form der Anrede, die etwa für einen Pfarrer in einer ländlichen Gegend befremdlich geklungen hat. Welche er meist nur von Feuerwehrleuten untereinander hörte. In der Nennung Kamerad schwang vieles mit; unter anderem Assoziationen mit Kriegsfronteinsatz, vorgebliche „Schützengrabenkameradschaft“, gegenseitige Verlässlichkeit und Einsatzbereitschaft. Literarische Vorbilder lieferten die als Kameradschaft verklärte „Schützengrabenfreundschaft“ zwischen Walter Flex und dem vormaligen Theologiestudenten Ernst Wurche. Flex stellte ihn in den Mittelpunkt seines Büchlein Der Wanderer zwischen beiden Welten. Das kleine Buch war neben Im Westen nichts Neues das meistgelesene Buch über den Ersten Weltkrieg.[55] In der christlichen Liederwelt findet sich die Verquickung der Begriffe Freundschaft und Kameradschaft. Die Kameradschaft war bei der deutsch-christlichen Gemeinschaft die Sehnsucht nach einer heilen Welt, in der in späterer Zukunft alle Konflikte überwunden wären, weil dann alle Menschen endlich Nationalsozialisten und Christen seien. Kameradschaft verspürte bei der deutsch-christlichen Gemeinschaft eine intensive Spiritualität unbedingter Zugehörigkeit abseits von Familie und Elternhaus, von Hingabe und Einsatzbereitschaft, von dem unbeugsamen, todesbereiten Willen zur Weltdurchdringung mit nazistischen und christlichen Ideen und Werten. Der evangelisch-lutherische Theologe und Deutsche Christ, aktive Befürworter der Ideologie und Politik der NSDAP Emanuel Hirsch dichtete von dieser Kameradschaft unter anderem folgende Liedzeilen:
„Wir schritten lange Seit an Seit./ In Kampf und Arbeit Freud und Leid/ warst du mein Kamerad./“[56]
Da die christliche Botschaft im „Zeitalter des Zweifels“ für viele Menschen nach Hirschs Thesen unwiederbringlich verloren sei, waren Begriffe wie Kameradschaft und Volksgemeinschaft für ihn durchaus legitime Ersatzformeln für ein angeblich überholtes christliches Vokabular. Zwar wusste er als nüchterner, rationaler Wissenschaftler, dass es kein Zurück hinter die Moderne gab. Jedoch scheint der deutschnationale Konservative in ihm nach einem Ausweg gesucht zu haben, um die Folgen der Modernisierung abzumildern. Zwar hatte er die wesentlichen Elemente der modernen Kultur allgemein klar und präzise benannt, aber im Nationalsozialismus sah er fälschlicherweise einen Verbündeten im Kampf für einen moderaten Modernismus. In eklatanter Fehldeutung der NS-Ideologie sah Hirsch im Nationalsozialismus den Hüter des Humanismus, der zentrale Werte der Aufklärung wie Individualismus, Gewissen und Zweifel sowohl gegen ihre liberalistische Radikalisierung als auch gegen ihre totalitären Gegner verteidige. Er wurde wie auch andere zu einem Wortführer der Deutschen Christen und theologischer Berater des späteren Reichsbischofs Ludwig Müller.[57]
Unter anderem Teile der Deutschen Christen traten für eine Erneuerung der Kirche durch Volksmissionierung ein. Sie dachten, dass mit der Machtergreifung Hitlers die „Stunde der Volksmission“ gekommen sei. Wie sie die volksmissionarische Arbeit inhaltlich verstanden, belegt besonders die von Müller vorgelegte volksmissionarische Veröffentlichung unter dem Titel Deutsche Gottesworte. Im Vorwort stand: „Für Euch, meine Volksgenossen im Dritten Reich, habe ich die Bergpredigt verdeutscht, nicht übersetzt… Eurer Reichsbischof.“ Die Seligpreisung der Sanftmütigen (Matthäus 5,5) übersetzte er mit: „Wohl dem, der allezeit gute Kameradschaft hält. Er wird in der Welt zurechtkommen.“ Dietrich Bonhoeffer kritisierte lapidar, dass hier christlicher Glaube und die Gemeinde auf der Strecke geblieben wären.[58][59][60][61]
Der Kameradschaftsmythos und die Dolchstoßlegende
Die Dolchstoßlegende beinhaltet den Vorwurf mangelnder Kameradschaft. Laut Thomas Kühne habe sich eine gesellschaftliche Deutung in der Zeit der Weimarer Republik dahingehend, dass der Erste Weltkrieg durch Mangel an innerem Zusammenhalt einer „Volksgemeinschaft“ verloren wurde, letztendlich erst 1930 durchgesetzt. Durch Beförderung und Nutzung des Dolchstoßmythos sei es dem NS-Staat gelungen, ein Idealbild soldatischer Kameradschaft im Sinne des geplanten neuen Krieges sozusagen zu „demokratisieren“. Durch internationale Veteranenbegegnungen in den 1930er Jahren zum Beispiel habe der NS-Staat den sozialistischen Ansatz einer völkerverständigenden Kameradschaft imitiert – wenn auch unter ganz anderen Vorzeichen.[63]
Kameradschaftsehe
Als Kameradschaftsehe wird eine Ehe bezeichnet, deren Grundlage ein kameradschaftliches und pragmatisches Verhältnis zwischen den Partnern ist, wobei Liebe und Intimität zwischen den Ehepartnern eine geringe Rolle spielen.
