Berdytschiw

Berdytschiw (ukrainisch Бердичів; russisch Бердичев Berditschew, polnisch Berdyczów, jiddisch באַרדיטשעװ Barditschew) ist eine Stadt im Süden der ukrainischen Oblast Schytomyr mit etwa 80.000 Einwohnern. Die Stadt ist das administrative Zentrum des gleichnamigen Rajons und befindet sich etwa 40 Kilometer südlich von Schytomyr. Sie ist ein wichtiges Industriezentrum (Maschinenbau, Schuhfabrik) und Verkehrsknotenpunkt im Verlauf der ukrainischen Südbahn von Kiew über Kosjatyn nach Sdolbuniw und weiter über Dubno und Brody nach Lwiw (Bahnstrecke Kowel–Kosjatyn und Bahnstrecke Lwiw–Sdolbuniw).

Berdytschiw
Бердичів
Berdytschiw (Ukraine)
Berdytschiw
Basisdaten
Oblast:Oblast Schytomyr
Rajon:Kreisfreie Stadt
Höhe:keine Angabe
Fläche:35,00 km²
Einwohner:87.193 (2004)
Bevölkerungsdichte: 2.491 Einwohner je km²
Postleitzahlen:13300
Vorwahl:+380 4143
Geographische Lage:49° 54′ N, 28° 37′ O
KOATUU: 1820800000
Verwaltungsgliederung: 1 Stadt
Bürgermeister: Serhij Orljuk
Adresse: пл. Жовтнева 1
13300 м. Бердичів
Website: http://www.berdychiv.osp.com.ua/
Statistische Informationen
Berdytschiw (Oblast Schytomyr)
Berdytschiw
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Geschichte

Berdytschiw wurde erstmals 1320 als Siedlung erwähnt. Nach Aussterben der herrschenden Dynastie in Galizien-Wolhynien 1340 fiel Berdytschiw wie ganz Wolhynien im folgenden Krieg um die Länder ans Großfürstentum Litauen. 1430 gewährte Großfürst Vytautas der Große die Herrschaft über das Gebiet Kalinik von Putywl. 1483 verwüsteten einfallende Krimtataren die Siedlung.

Inzwischen im Besitz der litauischen Familie Tyszkiewicz wurde hier um 1546 eine Stadt gegründet, später kam ein Schloss dazu. Im Zuge der Union von Lublin wurde Berdyczów 1569 wie ganz Litauen Teil des geeinten Polen-Litauens, wo es zur Woiwodschaft Wolhynien gehörte. Seit 1675 fanden in Berdyczów Jahrmärkte statt. In der Folge wurde die Stadt zu einem wichtigen Handelszentrum.

Befestigstes Karmelitenkloster

Im Kampf der polnischen Szlachta in der Konföderation von Bar gegen den Verlust ihres Einflusses in der Adelsrepublik und gegen russischen Einfluss auf die Wahl der Könige und diese selbst war Berdyczóws Kloster der unbeschuhten Karmeliten im Jahr 1768 einer der Kampfplätze.[1] Casimir Pułaski war Mitbegründer der Konföderation und hatte in Wolhynien und Podolien Kämpfer um sich gesammelt. Die ohnehin in Polen-Litauen anwesenden russischen Truppen, die durch Einschüchterung und russischen Stimmenkauf König Stanislaus II. August 1762 zur Wahl verholfen hatten, gingen gegen die Konföderierten vor. Pułaski verschanzte sich im Karmelitenkloster, wo er mit 700 Verbündeten und 800 Zivilisten 17 Tage gegen russische Belagerung und Anstürme standhielt. Gegen das Versprechen sich von der Konföderation loszusagen, ließ ihn der russische Befehlshaber Alexander Suworow ziehen.

Seit dem 18. Jahrhundert gehörte Berdyczów zu den wichtigsten Zentren jüdischen Lebens in Polen. Die jüdische Bevölkerung machte lange Zeit die Mehrheit der Stadtbevölkerung aus, 1789 bei der Volkszählung etwa 75 %. 1793 fiel Berdyczów im Zuge der Zweiten Teilung Polens mit weiten Teilen Wolhyniens ans Russische Zarenreich, wo es zum neuen Gouvernement Wolhynien gehörte. Es entstand eine starke chassidische Bewegung in der Stadt.

Nikolauskirche in der Liebknecht-Straße

1861 zählte Berdytschiw knapp 47.000 Juden, womit die Stadt den zweitstärksten jüdischen Bevölkerungsanteil aller russischen Städte hatte. Die Auswanderung dämpfte das durch viele Geburten starke Bevölkerungswachstum. Die ab 1882 verstärkten gesetzlichen antisemitischen Diskriminierungen seitens der zaristischen Regierung (so genannte Maigesetze) befeuerten die jüdische Auswanderung. Von 1892 bis 1921 verkehrte im Ort die mit Pferden betriebene Straßenbahn Berdytschiw. 1897 waren von 53.728 Einwohnern 41.617 (etwa 80 %) Juden.

Zur Zeit der Oktoberrevolution 1917 lag das Bürgermeisteramt in Händen eines Bundisten. Zwei Jahre später, im Russischen Bürgerkrieg zwischen Weißen und Roten, verübten Antisemiten einen Pogrom in der Stadt. Im Polnisch-Sowjetischen Krieg versuchte die Zweite Republik Polen in den Teilungen verlorene Gebiete zurückzugewinnen und drang im Frühjahr 1920 über Berdytschiw hinaus bis Kiew vor. Bei Einnahme der Stadt durch die roten Sowjets später im gleichen Jahr wurden viele Bauten der Stadt durch sowjetische Artillerie zerschossen. Gemäß dem polnisch-sowjetischen Frieden von Riga (1921) blieb Berdytschiw mit dem östlichen Wolhynien unter sowjetischer Herrschaft und wurde Teil der Ukrainischen Sozialistischen Sowjetrepublik.