Obwohl sich das Geschlechtsleben der Allgemeinheit der „Roaring Twenties“ in den Grenzen des bürgerlichen Sittenkodex bewegte, da ethische und soziale Leitbilder mentalitätsgeschichtlich noch nicht so schnell an Einfluss verloren wie später oder der Lebenswandel eines lustversprechenden Lebensstils für viele zu kostspielig war, hatten sich Ideale und Wunschvorstellungen schnell gewandelt. In Abkehr von der viktorianischen Lustfeindlichkeit werden in den bürgerlichen Schichten sittliche Schranken früherer Generationen durchbrochen. Die „Sexuelle Revolution“ in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts trennte endgültig Liebe, Erotik und Leidenschaft von der ehelichen Institution zum Zwecke der Fortpflanzung[64]. Abtreibung und ihre gesetzliche Regelung, Sexuelle Aufklärung, Empfängnisverhütung und Freikörperkultur, Homosexualität und lesbische Liebe als auch Kameradschaftsehe sowie Ehe zu dritt wurden in der Öffentlichkeit diskutiert.[65] Einen großen Einfluss hatten hierbei die vielen Vereine und deren Veröffentlichungen, angefangen von denen der sozialistischen Arbeiterbewegung bis hin zu konfessionell gebundenen Organisationen. Sie verfolgten jeweils ihre eigenen geschlechterpolitischen Pädagogik-Programme, gleichwohl gab es auch Überschneidungen. Das Leitbild der Kameradschaft zwischen Frauen und Männern wurde ausgiebig thematisiert – besonders in den sozialistischen Jugendverbänden. Der österreichische Schriftsteller Stefan Zweig schrieb über den Begriff als etwas, was bereits zu seinen Lebzeiten (1881–1942) Realität geworden sei. Ein dünnes Buch, das der sozialistische Arzt und Sexualaufklärer Max Hodann 1924 veröffentlichte trug den Titel Bub und Mädel: Gespräche unter Kameraden über die Geschlechterfrage. Der Begriff Kameradschaftsehe wurde zu so etwas wie einem Modethema. 1927 brachte der Richter Ben Lindsey in den USA gemeinsam mit Wainwright Evans die Streitschrift The companionate marriage heraus. Die deutsche Übersetzung lag innerhalb nur eines Jahres vor. Als der friesisch-niederländische Arzt und Gynäkologe Theodoor Hendrik van de Velde die Vollkommene Ehe – 1926 erstmals auf Deutsch – publiziert, erlebte das Werk bereits sechs Jahre später seine 32. Auflage. Dazu trug sicher auch bei, dass die katholische Kirche es auf den Index verbotener Bücher gelistet hatte. Die breite gesellschaftliche Debatte, war ebenso neu wie die vielen Ehe- und Sexualberatungsstellen, die in den 1920er Jahren eröffnet wurden.[66]
Der deutsche Journalist, Politiker (SPD, USPD), Schriftsteller und Dichter Felix Fechenbach war seit 1926 in zweiter Ehe mit Irma Fechenbach-Fey einer Sozialistin und ebenfalls hochpolitischen Frau verheiratet. Das Landesarchiv Nordrhein-Westfalen gibt dazu an: „Sie führten eine moderne, nämlich partnerschaftliche Ehe nach dem sozialistischen Modell der Kameradschaftsehe, wie sie in den 1920er Jahren geradezu revolutionär anmutete.“[67]
1933 wurde Felix Fechenbach aufgrund seiner politischen Betätigungen festgenommen und in „Schutzhaft“ überführt. Am 7. August wurde Fechenbach auf dem Transport von Detmold in das KZ Dachau angeblich „auf der Flucht erschossen“. Irma und die gemeinsamen Kinder überlebten die Zeit des Nationalsozialismus durch Flucht in die Schweiz und Emigration.[68][69]
Kameradschaft in der Zeit des Nationalsozialismus
In NS-Organisationen (vgl. NS-Ranggefüge) bezogen sich Prinzipien wie „Ehre“ oder „Anständigkeit“ nicht im Sinne universal gültiger Normen, sondern auf das Wohl der nationalsozialistischen Gruppe.[70]