Berdytschiw war ein kulturelles Zentrum für Juden, Polen und Ukrainer bis zum 20. Jahrhundert. In der ersten Hälfte der 1920er Jahre wurde Jiddisch im Amtsgebrauch und als Gerichtssprache anerkannt. Die sowjetische Obrigkeit verbot in den 1930er Jahren Jiddisch im offiziellen Gebrauch, wie sie auch Jeschives, Batei Midrasch und die meisten Synagogen schloss. Die jüdische Auswanderung verstärkte sich. 1926 hatte Berdytschiw 51.440 Einwohner.[1]

Die Ermordung der jüdischen Bevölkerung 1941/42

Nach dem deutschen Einmarsch am 7. Juli 1941 wurde die jüdische Bevölkerung, die etwa die Hälfte der damals 66.306 Einwohner[2] ausmachte, am Rande des nahe gelegenen Flugplatzes[3] systematisch ermordet. Unter den Ermordeten der Großaktion des Sonderkommando 4a der Einsatzgruppe C befand sich auch die Mutter von Wassili Grossman.[3]

Zunächst forderte der Stadtkommandant am 10. Juli 1941 eine Kontribution in Höhe von 100.000 Rubeln von der jüdischen Bevölkerung der Stadt, es kam zu pogromartigen Ausschreitungen, bei der ganze Gruppen ermordet und die Synagogen in Brand gesteckt wurden. Am 25. August 1941 erging dann der Befehl zur Einrichtung eines Ghettos. Am 4. September 1941 wurden auf Befehl des Höheren SS- und Polizeiführers 1.500 junge Männer unter dem Vorwand eines Ernteeinsatzes[3] selektiert und außerhalb der Stadt erschossen.[2]

Zehn Tage später erreichte das Sonderkommando 4a der Einsatzgruppe C die Stadt. Am nächsten Morgen gegen 4:00 Uhr wurde das Ghetto von SS und Polizei abgeriegelt und 18.600 Menschen zu vorbereiteten Gruben am Flugplatz der Stadt getrieben, wo sie erschossen wurden (15. September 1941).[2] Die überlebenden jüdischen Einwohner wurden in mehreren Aktionen bis Mitte Juni 1942 nach und nach ermordet. Am 3. November 1941 wurden die Familien der Handwerker, die bislang verschont worden waren, insgesamt etwa 2.000 Menschen, ermordet. Am 7. April 1942 folgte die Ermordung von 70 jüdischen Frauen, die mit Nichtjuden verheiratet waren. Am 16. Juni 1942 wurden die verbliebenen Handwerker umgebracht.[2]

Berdytschiw wurde am 15. Januar 1944 von der Roten Armee befreit. Zu diesem Zeitpunkt lebten noch 15 Juden in der Stadt.[2]

Gedenken

Die offizielle sowjetische Geschichtsschreibung ließ lange Zeit die Benennung einzelner Opfergruppen des Großen vaterländischen Krieges nicht zu.[4] Am Flughafengelände wurde zwar 1953 mit Spendengeldern ein Gedenkstein für die ermordeten Juden aufgestellt, der aber bald verschwand. Erst 1983 konnten jüdische Einwohner dort erneut einen Gedenkstein setzen, der die Zahl der Opfer beziffert. Weitere Steine markierten Stellen von anderen Massengräber. Erst nach 1991 wurden Hinweise auf die jüdischer Herkunft der Opfer angefügt.[5]

2015 wurde ein kleines Museum zur Ortsgeschichte des Judentums in der Stadt errichtet. 2019 gestaltete ein ukrainisch-deutsches Projekt beim Gelände des ehemaligen Ghettos einen zentralen Gedenkort; mehrsprachige Tafeln stellen die Ereignisse dar und weisen auf acht Massengräber in der näheren Umgebung hin. Viele Gräber aber sind noch unmarkiert und ungeschützt vor Grabschändern, die nach Wertgegenständen graben.[6]

Siehe auch

Söhne und Töchter der Stadt

Varia

Literatur

Einzelnachweise

  1. „Berditschew“ (Eintrag), in: Der Große Brockhaus: Handbuch des Wissens in zwanzig Bänden: 21 Bde., Leipzig: Brockhaus, 151928–1935; Bd. 2 „Asu–Bla“ (1929), p. 539.
  2. Enzyklopädie des Holocaust, s.v. Berditschew
  3. Vasily Grossman: A Writer at War. New York, 2006, S. 247–261.
  4. Svetlana Burmistr, Uwe Neumärker: Deutsche Besatzung und Massenmord in der Ukraine. In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 68 (2020), H. 9 S. 713.
  5. Svetlana Burmistr, Uwe Neumärker: Deutsche Besatzung und Massenmord in der Ukraine. In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 68 (2020), H. 9, S. 715.
  6. Svetlana Burmistr, Uwe Neumärker: Deutsche Besatzung und Massenmord in der Ukraine. In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 68 (2020), H. 9, S. 715.
  7. Berdytschiw in der Small-Body Database des Jet Propulsion Laboratory (englisch).Vorlage:JPL Small-Body Database/Wartung/Alt
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