Nachdem der Kameradschaftsbegriff in den Zwanzigerjahren stark umstritten war, vollzog sich etwa um 1930 so etwas wie eine Apotheose des Begriffes, bevor er im „Dritten Reich“ schließlich quasi zur Staatstugend erklärt wurde. Dies kann als ein deutsches Spezifikum angesehen werden. Begünstigt wurde die Etablierung des Kameradschaftsmythos „durch die kollektive Arbeit an den Lasten“ des Ersten Weltkriegs, die den Einzelnen überforderte und zu einem allgemeinen Paradigmenwechsel führte. An die Stelle einer christlich geprägten Gewissenskultur, die auf die individuelle Verantwortung setzte, trat so etwas wie eine an der Gemeinschaft orientierte Scham- und Schuldkultur, die den Konformismus beförderte.[71]
Das Kameradschaftsphänomen ist seit Ende der 1940er Jahre Gegenstand militärsoziologischer Forschung. Angestoßen wurden die Untersuchungen durch eine amerikanische Soziologengruppe, die für das Forschungszentrum des US-Militär erste Erklärungen dafür suchten, warum Soldaten im Krieg eigentlich kämpfen. Als Untersuchungsgegenstand wählten sie unter anderem die zeitnahe Vergangenheit des Zweiten Weltkriegs. Ausgehend von der Frage, warum Wehrmachtsoldaten nach 1944 weiterkämpften, obwohl die Niederlage klar bevorstand, stellten sie fest, dass der Durchhaltewillen in der deutschen Armee nur zu einem äußerst geringen Teil auf NS-Überzeugungen ihrer Soldaten zurückführbar war und ein weiterhin entschiedener Widerstand gegen den Feind vielmehr durch die Befriedigung vorrangig persönlicher Bedürfnisse durch die soziale Organisation des Militärs gefördert wurde.[72]
Der Zeitzeuge der Vorgänge im „Dritten Reich“ Sebastian Haffner beschrieb 1939 die Kehrseite des Gruppenzusammenhalts. Im Referendarlager Jüterbog im Herbst 1933, musste er als angehender Jurist an einer „weltanschaulichen“ Schulung und zudem an einer militärischen Ausbildung teilnehmen. Als „Gift der Kameradschaft“ beurteilte er die Tatsache, dass sich durch Kameradschaft das Gespür für die Eigenverantwortung völlig auflösen könne. Die Verantwortung vor Gott und dem eigenen Gewissen könne dadurch abhandenkommen, dass ein Mensch – in der Gruppe, wie alle seine Kameraden – tue, was alle anderen tun. Ohne Zeit zum selbstständigen Nachdenken zu haben, würden die Kameraden den Platz seines Gewissens einnehmen. Kameraden würden zu seinem Gewissen werden, denn sie erteilen ihm Absolution für seine Taten in der Gruppe:[73] „Kameradschaft gehört zum Krieg. Wie Alkohol ist sie eins der großen Trost- und Hilfsmittel für Menschen, die unter unmenschlichen Bedingungen zu leben haben. Sie macht Unerträgliches erträglich. […] Sie verdirbt und depraviert den Menschen wie kein Alkohol und kein Opium. Sie macht ihn unfähig zum eigenen, verantwortlichen, zivilisierten Leben. […] Die allgemeine Kameradschafts-Hurerei, zu der die Nazis die Deutschen verführt haben, hat dieses Volk heruntergebracht wie nichts anderes.“[74]
Haffner bezeichnete nicht nur einzelne NS-Organisationen in übertragenem Sinn – als „verkameradet“, sondern sah das ganze deutsche Volk in einem derartigen „Zustand“: „Die Nazis wußten schon, was sie taten, indem sie sie als normale Lebensform über ein ganzes Volk verhängten. Und die Deutschen, mit ihrer geringen Begabung zum individuellen Leben und zum individuellen Glück waren so schrecklich bereit, sie anzunehmen, so willig und gierig, die zarten, hochwachsenden, aromatischen Früchte der gefährlichen Freiheit gegen die bequem zur Hand hängende, üppige, saftig-quellende Rauschfrucht einer allgemeinen, wahllosen, gemein machenden Kameradschaft zu tauschen (...).“[75]
Der Historiker und Leiter der Forschungsstelle zur Geschichte des Nationalsozialismus Detlev Peukert hebt die politische Bedeutung der „Faszination der Formation“ hervor, die vor 1933 und darüber hinaus – besonders während der NS-Zeit, deutliche Auswirkungen auf die Sozialisation Heranwachsender hatte. Er beschreibt die Entwicklung der politischen Kultur in den Krisenjahren um 1923 der Weimarer Republik so:
„Das Lager wurde zur Lebensform, die Kolonne zur Bewegungsweise. Uniformierung und Militarisierung der politischen Strömungen überwucherten von den radikalen Rändern her auch die bisherige politische Mitte und wurden Anfang der dreißiger Jahre zur vorherrschenden Erscheinungsform der richtungsmäßig zerklüfteten politischen Kultur. Diese Einheitlichkeit der Form trotz der Feindschaft der Programme, die das Deutschland (...) der Zeit zwischen den Weltkriegen kennzeichnete, löste sich erst mit dem Zweiten Weltkrieg auf (...).“[76]
Der äußere Umstand, auf dem der Kameradschaftsbegriff beruht, war somit umfangreich gegeben. Der Organisationsgrad der Bevölkerung im NS-Staat war sehr hoch und spiegelte sich zum Beispiel auch in den vielen Jugend-, Schulungs-, Arbeits- oder sonstigen NS-Lagerveranstaltungen wider. Haffner stellt am Beispiel Referendarlager Jüterbog und unter anderem im Zusammenhang mit der dort erzwungenen „Du“-Anrede heraus, wie stark sich erzwungene Kameradschaft behindernd auf ein sich Kennenlernen auswirkt und zudem den unzivilisiert wirkenden Eindruck, den dies hervorrufen kann.[77] Das gegenseitige Duzen bezeugte im NS-Staat quasi Kameradschaft und war sozusagen praktizierte Volksgemeinschaft im Kleinen. Jedoch offenbarte sich besonders bei, schlicht gesagt, „Kameradschaft und Volksgemeinschaft auf Befehl“ bereits zu Anfang sein künstlich geschaffener Charakter. Die Nachbetrachtungen einer Lehrerin als ehemalige Teilnehmerin eines Schulungskurses in der NS-Zeit wird so zitiert: „Bei diesem Schulungskurs sollten wir uns Duzen. Da passierte es, daß wir uns nach 10 von 14 Schulungstagen uns noch immer mit dem Abstand gebietenden ‚Sie‘ anredeten. Jetzt hielt uns der Lagerführer eine Standpauke mit der Schlußrede, daß er uns alle am Nachmittag in eine Konditorei führen würde, wenn wir endlich die gewünschte Du-Anrede benutzten. Jetzt beschlossen die Vierergruppen der Zimmergemeinschaften das gegenseitige Du anzuwenden. Nach dem Kursus galt für uns selbstverständlich wieder die unter Erwachsenen übliche Sie-Anrede.“[78] Auch dies zeigt derartige Grenzen in den sozialen Schranken von gegenseitiger Vertrautheit, des näheren Kennens und des Intimseins untereinander auf. Aber nicht allgemein, denn wenn derartige Regelungen einfach akzeptiert werden, treten auch keine derartigen Auffälligkeiten zutage und das Duzen kann durchaus ein Mittel zur Erleichterung der Gruppen- oder auch Kameradschaftsbildung sein. Kameradschaft besonders unter den Bedingungen des räumlich beengten Lagerlebens kann dazu führen, dass die menschliche Intim- und Privatsphäre stark zurückgedrängt wird. Dies ist aber grundsätzlich ein Element von Kameradschaft, kann auch beabsichtigt sein und wurde zum Beispiel in der NS-Zeit instrumentalisiert.[79]
Fast alle Organisationen – in einer vordersten Stelle die Wehrmacht -[80] bauten auf einem bestimmten Begriff von Kameradschaft auf, der ein wichtiges Ordnungsprinzip der nationalsozialistischen „Volksgemeinschaft“ war. Unter anderem in diesem Zusammenhang sind Fragen stellbar, wie und ob „Täter“ und „Gesellschaft“ überhaupt voneinander abgegrenzt werden können und ob eine gemeinschaftsbildende Wirkung von Gewalt nicht auch für die Gesamtheit der deutschen Gesellschaft festgestellt werden kann.[81] Es ist naheliegend, hier Parallelen zu ziehen, jedoch ist gleichzeitig Skepsis gegenüber vorschnellen Analogien angesagt. Die auch in der NS-Zeit vergleichsweise komplexe deutsche Gesellschaft war mehr als eine einfache Addition von „Kameradschaften“. Gleichsam sich die Handlungsbedingungen an der „Heimatfront“ denen der Front zunehmend anglichen, hatten grundlegende Differenzen zwischen Zivilgesellschaft und militärischen Formationen weiterhin Bestand. Mit Blick auf die Gemeinschaftsbildung machte es einen substanziellen Unterschied, ob Morde gemeinsam begangen wurden oder lediglich von ihnen eigene Kenntnis bestand, ohne unmittelbar selbst beteiligt zu sein.[82] Ohne den Krieg, welcher Tätern ungeahnte Handlungsmöglichkeiten verschaffte und spezifische Handlungsbedingungen schuf, die im zivilen Leben undenkbar waren, wäre eine vergleichbare Eskalation von Gewalt und Vernichtung unmöglich gewesen. Der Zweite Weltkrieg und die ihm zugrundeliegenden Feindbilder strukturierte Zugehörigkeiten. Er erstellte einen spezifischen Referenzrahmen des Verhaltens und konfrontierte die Akteure in diesem Krieg mit Rollenerwartungen, denen sich die Mehrheit der Deutschen reibungslos anpasste.[83]
Da das Konzept der Kameradschaft auf einem Grundprinzip zum Mitmachen beruht und gleichzeitig Legitimationsstrategien bereithält, wirkte es als „Motor der Gewalt, und zwar der regulären wie der verbrecherischen“.[84] Es ist davon auszugehen, dass die meisten Wehrmachtssoldaten zum Beispiel Erschießungsaktionen wohl nur sehr widerwillig durchführten. Wer sich der „unangenehmen Pflicht des Mordens“ entzog, verstieß sozusagen gegen „das Kameradschaftsgebot der gleichmäßigen Lastenverteilung“.[85] So gesehen bedeutete jede Nachsicht gegenüber den propagandistisch dämonisierten äußeren Feinden letztlich die Leugnung des Primats der Binnengruppe.[86] Insbesondere galt dies für Gewalttaten, die als Vergeltungsaktionen gegen die Gegenseite legitimiert wurden. Dies war so etwas wie eine Umkehrung der Menschlichkeit – welche die Gruppe im Inneren pflegte, dagegen Humanität gegenüber dem Gegner ausschloss.[87] Inmitten der Bedrohungsszenarien des Vernichtungskrieges trug unter anderem die tief wurzelnde „Sehnsucht nach Gemeinschaft“ dazu bei, dass sich Soldaten am kollektiven Normbruch beteiligten, welcher in höchstem Maße soziale Komprimierung hervorbrachte. Einige Zeitzeugen identifizierten schon frühzeitig diese Form der Vergemeinschaftung als eine „kriminelle Komplizenschaft“.[88] Kameradschaft konnte Soldaten in Humanität und Altruismus, aber auch in Gewalt und Unmenschlichkeit in einer zweigesichtigen Sozialkultur vereinen; ohne grundsätzlich Widersprüchlichkeit hervorzurufen.
Der Begriff des Männerbundes in der Zeit des Nationalsozialismus
Im Nationalsozialismus stand der Begriff des Männerbundes stark im Zusammenhang mit dem der Kameradschaft. Dieser Bund ist ganz allgemein gesehen eine Schwurgemeinschaft von Männern, die ein definiertes gemeinsames Ziel haben. Frauen sind aus diesem grundsätzlich ausgeschlossen. Diese Gruppierungen wurden als gesellschaftserhaltend angesehen. Ihnen wurde eine wichtige Funktion innerhalb elitärer Bevölkerungsschichten zugedacht und sie sollten selbst zumindest Teil dieser sein.
Der Begriff wurde 1902 von dem Volkskundler Heinrich Schurtz geprägt, mit dem Zweck die Initiationsrituale in Ostafrika zu beschreiben. Im wilhelminischen Deutschland wurde diese Begrifflichkeit von vielen Vertretern der Jugendbewegung aufgegriffen, aber mit neuem Inhalt gefüllt (explizit durch Hans Blüher). Allgemein gesehen traten Gruppen, welche sich selber im Rückgriff auf Blüher und Schurtz als Männerbund bezeichneten, über eine längere Periode nur in Deutschland und Österreich auf. In der Menschheitsgeschichte gab es aber unübersehbar viele Gruppen, die bei Schurtz und in seiner Nachfolge als Männerbünde betitelt wurden.[89]
Auch NS-Organisationen wie die SS bezogen sich rückgreifend auf antike indogermanische oder „arische“ Männerbünde (z. B. die Vratyas im alten Indien).[90] Der dem Nationalsozialismus nahestehende Germanist Otto Höfler ging bei seiner Untersuchung der Mythen zur Wilden Jagd davon aus, dass auch die Germanen Männerbünde kannten, denen er eine staatsbildenden Kraft zuschrieb. Sie sollen sich vor allem in der Bekämpfung von Hexen hervorgetan haben.[91] Höflers Theorie ist in Fachkreisen umstritten. Auch die Waräger setzten sich aus Männerbünden zusammen, die im Rus-Gebiet Handel trieben oder plünderten.
Das Männerbild des Nationalsozialismus sollte grundsätzlich vor dem Hintergrund der gewollten Abgrenzung zum bürgerlichen Männlichkeitsbild und somit auch zur demokratischen Weimarer Republik gesehen werden. Der idealisierte männliche Körper wurde zu so etwas wie einem Symbol für die Erschaffung des faschistischen Staates. In diesem Zusammenhang hebt Kühne allem voran die Relevanz des Leitbildes der Kameradschaft als dem männlichen Vergesellschaftungsmodell hervor.[92] Der Kameradschaftsbegriff steht dabei in einem dialektischen Verhältnis zu dem des Wettbewerb, welcher als Modus begriffen werden kann, in dem sich verschiedene Männlichkeiten zueinander in eine hierarchische Beziehung setzen.[93] Diese für Männerbünde typische Dialektik von Kameradschaft und Wettbewerb lässt sich bereits im 19. Jahrhundert belegen (Beispiel: Duell- bzw. die Fecht- und Trinkrituale studentischer Verbindungen). Beide basieren nicht nur auf einem Frauen-Ausschluss, sondern machen auch die kräftemessende, konkurrierende, intern hierarchisch gegliederte Struktur der bürgerlichen Männlichkeit sichtbar.[94]
Im 20. Jahrhundert entwickelten diese argumentativen Überzeugungsversuche letztendlich ihre ganze Dynamik, wie sich an der Zentralbedeutung des Kameradschaftsbegriffs als „Leitbild einer staats-, gesellschafts- und geschlechterpolitischen Umwälzung“ bis in den Nationalsozialismus hinein ablesen lässt.[95] Die „Schützengrabenkameradschaft“ des Ersten Weltkriegs war zunächst als „Inbegriff der Geborgenheit einer Gemeinschaft gleichrangiger Männer, meist einfacher Mannschaftssoldaten“ propagiert worden. Die NS-Propaganda wandelte diese in zweierlei Hinsicht ab: Einerseits ins Hierarchische – was unter anderem in „arischen Exklusivität“ zum Ausdruck kam, andererseits ins Heroisch-Martialische. Frontkameradschaft sollte nun eine „Keimzelle eines 'neuen Menschen'“ darstellen.[96] Elemente des spezifisch deutschen Männerbund-Gedankens wurden hierbei mit „völkischem“/„germanenkundlichem“ Gedankengut vermengt.[97] Trotz der NS-Wertschätzung der Begrifflichkeiten von Familie und Sippe erklärt sich aus dieser Konzeption auch die zentrale Bedeutung der auf Führung und Gefolgschaft basierenden, männerbündisch organisierten Organisationen wie SA, SS, Hitler-Jugend bis hin zu so genannten Eliteverbänden wie der Leibstandarte Adolf Hitler.[98]
Der Kameradschaftsbegriff unter den Gefangenen in Konzentrationslagern
Auch KZ-Häftlinge redeten einander mit „Kamerad“ an. Im Schwur von Buchenwald heißt es: „… Das sind wir unseren gemordeten Kameraden und ihren Angehörigen schuldig.“
Im Jahr 1946 veröffentlichte Heinrich Christian Meier seine Erinnerungen als Überlebender des KZ Neuengamme. Er beschreibt das Kameradschaft unter den Bedingungen eines KZs, zu so etwas wie einem Automatismus – zwischen „Kreaturen“ die „dem Tod in die Arme laufen“ – werden kann: „Es hat immer mein Gewissen bedrückt, dass ich - wenn es mir gelang - einen Kameraden von einem gefährlichen Transport zurückzuhalten, vielleicht automatisch einen anderen nötigte, dem Tod in die Arme zu laufen. Wir alle waren Kreaturen, und es liegt mir fern, unsere Taten, hinterher zu vergöttlichen.“[99]
Der Historiker und wissenschaftliche Mitarbeiter der KZ-Gedenkstätte Neuengamme Hermann Kaienburg kommt in seinen Untersuchungen zu Solidarität und Widerstand zu dem Ergebnis: „Nicht Kameradschaft und gegenseitige Hilfe, sondern Gewalt, Elend und Verzweiflung bildeten die dominierenden alltäglichen Erfahrungen der meisten KZ-Gefangenen; daran änderte sich bis 1945 wenig. Solidarität oder gar Widerstand bildeten ein seltene Ausnahme.“ Den Häftlingen, denen es gelang, „dieses System der Hoffnungslosigkeit“ zu überleben und darüber zu berichten, erschien es fast unglaublich, dennoch so etwas wie Menschlichkeit und Solidarität erlebt zu haben. Dieses Ergebnis kann wohl für alle KZs angenommen werden.[100][101] Oft verdankten sie ihr Überleben der Kameradschaft in Form von Solidarität.
Viele Aspekte menschlicher Sprache fanden sich in den Sprachkonventionen der KZs wieder. In vielen KZs waren zudem Angehörige von 35 bis 40 verschiedenen Völkern oder Volksgruppen versammelt. Ältere Häftlinge bekamen in der Lagersprache der KZs – welche als „Lagerszpracha“ bezeichnet wird – oft die Betitelung „alte Nummer“. Ein typischer Lagerausdruck für Häftlinge im letzten Stadium der Entkräftung war Muselmann. Somit sprachen sich die KZ-Häftlinge – neben der Anrede Kamerad – mit den verschiedensten Bezeichnungen an. Genauso wenig wie dem „landläufigen Verständnis“ zum Beispiel von Begriffen wie „Gesellschaft“ oder „Gemeinschaft“, entsprach die sprachliche Situation in den nationalsozialistischen KZs gängigem Verhalten im sozialen Gefüge.[102]
Der Kameradschaftsmythos nach dem Zweiten Weltkrieg
Die Wurzeln des Konformismus, der die Willfährigkeit der Wehrmacht gewährleistete, verankerten sich schon in der Zeit der Weimarer Republik und ihrer Zivilgesellschaft – sie waren so kräftig, dass sie bis in die Nachkriegszeit hielten. Kriegsveteranen, die nach 1945 einer Weiterbeförderung des Mythos vorarbeiteten, reduzierten Kameradschaft erneut auf ihre humanitäre Dimension und prägten eine viktimisierende Erinnerungskultur, die bis in die Siebzigerjahre selten hinterfragt wurde.[103] Ab den Achtzigerjahren, als Veteranen auch aus demografischen Gründen die Deutungshoheit verloren, ließ so etwas wie eine „reinigende Wirkung“ der Kameradschaft zunehmend nach; ab dieser Zeit trat ihre Kehrseite als „psychosozialer Motor“ von Gewalt und Verbrechen vermehrt ins öffentliche Bewusstsein.[104]
Kühne sieht einen fundamentalen Wandel gegenüber dem Umgang mit der Kriegserfahrung nach dem Ersten Weltkrieg. Er hebt hervor, dass die Kriegsgefangenschaft nach dem Zweiten Weltkrieg viele Soldaten in den Lagern als „Entmännlichung“ erfuhren.[105] Kameradenbünde und Soldatenverbände konnten in einer fortschreitend „verwestlichten“ Bundesrepublik niemals einen annähernd starken Einfluss gewinnen wie nach 1918. Trotz des Kalten Krieges und des bis in die 1970er Jahre als gelungen zu erkennenden Versuchs, die Tatsache vergessen zu machen, dass die Wehrmacht zum Beispiel Europa 1939 mit Angriffskriegen überzogen hatte. Der Kameradschaftsbegriff wurde zunehmend „privatisiert“ und daraufhin setzte seine schrittweise Abwertung ein. Dies geschah im Zuge eines stetigen Bedeutungsverlusts des Militärs in West-Deutschland, der sich auch in einem Wandel seiner Rekrutierungsschichten und letztendlich auch durch eine kritischer werdende mediale Aufmerksamkeit abzeichnete. „Schamkultur“ sei schrittweise abgelöst worden durch „Gewissenskultur“. Danach sei ab den 1980ern zunehmend nach den Opfern und später auch nach den Tätern des Zweiten Weltkrieges gefragt worden. Der Kameradschaftsmythos sei dem Spagat (aktueller) ziviler Normen und (historischer) verbrecherischer Praxis nicht mehr gewachsen gewesen.[106]
Auch die geschlechtergeschichtlichen Dimensionen des Themas beleuchtet Kühne: Im westlichen Teilstaat Deutschlands verlor der Soldat als Kamerad seine spezielle (männliche) Leitbildfunktion, die ihm 1930 bis 1945 zukam. Dass Wehrmachtsoldaten zu einem derartigen Leitbild und gleichzeitig zu den vorrangigen Repräsentanten einer „kämpfenden Volksgemeinschaft“ werden konnten, sei gerade angesichts der Tatsache bedeutsam, weil diese Konzeption in der „Deutungskultur“ vor 1930 mitunter wenig präsent gewesen sei.[107] Heute werde die Anrede Kameradin und Kamerad allgemein ohne großen Unterschied gebraucht.
Missbräuchliche Begriffsverwendungen
- „Kameradschaft“ hießen die nach dem Führerprinzip organisierten studentischen Zusammenschlüsse innerhalb des Nationalsozialistischen Deutschen Studentenbundes in der Zeit des Nationalsozialismus.
- „Freie Kameradschaften“ nennen sich parteiunabhängige, neonazistische Gruppen.
Kameradschaft in Feuerwehren und Hilfsorganisationen
Der Begriff der Kameradschaft ist bei der Feuerwehr stark verbreitet. Die Feuerwehr-Kameradschaft endet nicht an Staats- oder Ländergrenzen, sondern wird auch auf internationaler Ebene gepflegt.[109] Er findet beim Technischen Hilfswerk, bei dem diese Forderung im 6. Leitsatz verankert ist, ebenfalls Verwendung. Auch bei anderen Hilfsorganisationen, zum Beispiel beim Deutschen Roten Kreuz oder der darin organisierten Bergwacht und Wasserwacht, wird der Begriff und die Anrede Kamerad stellenweise verwendet.
Sonstiges
Personen, welche die Traditionen aktiver, aber auch ehemaliger militärischer Einheiten wahren, schließen sich häufig in Kameradschaften zusammen. So bildet die „Reservistenkameradschaft“ die kleinste Organisationseinheit des Reservistenverbandes.
Kameradschaften sind ebenfalls die kleinsten Organisationseinheiten im Kyffhäuserbund. In der Kameradschaft 248 GSU e. V. haben sich wiederum Geschichtsinteressierte sowie Ehemalige der früheren 248 German Security Unit der britischen Militärpolizei in Berlin organisiert.
Literatur
- Thomas Kühne: Kameradschaft. Die Soldaten des nationalsozialistischen Krieges und das 20. Jahrhundert. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2006, ISBN 3-525-35154-2 (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, Band 173; zugleich: Bielefeld, Univ., Habil.-Schr., 2003).
- Susanne zur Nieden (Hrsg.): Homosexualität und Staatsräson. Männlichkeit, Homophobie und Politik in Deutschland 1900–1945. Campus-Verlag, Frankfurt am Main u. a. 2005, ISBN 3-593-37749-7 (Reihe „Geschichte und Geschlechter“ 46).
- Jürgen Reulecke: „Ich möchte einer werden so wie die …“ Männerbünde im 20. Jahrhundert. Campus-Verlag, Frankfurt am Main u. a. 2001, ISBN 3-593-36727-0 (Reihe „Geschichte und Geschlechter“ 34).
- Thomas Kühne: Gruppenkohäsion und Kameradschaftsmythos in der Wehrmacht. In: Rolf-Dieter Müller, Hans-Erich Volkmann (Hrsg.): Die Wehrmacht. Mythos und Realität. Oldenbourg Verlag, München 1999, ISBN 3-486-56383-1, S. 534–550.
Weblinks
Einzelnachweise
- Thomas Kühne: Kameradschaft. Die Soldaten des nationalsozialistischen Krieges und das 20. Jahrhundert. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2006
- Sven Grüneisen: Kameradschaft in Militärorganisationen – Kameradschaft in Extremsituationen, Bielefeld 2010; Sven Grüneisen: „Kameradschaft im Reservepolizeibataillon 101 und der Genozid an den Juden. Eine soziologische Rekonstruktion von Verhaltenserwartungen in Extremsituationen“, in: Alexander Gruber, Stefan Kühl (Hrsg.), Soziologische Analysen des Holocaust. Jenseits der Debatte über „ganz normale Männer“ und „ganz normale Deutsche“, Wiesbaden 2015.
- Hans Paul Bahrdt: Die Gesellschaft und ihre Soldaten. Zur Soziologie des Militärs, München 1987, S. 97.
- Thomas Kühne, „Kameradschaft. ‚Das Beste im Leben des Mannes‘. Die deutschen Soldaten des Zweiten Weltkriegs in erfahrungs- und geschlechtergeschichtlicher Perspektive“, in: Geschichte und Gesellschaft 22 (1996), S. 504–529, hier: S. 507.
- Charles C. Moskos: Latent Ideology and American Combat Behavior in South Vietnam, Chicago 1968, und Charles C. Moskos, The American Enlisted Man. The Rank and File in Today’s Military, New York 1970.
- http://www.uni-bielefeld.de/soz/personen/kuehl/pdf/Kuehl-Stefan-Working-Paper-15_2017-Die_ungewollten_Nebenfolgen_von_Kameradschaft_05.09.2017.pdf
- https://www.dwds.de/wb/Kameradschaft
- Heinz von Lichem: Spielhahnstoß und Edelweiß. Die Friedens- und Kriegsgeschichte der Tiroler Hochgebirgstruppe „Die Kaiserschützen“ von ihren Anfängen bis 1918: k.k. Tiroler Landesschützen-Kaiserschützen-Regimenter Nr. I – Nr. II – Nr. III. Graz: Stocker 1977, Hermann Fröhlich: Geschichte des steirischen k.u.k. Infanterie-Regimentes Nr.27 für den Zeitraum des Weltkrieges 1914–1918. Bd. 1–2. Innsbruck: Wagner’sche Universitäts-Buchdruckerei, 1937.
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